COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 13.4.2008, 0.05 Uhr "Bühnenkunst und Jetztzeit" Sprechkunst im 20. Jahrhundert (2/2) Von Reinhart Meyer-Kalkus 1. Tonbeispiel: Mischung aus Theodor Siebs Übungen mit A- E- und U-Lauten Sprecher 1: Im Lautarchiv der Berliner Humboldt-Universität findet sich eine Tonaufnahme aus dem Jahre 1925 von Theodor Siebs, einem der prominentesten Hochschul-Germanisten der Zeit. Siebs erläutert hier die Idee, dass sich das gesprochene Deutsch an der Bühnenaussprache ausrichten müsse, und dass Schule, Theater und Rundfunk dafür eine besondere Verantwortung hätten: 2. Tonbeispiel: Theodor Siebs über Bühnenhochsprache "Ein hohes Verdienst hat seit Jahrhunderten die deutsche Bühne durch die Pflege der deutschen Aussprache erworben. Man mag die Mundarten noch so sehr schätzen, aber man darf nie vergessen, daß alle Völker höherer Bildung eine über den Mundarten stehende Hochsprache entwickelt und gepflegt haben. Und das ist in Deutschland nicht etwa die Sprache der Gebildeten einer bestimmten Gegend, sondern die Sprache des ernsten Schauspiels an guten Bühnen. Wo immer die Aussprache über die Mundarten sich erhebt, sei es in der Umgangssprache der Gebildeten, in der Sprache der Redner oder des deklamatorischen Vortrags, stets geschieht es in der Richtung auf die Sprache der Kunst der deutschen Bühne. ... So hat die Bühne das Verdienst und die ehrenvolle Aufgabe, in dieser Sache die Lehrmeisterin Deutschlands zu sein. Damit aber hat sie auch die Pflicht, streng auf die Pflege der Hochsprache, dieses gemeinsamen deutschen Gutes, zu halten." Sprecher 1: Mit feinen Ohren mag man hier ein Beispiel für das hören, was Theodor Siebs selber fordert: ein durch Bühnenaussprache diszipliniertes Rheinisch. In der stark akzentuierenden, gespannten Diktion erkennt man den bildungsidealistischen Sprechstil wieder, der seit dem 19. Jahrhundert in der Öffentlichkeit, zumal bei Akademikern, üblich geworden war, der sogenannte 'Schillerton'. Sprecherin 2: Theodor Siebs hatte im Jahre 1898 zusammen mit einem Konsortium von Sprachwissenschaftlern und Theaterleuten ein Aussprache-Lexikon unter dem Titel "Deutsche Bühnenaussprache" publiziert. Der 'Siebs', wie dieses Wörterbuch mit phonetischen Umschriften bald genannt wurde, sollte zur Autorität für die Sprecherziehung in Schulen und Theater werden. Bis in die Gegenwart hinein wird er in Zweifelsfragen konsultiert. Die an deutschsprachigen Bühnen gepflegte Aussprache wird hier zum Leitbild der 'deutschen Hochsprache' erklärt. "Werke wie Lessings Nathan oder Goethes Iphigenie", so konnte man noch in der Auflage aus dem Jahr 1957 lesen, "verlangen ein reines Sprechen, das überall als vorbildlich empfunden werden kann und über dem Landschaftlichen steht. ... Daher ist das Erste und Notwendigste für den sich bildenden Schauspieler, dass er sich von allen Fehlern des Dialekts befreie und eine vollständige, reine Aussprache zu erlangen suche. Kein Provinzialismus taugt auf der Bühne. Dort herrsche nur die reine deutsche Mundart, wie sie durch Geschmack, Kunst und Wissenschaft ausgebildet und verfeinert worden." Sprecher 1: Eine solche Normierung der Aussprache hatten bereits die Sprachlehrer und Grammatiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts angestrebt. Goethe hat diese Reformbestrebungen dann in seinen 'Regeln für Schauspieler' festgeschrieben. Man muss sich den in zahllose Dialekte zerfallenden Sprachatlas des gesprochenen Deutsch um 1800 vergegenwärtigen, um die Bedeutung dieses Normierungsversuchs zu erkennen. Anders als Frankreich besaß Deutschland kein gesellschaftliches und politisches Zentrum, wie 'la cour et la ville', von dem eine Normierung hätte ausgehen können. Weder die Kirchen noch Schule und Universität waren dazu in der Lage. So blieb nur die Bühne als Norm gebende Instanz. Die prägenden Theaterprinzipale der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts wie Ackermann, Iffland und Koch stammten aus Norddeutschland, die von ihnen gebrauchten niederdeutschen Lautverhältnisse verschmolzen mit der bislang als vorbildlich betrachteten sächsisch-meißener Aussprache. Aus dieser eigentümlichen Synthese ist das hervorgegangen, was wir in Deutschland als Bühnenaussprache bezeichnen. Das Konsortium von Theaterleuten und Sprachwissenschaftlern um Theodor Siebs machte nur verbindlich, was sich seit über 150 Jahren angebahnt hatte. Sprecherin 2: Theodor Siebs und seine Kollegen räumten ein, dass eine mechanische Übertragung der Bühnenaussprache auf die Umgangssprache zu "Geziertheit und Unnatur" führen müsse. Sie wollten die Mundarten auch nicht einfach abschaffen. Hochsprache und Mundarten sollten vielmehr als gleichberechtigte, nebeneinander existierende Sprachformen gepflegt werden. Für die öffentliche Rede in Politik, Wissenschaft und Medien war allerdings die Bühnenaussprache erforderlich. Und