COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 0.05 Uhr Titel der Sendung : "Who the fuck is Kafka" - Israelische Autoren und ihr Blick auf ihr Land Autoren: : Mirko Schwanitz / Uwe Stolzmann Redaktion : Sigried Wesener Sendetermin : 08.03.2015, 00:05 Besetzung: : Maria Hartmann, Daniel Minetti, Michael Rotschopf Ton : Hermann Leppich Regie : Beate Ziegs Redaktion : Sigried Wesener Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 01. ATMO Bach plätschert leise / Zikaden / Falke ruft ERZÄHLER Die Negev-Wüste im Süden Israels. Es ist heiß. Die Luft flimmert. Staub legt sich auf die Lippen. Ich habe die Kamera am Ende einer tiefen Schlucht aufgebaut. Wadi nennen die Einheimischen diese engen, schmalen Täler. Über mir kreist ein Falke. Er beobachtet mich. Beobachtet, wie ich durchs Objektiv blicke und den kleinen Ausschnitt langsam heranzoome. Die staubig kargen und in der Abendsonne rötlich schimmernden Felsen. Der kleine Bach an ihrem Fuß. Der einsame Akazienbaum, der sich ans Ufer krallt. Es ist eine Szenerie wie aus dem jüngsten Roman des Schriftstellers Meir Shalev. 02. MUSIK "Photographic Memories", Enio Morricone, Album "Once upon a time" (kurz frei stehen lassen, unterblenden) ZITATOR "Hörst du, Netta? Hör gut hin - das ist der Schrei eines Eichelhähers und das der Ruf eines Falken und da kreischt ein Triel und da zirpt eine Streifenprinie und das ist das Schnickern eines Rotkehlchens. [...] Jetzt schnupper mal. [...] Nicht so. Mach die Augen zu. Man schnuppert mit geschlossenen Augen. Nur mit der Nase. [...] Dieser Geruch stammt von der Dittricha viscosa, das hier ist Raute, hier riecht es nach einer Mastix-Terebinthe, hier nach Thymian, und nun der Höhepunkt - Salbei! Wenn du all die Namen behältst, erzähl ich es Opa Seev, und er wird sich freuen. Vielleicht nimmt er dich dann mit zu dem großen Johannisbrotbaum in seinem Wadi und zu der Höhle am Hang. Meir Shalev "Zwei Bärinnen" Diogenes S. 17 MUSIK Kreuzblende mit 03. ATMO Zikaden ERZÄHLER Zwei Männer sind auf Tour, Etan und Netta, Vater und Sohn. Etan zeigt Netta die Natur der Negev. Die anrührende Szene stammt aus dem Buch "Zwei Bärinnen", dem siebten Roman von Meir Shalev. Shalev zählt in seiner Heimat zu den beliebtesten Romanciers. Er erhielt den Brenner-Preis, den wichtigsten Literaturpreis des Landes. Für seine genauen Schilderungen der Flora und Fauna Israels verlieh ihm die Universität Tel Aviv sogar eine ganz besondere Auszeichnung: den Literaturpreis ihrer Zoologischen Fakultät. 04. ATMO A/B Zikaden / Einsteigen ins Auto / Tür klappt (A) / Auto innen (B) ERZÄHLER Die Szene im Wadi ist abgedreht. Ich packe zusammen, steige ins überhitzte Auto. Ich wende, fahre Richtung Norden. Manchmal schälen sich Orte aus dem Nichts mit Namen wie Be`er Sheva, Ofakim, Ashkelon. Dann die Hochhäuser von Tel Aviv. Nach zwei Stunden bin ich im Dorf Alonei Abba. 05. ATMO Muezzin von Ferne / Vögel / Stimmen vor dem Fenster ERZÄHLER Schnitt: Meir Shalev, in grauem T-Shirt, sitzt barfuß an einem dunklen Holztisch. Sein Haar ist kurzgeschoren. Die Terrassentür steht offen. Von Ferne trägt der laue Wind den Ruf eines Muezzins herein. Das Licht fällt auf Shalevs Gesicht. Großaufnahme: Hinter der Brille sieht man graue klare Augen. Auf den Gläsern spiegelt sich Shalevs kleine Welt: der weite Wohnraum, die offene Terrassentür, ein Waldsaum, Ackerfurchen. 06. O-TON Meir Shalev (hebr.) ÜBERSETZER Der Ruf des Muezzins kommt aus dem Dorf Basmet Tab'un, gleich gegenüber. Hinter den Hügeln gibt es noch andere arabische Dörfer - Ka'abiya oder Hilf oder Tabasch. (Weiter in Engl.) Ich erkenne jedes Dorf am Klang des Muezzins. ERZÄHLER Shalev hat lange in Jerusalem gewohnt. Seit 14 Jahren wohnt er nun in diesem kleinen Haus in Galiläa, im Kibbuz Alonei Abba. Es ist die Gegend, in der er aufgewachsen ist. Jetzt steht er vom Tisch auf, er geht zum Fenster. Vom Fensterbrett, gleich neben dem weißen Bücherregal, nimmt er ein Foto. Man sieht eine Art Stern; die Strahlen sind durch konzentrische Kreise miteinander verbunden. Die Kamera zoomt das Bild heran. Jetzt sieht man: Es ist eine Luftaufnahme. Ein Ort von oben. 07. O-TON Meir Shalev ÜBERSETZER In diesem Moschaw, diesem Dorf, bin ich geboren. Es heißt Nahalal. Seht ihr, was auf dem Bild steht? "Für Meir Shalev, den Sohn und Enkelsohn der Familie, die Nahalal gegründet hat." Dieser Ort spielt in vielen meiner Romane eine Rolle. Er inspiriert mich. ERZÄHLER Nahalal, entstanden 1921, war eine der ersten jüdischen Siedlungen in Palästina. - Shalev geht durch den Raum. Die Kamera folgt ihm. Er zieht ein Buch aus dem Regal, blättert, zeigt auf das Foto einer jungen Frau. In einem Roman aus dem Jahr 2008 hat er ihr ein Denkmal gesetzt: "Meine Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger". Meir Shalev wird im selben Jahr geboren wie der Staat Israel. 1948. Mit neunzehn nimmt Shalev am Sechstagekrieg teil, wird verwundet. Später arbeitet er als Journalist, wird Fernsehmoderator beim damals einzigen TV-Sender Israels. In seinen Beiträgen plädiert er für die Rückgabe der im Sechstagekrieg besetzten Gebiete. Er plant ein fiktives Interview mit Theodor Herzl, dem geistigen Wegbereiter des modernen Israels. Das Interview wird verboten. Und Shalev gibt seine Fernsehkarriere abrupt auf. 08. O-TON Meir Shalev (engl.) ÜBERSETZER Der Hauptgrund war, dass ich fühlte, dass ich nicht tun konnte, was ich tun wollte. Ich war damals schon fast vierzig. Und ich wollte - das klingt jetzt wie ein Klischee - in Frieden mit mir selber leben. Nach einigen Kinderbüchern und einer Essaysammlung begann ich meinen ersten Roman. ERZÄHLER Das Debüt heißt "Ein russischer Roman". 