COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 23.6.2009, 19.30 Uhr Chloé und der Seerosentod Boris Vians surreale schwarze Poesie und die Folgen Von Renate Maurer Besetzung Sprecherin Zitat-Sprecher ( Boris Vian) Sprecher (O-Ton Frédéric Richaud voice over), div. Zitate Sprecherin 2 (O-Ton Chloé Delaume voice over und Zitate) Trompetensolo ( unter O-Ton Collage) M 1 Boris Vian Jazz & Trompinette take 23, Basin Street Blues 1 O-Ton Fréderic Richaud Sprecher Man hat ihn als Trompetenspieler in Erinnerung behalten, als öffentlichen Spaßmacher, als einen großen Animateur der verrückten Nächte von Saint-Germain-des-Prés nach dem Krieg vor allem, aber man hat sehr oft eine dunklere Seite von Boris Vian vergessen ... 2 O-Ton Chloé Delaume Sprecherin 2 ... und tatsächlich hat auch er in seinen Büchern diese heftige Beziehung zum Tod unterhalten und das hat mich wirklich fasziniert. 3 O-Ton Fréderic Richaud Sprecher ...also hat er enorm viel Erzählungen, Romane, Gedichte, Chansons geschrieben, er hat seine Aktivitäten ganz einfach multipliziert, weil er sich zum Tod verurteilt fühlte. M 1 take 3, I found a new Baby, von Anfang oder ab 0´35 (unter Sprecherin bis Ende Zitat) Sprecherin Paris nach der deutschen Okkupation und amerikanischen Befreiung, 1946. In Saint-Germain-Des-Prés haben die Jungen die Keller entdeckt. Plötzlich ist in diesem dörflichen Viertel um die alte Abteikirche nachts die Hölle los. In den düsteren Kellergewölben in der Rue des Carmes und der Rue Dauphine berauschen sich die 20jährigen am Jazz, Tanzen und Cola-Rum. ?Tabou? heißt der begehrteste Jazzkeller unterhalb eines kleinen Bistros; der Name ist mit gelber Farbe auf die Fassade gepinselt. Der Zigarettenqualm, wird Boris Vian später schreiben, Zitat-Sprecher (Vian) ... war fast so dicht wie in London der Nebel und der Lärm so heftig, dass man als Reaktion nichts mehr sah. Sprecherin Die Stammgäste: Theaterleute, Maler, Dichter, Journalisten, darunter so interessante Exemplare wie Juliette Greco, Anne-Marie Cazalis, Alexandre Astruc, darunter auch Boris Vian. Die Boulevardpresse ist entzückt. ?Samedi-Soir? schickt einen Reporter unter die Erde von Saint-Germain und der gibt sein Bestes: Sprecher (Zitat) SO LEBEN DIE HÖHLENMENSCHEN VON SAINT-GERMAIN ?Man muss die Existentialisten nicht mehr im Café de Flore suchen. Sie haben sich in die Keller geflüchtet. Nach den Verliesen des Vatikans, jetzt die von Saint-Germain-des-Prés. Dort warten nunmehr die Existentialisten ohne Zweifel auf die Atombombe, die ihnen teuer ist, dort trinken, tanzen, schlafen und lieben sie sich.? Sprecherin ?Die Existentialisten? ? eine Erfindung des Verfassers Jacques Robert, der sich einen Spaß daraus gemacht hatte, die leichtgläubigen Leser mit schaurig-schönen Details aus der Unterwelt der ?jeunesse existentialiste? aufzuschrecken. Die Reportage erscheint am 3. Mai 1947 und hat ein sagenhaftes Echo. Die internationale Presse druckt sie ab. Plötzlich sind die ?Existentialisten? und die Keller von Saint-Germain in ganz Frankreich und im Ausland ein Begriff. Radiosendung Tabou, Ansage ?Orchestre Tabou? M 2, take 13, Ah! Si j´avais un franc cinquante ? Trompetensolo Sprecherin Mit den Existentialisten wird auch Boris Vian berühmt. 