COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 24.7.2007, 19.30 Uhr "Wie Scharik zu Bello wurde" Die Werkstatt des Literaturübersetzers Thomas Reschke Von Antje Leetz ATMO 01: Thomas Reschke (R.) führt Selbstgespräche: ?Muß ich mich mal an die Arbeit scheren. So. Auf dem bißchen Platz hier muß ich erstmal alles zurechtefummeln. Computer hinstellen. Hier muß irgendwo so ein Zugang sein, da oben wahrscheinlich oder hier unten. Für einen Stick.?Computer fängt an zu brummen. R.: ?So! Die Maus ist da!? Einsatz Sprecherin, Atmo mit R.s Stimme und Computergeräusch im Hintergrund laufen weiter. Vielleicht Text der Sprecherin immer abwechselnd mit Atmo 01. SPRECHERIN 01: Gewöhnlich beginnt er um 9 Uhr mit seiner Arbeit. Neben dem Laptop liegt das russische Original von Maxim Gorkis ?Nachtasyl?. Zusammen mit seiner Frau Renate Reschke fertigt er gerade eine Neuübersetzung an. Seine Werkstatt ist das Wohnzimmer. In einer kleinen Dreizimmerwohnung in Berlin-Pankow: der Schreibtisch mit dem Computer, der Fernseher, das Telefon, die Polstergarnitur, der Tisch zum Essen. O-TON RESCHKE 01: Gorki, ?Na dne?. Zu Deutsch ?Das Nachtasyl?. Inzwischen gibt es eine andere Übersetzung für den Titel: ?Ganz unten?. Ist eigentlich besser, aber ?Nachtasyl? ist bekannt. Ich bleibe also bei ?Nachtasyl?. ATMO 02: Computer gibt Startmusik von sich.(kurz, dann weiter bei R.: ?So, jetzt erstmal ins Internet. Nee, nich ins Internet, ick will ja tippen. Also Microsoft World. Der Computer is och nich mehr der neuste. Ach ne, jetzt muß ick ja erst wieder updaten.?Beginn Sprecherin. Atmo R. blättert im Manuskript, R.: ?Mhm, mhm... ? bis: ?Ja, da ist die Liste der Personen... Nee, hier muß ick ja erst...? Atmo immer wieder hervorheben. SPRECHERIN 02: Seit 50 Jahren übersetzt Thomas Reschke aus dem Russischen ? Romane, Erzählungen, Bühnenstücke, Kinderliteratur... Über 160 Bücher haben seine Werkstatt als Manuskripte verlassen. Das sind 40 000 Seiten. ATMO 02 Selbstgespräch wieder hochkommen lassen. SPRECHERIN 03: Bis 1990 arbeitete Thomas Reschke als Redakteur im sowjetischen Lektorat des Ostberliner Verlags Volk und Welt und übersetzte in der Freizeit. Nach 35 Arbeitsjahren wurde seine Stelle, wie die fast aller anderen Kollegen, gestrichen. Seitdem ist er freiberuflicher Übersetzer. O-TON RESCHKE 03: Ja, jetzt ist die Frage. Da heißt eine handelnde Person Andrej Mitritsch Klestsch. Klestsch ist irgendein Ungeziefer. Guck ich mal schnell nach. Klestsch, ach ja ? Zecke! Ja, nu ist die Frage, heißt der Mann so oder ist das sein Spitzname. Aber da der Vor- und Vatersname genannt ist, muß er wohl so heißen. ATMO 05: R. schlägt im Wörterbuch nach. Selbstgespräch. ?Pestschera, ein Keller ... und da müssen wir doch hier was haben.? Darauf Sprecherin. SPRECHERIN 05: Außer dem Laptop sind unverzichtbare Arbeitsmittel die Bücher. Zwei Wände der Wohnzimmer-Werkstatt werden von hohen Regalen eingenommen. Die Hälfte der Bibliothek besteht aus Nachschlagewerken. Und davon hat sich der Übersetzer im Lauf der Zeit eine besonders reiche Sammlung angeschafft. O-TON RESCHKE 05 neu: Mein wichtigstes Russisch-Nachschlagewerk. Das ist unentberhlich, unentbehrlich. Es gibt zur Zeit kein wirklich gutes Russisch-Deutsches Wörterbuch, muß ich leider sagen. Wir sind angewiesen auf ältere Sachen und auf Russisch-Russische Nachschlagewerke vom Typ Duden. Und das was ich hier habe, ist erschienen vor 9 Jahren und heißt: ?Bolschoi tolkowy slowar russkogo jasyka.? ?Großes Wörterbuch der russischen Sprache?. 