1991 erscheint es bei Diogenes in deutscher Übersetzung. "Ein russischer Roman", das ist eine Commedia dell'arte über die Generation von Shalevs Großeltern - über jene Generation, die das verbuschte Sumpfland trockenlegte. Der Autor präsentiert sich als kluger Weltspötter, jedes Klischee nimmt er auf die Schippe - in diesem ersten Roman und in allen folgenden Büchern. Shalevs Figuren haben stets zwei Eigenschaften. Sie sind heldenhaft und lächerlich. Und manchmal auch lächerlich in ihrer Heldenhaftigkeit. 09. O-TON Meir Shalev (hebr.) ÜBERSETZER Ich will gute Geschichten schreiben. Das ist für mich das Wichtigste. Natürlich: Es gibt Schriftsteller mit politischer Färbung. Aber auch solche, die sich überhaupt nicht mit Politik beschäftigen. ERZÄHLER Meir Shalev hält sich für einen unpolitischen Autor. Immer wieder schreibt er über die ersten jüdischen Siedler in Palästina - genauso wie andere Erzähler seiner Generation. Die Gegenwart überläßt er jüngeren Kollegen. Auch in dem Roman "Zwei Bärinnen" verweist scheinbar nichts auf die politische Situation im heutigen Israel. 10. O-TON Meir Shalev (hebr.) ÜBERSETZER Wenn man mich fragt, worüber mein neuester Roman "Zwei Bärinnen" (Titel sagt er deutsch) handelt, dann sage ich: Rache, ganz klar. SPRECHER Shalev läßt seinen Helden Etan noch einmal in die Wüste Negev zurückkehren. Allein. 11. MUSIK "To the edge oft the earth", Michael Nyman, aus: "Das Piano" (Entreé verlängert, kurz frei stehen lassen, unterblenden) ZITATOR Nach anderthalb Kilometern, an der dritten Biegung des Bachbetts, ist er den niedrigen Hang gen Süden hochgestiegen, hat sich kurz auf den Bauch gelegt und gespäht, hat den Kamm langsam und geduckt in schräger Linie überquert und ist auf der Gegenseite abgestiegen. [...] Hier blieb er stehen, legte das Gewehr und den Rucksack auf einen nahen Felsblock, drehte sich um und betrachtete den wohlvertrauten großen Johannisbrotbaum. [...] Ein paar Stunden später, in dem Versteck, das er sich einrichten würde, das Gewehr in der Hand und die Sonne im Rücken, würde er alles deutlich sehen, während der Mann [...] dessen Leben er zu nehmen gedachte, von ihren Strahlen geblendet werden würde, sobald er in seine Richtung blickte. Meir Shalev "Zwei Bärinnen", Diogenes 2014, S. 27, Übersetzung: Ruth Achlama MUSIK unter Erzähler ausblenden ERZÄHLER "Zwei Bärinnen": Der Erzähler in diesem Roman ist eine Frau. Ruta Tavori, Bibellehrerin an einem Gymnasium. Ruta erzählt - die Geschichte ihrer Großmutter. Längst Vergessenes kommt wieder hoch, strömt aus ihr heraus wie aus einem lange Zeit verstopften Geysir. Ruta berichtet: Wie der Großvater den Liebhaber der Großmutter umbrachte. Wie der Großvater später selbst umgebracht wird. Und wie Rutas Mann Etan schließlich den Mörder des Großvaters tötet. Meir Shalev zeigt eine israelische Familie. Drei Generationen gefangen im Kreislauf der Gewalt. Ist dieser unpolitische Roman am Ende vielleicht doch eine Parabel auf das Land? Aber natürlich, sagt Shalev: Die Frage sei berechtigt, warum er gerade jetzt ein Buch über das Thema Rache geschrieben habe. 12. O-TON Meir Shalev (hebr.) ÜBERSETZER Sehen Sie, hier in dieser Gegend gibt es arabische Dörfer u n d jüdische Siedlungen. Fast alle arabischen Jungen sprechen Hebräisch und dienen in der israelischen Armee. Beide Seiten kommen gut miteinander aus. Es gibt Freundschaften. In Nahalal, wo ich geboren wurde, betreiben ein Araber und ein Jude gemeinsam eine Metzgerei. Man muss also differenzieren: Es gibt Regionen in Israel, in denen Araber und Juden seit jeher gut miteinander leben, und Regionen, wo das nicht so ist. Wenn die Religion starken Einfluss gewinnt, wird die Situation schlechter. Das ist meine Erfahrung. Und wenn bestimmte Politiker dann noch hetzen, wird es noch schlimmer. ERZÄHLER Wer Shalevs Bücher genau liest, erkennt: Die israelische Wirklichkeit ist fast immer präsent. Nicht vordergründig. Eher wie das Bühnenbild einer Oper. In jedem Buch ziehen Menschen in den Krieg, werden verwundet oder getötet. Aber nur in seinen Zeitungsessays findet Meir Shalev deutliche Worte für die Situation im Land. 13. O-TON Meir Shalev (hebr.) ÜBERSETZER Ich würde den Arabern ganz Jerusalem überlassen, mitsamt der Klagemauer und all den anderen religiösen Orten. Dafür sollten wir jedoch die Golanhöhen behalten. Da gibt es keine heiligen Stätten, das ist ein normales Stück Land. Jerusalem aber ist ein verrücktes Stück Land. Wir sollten außerdem einen Palästinenser-Staat im besetzten Westjordanland akzeptieren. Im Gegenzug müssten die Palästinenser auf ihre Forderung verzichten, dort alle palästinensischen Flüchtlinge und deren Nachkommen anzusiedeln. Das ist meiner Meinung nach die einzige Möglichkeit, den Konflikt zu lösen. Aber die Chance für eine Lösung wird von Minute zu Minute kleiner. ERZÄHLER Schnitt. Shalev muss los. Bittet mich, ihn mitzunehmen. Nach Jerusalem, wo er noch immer eine Wohnung hat. Wo seine Kinder leben und seine Frau, von der er sich während der Arbeit am jüngsten Roman getrennt hat. Ich will noch eine letzte Szene drehen, zoome mit der kleinen Kamera auf Shalevs T-Shirt. Auf dem sieht man das stilisierte Porträt von Israels erstem Präsidenten, einer legendären Figur: Ben Gurion. 14. O-TON Meir Shalev (hebr.) ÜBERSETZER Wenn wir diesen Präsidenten heute hätten, wären wir in einer besseren Lage. Ben Gurion hätte die besetzten Gebiete gleich nach dem Sechstagekrieg zurückgegeben. Außer Jerusalem. ERZÄHLER Von Alonei Abba nach Jerusalem brauchen wir fast zwei Stunden. Die Straße schrammt immer entlang an der Grenze zu den besetzten Gebieten. 15. ATMO A/B/C/D Jerusalem (A)/ Betende Juden an der Klagemauer (B) / Glocken der Grabeskirche (C) / Muezzin (D) (kurz frei stehen lassen, dann unterblenden) ERZÄHLER Schnitt. Ich bin in Jerusalem, die Kamera fängt neue Bilder ein: Zwei Musliminnen mit bunten Kopftüchern. Sie stehen auf dem Dach eines Hotels und fotografieren sich mit dem Handy. Im Hintergrund, golden, die Kuppel des Felsendoms. Schnitt. Die Klagemauer. Juden beten mit wippendem Oberkörper. Manche haben ihr Sturmgewehr umgehängt, die Gewehre klappern leise. Schnitt. Die Grabeskirche, christliche Pilger. Glocken dröhnen. Schnitt. Touristen stehen vor einem Minarett, sie schauen hinauf. Als die Glocken verstummen, ruft der Muezzin. Schnitt. Die Rufe verhallen im Off. Jetzt folgt die Kamera dem Kreuzweg, abwärts, hinaus aus dem Souk. In einer Straßenbahn geht es durch die geteilte Stadt, dann fokussiert die Kamera auf die Scheibe eines kleinen Cafés. Dahinter sitzt ein älterer Herr, kahlköpfig, rundes, freundliches Gesicht. Vor ihm steht eine Tasse heiße Schokolade. 