1946 ist er 26, verheiratet und Vater eines kleinen Sohnes. Sehr groß und schlaksig, heller Teint, eisgrau-blaue Augen, ein hübsches melancholisches Lächeln. Ein schöner Junge, der lässige Anzüge mit Schlips und gemusterten Hemden trägt, wie seine amerikanischen Jazz-Idole ? nie schwarz. Musik kurz hoch Sprecherin Er ist mit seinen drei Geschwistern im Pariser Vorort Ville d´Avray aufgewachsen, in einer prächtigen Villa mit Gärtner, Chauffeur und Privatunterricht. Der Vater, Paul Vian, ein fröhlicher Individualist mit Stil und liberalen Ideen, der seinen finanziellen Ruin mit Gelassenheit und Eleganz erträgt. Als die Vians 1929 durch den Börsenkrach ihr Vermögen verlieren, wird die Villa vermietet, und die Familie zieht ins Pförtnerhaus hinten im Garten ? dort, wo während des Krieges auch die legendären Surprise-Parties im ?salle de bal?, im Tanzsaal, stattfinden. Musik kurz hoch Sprecherin 1946 ist Boris Vian 26 und vollauf mit zwei Leben beschäftigt: tagsüber als Ingenieur beim Verband der Papier-und Pappindustrie und nachts als Trompeter im Keller des ?Lorientais? im Orchester von Claude Luter oder im ?Tabou?, wo er mit seinen beiden Brüdern eine eigene Jazzband gegründet hat und Jam-Sessions organisiert. Musik kurz hoch 6 O-Ton Frédéric Richaud Sprecher Und offensichtlich hat man Vian, auch weil er einer der großen Animateure von Saint Germain-des-Près war, zum Wortführer der Existentialisten gemacht. Aber Vian war kein Existentialist. Er selbst hat gesagt: ?Ich bin kein Existentialist. Für den Existentialisten nämlich geht die Existenz der Essenz voraus. Für mich aber gibt es keine Essenz.? Sprecherin Der Schriftsteller Frédéric Richaud hat in seiner Biographie ?Boris Vian: Vérité et légendes?, Wahrheit und Legenden, auch dem mythischen Ort Saint-Germain ein langes Kapitel gewidmet. 7 O-Ton Frédéric Richaud Sprecher Es gab damals eine große Verwirrung zwischen der Präsenz von Sartre und der Präsenz der Jungen. Sartre ist niemals in die Keller hinuntergestiegen. Der gehörte in eine ganz andere Kategorie. Sartres politische Vision war auch vollkommen anders als die von Vian. Für Vian ist die Politik unfähig, den Menschen zu retten. Was ihn interessiert, ist das Individuum, die Probleme des Einzelnen und nicht das Glück der ganzen Menschheit. Sprecherin Viel näher als Sartre steht ihm Raymond Queneau, der geniale Wortspieler. 1945 hat Queneau, damals Lektor beim angesehenen Verlag Gallimard, Vians Manuskript ?Vercoquin et le Plancton? angenommen, auf deutsch: ?Drehwurm, Swing und das Plankton?. Einen kleinen Roman über das tolle Treiben der Zazous auf den früheren Parties in Ville d`Avray im Wechsel mit dem absurden Leerlauf in einer Büroetage der französischen Bürokratie. Ein Stück voller Aberwitz und surrealem Nonsense, in dem die Sprache selbst durchdreht. Queneau glaubt an Vians literarisches Talent, ermuntert ihn zum Schreiben, macht ihm Appetit auf den hauseigenen ?Prix de la Pléiade?. Zwischen März und Mai 1946 schreibt Vian seinen Roman ?Der Schaum der Tage?. 10 O-Ton Frédéric Richaud Sprecher Die literarischen Anfänge von Vian: ?Vercoquin? , die ?Hundert Sonette?, die Filmdrehbücher, das waren eher Sachen, um seine Freunde zu amüsieren, oder seine Eltern, auf alle Fälle nur ein Spiel. Er meint es ernst, als er ?Der Schaum der