hierbei kamen Schule, Universität, Theater und später dem Rundfunk eine entscheidende Vermittlerrolle zu. Der Deutschunterricht hatte Schülern ein Bewusstsein von den Standards der Hochsprache zu vermitteln. Er konnte dies nicht eindrücklicher tun als durch Rezitationsübungen an Texten des literarischen Kanons, vor allem von Goethe-Texten. Sprecher 1: Ein norddeutscher Schüler sollte bei Goethes 'Wanderers Nachtlied' nicht länger sagen: 'Alles Leid und Schmerzen s-tillest', und der Schwabe: 'Der du von dem Himmel bischt'. Theodor Siebs hat selber didaktische Hilfsmittel für die Schulung der korrekten Aussprache entwickelt und die Artikulation von Vokalen und Konsonanten auf Schellackplatten vorgeführt. Diese Aufnahmen im Berliner Lautarchiv waren wohl als Unterrichtsmaterial für Deutschlehrer gedacht. Zur Vermarktung ist es allerdings nicht gekommen. Hier das von Siebs gesprochene Beispiel für die 'o'- und 'ö'- Laute: 3. Tonbeispiel Theodor Siebs spricht O- und Ö-Laute Sprecher 1: Wie die surrealistischen Maler das visuelle Material für ihre Collagen in den Abbildungen von Schulbüchern fanden, so haben die Berliner Dadaisten aus diesen sprachpädagogischen Exerzitien spielerische Lautpoesie geformt, etwa Kurt Schwitters in seiner Ursonate aus dem Jahre 1932: 4. Tonbeispiel: Kurt Schwitters liest seine Ursonate Sprecher 1: Viele Vorbehalte gegenüber der literarischen Vortragskunst erklären sich - auch heute noch - aus diesen Erblasten von Bühnendeutsch, schulischen Exerzitien und Kanonisierung der deutschen Klassik. Das Auswendiglernen und Aufsagen von Gedichten waren und sind integrale Bestandteile der schulischen Sprecherziehung, und allein dies ist etwas, wogegen empfindlichere Geister aufbegehren, und was vielen Erwachsenen die literarische Vortragskunst für alle Zeiten verleidet. Überall hört man den Oberlehrer heraus. Besinnliche Gedichte gelesen von Matthias Wieman, ein heiterer Mörike-Abend mit Gerd Westphal, das mag ein älteres Publikum von wanderlustigen Pensionären in deutschen Kurorten ansprechen, für feinere Nerven ist es schwer erträglich. Die von gesetzteren Herren simulierten Gemütsaufschwünge wirken häufig nur noch komisch. Tödlich ist vor allem ihre Erbaulichkeit: Poesie als Religions-Ersatz und ihre Rezitation als eine Art sakramentaler Handlung. Diese Art erbauliche Lyrik-Pflege fülle die von der Religion geräumten Kammern unseres säkularen Geisteslebens, meinte der Germanist Albrecht Schöne schon vor 35 Jahren ? eine auf der literarischen Vortragskunst schwer lastende Hypothek. Sprecherin 2: Viele Sprachwissenschaftler sind der Auffassung, dass die Pflege der Hochsprache unvereinbar sei mit einer demokratischen, durch Einwanderung und Pluralismus der Kulturen und Sprachen geprägten multilingualen Gesellschaft. Ist die Bildungs-Hochsprache nicht als solche schon ein sozialer Ausgrenzungsmechanismus? Und welche Aktualität und Autorität hat der Kanon großer deutscher Dichtung noch in der Gegenwart? An dieser Verquickung von Sprecherziehung und bildungsbürgerlichem Literatur-Kanon tragen die Vortragskünste wie an einem Erbschaden. Seit 1968 sind Sprecherziehung und Sprechkunde an Schulen und Universitäten vollends in den Hintergrund getreten. Die Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten geht ihnen wie ein langer Schatten nach. Neun von zehn Hochschulvertretern der Sprechkunde stellten ihre Arbeit damals in den Dienst der völkischen Erweckung und Pflege des nationalen Erbes. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Traditionen des Fachs fand nach 1945 zunächst nicht statt, und nach 1968 führten die veränderten soziokulturellen Umstände dazu, dass die Sprecherziehung auch in der akademischen Lehrerausbildung zunehmend marginalisiert wurde, ein Bereich ohne rechten Anschluss an die tiefgreifenden kulturellen und sprachlichen Veränderungen, die sich allenthalben vollzogen. Sprecher 1: Dennoch ist unverkennbar, dass die deutsche Bühnenaussprache nicht einfach passé ist. Wie anders soll man Skakespeare- und Schillerdramen heute aufführen, wie anders Ibsen und Tschechov? Beachten nicht auch Rundfunk, Fernsehen, politische Öffentlichkeit und Hörbuch-Produktionen diese Aussprachenormen? Wir erleben heute einen erstaunlichen Aufschwung der akustischen Rezeption von Literatur. Ob Romane oder Sachbücher vorgelesen, Gedichte rezitiert oder Hörfassungen von Dramen und Erzählungen angefertigt werden: Die Normen einer wie auch immer gewandelten Hochsprache bleiben dabei verbindlich. Zwar sind Eigentümlichkeiten wie das gerollte 'r' und das pathetische Tremolo verschwunden, doch sprechen Rufus Beck, Harry Rowohlt, Ulrich Matthes, Ulrich Tukur und Hannelore Elsner eine genormte Hochsprache, wie auch immer durch ihre jeweiligen Aussprachekennzeichen gebrochen. 