16. ATMO Café Ticho / Stimmengewirr / Geschirrgeklapper 17. O-TON Aharon Appelfeld (deutsch) Aharon Appelfeld, warum soll ich mich vorstellen? Fünfzehn Bücher, meine ich, sind in Deutsch übersetzt. Ich bin schon alt. Ich habe einen anderen Namen gehabt. Bis achteinhalb Jahre war es Erwin. Nachher kam ein ukrainischer Name: Janek. ATMO Café Ticho (im Hintergrund stehen lassen) ERZÄHLER Aharon Appelfeld, 83, ist einer der letzten israelischen Schriftsteller aus jener Generation, die den Holocaust überlebt hat. Er stammt aus Czernowitz, ist in derselben Gasse aufgewachsen wie Paul Celan. Appelfelds Mutter wurde ermordet. Zusammen mit dem Vater kam er ins Ghetto, er konnte fliehen. Überlebte bei Waldleuten. Seine Erfahrungen dort verarbeitet er später in einem Roman über jüdische Widerstandskämpfer, Partisanen. Bei den Partisanen lebt eine alte Frau. ATMO Kreuzblende mit 18. MUSIK Sacré, Dhafer Yousef, aus: "Abu Nawas Rhapsody" (kurz frei stehen lassen, unterblenden) ZITATOR Großmutter Zierl. Sie ist dreiundneunzig Jahre alt und wiegt so viel wie ein zehnjähriges Kind, aber ihr Gedächtnis ist gewaltig. Die Kämpfer haben ihr eine Art Sänfte gebaut und tragen sie von einem Ort zum anderen. Sie weiß Dinge, die sonst keiner von uns weiß. Neben den Regeln des Schabbat und der Feiertage kennt sie die Verhaltensregeln zwischen dem Menschen und seinem Nächsten sowie die Regeln zwischen dem Menschen und Gott, und natürlich kennt sie die Gebete. Außerdem kann sie sich an die Eltern eines jeden von uns erinnern. [...] Alle spüren, dass sie in Bereiche vordringen kann, zu denen wir keinen Zugang haben. "Meine Söhne und meine Töchter sind schon heimgegangen und haben mich allein zurückgelassen. Die Dinge sind vertauscht, sie sind in der wahren Welt, und ich bin in dieser." Sie beklagt sich nicht, sie stellt nur fest. Aharon Appelfeld, "Die Lichtung" Rowohlt 2014, S. 39/40, Übersetzung: Mirijam Pressler MUSIK Kreublende mit 19. ATMO Café Ticho (unterblenden, stehen lassen bis Atmo 28) ERZÄHLER Bis heute hat Appelfeld 41 Bücher geschrieben. Sie wurden in 34 Sprachen übersetzt.Die Szene mit Großmutter Zierl stammt aus Appelfelds letztem Roman. "Auf der Lichtung". Er ist bei Rowohlt erschienen. Die Geschichte ist Fiktion - zumindest in Appelfelds Fall. 20. O-TON Aharon Appelfeld (deutsch) Wenn ich mit achteinhalb Jahren vom Lager weg, hat mich eine Gruppe von Kriminellen adoptiert. Sie waren Horse-Stealer, sie waren professionelle Diebe. (Kaffeemühle im Hintergrund) ERZÄHLER Ja, die Waldmänner waren Diebe - und sie waren Antisemiten. Hätten sie gewusst, dass der kleine Junge, den sie im Wald aufgriffen, ein Jude ist, er würde heute nicht hier sitzen, in einem Café von Jerusalem. - Unsere Kamera folgt Appelfelds rechter Hand. Waagerecht fährt die Hand über den Hals. Noch heute träumt Aharon Appelfeld von jener Zeit im Wald ... 21. O-TON Aharon Appelfeld (deutsch) Es ist mehr wie ein Traum. Es ist im Körper. Solche traumatische Bilder. Manchmal ich bewege mich, wie ich mich bewegt habe. ... die Hände, die Füße, die Bewegungen. Der Körper vergisst nicht. Jeder Schriftsteller hat eine Schule. Der Wald und diese Leute waren meine erste wichtige Schule. ERZÄHLER Appelfelds letzter Roman "Auf der Lichtung" ist ein eigentümliches Buch. Seine Waldleute sind keine Pferdediebe, sondern Juden, Widerstandskämpfer - Menschen, die im Verborgenen eine bessere, humanere Welt aufbauen. Die kleine Kampfeinheit ist eine wehrhafte zionistische Zelle, eine Gruppe der Guten, umgeben vom Grauen. 22. O-TON Aharon Appelfeld (deutsch) Man kann lernen, wenn man will, etwas von meinen Büchern. Aber Botschaft? Nein. Ich bin kein Prediger. Ich bin kein Ideologe, bin kein Politiker. Ich verlange nichts. ERZÄHLER Appelfeld wirkt zufrieden. Im Reinen mit sich und der Welt. Als berührte ihn die Gewalt nicht, die seine Land zerreißt. Der Konflikt zwischen Arabern und Juden - der Erzähler nimmt ihn kaum wahr. 23. O-TON Aharon Appelfeld (deutsch) Wenn ich nach Israel gekommen bin, war ich dreizehneinhalb Jahre. Wenn ich nach Israel gekommen, das gehörte dem britischen Mandat. Juden und Araber waren gleich. Ich war viele Jahre ein Professor in der Universität, und viele Araber waren meine Studenten. Wir haben immer gehabt viele Diskussionen. Wenn ich spreche über Jerusalem oder über Juden, habe ich ein sehr intimes Verständnis. Das heißt, es waren hier immer religiöse Leute. Ultraorthodoxe und Ultra-Ultraorthodoxe. Die sind hier! Leute, die säkular, die sind hier! Es gibt linke und rechte Parteien. Die sind hier. Immer sind in der Straße Verrückte. Die Stadt hat sich geändert. Jede Gruppe sieht die andere Gruppe wie eine Gefahr. ATMO Café Ticho (unter Erzähler Kreublende mit:) 24. ATMO Straßengeräusche / Jerusalem / Stimmen und Spatzen (kurz frei stehen lassen, unterblenden) ERZÄHLER Aharon Appelfeld, in Großaufnahme eingefangen von der Kamera, zuckt mit den Schultern. Was könne schon noch kommen - nach dem Holocaust und den Jahren in den Wäldern? Er greift sein Jackett, geht zur Tür, er winkt. Die Kamera folgt ihm, einem kleinen Mann, dessen Gang nicht in diese quirlige Stadt passen will. Appelfeld läuft federnd durch Jerusalem, lautlos. Als bewege er sich noch immer durch einen Wald ... ATMO Straßengeräusche, kurz frei stehen lassen, unterblenden ERZÄHLER Bald wird es Appelfelds Autorengeneration nicht mehr geben. Bleiben wird ihr Werk, eine Art jüdische Erinnerungsliteratur. Was die älteren Autoren mit der nächsten Generation verbindet, ist die Erfahrung von Bedrohung und Gewalt, Terror und Krieg. Doch die Jüngeren schreiben kaum noch über den Holocaust. Ihre Themen sind: Der Überfall durch die arabischen Staaten 1948. Die Vertreibung der Juden aus der Altstadt von Jerusalem. Der Suezkrieg 1956. Der Aufmarsch von 100.000 ägyptischen Soldaten und der Sechstagekrieg von 1967. Der erneute Angriff Ägyptens und Jordaniens auf Israel 1973. Dazu kommen die Terrorwellen: die erste und zweite Intifada, die Raketen von Hamas und Hisbollah, die Selbstmordattentate. 