Tage? schreibt?. Zum ersten Mal, dass das Schreiben nicht nur einfach ein Spiel oder ein Zeitvertreib war. M 3 Duke Ellington, CD 2 , take 15, Chloé Sprecherin Ein Roman, der anfangs märchenhaft im Rhythmus von Duke Ellingtons Chloé und mit mitreißender surrealer Phantasie abhebt: ein junges schönes Paar, Colin und Chloé und ihre Freunde, Chick und Alise, ein wundersames Haus, in das zwei Sonnen leuchten, phantastische Maschinen, wie das Cocktail mixende Piano, ein Gourmetkoch als Butler, eine fürsorgliche, mitfühlende Maus. Im Zentrum der Geschichte: das verliebte Paar Colin und Chloé, das geradewegs auf die Hochzeit zusteuert. Zitat-Sprecher (Vian) Findest du mich hübsch? Chloé spiegelte sich im Wasser des silbernen Beckens, in dem sich der Fisch ungeniert tummelte. Auf ihrer Schulter saß die graue Maus mit den schwarzen Schnurrhaaren; sie rieb sich mit den Pfötchen die Nase und beobachtete die Lichtreflexe auf der Wasserfläche. Chloé hatte ihre hohen Schuhe aus weißem Leder angezogen. Außerdem trug sie Strümpfe, die so fein waren wie Weihrauch und so blond wie ihre Haut. Sonst war sie nackt, abgesehen von einem schweren Armband aus Blaugold, das ihr zartes Handgelenk noch zerbrechlicher erscheinen ließ. ?Meinst du, dass ich mich ankleiden muß?? Die Maus glitt um Chloés runden Hals herum und hielt sich an einer ihrer Brüste fest. Sie schaute von unten herauf und schien zuzustimmen. ?Gut, dann setze ich dich auf den Boden?, sagte Chloé. ?heute Abend kehrst du zu Colin zurück, das weißt du ja. Du musst dich noch von den anderen verabschieden.? Sprecherin Doch schon nach der Hochzeit zieht das Unglück in die Geschichte ein: In Chloés rechtem Lungenflügel beginnt eine Seerose zu wuchern, die Behandlung durch Professor Frißtfrißt und durch frische Blumen lässt Colins Vermögen dahinschmelzen, er muss in die feindliche Arbeitswelt hinaus, muss immer grauenhaftere Jobs annehmen. Armut macht sich breit, Chloés Tod naht, das Haus schrumpft - vor lauter Elend ziehen sich Wände und Fenster zusammen. Musik Sprecherin Während sich Colin für die sterbenskranke Chloé abrackert, ruiniert sich sein Freund Chick für ? ja tatsächlich ? Jean-Sol Partre. Eine amour fou, die sich im obsessiven Sammeln von Buchausgaben und Reliquien Partres ausdrückt, von Objekten der Begierde, wie zum Beispiel einem in Stinktierleder gebundenen Exemplar von ?Erbrechen?. Höhepunkt der Persiflage des Sartre-Kults ist der berühmte Vortrag des Philosophen ?Der Existentialismus ist ein Humanismus? im ?Salle des Centraux?; das Ereignis hatte im Oktober 1945 in Paris unvorstellbare Menschenmassen angelockt und zu Gedränge und Chaos geführt. M 3 René Aubry, Projection Priveé, take 9, Elephant rose Zitat-Sprecher (Vian) Das Publikum, das sich im großen Saal im Erdgeschoss drängte, bot einen außergewöhnlichen Anblick: fliehende Profile mit Brillen, Borstenhaare, gelbe Zigarettenstummel, ausgespuckte Süßigkeiten, und bei den Frauen kümmerliche Haarflechten sowie Pelzwesten auf der nackten Haut, deren Ausschnitte sich bisweilen verschoben und hellen Busen auf dunklem Grund ahnen ließen (...) Aber da näherte sich Jean-Sol. Auf der Straße trompetete ein Elefant ... Musik unter Sprecherin ausblenden Sprecherin Auf seinem Rücken, in einer gepanzerten Sänfte, thront