5. Tonbeispiel Theodor Siebs I-Laute Sprecherin 2: Allerdings sieht sich dieses Primat der Bühnenaussprache seit den 60er Jahren immer wieder angefochten - und zwar gerade von Theatermachern. Seit dem Naturalismus und in anderer Weise durch das Theater der Weimarer Republik ist umgangssprachliches und dialektales Sprechen auf der Bühne rehabilitiert, als Erkennungszeichen eines realistischen Sprechstils, wie er in Straßen, Versammlungsräumen und Arbeitsplätzen zu finden ist. In Lustspiel und Farce hatten Dialekte und regionale Idiome ohnehin ihre angestammten Rechte. Seit den 60er Jahren machte dann eine junge Generation von Regisseuren und Schauspielern Front gegen die Bildungshochsprache, gegen das Bühnendeutsch der Gründgens und Quadflieg. Sie brachen mit der klassizistischen Sprechkultur, die in den 50er Jahren eine letzte Hochblüte in Theatern und Rundfunkstudios erlebt hatte. Die Schockwellen dieser Turbulenzen reichen bis in die Gegenwart hinein. Es scheint gerade das Theater zu sein, das am meisten mit den Traditionen der Bühnenaussprache hadert und nur eines nicht mehr sein will: Sprechtheater und damit Ort der Vermittlung von Normen einer gebildeten Hochsprache. Sprecher 1: Aufschlussreich für diese tiefgreifende Veränderung ist ein Vergleich zwischen der im Jahre 1961 produzierten Hörfassung von Goethes 'Tasso' mit Will Quadflieg und Peter Steins Bremer 'Tasso'-Inszenierung aus dem Jahre 1969 mit Bruno Ganz - beide kürzlich neu aufgelegt auf CD und DVD. Hier wird man Zeuge eines grundlegenden Stilwandels der Sprechkunst innerhalb von nur wenigen Jahren. Beide Produktionen sind auf ihre Weise ästhetisch durchgeformt und vollendet, ihre Voraussetzungen und Stilmittel könnten aber nicht unterschiedlicher sein. Der Protagonist der Hörspielfassung Will Quadflieg hatte die Rolle des Tasso bereits mehrere Jahre lang auf der Bühne gespielt, bevor er vor die Mikrophone trat. Seine Vertrautheit und Identifikation mit der Rolle ist in jedem Augenblick zu spüren. Davon hört man etwas in Tassos Monolog nach dem Gespräch mit Antonio. Tasso ist nun vollends irre geworden am Verhalten des gönnerhaften höfischen Personals und wittert überall nur noch Komplotte, an denen sich auch die verehrte Prinzessin Leonore zu beteiligen scheint - "auch sie, auch sie", wie er ausruft: 6. Tonbeispiel: Will Quadflieg Monolog (Tasso IV, 5) Ja gehe nur und gehe sicher weg Daß du mich überredest was du willst. Ich lerne mich verstellen, denn du bist Ein großer Meister und ich fasse leicht. So zwingt das Leben uns zu scheinen, ja Zu sein wie jene die wir kühn und stolz Verachten konnten. Deutlich seh ich nun Die ganze Kunst des höfischen Gewebes! Mich will Antonio von hinnen treiben, Und will nicht scheinen daß er mich vertreibt. Er spielt den Schonenden, den Klugen, daß Man nur recht krank und ungeschickt mich finde, Bestellet sich zum Vormund, daß er mich Zum Kind erniedrige, den er zum Knecht Nicht zwingen konnte. So umnebelt er Die Stirn des Fürsten und der Fürstin Blick. ... Ja wohl erkenn' ich ganz mein Unglück nun! Das ist mein Schicksal, daß nur gegen mich Sich jeglicher verändert, der für andre fest Und treu und sicher bleibt, sich leicht verändert Durch einen Hauch, in einem Augenblick. Hat nicht die Ankunft dieses Manns allein Mein ganz Geschick zerstört, in Einer Stunde? Nicht dieser das Gebäude meines Glücks Von seinem tiefsten Grund aus umgestürzt? O muß ich das erfahren? Muß ich's heut? Ja, wie sich alles zu mir drängte, läßt Mich alles nun; wie jeder mich an sich Zu reißen strebte, jeder mich zu fassen, So stößt mich alles weg und meidet mich. Und das warum? Und wiegt denn er allein Die Schale meines Werts und aller Liebe Die ich so reichlich sonst besessen, auf? Ja alles flieht mich nun. Auch du! Auch du! Geliebte Fürstin, du entziehst dich mir. In diesen trüben Stunden hat sie mir Kein einzig Zeichen ihrer Gunst gesandt. Hab' ichs um sie verdient? - Du armes Herz Dem so natürlich war sie zu verehren! - Vernahm ich ihre Stimme, wie durchdrang Ein unaussprechliches Gefühl die Brust! Erblickt ich sie, da ward das helle Licht Des Tags mir trüb; unwiderstehlich zog Ihr Auge mich, ihr Mund mich an, mein Knie Erhielt sich kaum, und aller Kraft Des Geists bedurft' ich, aufrecht mich zu halten, Vor ihre Füße nicht zu fallen, kaum Vermocht' ich diesen Taumel zu zerstreun. Hier halte fest mein Herz! Du klarer Sinn Laß hier dich nicht umnebeln! Ja, auch Sie! Darf ich es sagen und ich glaub es kaum, Ich glaub es wohl und möcht' es mir verschweigen. Auch Sie! auch Sie! Entschuldige sie ganz Allein verbirg dir's nicht: auch Sie! auch Sie! O dieses Wort, an dem ich zweifeln sollte So lang ein Hauch von Glauben in mir lebt, Ja dieses Wort, es gräbt sich wie ein Schluß Des Schicksals noch zuletzt am ehrnen Rande Der vollgeschriebnen Qualentafel ein. Nun sind erst meine Feinde stark, nun bin ich Auf ewig einer jeden Kraft beraubt. Wie soll ich streiten wenn Sie gegenüber Im Heere steht? Wie soll ich