25. ATMO Straßengeräusche Tel Aviv / Verkehr, Musik, Stimmen, Springbrunnen (kurz frei stehen lassen, unterblenden) ERZÄHLER Ich bin nach Tel Aviv gefahren. Auf der Schnellstraße Nummer Eins. Nach einer Stunde war ich da. In Tel Aviv schmeckt man schon das Meer. In der Dämmerung drehe ich ein paar Straßenszenen: Jugendliche, untergehakt, eilen Richtung Strand. Aus Cafés dringt Musik. Vor dem Habima-Theater rauschen Springbrunnen. 26. ATMO Frau und Mann auf Gehsteig (unter Erzähler einblenden/nicht frei stehen lassen) ERZÄHLER Tel Aviv ist fröhlicher als Jerusalem. In einem Viertel mit alten Häusern erregen ein Mann und eine Frau meine Aufmerksamkeit. Auf einem Gehsteig stellen sie einen Klapptisch auf, entkorken Wein, ordnen Plastikbecher. 27. ATMO Wein entkorken / Flasche klirrt (frei stehen lassen) 28. O-TON Lizzie Doron (engl) ÜBERSETZERIN Das hier ist Downtown Tel Aviv. Hier leben viele Einwanderer, auch viele arme Menschen. Aber das Viertel ist einer der großartigsten Orte in der Stadt. Junge Menschen sind hierher gezogen, Künstler, auch Menschen mit einer anarchischen Kreativität. Hier fanden sie Plätze für Theater oder Kultur. ERZÄHLER Die Frau heißt Lizzie Doron. Sie ist eine bekannte Schriftstellerin. Der Laden hinter ihr ist kein Laden mehr, sondern ein winzig kleines Theater - eines jener Theater, die junge Künstler in Tel Aviv gegründet haben. Gleich gibt's hier eine Vorstellung, vor dreißig Zuschauern. Lizzies Sohn Ariel Doron wird seine aktuelle Show zeigen, "Plastic Soldiers", ein böses, witziges Stück. Leute kommen, bleiben stehen. Sie trinken Wein, sie reden mit Lizzie, dann gehen sie alle in den Laden. Die Vorstellung beginnt. 29. O-TON Ariel Doron (engl.) ÜBERSETZER Bitte beachten Sie: Dies ist eine Show über den Krieg. Es wird ein paar "Booms" und "Bangs" geben. Aber fürchten Sie sich nicht. Die Geräusche kommen nicht von draußen, sondern aus der Show. Sie müssen also nicht aufstehen und in die Bunker rennen. 30. ATMO "Plastic Heroes" / Sirenenszene (unter O-Ton hervor- und unterblenden ERZÄHLER Die Kamera fängt Lizzie Dorons Hände ein. Sie sind unruhig. Ariels Bühne ist ein Tisch. Seine Darsteller sind winzige Soldaten, made in China. Die "Plastic Soldiers". Zur Ausstattung gehören weitere Spielsachen: Panzer, Jagdflugzeuge, Hubschrauber. Ariel Doron spielt gegen den Krieg. Und Lizzies Hände flattern. Sie zeigen die Aufregung einer Mutter. Sie sagt: Niemand weiß, was bei so einer Vorstellung passieren kann. 31. O-TON Lizzie Doron (engl.) ÜBERSETZERIN Einmal, in einer seiner Shows, holte er plötzlich eine Hitler-Puppe hervor. Einige Zuschauer standen sofort auf. Es war ein Automatismus. Sie sind nicht gegangen, sie sind regelrecht geflohen. ERZÄHLER Ich stelle mir die Szene vor. Sie lässt ahnen, welche Traumata die Holocaust-Überlebenden ihren Kindern hinterlassen haben. Lizzie Doron ist eines dieser Kinder. Schnitt: Die Kamera zeigt die Schriftstellerin jetzt in ihrer Wohnung, ihrer Bibliothek. "Dies ist unser Luftschutzraum", sagt sie. Verstärkte Wände, Belüftung, vier Stühle. Gasmasken. Eine Packung trockener Kekse, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Lizzie sagt: "Vom ersten Sirenengeräusch bis zum Einschlag hat man anderthalb Minuten. Wenn die Raketen kommen. Vom zehnten Stock schafft man es niemals in den Luftschutzkeller." Das Objektiv zoomt auf Dorons Gesicht. Blonde, gekräuselte Haare, hinten lässig hochgesteckt. Lizzie Doron, geboren bereits in Israel, stammt aus derselben Generation wie David Grossman. Zu schreiben begann sie später als er. Grossmans Texte sind heute Pflichtlektüre in israelischen Schulen. Dorons Texte ebenfalls. Für die Schriftsteller dieser Generation sind die Traumata ihrer Eltern ein zentrales Thema. 32. O-TON Lizzie Doron (engl) ÜBERSETZERIN Meine Eltern waren bereits tot, und ich war über vierzig, als meine Tochter eines Tages zu mir kam. Sie sollte eine Hausarbeit für die Schule schreiben: "Mami", sagte sie, "ich will etwas über die Wurzeln deiner Familie wissen." Ich konnte nur ein Wort erwidern: Holocaust! Meine Tochter hakte nach: Also deine Mama ist eingesperrt gewesen? Wie alt war sie, als sie starb? Ich sagte: Ich weiß es nicht! Und sie: Wie hießen dein Großvater und deine Großmutter? Ich wusste nichts! ERZÄHLER Seit dieser Zeit, seit den Neunzigern, schreibt Lizzie Doron über ihre Vorfahren. Eines ihrer Bücher, bei Suhrkamp erschienen, trägt den Titel "Es war einmal eine Familie". Aus Bruchstücken ihrer Erinnerungen erschafft die Autorin ein Porträt ihrer Mutter. In dem Buch findet sich folgende Szene: Eine Frau unbestimmten Alters betritt eine Bank. Sie hat ein Mädchen an der Hand. Draußen ist Herbst. Es regnet. Die Frau, Lizzies Mutter, geht zum Schalter. 