der König der Existentialisten, getaucht in rotes Scheinwerferlicht und flankiert von zwei ?Scharfschützen? mit Äxten, die ihm mit ?wuchtigen Axthieben? im Saal den Weg zur Bühne freikämpfen. Offensichtlich hat sich Vian gut amüsiert bei den ?Partre-Szenen? und er bereitet Partre auch ein bizarres Ende. Alise, die von Chick wegen seiner Leidenschaft für Partres Bücher verlassen wurde, erledigt ihn mit einem ?Herzausreißer?. Wo? Natürlich im Café Flore. Zitat-Sprecher (Vian) Ein Kellner kam, um das Blut und den ganzen schmierigen Mischmasch mitsamt der Füllhaltertinte von dem kleinen rechteckigen Tisch abzuwischen. Sie bezahlte, spreizte die Zange des Herzausreißers auseinander und das Herz Partres fiel auf den Tisch. M 3, Duke Ellington, CD 4, take 8 Sprecherin Am Ende bleiben nur mehr Colin und die graue Maus übrig. Und die Maus wird mit einer Katze um Beihilfe zum Selbstmord verhandeln, weil sie Colins Leiden nicht mehr ertragen kann. Musik kurz hoch, unter Sprecherin ausblenden Sprecherin ?Pour mon Bibi? ? ?Für meine Liebste?, hatte Boris auf die erste Seite geschrieben. Und Michelle muss weinen, während sie das Manuskript auf der Schreibmaschine abtippt. Sie findet sich in Chloé wieder, sie erkennt, dass der Roman von der verlorenen Unbeschwertheit ihrer Liebe erzählt, vom verlorenen Paradies der Kindheit und Jugend in Ville d´Avray, von den bösen Überraschungen des Lebens. Im November 1944 war Boris Vater, Paul, in seinem Haus von Einbrechern erschossen worden und der gesamte Besitz in Ville´d´Avray musste verkauft werden. Aber man kann das Leiden Chloés in ?Der Schaum der Tage?, sagt Frédéric Richaud, auch ganz direkt nehmen 11 O- Ton Frédéric Richaud Sprecher Weshalb sollte man in der Krankheit Chloés, in deren Brust eine Seerose wächst, nicht eine Art Allegorie auf Vians eigenes Leiden sehen, auf seine Krankheit, die er mit sich trägt? Dieser scheinbar so glückliche, so lebensfrohe Mensch, der so gern Unsinn macht, versteckt in Wirklichkeit ein großes Leiden. Sprecherin Eine Aorteninsuffizienz und Herzmuskelschwäche, die jede Anstrengung, erst recht das Trompetenspielen, verbot. Wenn Sie so weitermachen, hatten die Ärzte Boris Vian mit 26 prophezeit, sind sie in zehn Jahren tot. 12 O-Ton Richaud Sprecher Und besonders hatte er Angst davor, zu schlafen, ganz einfach, weil er fürchtete, nie wieder aufzuwachen. Also hat er nachts geschrieben, hat er enorm viel Erzählungen, Romane, Gedichte und Chanson geschrieben, seine Aktivitäten vervielfältigt, weil er sich zum Tod verurteilt fühlte. Sprecherin 1946 sieht es ganz so aus, als ob Vian der ?Prix de la Pléiade? zufallen würde. Sartre hat sich über die Partre-Szenen amüsiert und Vian seine Stimme für ?Der Schaum der Tage? versprochen ? er sitzt wie Queneau in der Jury. Queneau ist sowieso voller Begeisterung. Doch am 25. Juni 1946, wird der Preis dem Abbé Jean Grosjean für seinen Gedichtband ?Erde der Zeit? zugesprochen ? dem einzigen Gegenkandidaten. 