duldend harren, Wenn Sie die Hand mir nicht von Ferne reicht, Wenn nicht ihr Blick dem Flehenden begegnet? Du hast's gewagt zu denken, hast's gesprochen, Und es ist wahr eh du es fürchten konntest! Und eh nun die Verzweiflung deine Sinnen Mit ehrnen Klauen auseinander reißt, Ja klage nur das bittre Schicksal an, Und wiederhole nur, auch Sie! auch Sie! Sprecher 1: Die komplexe und verdichtete Sprache von Goethes Blankvers-Drama bewältigt Will Quadflieg virtuos-schwungvoll, mit Delikatesse in der Aussprache und Klangschönheit. Wie Sprecharien baut er die emotionalen Spannungsbögen auf und verschmäht dabei nicht ein heftiges Expressivo, mit schweren Atemzügen, Schluchzern und sogar Schreien. Besonders die hysterischen Steigerungen in Tempo und Lautstärke, etwa in der Streitszene mit seinem staatsmännischen Rivalen Antonio, hat wohl kein Schauspieler je so leidenschaftlich mitreißend realisiert wie er. Sprecherin 2: Das Wort des Dichters, so hat Quadflieg später selber gesagt, solle ?als lebendige, bewegende Kraft" in Deklamation und Rezitation hörbar werden. Unter Leitung des Regisseurs Leopold Lindtberg realisieren er und seine Mitspieler das innere Leben des Texts durch einen ständigen Wechsel der Töne, durch Sprechmelodien, expressive Atmung und hörbare Mimik. Um das Wort geht es ihnen, und damit um die Dichtung als Zentrum von Theateraufführung und Hörspiel. Man tut dieser Deklamationspraxis unrecht, wenn man sie als "abgestandenes Theater" bezeichnet, wie dies in Zeiten des Umbruchs 1968 üblich wurde. Vielmehr dokumentiert sich hier in anderer Weise "ein Wille zur Erneuerung, zur 'Reinigung' der Theatermittel: weg vom hohlen Deklamationsstil", hin zu Ausdrucksformen, die dem veränderten Empfinden der Zeitgenossen näher liegen ? wie der Theaterwissenschaftler Wolfgang Schwiedrzik zu Recht sagt. Sprecher 1: Diese Innovation wird umso deutlicher, wenn man hört, wie der Schauspieler Raoul Aslan zuvor, also Ende der Zwanziger Jahre den Tasso spricht: mit pathetischem Tremolo und Schluchzern in der Stimme, die in völliger Haltlosigkeit münden: 7. Tonbeispiel: Raoul Aslan Monolog (Tasso IV,5) Nun sind erst meine Feinde stark, nun bin ich Auf ewig einer jeden Kraft beraubt. Wie soll ich streiten wenn Sie gegenüber Im Heere steht? Wie soll ich duldend harren, Wenn Sie die Hand mir nicht von Ferne reicht, Wenn nicht ihr Blick dem Flehenden begegnet? Du hast's gewagt zu denken, hast's gesprochen, Und es ist wahr eh du es fürchten konntest! Und eh nun die Verzweiflung deine Sinnen Mit ehrnen Klauen auseinander reißt, Ja klage nur das bittre Schicksal an, Und wiederhole nur, auch Sie! auch Sie! Sprecher 1: Bei Raoul Aslan lässt sich in der Tat der "Winselsäuselton" entdecken, von dem der wortmächtige Spötter Fritz Kortner sprach, ebenso wie den "sich selbst genießenden Duliöhschluchzer des Burtheater-Verdi-Schmerzes". Ganz anders Will Quadflieg 30 Jahre später. Zwar gebraucht auch er noch die pathetischen Tränenschluchzer, doch versucht sein Tasso, sich der schmerzlichen Verzweiflung zu erwehren und wieder Fassung zu erlangen. Im Widerstreit der Vernunft mit den Affekten erhält seine Diktion Züge des Erhabenen - ganz im Sinne von Friedrich Schillers Konzeption des Erhabenen im Drama, derer sich Quadflieg offensichtlich bewusst war. 8. Tonbeispiel: Will Quadflieg Monolog (Tasso IV, 5) Nun sind erst meine Feinde stark, nun bin ich Auf ewig einer jeden Kraft beraubt. Wie soll ich streiten wenn Sie gegenüber Im Heere steht? Wie soll ich duldend harren, Wenn Sie die Hand mir nicht von Ferne reicht, Wenn nicht ihr Blick dem Flehenden begegnet? Du hast's gewagt zu denken, hast's gesprochen, Und es ist wahr eh du es fürchten konntest! Und eh nun die Verzweiflung deine Sinnen Mit ehrnen Klauen auseinander reißt, Ja klage nur das bittre Schicksal an, Und wiederhole nur, auch Sie! auch Sie! Sprecher 1: Mit diesem erhaben-klassizistischen Vortragsstil von Quadflieg und Lindtberg bricht Peter Steins Bremer 'Tasso'-Inszenierung. Sie macht auf kunstvolle Weise hörbar, was dort in den Hintergrund gedrängt worden war: die im Drama entfalteten Machtbeziehungen, Körperlichkeit und Gestik des Sprechens, nicht zuletzt die inzwischen eingetretene Fremdheit und objektive Komik des Verhaltens. Tasso wird zum Hofkünstler und "Emotionalclown". Für Peter Stein mochte diese Inszenierung eine Spiegelung eigener Erfahrungen sein, die er als junger Regisseur mit sich radikalisierendem politischen Bewusstsein gemacht hatte. Ohnmacht und unfreiwillige Komik desjenigen, der sich innerhalb des bestehenden Theaterbetriebs gegen die erstarrten Verhältnisse auflehnt, das war es wohl, was er in seinem Alter Ego Tasso wiederentdeckte. Auf der mit Kunstgras ausgelegten Bremer Bühne war eine marmorne Goethe-Büste aufgestellt, wie um zu signalisieren, dass die Klassiker-Inszenierung hier vom Sockel heruntergeholt worden war. Sprecherin 2: Doch ist Steins Inszenierung alles andere als eine Verfremdung oder Dekonstruktion von Goethes Drama. Vielmehr nimmt sie sich des Textes mit bohrender Insistenz und existenziellem Ernst an, um ? mit Walter Benjamin zu sprechen - Jetztzeit in ihm hörbar zu machen, also jenes Echo zu erwecken, das nur dieser Gegenwart aus der Vergangenheit zurücktönt. Ohne den Text selber anzutasten, abgesehen von Kürzungen und Umstellungen, entwickelt Stein eine virtuose, so noch nicht gehörte Sprechkunst. Mit realistischen Tonfällen werden Goethes Verse auf akustische Masken, Stilisierungen und falsche Töne abgehört und aus Mimik, Körperhaltung und Bewegung ein gestisches Sprechen gewonnen. Sprecher 1: Etwas davon vernimmt man, wenn Steins Tasso-Darsteller Bruno Ganz seine soziale Isolierung und den Bankrott seiner höfischen Karriere reflektiert: 9. Tonbeispiel: Bruno Ganz mit derselben Passage Schlußmonolog (Tasso IV,5) Hat nicht die Ankunft dieses Manns allein Mein ganz Geschick zerstört, in Einer Stunde? Nicht dieser das Gebäude meines Glücks Von seinem tiefsten Grund aus umgestürzt? O muß ich das erfahren? Muß ich's heut? Ja, wie sich alles zu mir drängte, läßt Mich alles nun; wie jeder mich an sich Zu reißen strebte, jeder mich zu fassen, So stößt mich alles weg und meidet mich. Und das warum? ... ... Ja alles flieht mich nun. Auch du! Auch du! Geliebte Fürstin, du entziehst dich mir. In diesen trüben Stunden hat sie mir Kein einzig Zeichen ihrer Gunst gesandt. Hab' ichs um sie verdient? - Du armes Herz Dem so natürlich war sie zu verehren! - Oh ich verstund ein jedes Wort zu gut, Das ich Leonoren von den Lippen lockte! 'Sie wird mich gern entlassen, wenn ich gehe, Da es zu meinem Wohl gereicht.' Hier halte fest mein Herz! Du klarer Sinn Laß hier dich nicht umnebeln! Ja, auch Sie! Auch sie! auch sie! auch sie! Sprecher 1: Was die sprechtechnischen Standards anbelangt, so konnte Bruno Ganz mit Will Quadflieg damals noch nicht mithalten - weder hinsichtlich der Klangschönheit der Aussprache noch in der Fähigkeit zu den atemberaubenden Steigerungen ganzer Passagen. Sein schweizerischer Akzent ist trotz aller Stilisierung zur Hochsprache noch zu vernehmen. Bruno Ganz und Peter Stein hatten aber auch eine andere Konzeption des Tasso: Während Quadflieg seine Sprecharien aus der psychologischen Wahrheit von Charakter und Situation ableitete und deren Erhabenheit durch die Diktion zu gewährleisten suchte, zielen Stein und seine Schauspieler auf eine grausame Anatomie des Charakters in seiner Brüchigkeit und pathologischen Verrücktheit. Die bei Quadflieg noch unterstellte Einheit des Charakters ist bei Stein preisgegeben, der Künstler der Härte sozialer Ausschlussmechanismen innerlich haltlos ausgeliefert. Wo Quadflieg auf Einfühlung setzt, schafft Stein Distanz und Verfremdung. Bruno Ganz zeigt sich in diesen monologartigen Partien denn auch als Rasender: Alle Contenance verlierend, tanzt er wie irrsinnig auf dem Tisch herum und schlägt mit Faust und Kopf wütend verzweifelt auf die Tischplatte. Sein Verhalten hat mit der edlen Einfalt und klassischen Dezenz nichts mehr zu tun. Hier tobt jemand wie in Isolationsfolter - in Gegenwart der kühl beobachtenden, im Übrigen aber gönnerhaften Hofleute. Das Goethe-Schiller-Ideal eines gemessenen und zugleich leidenschaftlich-erhabenen Affektausdrucks, dem noch Quadflieg huldigt, ist hier zerbrochen. Edle Einfalt und stille Größe sind passé. Fortsetzung 9. Tonbeispiel Ja dieses Wort, es gräbt sich wie ein Schluß Des Schicksals noch zuletzt am ehrnen Rande Der vollgeschriebnen Qualentafel ein. Nun sind erst meine Feinde stark, ... Wie soll ich streiten wenn Sie gegenüber Im Heere steht? ... Und eh nun die Verzweiflung deine Sinnen Mit ehrnen Klauen auseinander reißt, Ja klage nur das bittre Schicksal an, Und wiederhole nur, auch Sie! auch Sie! Sprecherin 2: Mit Steins Tasso-Inszenierung beginnt eine neue Periode der Klassiker-Rezeption auf deutschen Bühnen, fortgesetzt durch eine Serie von Epoche machenden Inszenierungen an der Berliner Schaubühne und anderswo. Die soziale, politische und psychopathologische Anatomie der Figuren wird zum Kennzeichen eines veränderten Inszenierungsstils. Besonders ausgebaut werden die körperlichen Aktionen auf der Bühne, daneben Bühnenbild, Beleuchtung und der Einsatz von Medien. Steins 'Tasso'-Inszenierung ist gerade in dieser Hinsicht richtungweisend, mit dem Bühnenbild von Wilfried Minks und einer Fülle von spektakulären Aktionen auf der Bühne: Der Tasso von Bruno Ganz probiert unablässig Posen aus, bespringt die Prinzessin, als ihm die Sicherungen des Begehrens durchbrennen und besteigt am Ende die Schultern des Staatsmanns Antonio, um sich wie ein Wrack von der Bühne tragen zu lassen. Peter Stein entfaltet für seinen Tasso eine ganze Choreographie körperlicher Bewegungen, mit sprechenden Gesten, grotesken Rasereien und irrwitzigen