33. MUSIK Khamsa (gekürzt), Dhafer Yousef, aus: "Abu Nawas Rhapsody" (kurz frei stehen lassen, unterblenden) ZITATORIN "Ich möchte für meine Tochter ein Sparkonto eröffnen", sagte sie zu dem Bankangestellten und fügte stolz hinzu: "Für die Universität." Der Angestellte, ein junger Mann, erkundigte sich höflich nach dem Namen meiner Mutter, und sie sagte: "Helena, schreiben Sie H-e-l-e-n-a", und dann buchstabierte sie auch ihren Familiennamen. "Und die Adresse?", fragte der Angestellte und schaute sie über seine Brille hinweg an. "Auschwitz, Baracke 2, gegenüber vom Krematorium", antwortete sie. Lizzie Doron, "Es war einmal eine Familie", suhrkamp 2010, S.129, Übersetzung: Mirijam Pressler MUSIK ausblenden 34. O-TON Lizzie Doron (engl) ÜBERSETZERIN Meine Mutter hat nie etwas über ihre Vergangenheit erzählt. Nicht einmal, wann sie geboren wurde. Für meine Tochter mußte ich ihre Biographie deshalb erfinden. Ich hatte nicht vor, Schriftstellerin zu werden. Es war sozusagen ein Unfall. ERZÄHLER In ihren Büchern beschreibt Lizzie Doron die Einsamkeit der Überlebenden, der Menschen aus dem Lande "Dort", dem Land der Lager, im Lande "Hier", Israel. Sie tut dies in nüchternen Bildern, von allem Ballast befreit, ohne Kommentar. Gleich mit ihrem ersten Buch wurde sie auch im deutschen Sprachraum bekannt. Alles begann mit einem Anruf. 35. O-TON Lizzie Doron (engl) ÜBERSETZERIN ...vom Suhrkamp-Verlag. Sie wollten das Buch übersetzen lassen, aber ich zögerte. Dann hörte ich: Dieser Verlag würde auch Goethe und Schiller veröffentlichen. Und ich erinnerte mich an eine Obsession meiner Mutter: Nachts hat sie lautstark Goethe, Schiller und Heine deklamiert. Sie lief in ihren zwei kleinen Zimmern auf und ab und las. Als Kind war ich davon wie hypnotisiert. Auf diese Weise lernte ich die deutsche Sprache. Ich kann sie lesen, aber nicht sprechen. Nach dem ersten Buch fragten mich Leute, ob ich noch mehr Bücher schreiben wolle. Und wie viele. Ich sagte: Ich werde sechs Bücher schreiben. Sie schauten mich an und fragten: Warum sechs? Ich sagte: Je eins für jede Million ermordeter Juden. ERZÄHLER Schnitt. Die Kamera gleitet über Dorons Bücher. Lizzie hat sie für uns auf den Tisch gelegt. Nach dem ersten Roman erschienen vier weitere. Mit jedem Buch hat die Autorin die Biographie ihrer Familie fortgeschrieben. Sie hat davon berichtet, wie das Schweigen der Überlebenden, der Traumatisierten, auch sie traumatisiert hat, die Tochter. Hat darüber geschrieben, wie Tochter Lizzie ihre Mutter verließ, weil deren Schweigen ihr die Luft nahm. Lizzie Doron wurde für einige Jahre Siedlerin auf den besetzten Golanhöhen. 36. O-TON Lizzie Doron (engl) ÜBERSETZERIN Ich bin dort geritten, und ich fuhr einen Mähdrescher. Drei Jahre lang hatte ich keinen Kontakt zu meiner Mutter. Sie wollte nichts zu tun haben mit meiner zionistischen Periode und ich nichts mit ihr. Wie ich dort auf dem Golan leben könne, auf Land, das anderen gehöre!? Doch das war der Höhepunkt meines damaligen Lebens: Zionistin zu sein, Teil eines starken israelischen Volkes, sich mit dem Land verbunden zu fühlen ... Ich meinte, ich sei in der richtigen Gruppe, auf dem richtigen Weg. Und ich dachte: Wir sind die Sieger. Wir werden ewig leben. Die Wende kam mit dem Jom-Kippur-Krieg. An einem einzigen Tag jenes Krieges sind sieben meiner Freunde an der Front gefallen. Auf den Golanhöhen. Sie hatten wie ich geglaubt, wir seien die Sieger, wir würden für immer leben. ERZÄHLER Der Jom-Kippur-Krieg von 1973: Syrien und Ägypten versuchten damals, den Golan und den Sinai zurückzuerobern. In ihren Büchern spiegelt Lizzie Doron jene Zeit. Die Beerdigungen der Kindheitsfreunde. Die Veränderungen im Alltag, die innenpolitische Zerrissenheit, den Aufstieg religiöser Eiferer zur Macht. Die Bücher zeigen, was der Terror von Hamas und Hisbollah geweckt hat: Angst, Paranoia. Mißtrauen hat die Psyche der Israelis durchdrungen, ein schleichendes Gift. Doron erzählt, wie dieses Gift jedes Vertrauen zerstört. Wie es ein normales Leben in Frieden immer unwahrscheinlicher macht. Lizzie Doron deutet auf ein Foto: ihr Sohn Ariel, der Puppenspieler, als kleiner Junge. In ihrem jüngsten Roman, dem sechsten, schreibt Lizzie über Ariel. Der Titel des Romans: "Who the fuck is Kafka" - erschienen bei dtv. 37. MUSIK Shaouk (Intro), Dhafer Yousef, aus: "Abu Nawas Rhapsody"(kurz frei stehen lassen, unterblenden) ZITATORIN Vor fünf Jahren, auf dem Höhepunkt der zweiten Intifada, feierte mein Sohn seinen zwölften Geburtstag. [...] Er wollte ins Kino, essen gehen und an den Strand. [...] Erst gingen wir ins Kino. [...] Als wir uns setzten, fiel mir auf, dass die beiden jungen Männer, die hinter uns saßen, Arabisch sprachen. Mit einem schnellen Blick nahm ich wahr, dass einer von ihnen eine große Tasche hatte, viel zu groß für meinen Geschmack. Ich [...] stellte mir vor, wie unsere Glieder in alle Richtungen flogen. [...] Ich verkündete meinem geliebten Sohn, wir würden kein Risiko eingehen. [...] Wir suchten eine beliebte Tel Aviver Pizzeria auf, und während wir diskutierten, welche Pizza besser sei, [...] hörten wir in den Nachrichten von einer Explosion in einer Pizzeria in Jerusalem. [...] Wir flohen. Draußen sah ich, dass nicht nur wir uns in Sicherheit brachten. Endlich kamen wir zum Strand. [...] Mein Sohn zog sich schnell aus und rannte zum Wasser. [...] Wenigstens ein bisschen Geburtstag, dachte ich und ließ mich auf einen Stuhl fallen. ›Ich bitte um Aufmerksamkeit, es gibt einen verdächtigen Gegenstand, ich wiederhole, einen verdächtigen Gegenstand‹, verkündete der Bademeister über die Lautsprecher. ›Alle Badegäste werden gebeten, den Strand sofort zu verlassen.‹ Wir flohen auch von dort. Auf dem Heimweg schlug ich meinem enttäuschten Sohn vor, sich noch etwas zu wünschen. Ich war bereit, alles zu kaufen, was er wollte. ›Ach, Mama‹, sagte er wütend, ›ich wünsche mir ein anderes Land.‹ Lizzie Doron, "Who the fuck is Kafka", dtv 2015, S. 54/55, Übersetzung: Mirijam Pressler MUSIK ausblenden ERZÄHLER Die Kamera zoomt vom Gesicht der Autorin weg auf das Cover ihres jüngsten Buches. "Who the fuck is Kafka". Die Wörter auf dem Cover sehen aus, als wären sie mit einer Schablone an eine Wand gesprayt. Vor der Wand steht eine Frau und lauscht. 