8 Stimmen für Grosjean, 3 für Vian. Der Lektor und Literaturredakteur Jean Paulhan ist im letzten Moment umgeschwenkt, und es gab politische Gründe, den Abbé als Vertreter der alten Schriftstellergarde zu fördern. Vian ist am Boden zerstört. Zornig. Monate lang spickt er alles, was er schreibt, mit ätzenden Anspielungen auf die Akteure seiner Niederlage. Ein Gedicht trägt den Titel ?Ich habe den Prix de la Pléiade nicht bekommen?. Als ?Der Schaum der Tage? im April 1947 endlich bei Gallimard erscheint findet er so gut wie keine Beachtung. Eine tiefe Kränkung für Boris Vian. 13 O-Ton Frédéric Richaud Sprecher Tatsächlich hat Vian mit keinem seiner Bücher, die er unter seinem Namen herausgegeben hat, zu Lebzeiten Erfolg gehabt. Von ?Der Schaum der Tage? zum Beispiel hat er nicht mehr als 500 Exemplare verlauft, heutzutage verkauft man 50000 Bücher pro Jahr, wenn nicht mehr, das Buch wird in der Schule gelesen usw. Das Scheitern dieses Buches war für Vian ausgesprochen schmerzhaft. Sprecherin Das Scheitern von ?Der Schaum der Tage? hängt auf jeden Fall mit dem Namen Vernon Sullivan zusammen. Mit einem Scherz, einem literarischen Streich, den Vian im Sommer 46 mit dem jungen Verleger Jean d`Halluin ausheckt. Der sucht für seinen Verlag ?Le Scorpion? nach einem erfolgsversprechenden amerikanischen Roman, im Stil der Krimis der ?Schwarzen Serie? bei Gallimard. Vian weiß etwas Besseres als eine Übersetzung: eine Nachahmung, eine Fälschung! Eine scharfe Mischung aus Henry Miller, Faulkner und Hemingway! Der Titel: Zitat-Sprecher (Vian) Ich werde auf eure Gräber spucken Sprecherin Der Autor: ein schwarzer Amerikaner, ein Mulatte mit dem Namen Vernon Sullivan. Der Übersetzer: Boris Vian. M 4, René Aubry, Ne m´oublie pas, take 10, Joséphine reve Sprecherin Der Held, ein schwarzer Amerikaner, Lee Anderson, den alle für einen Weißen halten. Er taucht als Buchhändler plötzlich in einem Nest in Tennessee auf und legt ? aus Rache für seinen gelynchten Bruder ? die Mädchen flach, 15 jährige Bobby-Soxers in gestreiften Pullovern und weißen Söckchen. Anderson tobt seine Rachegelüste schließlich an zwei Schwestern aus schwerreichem Hause aus und bringt sie am Ende bestialisch um. Eine Krimi-Persiflage und literarische Selbstunterbietung, in der Vian dick aufträgt. Musik Sprecherin Dann aber kommt schnell das Gerücht auf, Boris Vian sei der wahre Autor. Vian streitet alles ab. Der Scherz mit der Erfindung von Vernon Sullivan verkehrt sich für ihn in einen Alptraum, als das Buch im April 1947 in einem Hotelzimmer neben dem Bett der erdrosselten Geliebten eines Handelsvertreters gefunden wird. France-Libre titelt: Sprecher (Zitat) ?Mann erwürgt Geliebte ? Lektüre stiftet ihn an.? Sprecherin 1949 kommt das Verkaufsverbot. Auch die Klagen von Frankreichs oberstem Sittenwächter Daniel Parker, Präsident des ?Cartel d´Action Social et Moral?, haben nunmehr Erfolg: 1950 wird Vian und Jean d`Halluin der Prozess gemacht, beide werden zu hohen Geldstrafen verurteilt. Die Erschaffung von Vernon Sullivan bringt Vian aber auch viel Geld ein, 15 Prozent an jedem verkauften Exemplar, 5 als Übersetzer und 10 als Sullivan ? und das bei 100 000 verkauften Büchern gegen Ende 1947. M 2, take 13, ab 0´44 Trompetensolo nach Gesang Sprecherin 1947 ist Boris Vian der Star in Saint-Germain und im ?Club Tabou? - ?Prince Boris? nennen ihn seine Freunde zärtlich ? eine Berühmtheit auch als Skandalautor. Seine ernsthaften Romane, wie ?Herbst in Peking?, ?Das rote Gras?, ?Der Herzausreißer? und ein Erzählband werden hingegen ignoriert oder mit Geringschätzung aufgenommen. 