1534 Seiten. Winzige Schrift, die ich ohne Brille schon nicht mehr lesen kann. Das ist immer ganz wichtig, wieviel Wörter es sind. Ja, es sind ungefähr 150 Tausend Wörter, das muß man sich mal vorstellen. Das einzige immer noch gebräuchliche Russisch-Deutsche Wörterbuch ist von Hans Holm Bielefeldt, bei dem ich seinerzeit Slawistik studiert habe in Berlin. Das hat ungefähr 40 Tausend Wörter. Den Bielefeldt , den habe ich so viel gebraucht, daß er mehrfach so zerlesen war, daß kein Buchbinder ihn mehr wollte. Regie: Wechsel, Akzent ATMO 06: R.: ?Scharik ist ein Hundename.? Einsatz Sprecherin. ?Ich hol mal eben das Buch her, vielleicht habe ich auch das russische noch, kleinen Moment. So, hier habe ich meine sechzehn Bände stehen.? Atmo läuft im Hintergrund weiter. R.: ?Ja, Erzählungen, das ist das richtige. Russisch haben wir hier auch...? SPRECHERIN 08: Er zieht aus dem Regal ein graues Buch von Michail Bulgakow und schlägt die Groteske ?Hundeherz? auf, in der der Hund Scharik die Hauptperson ist. Die 16bändige Bulgakow-Ausgabe kam Anfang der 90er Jahre im Verlag Volk und Welt heraus und wurde bis auf zwei, drei Texte ausschließlich von Thomas Reschke übersetzt. Es ist die umfangreichste Ausgabe auf der Welt, nicht einmal in Rußland erschienen soviel Bände. O-TON RESCHKE 07: Das ist überhaupt eine meiner Lieblingsgeschichten von Bulgakow. Es ist im Grunde eine Verhohnepiepelung der Sowjetmacht. Und es ist kein Wunder, daß das Buch erst 62 Jahre, nachdem Bulgakow es geschrieben hat, in Rußland erscheinen durfte, und darauf, das war dann schon in der Wendezeit, auch in der damaligen DDR. ATMO 07: R. schaut sich das russische Exemplar an. Selbstgespräch. R.: ?Ach, hier ist er, ja, Scharik. Kakoi on, k tschortu Scharik!?, darauf Sprecherin. SPRECHERIN 09: Thomas Reschke liest im russischen Original, das ihm als Übersetzungsgrundlage diente. O-TON RESCHKE 08: Scharik ist in Rußland ein Hundename. Für mich als Übersetzer kam das Problem folgendermaßen daher. Wie lautet im Deutschen ein Hundename, den man sofort als solchen erkennt. Ich bin damit wochenlang umgegangen, ich habe andere Leute gefragt. Und was hab ich nicht alles gehört: Caro und Hasso und mir fällt jetzt so schnell gar nicht mehr ein, was mir alles geraten wurde. Nach langem Hin und Her bin ich auf den Namen Bello gekommen. Ideal ist das auch nicht, diese Lösung. Bello ist ja beinahe schon ein bißchen vornehmer. Das ist ja eigentlich das italienische Wort für schön. ZITATOR 01: Der Hund blieb am Torweg, die verbrühte Seite schmerzte, er drückte sich an die kalte Wand, hechelte und war fest entschlossen, nicht mehr wegzugehen, sondern hier im torweg zu krepieren. Die Verzweiflung warf ihn nieder. Ihm war so bitter und schmerzlich zumute, er fühlte sich so einsam und verängstigt, daß ihm Hundetränen, klein wie Pickel, aus den Augen tropften [und sogleich trockneten. An der verdorbenen Seite klebten gefrorene Klumpen, dazwischen leuchteten unheilvoll die roten Flecke der Verbrühung. Die Köche waren doch unglaublich gedankenlos, stumpfsinnig, grausam. Bello hatten sie ihn genannt... Wieso zum Teufel bin ich Bello? Bello, das bedeutet schön, dumm, wohlgenährt, ein Bello frißt Haferbrei und hat angesehene Eltern, ich dagegen bin struppig, schlaksig und lumpig, mein Hals ist sehnig, ich bin ein Straßenköter.] ATMO 08 R. zum Regal, wo alle seine Übersetzungen vor der Wende und nach der Wende stehen. R.: ?Ich hab das hier. Ich hab ja meine