38. O-TON Lizzie Doron (engl) ÜBERSETZERIN Das Buch ist eine Art Tagebuch. Drei Jahre lang war ich Teil einer arabisch-palästinensischen Familie. Zwei Tage pro Woche lebte ich bei dieser Familie in Ost-Jerusalem und einen Tag pro Woche kam der Mann zu uns nach Israel ERZÄHLER Die Autorin zeigt in ihrem Buch: Verständigung ist möglich, doch sie hat Grenzen. Doron schildert die Schikanen der israelischen Besatzer. Sie zeigt aber auch, wie sich der arabische Freund chamäleonhaft verwandelt, sobald Europäer dabei sind. Ein stereotypes Muster. Einmal ist eine belgische EU-Beamtin zu Besuch. Michelle. Eine elegante Frau. Die drei sitzen in einem Restaurant, Nadim erzählt aus seinem Leben. Und plötzlich verwandelt er sich. Aus dem Freund wird ein Ankläger. Seine Worte machen aus Lizzie eine Täterin: die ewige Jüdin. Und Michelle, die EU-Beamtin? 39. O-TON Lizzie Doron (engl.) ÜBERSETZERIN Die nette Dame von der EU schaute mich wieder und wieder an und sagte: "Kafka! Das ist Kafka!" Sie wiederholte das den ganzen Abend lang. Und er erzählte und erzählte. Er war in einem endlosen Monolog. 40. MUSIK Oil on Water, Dhafer Yousef, aus: "Electric Sufi"(kurz frei stehen lassen, unterblenden) ZITATORIN In meinen Augen blitzte unterdrückte Wut auf. Ich stellte mir vor, wie ich vor dem Richtertisch stand und sie, die Richterin, anschrie, dass diese Blutfehde am Tag meiner Geburt über mich ausgegossen worden sei und ich nichts dafür könne. Ich erklärte der eleganten Richterin mit dem zornigen Blick, dass auch ich ein Opfer sei, ein Opfer der Umstände, der Politiker, der Interessen, ein Opfer Gottes. Ich sagte, dass auch ich so leben wollte wie sie, in einem Land wie Belgien, der Schweiz oder Frankreich! Lizzie Doron, "Who the fuck is Kafka", dtv 2015, S. 129 Übersetzung: Mirijam Pressler MUSIK ausblenden ERZÄHLER Lizzie Doron erinnert sich an dieses Gespräch mit ihrem neuen arabisch-palästinensischen Freund und der jungen EU-Beamtin, als hätte es erst gestern stattgefunden. Dieser Abend bescherte ihr den Titel für ihren neuen Roman. 41. O-TON Lizzie Doron ÜBERSETZERIN Schließlich beendete ich den Abend, ... und wir beide gingen zu unseren Autos auf dem Parkplatz. Ich konnte ihn weder ansehen noch mit ihm sprechen. Aber er folgte mir, ergriff meine Hand und sagte, Lizzie, kann ich Dich etwas fragen? Ich dachte, er wollte sich entschuldigen, er will mir sagen, was mit ihm los war. Er sah mir in die Augen und sagte, Lizzie, wer zum Teufel ist Kafka? (lacht laut) ERZÄHLER Dorons Roman "Who the fuck is Kafka" ist ein sehr intimes Psychogramm der derzeitigen israelischen und palästinensischen Gesellschaft, wie man es noch nicht gelesen hat. "Who the fuck is Kafka" ist kein Buch, das Hoffnung macht. 42. O-TON Lizzie Doron (engl) ÜBERSETZERIN Du willst wissen, wie ich Israel beschreiben würde? Israel ist kein Land. Das ist ein Irrenhaus für alle posttraumatischen Juden der Welt. Sie kommen aus dem Holocaust, aus Russland, aus Äthiopien. Alle sind vor irgendwas geflohen. Sie suchen hier Obdach. Und sie suchen Heiler, die ihnen helfen, ihre Traumata zu überwinden. Die einen haben geglaubt, Frieden würde die richtige Behandlung für sie sein. Das funktionierte aber nicht. Andere glaubten, Krieg sei die richtige Behandlung. Das funktionierte aber auch nicht. Manche erkannten irgendwann, dass niemand hier in Israel sie heilen kann. Nun sind sie wieder unterwegs, holen sich eine Zweitmeinung ein: Sie suchen in Amerika oder in Berlin nach einem neuen Heiler. 43. ATMO Café Beta, Tel Aviv ERZÄHLER Ein Autor hat die Suche seiner Generation nach Heilung zu Literatur gemacht: Eshkol Nevo. Er ist fast 20 Jahre jünger als Lizzie Doron. Für unser Treffen schlug er das "Beta" vor, ein Studenten-Café, ganz in der Nähe der Universität. Und da sitzen wir nun. Es ist laut, ab und zu zischt die Espresso-Maschine. Die Kamera läuft. Porträtaufnahme Eshkol Nevo: Angegraute Haarspitzen, jungenhaft glattes Gesicht, schmale Brille, Schalk in den Augen. In einem Roman, "Neuland", auch er erschien bei dtv, erzählt Nevo von einem Helden des Jom-Kippur-Kriegs. Dreißig Jahre später verschwindet dieser Kriegsheld - zunächst spurlos. Dann schickt er Mails aus irrlichternder Ferne. Südamerika. Sohn Dori reist dem Vater hinterher, quer durch Ecuador und Peru. Während der Reise lernt er Inbar kennen, eine junge Israeli. ATMO Kreuzblende mit Musik 44. MUSIK Childhood poverty, Enio Morricone, aus: "Once upon a time" (kurz frei stehen lassen, unterblenden) ZITATOR Auf der Route Titicaca-La Paz über die Altiplano-Hochebene fuhren mit ihnen drei Hühner, ein kleines Schwein und zwei Papageien im Käfig. Die Menschen saßen zu dritt auf einem Sitz für zwei und aßen mit den Händen die Mahlzeiten, die sie zu Hause vorgekocht hatten. [...] Inbar drückte sich an Dori, damit man ihr nicht so auf die Pelle rückte. Ihre Hose berührte ab und zu flüchtig seine Hose, ihr Atem mischte sich ab und zu flüchtig mit seinem. Sie schaute ihn oft an, wandte ihren Blick aber ab, sobald sie seinem begegnete. Man bekommt ja geradezu Sehnsucht nach den israelischen Bussen, sagte er, um etwas zu sagen, und sie lachte erleichtert, ja. Um die Wellen ihres Lachens auszunutzen, fuhr er fort: Ich komme mir vor wie jemand, dem sie den grauen Star entfernt haben. Eshkol Nevo, Neuland, dtv 2013, S. 441, Übersetzung: Anne Birkenhauer MUSIK überblenden in 45. ATMO Café Beta unterblenden, stehen lassen ERZÄHLER Eshkol Nevo hat die gleiche Reise gemacht, vor Jahren, quer durch Südamerika. Und dabei hat er Sonderbares erlebt. Wie Dori hatte er das Gefühl, das Heimatland Israel plötzlich klarer zu sehen. 46. O-TON Eshkol Nevo ÜBERSETZER Neuland ist nicht nur ein Roman über die Generation meines Vaters. Über seine Generation zu schreiben, das war ein Weg, auch über mich zu schreiben. (Stimme bleibt oben) ERZÄHLER Wie Doris Vater war auch Nevo vor seinem Südamerika-Trip bei der Armee. Vier Jahre lang, als Offizier. Während des "Kriegs der Steine", der ersten Intifada. 