1953 erscheint sein letzter Roman. 14 O-Ton Frédéric Richaud Sprecher Als Erstes könnte man sagen: seine ganze Produktion wurde von ?Ich werde auf eure Gräber spucken? verschlungen. Die Kritiker nahmen ihn nicht mehr ernst. Man hat ihn wie einen Hochstapler betrachtet, einen, der seine Witze in Saint-Germain-des Prés macht. Man hat sich viel mehr auf den Pornographen von ?Ich werde auf eure Gräber spucken? konzentriert, als auf den sensiblen Schriftsteller der ?Der Schaum der Tage? oder ?Herbst in Peking? geschrieben hat. Sprecherin Erst in den 60er Jahren wird ?Der Schaum der Tage? in Frankreich richtig entdeckt. Die Jungen begeistern sich für den Roman und fordern, ihn in das Unterrichtsprogramm der Schulen aufzunehmen. Auch unter den jungen französischen Autoren gibt es einige, die ihre Helden mit Vians Geist, seiner aberwitzigen Logik und einer leicht surrealen Phantasie ausgestattet haben, wie Martin Page oder David Foenkinos. M 5 Chloé Delaume, take 1 Chlothilde melisse Sprecherin Und dann gibt es noch Chloé Delaume, Jahrgang 1973, Autorin und Musikerin, die sich Boris Vian vielleicht am stärksten verbunden fühlt. So sehr, dass sie den Namen der Heldin von ?Der Schaum der Tage? angenommen hat, ?Delaume? geht auf ein Stück von Antonin Artaud zurück. M 5 , take 10, 0´38 «Je m´appelle Chloé Delaume. Je suis un personnage de fiction ? » Ihre Bücher sind schmale, autobiographische Werke, ungeheuer dicht und so sprachartistisch und worterfinderisch, dass sie Übersetzer leicht in die Flucht schlagen können. Darunter die preisgekrönte Erzählung ?Der Schrei der Sanduhr? von 2001, die auch in deutscher Übersetzung vorliegt, darunter auch ?Les juins ont tous la meme peau?, ?Die Juni haben alle die gleiche Haut?. Der Titel geht auf Vians zweiten Sullivan-Krimi zurück: ?Tote haben alle die gleiche Haut?. Die erste Begegnung mit einem Buch von Boris Vian fand Ende der 80er Jahre im Pariser Vorort Houilles statt: M 5, take 6, Parque à theme Sprecherin 2 (Zitat Chloé) ?Die Lehrerin war hässlich, dürre Knochen, fette Haut, ausweichender, von Antidepressiva gesteuerter Blick. Mit manischem Lächeln, wenn sie uns Rabelais vorlas. Sie hat uns die Sachen aus dem stilistischen Lexikon erklärt. Sie sagte, in ?Der Schaum der Tage? nennt man die Seerose eine Metapher und hat uns das Wort buchstabiert. Sie hat die Jungs, die den Aufsatz versaut hatten, aufgefordert, die Stelle vom Tod Chloés vorzulesen. Ich konnte mich nicht mehr kontrollieren. Viele lachten, einige waren unruhig, andere waren sprachlos. (...) M 5, take 8, ab 0´10, Post-Scriptum, Was ich nicht verstand, warum ich die einzige war, die einzige, die darüber wirklich weinte, sie sagten, wenn ich das traurig finde, das macht einen schon fertig, das Ende, das stimmt, aber deswegen muss man doch nicht gleich heulen. Dann hab ich geschrien: das ist nicht traurig, das ist herzzerreißend, wie wenn im Körper etwas zerreißt. Aber warum versteht ihr nicht, warum versteht ihr nicht, warum nicht 16 O-Ton Chloé Delaume Sprecherin 2 (voice over) In diesem Moment bin ich tatsächlich in die Literatur eingetreten, habe ich verstanden, was das Wort Literatur konkret bedeutet und zwar durch bestimmte Sätze. Zum Beispiel, wenn die Maus am Ende über Colin zur Katze sagt: ?Er ist