Tanzeinlagen. Doch achtet er peinlich darauf, die Balance zwischen Sprech-und körperlichen Aktionstheater zu wahren. Sprecher 1: Das Sprachliche ist nicht länger vom Körperausdruck getrennt, sondern im Gegenteil immer wieder ans Mimisch-Kreatürliche zurückgebunden. Tassos Sprechen wird aus Gestus und Körperhaltung entwickelt, nicht vor allem aus den Versen wie von Quadflieg und Lindtberg. Die Geste ist hier das Primäre, und man spürt Peter Steins Mißtrauen, die angemessenen Töne für einen Vers allein aus dem Dichtungstext abzuleiten. Dennoch ist dieses Sprechen ästhetisch durchstilisiert, mit unablässigem Wechsel der Töne und Kabinettstücken doppelbödig-preziösen Sprechens, so etwa, wenn Jutta Lampe ihren Tagträumen in somnambulischer Entrückung frönt: 10. Tonbeispiel: Jutta Lampe im Dialog mit Bruno Ganz Mein erster Blick hinab in unsre Gärten Sucht' ihn vergebens in dem Tau der Schatten. Wie schön befriedigt fühlte sich der Wunsch, Mit ihm zu sein an jedem heitern Abend! Wie mehrte sich im Umgang das Verlangen, Sich mehr zu kennen, mehr sich zu verstehn Und täglich stimmte das Gemüt sich schöner Zu immer reinern Harmonien auf. (III, 2 Verse 1861 ff.) Sprecher 1: Dieses traumhaft in sich versunkene Sprechen ist antirhetorisch par excellence, eine Absage an die traditionelle Theaterdeklamation. Sprechmelodisch haucht die schöne, ihren Passionen entsagende Seele Gefühlsschmerzen aus, "da wurde Leiden oft Genuß, und selbst/Das traurige Gefühl zur Harmonie", wie Leonore selber sagt. Ohne dass Goethes Vers-Sprache verändert würde, wird sie zum Gegenstand virtuoser Sprech- und körperlicher Ausdruckskunst: Eine Sprechmelodie, ein Anklang an die Umgangssprache, ein Wechsel der Töne reichen aus, um das Begehren der Figuren zu dekouvrieren. Diese Kunst überpointierten Sprechens ist hochartifiziell und zugleich zu zweiter Natürlichkeit gesteigert, vor allem bei der von Edith Clever gespielten Leonore: 11. Tonbeispiel: Edith Clever als Leonore (I, 1 Verse 49 ff.) Groß ist Florenz und herrlich, doch der Wert Von allen seinen aufgehäuften Schätzen Reicht an Ferraras Edelsteine nicht. Das Volk hat nene Stadt zur Stadt gemacht, Ferrara ward durch seine Fürsten groß. ... Hier zündete sich froh das schöne Licht Der Wissenschaft, des freien Denkens an, Als noch die Barbarei mit schwerer Dämmrung Die Welt umher verbarg. ... Sprecher 1: Botho Strauß, der spätere Dramaturg der Schaubühne, hat dazu angemerkt, dass es selten zu beobachten sei, wie "eine Schauspielerin mit solch vollkommener, innerster Sicherheit eine 'synthetische', eine durch und durch künstliche Figur herstellt und durchbildet bis hin ins feinste Ornament einer Geste, einer Intonation" hinein. Edith Clevers Leonore löse sich "in mondänen und verzückten Gebärden, in Jugendstilarabesken (auf); sie stecke dabei voller Schwatzsucht und geschäftiger Durchtriebenheit." Fortsetzung 11. Tonbeispiel Hier ward Petrarch bewirtet, hier gepflegt, Und Ariost fand seine Muster hier. Italien nennt keinen großen Namen, Den dieses Haus nicht seinen Gast genannt. Und es ist vorteilhaft, den Genius Bewirten: gibst du ihm ein Gastgeschenk, So läßt er dir ein schöneres zurück. Sprecherin 2: "Ich habe dem Quadflieg damals kein Wort mehr geglaubt", so hat Peter Stein im Rückblick auf seine 'Tasso'-Inszenierung bekannt. Stattdessen strebte er eine Sprechästhetik der "übergenauen Verdeutlichung? und ?klärenden Übertreibung? an. Das Gestische sollte dabei Vorrang vor dem rein Sprachlichen haben: Töne und Akzente wurden zusammen mit Körperhaltung, Mimik und Bewegung entwickelt; der Sprachausdruck mit dem Körperausdruck verschmolzen. In diese Neuorientierung der Sprechkunst auf dem Theater sind Elemente dessen eingegangen, was Bertolt Brecht mit seinem Verfremdungs-Effekt anstrebte, mehr aber noch Anregungen des Regisseurs und Schauspielers Fritz Kortner. Bei Kortner hatte Peter Stein als Regie-Assistent gearbeitet, von ihm hatte er gelernt, wie man die Bühne aus ihrer Lethargie, "aus Konvention und Konfektion" losrüttelt und, statt Gefühle und Leidenschaften rhetorisch zu beteuern, die Bedingungen zeigt, aus denen sie entstehen. Kortner zielte mit seinen eigenen Klassiker-Inszenierungen auf eine Art von seelischer Tiefenforschung im Sinne von Sigmund Freud, auf die Entdeckung unbewusster Wünsche und Phantasien. Die Texte der Theatertradition sollten mit unerhörten vokalen und gestischen Mitteln vergegenwärtigt, nicht museal aufbereitet werden. Kortner hatte selber noch in seiner Jugend den eigentlichen Begründer moderner Sprechkunst, den Schauspieler und Rezitator Josef Kainz auf Wiener Bühnen erlebt. Dessen leidenschaftlich-wilde, zugleich an den Formstrukturen der Texte orientierte Sprechkunst wurde ihm zum Vorbild. Andererseits erhielt er Impulse im Kampf gegen die Verhunzung der Sprache von Karl Kraus, dem Zentralgestirn der Wiener Intelligenzia vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Kortner gewann aus diesen frühen Prägungen ein Ethos des Sprech- und Körpertheaters, das an Dichtung und Literatur orientiert ist, ein literarisches und zugleich gestisch-zeigendes Theater. Mit sybillinischem Witz hat er einmal erklärt: "Ich versuche über des Autors Sprache in sein Geheimnis einzudringen. Komme ich von dieser Expedition zurück, so glaube ich im Besitz seines dem flüchtigen Betrachter vorenthaltenen Geheimauftrags zu sein. Ich beuge mich der Diktatur des Dramatikers und übe sie vertretungsweise aus." Sprecher 1: Einen Nachhall von diesen Expeditionen ins Reich dichterischer Sprache vernimmt man in einer Hörspielfassung von Goethes 'Faust', die der Bayrische Rundfunk im Jahre 1964 produziert hat. Kortner spricht hier die Rolle des Erdgeists, Wolfgang Reichmann die des Faust: 12. Tonbeispiel: Fritz Kortner spricht den Erdgeist (Faust I, Nacht, Verse 420 ff.) (Der Geist erscheint in der Flamme): Geist: Wer ruft mir? Faust (abgewendet) Schreckliches Gesicht! Geist: Du hast mich mächtig angezogen, An meiner Sphäre lang' gesogen, Und nun - Faust: Weh! Ich ertrag' dich nicht! Geist: Du flehst eratmend mich zu schauen, Meine Stimme zu hören, mein Antlitz zu sehn; Mich neigt dein mächtig Seelenflehn, Da bin ich! - Welch erbärmlich Grauen Faßt Übermenschen dich! Wo ist der Seele Ruf? Wo ist die Brust, die eine Welt in sich erschuf, Und trug und hegte, die mit Freudebeben Erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben? Wo bist du Faust, des Stimme mir erklang, Der sich an mich mit allen Kräften drang? Bist Du es? Der, von meinem Hauch umwittert, In allen Lebenstiefen zittert, Ein furchtsam weggekrümmter Wurm! Sprecher 1: Diese sich von Forte zu Fortissimo steigernde Stimme, eine wahrhafte Stentor-Stimme, klingt wie eine Fanfare aus einer anderen Welt: ungehört und überwältigend, erschreckend und ungeheuerlich. So und nicht anders muss wohl die Stimme des Erdgeists, diese Personifikation des Sturm- und Drang-Pantheismus, klingen, wenn man sie denn überhaupt einer Menschenstimme anvertraut. Sprecherin 2: Ob er Schiller rezitierte, den Lear in einer Hörspielfassung oder den Kaufmann von Venedig in einer Fernsehversion spielte - stets vermochte es Fritz Kortner, seinen Figuren bestürzende Fremdheit und Erhabenheit zu verleihen. Was seinen Rezitationen und Regie-Arbeiten ihre Autorität verlieh, war der Widerstand gegen jeden Versuch, literarische Figuren und Konflikte gemüthaft-gemütlich zu verkleinern oder sie als Ausdruckskitsch darzubieten. Er selber bespöttelte die vorgefertigten Ausdrucksschablonen und forderte die "Entoperung des Ausdrucks ..., der Gebärde, der Körperhaltung, des Geistes, der Nerven". Auf den sprachlich und körperlich vergegenwärtigten Denkvorgang, auf das "Dramatisch-Geistige" kam es ihm an. Kortner verleiht einer Figur wie Goethes Erdgeist die Aura eines ganz und gar inkommensurablen Wesens, eines Tremendum, vor dem selbst ein unerschrockener deutscher Professor wie Faust in die Knie geht. Kortner hat eine solche Virtuosität der Stimme, dass er bei allem Fortissimo selbst noch Hohn und Herablassung gegenüber diesem Erdenwurm zum Ausdruck bringen kann. Vor solch exzessivem Einsatz vokaler Mittel waren die Gründgens und Quadfliegs zurückgeschreckt, die Erdgeister und Stimmen des Herren in ihren 'Faust'-Inszenierungen hatten demgegenüber etwas Flaches und Moderates. Sprecher 1: Fritz Kortner vermittelte der gegen das klassizistische Sprechtheater aufbegehrenden Generation der Peter Stein und Claus Peymann ein Bewusstsein davon, was mit Stimme und Sprache auf der Bühne und im Tonstudio ausgerichtet werden kann. Die überlieferten Texte sollten nicht verkleinert, verniedlicht oder zum Stoff von Entertainment werden, sondern in ihrer leidenschaftlichen Erhabenheit und Schrecken erregenden Wildheit vergegenwärtigt werden. Alles, was auf die Bühne projiziert wird, soll ?wie durch ein Vergrößerungsglas gesehenes, vergrößertes Leben? sein, hat Kornter in seiner Autobiographie 'Aller Tage Abend' von 1959 gefordert. Solch ein Realismus auf der Bühne war eine Absage an das nachhitlerische Gefälligkeitstheater und zugleich ein Reflex der historisch-politischen Erfahrungen, die seine Generation in düsteren Zeiten von Diktatur, Vertreibung und Massenmord hatte machen müssen. Fortsetzung 12. Tonbeispiel Geist: In Lebensfluten, im Tatenstrum Wall' ich auf und ab, Wehe hin und her! Geburt und Grab, Ein ewig Meer, Ein wechselnd Weben, Ein glühend Leben, So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit, Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid. Faust: Der du die weite Welt umschweifst, Geschäftiger Geist, wie nah fühl' ich mich dir! Geist: Du gleichst dem Geist den du begreifst, Nicht mir! (verschwindet). Sprecherin 2: Große Sprechkunst auf Theater- und Rezitationsbühnen erprobt die Texte auf ihre