47. O-TON Eshkol Nevo ÜBERSETZER Ich verstand erst nach meinem Einsatz als Soldat, während des Palästinenser-Aufstands, daß auch ich plötzlich Teil des Spiels gewesen bin. Diese Erkenntnis brachte mich dazu, selbst den Rucksack zu packen. Auch ich ging nach Südamerika. Vier Jahre lang mochte ich nicht zurückkehren. Heute denke ich: Fuck, was war das denn?! ERZÄHLER Im Roman wird Dori den verschwundenen Vater am Ende finden. Der Vater lebt in einer Siedlung jüdischer Aussteiger in Argentinien. Der Name der Siedlung: Neuland. Der Vater sieht in "Neuland" das neue Zion, die Heimstatt der Juden. Dori widerspricht: ATMO Kreuzblende mit: 48. MUSIK Langue Muette, Dhafer Yousef, aus: "Electric Sufi" ZITATOR Soviel ich weiß, erwiderte er, liegt Zion an einem sehr präzise definierten Ort. Oj, Dorinju, du hast die Pointe verpasst. Dann erklär sie mir! [...] Ein Staat, der nur existiert, um das Überleben zu sichern, funktioniert nicht, Dorinju. Die Idee zur Errichtung des Staates Israel war, die Juden aus dem Exil an einem Ort zu versammeln, von dem man sie nicht vertreiben würde. Aber das war, ich betone, in der Vergangenheit. Ein Staat braucht eine Vision. Ein Staat ohne Vision ist wie eine Familie, in der es keine Liebe gibt. Und wenn es keine Liebe gibt, warum dann die Familie zusammenhalten? Was hat das alles mit Neuland zu tun? Dori wurde ungeduldig. Er ärgerte sich, dass sein Vater zu ihm sprach wie ein Guru zu seinen Jüngern [...] Neuland wird die Mahnung sein. Neuland wird daran erinnern, dass der Staat der Juden ein Athen werden sollte, bevor er ein Sparta wurde. Eshkol Nevo, Neuland, dtv 2013, S. 572 / 573, Übersetzung: Anne Birkenhauer MUSIK Kreuzblende mit Atmo 49. ATMO Café Beta (mit O-Ton verblenden) 50. O-TON Eshkol Nevo (engl) ÜBERSETZER Die Generation vor uns wollte einen sicheren Platz für die Juden schaffen. Wir hingegen wurden schon in einem Land geboren, das unser Land ist. Ich habe sechs, sieben Bücher publiziert, ich schrieb aber nie über den Holocaust. Für unsere Identität ist der Holocaust jedoch wichtig. Er ist Teil der israelischen Psyche. Auch meiner Psyche. Mit dem Holocaust lassen sich viele Dinge erklären Aber für meine Generation ist das nicht genug. Wir wollen mehr ERZÄHLER In Israel gewinnen religiöse Eiferer Macht und Einfluss. Und so suchen Nevos Helden weiter nach ihrem Neuland. Fern von Israel. Sie beantragen Pässe in jenen Ländern, aus denen ihre Vorfahren einst vertrieben wurden. In Deutschland zum Beispiel. 51. O-TON Eshkol Nevo (engl) ÜBERSETZER Auf der einen Seite ist das ein natürliches Phänomen. Andererseits: Dieses Verhalten ist seit jeher Teil unserer Überlebensstrategie. Wir Juden bereiten uns immer auf den Tag X vor, auf eine Alternative. Falls dieser Ort hier nichts mehr taugt. ERZÄHLER Zur jüngeren Generation israelischer Schriftsteller gehören neben Eshkol Nevo Autoren wie Nir Baram, Yftach Ashkenazi und Etgar Keret. Diese Autoren schauen in ihren Texten kaum noch zurück. Das jüdische Trauma ist nicht ihr Thema. Sie zeigen eher, was das Trauma in der Gesellschaft bewirkt. 52. MUSIK Electric Sufi, Dhafer Youssef, aus: "Electric Sufi" ERZÄHLER An dieser Stelle könnte ich in meinem Film einen Bagel einblenden, ein rundes Gebäck aus Hefeteig mit einem Loch in der Mitte. Vermutlich hat es jüdischen Ursprung. Ein Backwerk mit Loch als Allegorie: Israel ist vielleicht der einzige Staat, der um einen ideologischen Kern herum errichtet wurde. Dieser Kern ist die zionistische Idee. Aus aller Welt sind Juden nach Palästina gekommen. Das einzige, was sie verband, war diese Idee: einen jüdischen Staat zu errichten und zu bewahren. Mit den Jahren wurde die Idee immer unwichtiger; der Staat aber blieb der gleiche. Nun sitzen die Israelis alle wie auf dem Rand eines Bagels - und schauen ins Nichts. 53. ATMO Café Triangel. (kurz frei stehen lassen, unterlegen) SPRECHER Der Vergleich stammt von Etgar Keret, Jahrgang 1967, einem erfolgreichen Autor der jüngeren Generation. Ich zoome vom Bagel zurück, mache den Bildausschnitt größer: Nun sehen wir den Autor vor seiner "gebackenen Allegorie" sitzen, im Triangel in Tel Aviv, dem ersten Café in Israel, das rund um die Uhr geöffnet hatte. 54. O-TON Etgar Keret (engl.) ÜBERSETZER Meine Lektion aus dem Holocaust lautet: Zeige Verantwortung. Während des Gaza-Krieges 2014 meinten die Leute, in einem Krieg dürfe man die eigene Regierung nicht kritisieren. Da erinnerte ich mich an einen Ausspruch meines Vaters. Er sagte: Nur ein einziges Mal im Leben würde ich dir befehlen: "Mach den Mund auf!" Nämlich wenn andere dir sagen: "Halt den Mund!" Wenn andere dir das Reden verbieten, ist es deine Pflicht zu reden. Das war seine Lektion aus dem Holocaust. Ich glaube, es war Brecht, der sagte: Das Böse kann nur die Macht übernehmen, wenn die guten Leute schweigen. ERZÄHLER Etgar Keret rührt den Bagel nicht an. Der Mann - er sieht aus wie ein ewiger Student - arbeitet für das Fernsehen, er produziert Kurzfilme, schreibt Comics und Geschichten. Seine Bücher sind in Israel Beststeller; sie wurden in neun Sprachen übersetzt, sechs Erzählbände auch ins Deutsche. Zur Zeit arbeitet er an einem siebten Buch - über Tel Aviv. Für Keret ist die Stadt eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. 