nicht unglücklich. Er leidet. Das ist das, was ich nicht ertragen kann.? Das ist ein sehr einfacher Satz, und dennoch ist man direkt in der Literatur, man ist bei der Nuance, man ist beim Verb, das einen trifft, man ist bei etwas, das sinnlich und sehr konkret wird, und das hat mich wirklich absolut bewegt. Sprecherin ?Bericht über Boris Vian? ? heißt es im Untertitel von ?Die Juni haben alle die gleiche Haut?. Eine Annäherung an einen toten Schriftsteller in Form eines Monologs. Und es geht los mit Bekenntnissen, die den uneingeweihten Leser anfangs mächtig verwirren: Sprecherin 2 (Zitat) ?Ich bin die Krankheit eines Toten. Eines Toten, der extreme Präzision fordert und von dem ich sprechen möchte. Eines Toten, ohne den ich nicht wäre, ohne den ich mich nicht gut fühlen würde.? Sprecherin Die Erzählerin hat nach dem Erlebnis mit ?Der Schaum der Tage? beschlossen, eine Metapher zu werden, jene Seerose, die in der Brust der Romanfigur Chloé wächst Sprecherin 2 (Zitat) Eine Metapher hat mich weinen lassen. Die Seerose ist eine Metapher. Die Seerose hat Chloé überlebt. Chloé ist eine Gestalt der Fiktion. Die Metapher überlebt die Fiktion. Sprecherin Kryptische Wortketten, die ins Nichts führen, könnte man meinen. Aber es geht hier wirklich ums Überleben. Die Autorin ist als Waisenkind bei Onkel und Tante im trostlosen Pariser Vorort Houilles aufgewachsen. Als sie zehn war, erschoss ihr Vater, ein Libanese, vor ihren Augen die Mutter, richtete dann das Gewehr auf das Kind, um sich im letzten Moment selbst zu erschießen. Das Kind verstummte neun Monate lang. Mit 15 ist Natalie, wie sie damals noch heißt, ein depressiver Teenager, der sich in schwarzen Gothic-Klamotten durchs Leben schleppt. 17 O-Ton Chloé Sprecherin 2 (voice over) Die Lektüre von Boris Vian war die Rettung, die mir, wie andere wichtige Werke der Literatur, geholfen hat, diese schwere familiäre Geschichte mit ihrem harten Kontext zu ertragen. Das ist, als ob Boris Vian die Vergangenheit gereinigt hätte, das Blut, als ob er fähig gewesen wäre, das Blut in Worte zu verwandeln, eine Art Alchemie herzustellen, eine Alchemie des Verbs. Sprecherin Ein junges Mädchen wirft sich in die Arme der Literatur und der Bücher von Vian, sie klammert sich an seine Sätze und Aphorismen, an sein verrücktes, kurzes Leben. Die Beziehung entwickelt obsessive Züge. 18 O-Ton Chloé Sprecherin 2 (voice over) Es gab auch einen Transfer, ich hatte meine Mutter, meinen Vater verloren, das mit meinem Vater war mir ganz recht, und ich habe diese Sehnsucht nach Gefühlen, nach Faszination auf die Person von Vian übertragen, vielleicht auch die Sehnsucht nach einem Vater, ich war auch bestimmt in ihn verliebt, aber mehr in den Mann als in den Vater. Das war eine sehr eigenartige und ziemlich privilegierte Beziehung, ein bisschen plemplem auch, aber auch sehr schön. Sprecherin Anders als Chick, der fanatische Sartre-Verehrer in ?Der Schaum der Tage?, ist Chloé weit entfernt davon, Buchausgaben oder Hosen von Vian zu sammeln. Sie fühlt sich angezogen von den dunklen, tragischen Seiten in seinem Leben, von seiner Herzkrankheit, dem frühen Tod im Kino, vom Thema Tod, das seine Werke durchzieht. Und sie stellt verrückte Zahlenspiele mit markanten Daten in seinem und ihrem Leben an: der 10. März als gemeinsames Geburtsdatum, der Juni als Todesmonat für Vian, wie für Chloés Eltern. So erklärt sich auch der Titel: ?Die Juni haben alle die gleiche Haut?. M 5, take 4, Tom ab 0´39 (Cello bei 0´57) Sprecherin 2 (Zitat) Der 23. Juni ist eine Woche vor dem 30. Juni, das ist klar. Der Juni ist ein Monat, der die Sonnenwende schätzt und die Trauerkleidung. 