Übersetzungen komplett hier stehen...?. Anschließend Sprecherin SPRECHERIN 10: Unter Bulgakow steht im Bücherregal ein dicker blauer Wälzer. Auf dem Buchrücken der Schriftzug von Boris Pasternak. Diese Ausgabe von ?Doktor Shiwago? erschien 1992 im Aufbau-Verlag, 1958 war der Roman des Nobelpreisträgers bereits in der Bundesrepublik herausgekommen. O-TON RESCHKE 09: Im ?Doktor Shiwago? kommt im letzten Viertel des Buches, das sehr, sehr schwer zu übersetzen war, da kommt eine Zauberkünstlerin oder Volksheilkünstlerin oder wie soll ich?s nennen, die Volksbräuche kennt, was man wogegen tut. Das ist in einem ganz alten Russisch dargestellt und das Deutsch in einem auf Alt gefärbten Deutsch wiederzugeben, das war auch nicht so ganz einfach. O-TON MIERAU 10: Ja richtig, Shiwago, das war sogar mein Vorschlag, Thomas für die Übersetzung des ?Shiwago? zu nehmen... ATMO 09: Donnerschlag und Mieraus freudige Reaktion darauf. Kurz, aber eindrucksvoll. Unter folgende Sprecherin und Mierau Donner und Regen legen. SPRECHERIN 11: Fritz Mierau, Herausgeber vor allem von Schriftstellern und Dichtern, die in der Sowjetunion in Ungnade gefallen waren, brach eigensinnig mit gesetzten Normen. Er hat ein geradezu mystisches Verhältnis zur russischen Literatur. Es ist kein Zufall, wenn ein Gewitter losgeht, als er von Pasternak spricht. O-TON MIERAU 11: Denn es ging ja darum, die alte Übersetzung des Fischer Verlages abzulösen für unsere Ausgabe, die wir machten nach 89. Und Thomas übersetzte den Shiwago neu und sehr gut für meine Begriffe. Kräftiger und auch authentisch, denn die alte Übersetzung von Reinhold von Walter ging ja mit diesen spezieller revolutionären Bezeichnungen und auch Formulierungen etwas umdeutend um. Die Übersetzung hatte ja dann große Erfolge ? Fischer hat es übernommen. Und in gewisser Weise, man müßte das im Einzelnen formulieren, wurde die Vorstellung von dem ganzen Roman dadurch, zwar nicht vollkommen verändert, aber doch immerhin korrigiert. Für meine Begriffe war das eine Tat, das er das machte. War ja auch eine physische Anstrengung, diesen Shiwago zu übersetzen. Ist ja im Grunde eine Zumutung dieser Roman, erstens Mal in seiner Länge und dann mit dem Umfang an bewältigten geistigen Bewegungen in Rußland. SPRECHERIN 12: Thomas Reschke und die Herausgeber Fritz Mierau und Ralf Schröder waren durch eine gemeinsame Leidenschaft verbunden: in der DDR die ?andere Sowjetliteratur? herauszugeben. Die lange Zeit verfemte der zwanziger und dreißiger Jahre, die wie eine Atlantis ausgegraben und im großen Umfang von Reschke übersetzt wurde. Von der sowjetischen Zensur verstümmelte Texte zeitgenössischer Autoren wurden in der ursprünglichen Autorenfassung gelesen. O-TON RESCHKE 12: Wir waren ja öfter vom Verlag in Moskau. Und haben so manches Mal von den Autoren Texte anvertraut bekommen, die vollständig waren. Wir haben dann nach diesen Texten übersetzt. Und es ist durchaus vorgekommen, daß wir vollständige Fassungen, oder zumindest vollständigere in der DDR herausgebracht haben. Mit wir meine ich natürlich das russische Lektorat des Verlags Volk und Welt. ZITATOR 02: Wer sagt, die berühmte Stadt Kitesh wäre spurlos verschwunden? Sie lebt und baut, sie erfüllt und übererfüllt die Pläne... Sie erhöht unermüdlich das kulturelle Niveau der Massen... O-TON MIERAU 13: Mit Ralf Schröder war natürlich das Lektorat für russische Literatur des 20. Jahrhunderts in einer Weise besetzt, wie das ein einzigartiger Fall ist. Ich glaube