55. O-TON Etgar Keret (engl) ÜBERSETZER Tel Aviv ist mit Abstand der beste Ort der Welt. Es hat die Dynamik, die Vielfalt und den Puls einer Großstadt - und zugleich alle Vorteile einer Kleinstadt. Man kann sich in dieser Stadt verlaufen. Aber man wird sich in ihr nie einsam fühlen. Weil man immer nur zwanzig Meter von irgendeinem Menschen entfernt ist, den man kennt. Ein großartiger Ort. ATMO Bleibt weiter unter dem Text liegen. ERZÄHLER "Dschouzef" - so heißt eine Geschichte von Etgar Keret. Sie stammt aus dem Band "Plötzlich klopft es an die Tür", erschienen beim S. Fischer-Verlag. In dieser Geschichte gibt es einen etwas zwielichtigen Produzenten. Er will Keret überreden, gemeinsam einen Film zu drehen. Die Szene könnte genau hier spielen, im Café "Triangel", in dem Keret - endlich! - nun doch in seinen Bagel beißt. ATMO Kreuzblende mit Musik 56. MUSIK In the name of love, Dhafer Yousef, aus: "Abu Nawas Rhapsody" (kurz frei stehen lassen, unterblenden ZITATOR "Du denkst, ich habe das gewisse Etwas nicht, ha? Dass ich nicht wirklich ein Produzent bin, bloß so einer mit ein bißchen Geld von zu Hause, der viel redet?" - Anscheinend nicke ich. [...] Jetzt lacht er. [...] "Du hast recht", sagt er, "oder vielleicht überrasch ich dich ja trotzdem noch. Oder mich selber." Dschouzef verlangt nach der Rechnung und besteht darauf zu zahlen. "Was sagst du zu unserer Bedienung?", fragt er, während wir darauf warten, dass sie seine Kreditkarte einlesen. "Kommt's dir so vor, dass sie auch flieht? Vor sich selber, meine ich?" Ich zucke die Achseln. "Und der eine da, der gerade reinkommt, mit dem Mantel? Schau, wie der schwitzt. Der flieht garantiert vor was. Vielleicht machen wir daraus einen Start-up. Statt dem Film - ein Computerprogramm, das Menschen identifiziert, die vor sich selbst fliehen, die Schiss davor haben, was sie entdecken könnten. Das könnte der Hit werden." Ich betrachte den Schwitzenden im Mantel. Das ist das erste Mal, dass ich einen Selbstmordattentäter sehe. Etgar Keret, "Plötzlich klopft es an die Tür", S. Fischer-Verlag 2012, S. 209, Übersetzung Barbara Linner MUSIK Kreuzblende mit: 57. ATMO Café Triangel, (kurz frei stehenlassen, unterblenden) ERZÄHLER Gescheiterte Existenzen, ewig Suchende, junge Menschen aus einer Generation, der ihr eigenes Land fremd wird - von Typen dieser Art wimmelt es in den Erzählungen des Etgar Keret. 58. O-TON Etgar Keret (engl) ÜBERSETZER Ich denke, für die Leute hier ist es schwer mit Hoffnung in die Zukunft zu sehen. Sie wissen: Der nächste Konflikt mit der Hamas oder der Hisbollah ist unvermeidbar. Alles, was sie schon durchgestanden haben, wird sich wiederholen: Sie werden wieder mit den Kindern in den Schutzraum rennen, haben wieder Angst um den Sohn in der Armee, Angst davor, töten zu müssen oder getötet zu werden. Wir alle wissen: Auch der nächste Krieg ist nicht zu gewinnen. Unsere Wirtschaft wird erneut leiden. Und wieder werden Zivilisten in Palästina oder Libanon sterben, je nachdem, wer uns diesmal angreift - die Hisbollah oder die Hamas. ATMO unter Erzähler Kreuzblende mit Musik ERZÄHLER "Plötzlich klopft es an die Tür": Acht Jahre brauchte Keret für diesen Erzählband, für fast 40 Geschichten. Der Leser spürt eine zunehmende Schärfe im Ton: Keret will mit seinen manchmal boshaften Texten den Irrwitz des israelischen Alltags bannen. Und er will einer jungen, desillusionierten Generation eine Stimme geben. In der Titelerzählung seines Buches zielt ein bärtiger Mann mit einem Revolver auf den Kopf des Autors und befiehlt: "Erzähl mir eine Geschichte!" 59. MUSIK Cosmology, Dhafer Yousef/Wolfgang Muthspiel, aus "Glow" (kurz frei stehen lassen, unterblenden) ZITATOR Ich versuche dem Bärtigen zu erklären, dass es sich, wenn er die Pistole in die Tasche zurücksteckte, nur zu seinen Gunsten auswirken könne. Zu unseren Gunsten. Es ist schwierig eine Geschichte zu erfinden, wenn dir die Mündung einer geladenen Pistole auf den Kopf zielt. Aber der Kerl bleibt stur. "In diesem Staat", erklärt er, "musst du, wenn du was willst, es mit Gewalt einfordern. [...] Eine Woche hier reicht aus, um zu verstehen, wie es funktioniert. Oder richtiger gesagt, zu kapieren, wie es nicht funktioniert. Die Palästinenser haben hübsch um einen Staat gebeten. Haben sie was gekriegt? Einen Scheißdreck haben sie gekriegt. Haben sie sich drauf verlegt, Kinder in Bussen in die Luft zu jagen, und plötzlich fing man an, ihnen zuzuhören. Die Siedler wollten, dass man den Dialog mit ihnen aufnimmt. Hat man? Einen feuchten Dreck hat man. Haben sie rumgeprügelt, ein bißchen kochendes Öl auf Grenzwächter gekippt, und auf einmal hat man angefangen, ihnen entgegenzukommen. Dieser Staat ist ein Staat, der nur Gewalt versteht, egal ob von Politik, Wirtschaft oder einem Parkplatz die Rede ist. Bloß Gewalt verstehen wir hier." "Schauen Sie", versuche ich einzuwenden. "Nichts da mit ‚Schauen Sie'", knurrt der Bärtige und spannt den Abzug, "entweder eine Geschichte oder eine Kugel in den Kopf." Etgar Keret, "Plötzlich klopft es an die Tür", S. Fischer-Verlag 2012, S. 9-11, Übersetzung Barbara Linner MUSIK ausblenden ERZÄHLER Kerets Text wirkt wie eine weitere bittere Allegorie auf die Verhältnisse in seiner Heimat. Israel: das Land, in dem man Autoren die Geschichten raubt? Nein, soweit ist es noch nicht. Israel scheint sich aufzulösen, es zerfasert, und zugleich erfindet es sich neu. - Die Kamera fängt Kerets Hand ein. Die Hand legt den angebissenen Bagel auf den Teller. Das Bild friert ein. Schwarzblende, Ende, Abspann. Was bleibt? Die Sehnsucht des Erzählers Etgar Keret, in seinen Texten einmal nicht die großen Probleme der Welt erörtern zu müssen. Sondern schlicht und einfach eines zu schaffen: Bücher zum Wohlfühlen. 60. MUSIK Mandakini, Dhafer Yousef, aus: "Electric Sufi" (kurz frei stehen lassen, unterblenden) ZITATOR In dieser Nacht, im Bett, beschloss Ronald, ein Buch zu schreiben. Etwas zwischen einer lehrreichen Parabel und einem Denkerbuch. Die Geschichte würde von einem König handeln, allseits geliebt von seinen Untertanen, der etwas ihm sehr Teures verlor. [...] Gegen Seite hundert würde das Buch weniger symbolisch und aktueller werden, sich mit Entfremdung befassen [...] und auch etwas Trost bieten. Auf Seite hundertsechzig, hundertsiebzig würde es in eine Art kommerziellen Unterhaltungsroman vom Lesbarkeitsniveau her übergehen. [...] Und auf Seite dreihundert würde sich das Buch in ein berührungsfreundliches Pelztierchen verwandeln, das der Leser umarmen und streicheln kann, um seine Einsamkeit zu bewältigen. Etgar Keret, "Plötzlich klopft es an die Tür", S. Fischer-Verlag 2012, S. 81, Übersetzung Barbara Linner 1