22 Jahre und 7 Tage später ist die Trauer gekommen, um mich zu besuchen. Es war zwar nicht im Kino, aber dennoch hätte ich mich gefreut, wenn mein Name nicht auf dem Vorspann gestanden hätte. Papa zielte vier plus vier auf Mama drei plus fünf, parallele Ereignisse werden immer achtsilbig ausgedrückt Musik kurz hoch Sprecherin Der sehnsüchtige Satz ?Ich will ein Leben in deiner Form, Boris Vian Boris? wird immer mehr zum Leitmotiv der Beziehung. Und dann ? große Überraschung ? die Wende. Herbeigeführt ausgerechnet durch die Musik. Chloé hat monatelang nach dem Titel ?Chloé? gesucht, arrangiert von Ellington, der in ?Der Schaum der Tage? den Ton angibt. 19 O-Ton Chloé Sprecherin 2 (voice over) Und ich bin zu mir nachhause, ich erinnere mich noch gut, wie mein Herz klopfte, ich war davon überzeugt, einen großen orgiastischen Moment zu erleben, und dann ? hab ich das verabscheut. Ich kann Jazz überhaupt nicht leiden, ich bin komplett allergisch auf Blasinstrumente, und diese Enttäuschung war so heftig, wie wenn man in jemanden verliebt ist und einsehen muss, dass man seine Passion nicht teilen kann, schlimmer noch: dass man komplett davon ausgeschlossen ist. M3, Duke Ellington, CD 2, take 15, Chloé bei 0´27 Sprecherin 2 (Zitat) Ich war eine Verräterin am Mausoleum und ich wollte mich rächen an meiner eigener Schwäche. Ich habe das Kassettenband gefoltert, in dem ich es in einem idiotischen Topf kochen ließ, das hat mir eine Ohrfeige eingetragen und einen Brief für den Psychotherapeuten Sprecherin Schwarzer Humor muss sein ? der Held Boris ist vom Sockel gestürzt und Chloé beginnt, mit anderen Augen, die Entfernungen zwischen sich und Boris Vian, ?le mort?, auszumessen. M 5, take 1 unter O-Ton legen, kurz hoch, dann Boris Vian M 1, take 23 Sprecherin Zum 50. Todesjahr ist Boris Vian in Frankreich der Tisch reich gedeckt worden: neue Biographien, Werkausgaben, Theateraufführungen, Radio-und Fernsehsendungen, Ausstellungen, darunter auch ein Comicband über Vians Leben, der ihm sehr gefallen hätte. Und dann ? die größte Überraschung: Ende 2010 werden zwei dicke Lederbände mit Vians Romanen, Erzählungen und Chroniken in der ?Bibliothèque de la Pléiade? erscheinen, 2800 Seiten. Der ?Prix de la Pléiade? ist jetzt also doch noch zu Vian gekommen. Wie hat sein Freund Queneau damals im Vorwort von ?Der Herzausreißer? geschrieben, nachdem er alle Talente und Werke Vians aufgezählt hatte? Sprecher (Zitat) ?Denn all das ist noch gar nichts: Boris Vian wird erst Boris Vian werden.? Quellen: Boris Vian: Der Schaum der Tage, Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1994 Übersetzung: Antje Pehnt Zitate 26 Zeilen Boris Vian: Manuel de Saint-Germain-des-Prés Paris 1997, éditions Jean-Jacques Pauvert Zitate 8 Zeilen Übersetzung: Autor Chloé Delaume: Les juins ont tous la meme peau, Verlag : La chasse au Snark 2005 Jaignes 2005 Übersetzung: Autor Zitate 30 Zeilen 1