sogar, in der deutschen Verlagsgeschichte hat?s das nicht gegeben, daß ein Mann von solchen geistigen Graden und von solch einer Übersicht in einem verhältnismäßig gering dotierten Lektorat sich befand. ZITATOR 03: Worüber kann ein wackerer Kitesher Bürger an einem gräßlichen Herbsttag nachsinnen? Nur über eines von zwei Themen: Äch, besaufen müßt man sich, oder aber ? erkenne dich selbst... [Samson Popjonkin, leider muß es gesagt werden, soff nicht, sondern war dabei, in der beginnenden Dämmerung und in trostloser Einsamkeit über sich selbst nachzudenken... SPRECHERIN 13: Das Manuskript der Groteske ?Die reinen Wasser von Kitesh?, die in Rußland nicht veröffentlicht werden durfte, wurde dem Übersetzer vom Autor Wladimir Tendrjakow Anfang der achtziger Jahre persönlich überreicht. Der deutsche Text lag bis 1988 im Giftschrank, ehe er endlich erscheinen durfte. Zwanzig Jahre zuvor hatte der Zufall Thomas Reschke mit einem anderen, bereits toten Schriftsteller zusammengeführt ? mit Michail Bulgakow. O-TON RESCHKE 14 neu: Und damals saß ich schon an dem Roman ?Der Meister und Margarita?. Und erzählte meinen russischen Kollegen im Verlag davon. Und ich weiß noch, dann kam eine, Ljubow Moissejewna, und sie kam zu mir und fragte mich: ?Möchten Sie die Witwe Bulgakows kennenlernen?? Naja, das ist ungefähr so, als: ?Möchten Sie gern einen Sechser im Lotto haben?? Natürlich möchte man... Eines Tages stand ich dann vor der Tür, klopfte an, und sie machte auf. Dann hab ich mit ihr gesessen und hab mir von Bulgakow erzählen lassen. Es war ja von ihm nichts bekannt. Ich konnte fragen, fragen, fragen. Das Werk wirft viele Recherchierprobleme auf. Das heißt, man muß nachschlagen: Wie ist es mit den Dämonen, die dort vorkommen ? Asasello, Fagott, der Kater Behemoth usw. Was für Gestalten der Dämonologie stecken dahinter. Und zum Schluß hat sie mich bewirtet mit Bulgakows Leibgericht: im Ofen gebackene Kartoffeln mit Smetana, mit saurer Sahne und Salz. Das war richtig schön. SPRECHERIN 14: Bulgakow hatte nie daran geglaubt, daß sein Roman ?Der Meister und Margarita?, an dem er bis zu seinem Tod im Jahr 1940 arbeitete, in der Sowjetunion erscheint. 1967 wagte die Literaturzeitschrift ?Moskwa? ? ?Moskau? ? den Abdruck, der allerdings stark zensiert war. O-TON RESCHKE 15: Wir waren hingerissen von diesem Buch und ahnten nicht, daß die russische Zensur ungefähr 180 Stellen, ich hab sie mal gezählt, rausgestrichen und rausgekürzt hatte. Beispielsweise die Geliebte des Meisters Margarita Nikolajewna wird zur Hexe, weil der Teufel sie eingeladen hat in der Walpurgisnacht sozusagen an dem nächtlichen Ball der hundert Verstorbenen teilzunehmen. Da heißt es bei Bulgakow: Sie wird zur Hexe, setzt sich nackt auf einen Besenstiel und reitet über das nächtliche Moskau. Und ruft beglückt: ?Newidima i swobodna! Newidima i swobodna!? Aber dieses ?i swobodna?, - unsichtbar und frei -, dieses ?und frei?, das kam der Zensur schon unerträglich vor, sie hats rausgenommen. Ich habe natürlich übersetzt ?unsichtbar und frei?. Es ist eine Winzigkeit, über die heutige Leser wahrscheinlich kichern würden oder das für überhaupt nicht wesentlich halten würden. Aber damals war das ganz wichtig. SPRECHERIN 15: Ähnlich war es bei Juri Trifonows Roman ?Zeit und Ort?: Das Lektorat schmuggelte die von der sowjetischen Zensur gestrichenen Passagen über den Stalinismus wieder hinein und schlug der staatlichen Aufsicht ein Schnippchen. Die deutsche Trifonow-Fassung war umfangreicher und authentischer als die russische, was so manchem Wissenschaftler, der Textvergleiche anstellte, ein Rätsel aufgab. O-TON RESCHKE 16: Und das ist der Fall, wo denn Doktoranten kamen, eine kam aus Amerika, und die hat dann angefragt, wieso? Und dann haben wir ihr klargemacht, sie soll lieber stille sein, sonst kriegen wir Ärger, daß wir das gemacht haben. Regie: Wechsel ATMO 10 Reschke sieht sich die ?Süddeutschen Monatshefte? an. R.: ?Meisterwerke der russischen Erzählkunst. Übersetzt von Alexander Eliasberg. Mit einer Einleitung von Thomas Mann. Das ist natürlich sehr interessant... Puschkin, Gogol, Lermontow, Turgenjew, Dostojewski, Leskow, Tolstoi, Tschechow.?Sprecherin setzt bei der Aufzählung der Schriftstellernamen ein. SPRECHERIN 16: Der Übersetzer blättert in einer alten Ausgabe der ?Süddeutschen Monatshefte? vom Februar 1921. O-TON RESCHKE 17: Na, und dann der Anfang des 20. Jahrhunderts, ich sehe schon Gorki, Sologub, Kusmin und Alexej Tolstoi. Auf den bin ich nicht sehr gut zu sprechen, weil er ein Feind von Bulgakow war. Ich muß mal ein bißchen blättern. So! Thomas Mann schreibt:? ZITATOR 04: Ich sollte in Moskau, Petersburg, Riga und Helsingfors lesen. Das war fabelhaft. Ich würde die Nachfahren Gogols besuchen. Ich würde mit ihnen Piroggen essen und Tee trinken, wahrscheinlich auch eingemachte Pilze, Schnaps und Zigaretten würde es geben, und vielleicht würden sie mündlich zu mir sagen: ?Erbarmen Sie sich, Väterchen!? oder: ?Urteilen Sie doch selbst, Foma Genrichowitsch!? Ich bekenne, daß mein Verhältnis zur russischen Literatur jetzt mehr denn je, aber eigentlich erst jetzt so recht, als eine lebenswichtige Angelegenheit ? wörtlich verstanden als eine Angelegenheit von geistig vitaler Bedeutung erscheint. In der Tat sind es zwei Erlebnisse, welche den Sohn des 19. Jahrhunderts, der bürgerlichen Epoche, zur neuen Zeit in Beziehung setzen und ihn vor Erstarrung und geistigem Sterben schützen und ihm Brücken in die Zukunft bauen ? nämlich das Erlebnis Nietzsches und das des russischen Wesens. Die Übersetzung des Puschkin-Gedichtes von Wolfgang E. Gröger soll, wie mir versichert wird, außerordentlich wortgetreu sein und ist dabei so wohllautend, wie man es bei Versübersetzungen selten findet. Wo ist Gröger? Kraft meines Ehrenamtes belobige ich ihn. ATMO 11 Mierau blättert in den Monatsheften und spricht vor sich hin.: ?Ja, ja, das kenn ich seit frühester Zeit. Ja, ja, richtig, wunderbar... Ganz doll! Gab?s später überhaupt nicht mehr.? O-TON MIERAU 18: Das war natürlich ein Glücksfall, diese ganze Aufarbeitung der russischen Literatur nach der Revolution in der deutschen Presse. Man bekam alles zu lesen! SPRECHERIN 17: Ohne den Übersetzer Alexander Eliasberg hätte es die geistigen Anregungen aus Rußland, von denen Thomas Mann spricht, nicht gegeben. Eine ähnliche Bedeutung hatten Herausgeber und Übersetzer in der DDR. Vielleicht sogar für eine breite Bevölkerungsschicht? O-TON MIERAU 19: Ja, also ganz entschieden! Also ich bin ja der Meinung, daß - ohne das, was offiziell sowjetische Literatur hieß - daß das ein entscheidendes Element, nicht nur Bildungselement, sondern auch Korrekturelement für das, was wir in der DDR erlebten, hergab. Ich bin sogar der Meinung,... daß das uns geholfen hat, einen viel weiteren Begriff von, auch von den Möglichkeiten des Sozialismus, aber vor allen Dingen natürlich von den Möglichkeiten des Menschen innerhalb eines Bedrückungssystems gegeben hat. Man kann eigentlich aufzählen, wen man will. Babel, Bulgakow von den frühen. Sostschenko. Ganz zu schweigen jetzt von denen, die dann nach 56 von sich reden machten und übersetzt wurden. Also Trifonow und Tendrjakow, Okudshawa, Aitmatow und was es alles gab. Ohne diese Literatur ist die DDR, wenn man sie nicht nur von den Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen her nimmt, gar nicht denkbar. ZITATORIN 01: Den Einfluß russisch-sowjetischer Literatur auf die intellektuelle Szene in der DDR aufzuspüren, finde ich gut, eigentlich überfällig... SPRECHERIN 18: ...schreibt Christa Wolf in einem Brief vom Mai 2007 zum Thema dieser Sendung. Regie: Wechsel. Akzent. ATMO 12: R: ? Wat ick allet jemacht habe, mein Gott! Da is wirklich ne Masse zusammen gekommen. Det krieg ick gar nicht mehr allet zusammen. Und denn auch noch kleinere. SPRECHERIN 19: Thomas Reschke sieht sich seine Übersetzungen an. Ales Adamowitsch, Wassili Axjonow, Isaak Babel, Michail Bulgakow, Wassil Bykau, Bulat Okudshawa... O-TON RESCHKE 20: Dann diese wunderbaren beiden Bücher von Ilf/Petrow ?Das goldene Kalb? und der Vorgängerroman ?Die zwölf Stühle?, der zichmal verfilmt wurde... Na, Jewtuschenko. Schukschin ?Ich kam, euch die Freiheit zu bringen?. Dann mein geliebter Sostschenko ?Das Himmelblaubuch.? O-TON RESCHKE 21: Offen gestanden, ich ziehe es vor, zu Hause zu erkranken. Natürlich, nichts dagegen zu sagen. Im Krankenhaus ist es vielleicht heller und kultivierter. Auch der Kaloriengehalt der Nahrung ist bei denen vielleicht besser durchdacht. Aber, wie es so schön heißt: Zu Haus ist auch ne Maus ein Schmaus. Ich wurde mit Bauchtyphus ins Krankenhaus gebracht. Meine Leute gedachten, so meine unermeßlichen Leiden zu lindern. Dies Ziel aber erreichten sie mitnichten, denn ich geriet in ein ganz besonderes Krankenhaus, wo mir nicht alles gut gefiel. Denn kaum wird so ein Kranker dort abgeliefert und ins Buch eingetragen, da liest er plötzlich an der Wand ein Plakat: ?Die Ausgabe der Leichen erfolgt täglich von 15 ? 16 Uhr.? (Lachen im Publikum) Ich weiß nicht, wie es anderen Kranken geht, aber ich taumelte förmlich auf meinen Beinen, als ich diesen Aufruf las. Schließlich hatte ich hohes Fieber und überhaupt hing das Leben in meinem Organismus vielleicht am seidenen Faden. SPRECHERIN 20: Auf einer Lesung von Michail Sostschenkos Erzählung ?Eine Krankengeschichte? erlebt Thomas Reschke die Wirkung seiner Arbeit. Lange Zeit mußten die Übersetzer darum kämpfen, daß ihr Name an markanter Stelle in der deutschen Fassung genannt wird. O-TON RESCHKE 22: Beispielsweise läuft jetzt in der Volksbühne das Stück von Erdmann ?Der Selbstmörder? in meiner Übersetzung. Aber daß ich der Übersetzer bin, steht nirgendwo. Und jetzt habe ich einen Brief an die Volksbühne geschrieben, der bisher unbeantwortet geblieben ist, und da habe ich die Frage gestellt, in dem Programmheft wird also der Regisseur selbstverständlich genannt, der Autor genannt, die Darsteller werden genannt, aber der Autor der deutschen Fassung wird nicht genannt. Und das ist ja das, was die Leute gespielt haben. ZITATOR 05: Ist da der Kreml? Hier spricht Podselnikow, ein Individuum. Rufen Sie jemanden ans Telefon. Egal, es muß bloß einer von den ganz Hohen sein. Keiner da? Regie: Wechsel. Akzent. ATMO 13: R.: ?Hier ist zum Beispiel... aber hier find ich?s jetzt nich, darauf Sprecherin. SPRECHERIN 21: Die russische Sprache ist unglaublich reich an bildhaften Ausdrücken. Und eine der größten Schwierigkeiten ist es, die deutsche Entsprechung zu finden. O-TON RESCHKE 23: Renate und ich haben vor einiger Zeit übersetzt für den Verlag Volk und Welt, als es ihn noch gab, das Buch ?Die zwölf Stühle? von Ilf/Petrow. Und da kommt ein Mann drin vor, ganz am Anfang, der Sargtischler Besentschuk, der hat eine stehende Redensart, die lautet ?Tudy jego w katschel?. Ganz wörtlich heißt das: ?Dorthin mit ihm auf die Schaukel?. Das ist völlig sinnlos und gibt nichts her. Das gilt aber auch für andere Sprachen, muß ich sagen, wenn man dasitzt und sucht verzweifelt nach dem treffenden deutschen Wort und hat Mühe es zu finden, dann neigt man manchmal dazu, die deutsche Sprache für etwas arm zu halten. Sie ist es natürlich nicht. SPRECHERIN 22: Reschke fand für die obszöne Wendung eine Lösung: ?Ins Loch mit ihm!? Das ausdrucksstarke Schimpfvokabular der russischen Sprache, der sogenannte ?Mat?, ist eine Spezialität des Übersetzers. Im Unterschied zur deutschen Literatur sind die eigentlich nicht druckfähigen Wendungen in die russische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts eingegangen und stellen ein besonderes Stilelement dar. Sie sind, wie in Wenedikt Jerofejews Roman ?Die Reise nach Petuschki?, das Salz in der Suppe. Über Jahrzehnte hat Thomas Reschke russische Jargon-Wörterbücher gesammelt. Er benutzt auch das berühmte deutsche Lexikon von Ernest Bornemann ?Sex im Volksmund?. O-TON RESCHKE 24: Wir kennen ja den berühmten Ausdruck, der aus drei Wörtern besteht, der häufig so gedeutet wird, daß ein anderer aufgefordert wird, mit der eigenen Mutter Sex zu haben. Das heißt es zwar wörtlich, aber das ist so verschliffen inzwischen und so weit weg von dem ursprünglichen Sinn, daß man beispielsweise heute im Russischen Freude oder Kummer, Zorn oder sonstwas mit diesen drei Wörtern ausdrücken kann. Man kann zum Beispiel durchaus sagen: Mein Gott, ich sitze im Saal, und plötzlich geht die Tür auf und, jup twoju mat, wer kommt da rein! Das ist ja mein alter Kumpel Sowieso! SPRECHERIN 23: Die Unübersetzbarkeit gerade der herzhaftesten Bilder zeigt eine Anekdote, die Susanne Leonhard, die Mutter von Wolfgang Leonhard, aus einem sowjetischen Lager erzählt, in dem sie während der Stalinzeit saß. O-TON RESCHKE 25: So wie man im Deutschen sagt ?Nicht die Bohne? oder ?nicht im geringsten? kann man im Russischen sagen ?ni sa chui?. Für nüscht und wieder nüscht, heißt das auf Deutsch. Aber ?chui? ist das gemeine Wort russisch für Penis. So wie nicht für die Bohne, so sagt man dort ?Nicht für den Schwanz?. Also für nüscht und wieder nüscht. Sie erlebt, in der Lagertoilette hat jemand an die Wand geschrieben: ?Ni sa chui 5 let?, zu Deutsch: ?Für nüscht und wieder nüscht hat man mir 5 Jahre aufgebrummt.? Und kurze Zeit später kamen die Frauen der ehemaligen Politbürokraten, die von Stalin im Zuge der Sippenhaft in die Lager gesteckt wurden, nachdem ihre Männer erschossen worden waren. Die kamen jetzt in das Lager, in dem auch Susanne Leonhard saß. Und da stand eines Tages unter dieser Schrift ?Ni sa chui 5 let?, hatte jemand anderes drunter geschrieben: ?Sa chui 10 let? ? ?Für den Schwanz 10 Jahre?, also auf Deutsch: ? das ist ein bißchen schwer wiederzugeben ? Dafür, daß ich mit einem Mann, der erschossen wurde, verheiratet bin, muß ich nun 10 Jahre hier im Lager verbringen. SPRECHERIN 24: Übersetzungen sind subjektiv. Manchmal greifen sie wesentlich in das Original ein. Bekannt sind die mildernden und verfälschenden Übersetzungen derber Ausdrücke und Schimpfkanonaden bei Lenin. Fritz Mierau führt das Beispiel der Übertragung von Wladimir Majakowskis Bühnenstücke durch den österreichischen Dichter und Übersetzer Hugo Huppert an. O-TON MIERAU 26: Der Huppert, der war natürlich ein ziemlich geschickter Übersetzer, sehr geübt und so weiter. Zum Beispiel in dem Stück ?Das Schwitzbad? hat er versucht, die Namen, die ja sprechend waren bei Majakowski, zu verdeutschen. Und das erledigt die Sache. Zum Beispiel hat er diesem Haupthelden eigentlich, der darin vorgeführt wird, so ein schwadronierender Staatsfunktionär... den Huppert übersetzt hat mit ?Trutzwackerl?. Das ist natürlich was hübsches Österreichisches und klingt irgendwie ganz witzig, ist aber ausgesprochen verkleinernd. Rainer Kirsch übersetzte das natürlich viel genauer durch ?Triumphanstschikow?. Und von daher kriegt jeder Auftritt von so einem Triumphanstschikow einen völlig anderen Hintergrund und eine ganz andere Dimension. SPRECHERIN 25: Diese ?Dimension? klingt bei Thomas Reschkes Übersetzung von Bulgakows ?Meister und Margarita? immer mit, sie beschäftigt ihn auch bei Gorkis ?Nachtasyl?. Aber bei einer so großen Konzentration auf Problemfälle kann einem Übersetzer an anderer Stelle so mancher Schnitzer unterlaufen. Regie: Wechsel. Akzent. O-TON RESCHKE 27: Es können einem Übersetzer Fehler passieren, die unwahrscheinlich sind. Es ist mir passiert in dem Buch ?Der Meister und Margarita?. Da gibt es ein ganz wichtiges Kapitel. Der Teufel verabschiedet sich und fliegt mit seinem Gefolge weg von Moskau. Das Kapitel, in dem das beschrieben wird, heißt: Prostschenije i wetschny prijut. Und ich habe damals gelesen: Prostschanije i wetschny prijut. Und das paßt zur Not auch. Prostschanije ist Abschied und prostschenije ist Verzeihung. Gemeint ist aber, daß dem Pilatus sein 2000 Jahre alter Verrat von Jesus vergeben wird ? prostschenije, Vergebung. Und es muß heißen: ?Vergebung und ewiger Hort?. Und noch heute, die allererste deutsche Ausgabe, ist noch mit diesem furchtbaren Fehler ?Abschied und ewiger Hort? behaftet. SPRECHERIN 26: Wenn die Übersetzung von Gorkis ?Nachtasyl? abgeschlossen ist, wartet eine neue Arbeit: ein Erzählungsband des viel gelobten Boris Akunin ? ein Modeautor, der anspruchsvolle historische Krimis schreibt. O-TON RESCHKE 28: Er nennt sich B. Akunin. Und der Leser soll durchaus assoziieren ? Bakunin. Das war dieser berühmte russische Anarchist. In Wirklichkeit heißt er Tschchartischwili und ist ein Georgier. Und das macht sehr viel Spaß, weil er anspruchsvoll ist. ATMO 14: R. stellt den Computer aus. Selbstgespräch. R.: ?Ja, ja, das muß ich ja hiermit machen. Aha, da isser schon. (Computermelodie), ja!? darauf Sprecherin. SPRECHERIN 27: Den ganzen Tag hat der Übersetzer an Gorkis ?Nachtasyl? gesessen. Acht Stunden am Schreibtisch, das ist in der Tat eine große physische und geistige Anstrengung. Nun fährt er erstmal den Computer herunter. O-TON RESCHKE 29: So, ich muß nachher weitermachen. Jetzt haben sich doch ein paar andere Dinge ergeben. So, meine Arbeitsfläche wieder herstellen. So! O-TON RESCHKE 30: Wie spät isses. Wir könnten allmählich Abendbrot essen. Ich kriege Hunger. Ich werd mir mal ein Glas Wein holen überhaupt. Trinkst du auch ein Glas Wein? SPRECHERIN 28: Doch bevor er den Wein holt, öffnet er die Balkontür. O-TON RESCHKE 31: Is ja so schön draußen noch. Morgen wird?s wahrscheinlich pladdern. Sind 16 Grad angesagt. Kalt wieder. (Von draußen dringt Baulärm ins Zimmer.) 2 2