Lebensfähigkeit, auf ihre ?Jetztzeit?, um noch einmal den Begriff von Walter Benjamin zu bemühen. Es geht ihr darum, Texte der Vergangenheit mit Mitteln der Gegenwart so zum Sprechen zu bringen, dass sie uns betreffen. Texte können dabei Kopf und Kragen riskieren, und es gibt genug Beispiele, bei denen sie in der Probe auf ihre Jetztzeit stumm geblieben sind, z. B. Dramen-Texte von Brecht oder Schiller-Balladen. Aber es finden sich auch Beispiele, die trotz zeitbedingter Stil-Eigentümlichkeiten unmittelbar ansprechend bleiben und in diesem Sinne klassisch geworden sind. Gemeinsam ist diesen Aufnahmen bei allen stilistischen und ästhetischen Unterschieden eine genaue, geradezu inquisitorische Befragung der Texte und der Artisten-Glauben, sie könnten wieder unmittelbar zu uns sprechen, sofern wir ihnen nur geeignete Stimmen, Tonfälle und Gesten liehen. Sprecher 1: Fritz Kortner hat in seiner Autobiographie 'Aller Tage Abend' gegen die Pseudolyrik auf dem Theater gewütet, gegen Gemütskitsch und einen Sprechgesang, der nicht aus dem Text selber gerechtfertigt ist. In einer Lesung im Bayrischen Rundfunk hat er einen Auszug aus dem Religionsgespräch zwischen Faust mit Gretchen rezitiert, um daran anschließend gegen die zeitgenössische Klassikerpflege zu Felde zu ziehen ? ein Dokument, das ein Vermächtnis für jedes Nachdenken über Theater und literarische Vortragskunst ist. Als Sechszehnjähriger hatte Kortner im Gespräch mit dem Vater Fausts inständige Fragen nach dem höchsten Wesen als Lyrik missverstanden, und nicht als Bekenntnis eines vom Leben Umgetriebenen, ja Verzweifelten begriffen. Nun, aus dem Abstand eines Menschenlebens, klärt er diesen Irrtum auf ? und spricht die Faust-Passagen im Tone leidenschaftlich suchenden Befragens: 13, Tonbeispiel: Kortner liest den Faust-Monolog aus dem Religionsgespräch (Faust I, Verse 1432 ff.) Wer darf ihn nennen? Und wer bekennen: Ich glaub' ihn. Wer empfinden Und sich unterwinden Zu sagen: ich glaub' ihn nicht? Der Allumfasser, Der Allerhalter, Faßt und erhält er nicht Dich, mich, sich selbst? Wölbt sich der Himmel nicht dadroben? Liegt die Erde nicht hierunten fest? Und steigen freundlich blickend Ewige Sterne nicht herauf? Schau' ich nicht Aug' in Auge dir, Und drängt nicht alles Hach Haupt und Herzen dir, Und webt in ewigem Geheimnis Unsichtbar sichtbar neben dir? Erfüll' davon dein Herz, so groß es ist, Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, Nenn' es dann wie du willst, Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen Dafür! Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch, Umnebelnd Himmelsglut. Sprecher 1: Fritz Kortner gibt hier ein Beispiel für die Vergegenwärtigung von Klassikertexten, wie sie ihm wohl vorschwebte: Faust Zweifel, ob der Mensch überhaupt das höchste Wesen benennen dürfe, spricht er im Kammerton, wie im inneren Monolog fragend-insistierend und mit Scheu das Geheimnis umkreisend, dann aber mit der Gewissheit, dass, wie immer auch die Namen beschaffen sein mögen, dieses höchste Wesen doch nicht anders als in Natur und Subjektivität zu erfahren sei: ?Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch.? Diese bei allem Zweifel geradezu jubilatorische Einsicht in die Subjektivität jedweder Glaubensüberzeugung, in das Faktum des religiösen Bewusstseins vor aller theologischen Dogmatik, musste den Agnostiker Kortner wohl auch persönlich ansprechen. Von Jugend an kämpfte er mit den Glaubensgewissheiten von Juden und Christen, wie seine Autobiographie belegt. Galt denn Fausts Einsicht nicht immer noch? Waren wir über dieses kühne überkonfessionelle Bekenntnis denn je hinausgelangt? Dass es sich hierbei um anderes als um einen lyrisch-erbaulichen Albumspruch handelt, machte Kortner in seinem Kommentar deutlich: 14. Tonbeispiel: Kortner liest aus 'Aller Tage Abend' "Der Irrtum des Fünfzehnjährigen, diese Stelle für Lyrik gehalten zu haben, war verzeihlich. Unverzeihlich ist es jedoch, daß das Theater heute noch solche Stellen als Lyrik, und noch dazu als Pseudolyrik, mit verlogen geschlossenen Augen und Winselsäuselton zelebriert. Darauf besteht nicht nur eine falsch verstandene Theatertradition, sondern auch die unrevidierbare Gymnasiastenkitschseligkeit mancher deutscher Intellektueller. Sie benutzen das Theater zur Ablagerung ihrer tranigen Gefühlsabsonderungen, die sie mit Höherem tarnen, und dafür muß der Klassikerabend herhalten. Da sitzen sie, die Theaterluft mit ihrem Erinnerungsmief vergiftend, kitschselig, ebenfalls mit geschlossenen Augen, und hören, den Kopf verzückt wiegend, dem trivialen, abgestandenen, hirn- und sinnlosen Gedudel zu. So war es vor dreißig Jahren in Dresden, in Leipzig, und so und nicht anders muß auch heute wieder die altvertraute Melodie abgehaspelt werden, damit einige sich in ihre wehmutswinselerinnerungsseufzende Pubertätsverzückung zurückversetzen können. Sie hören ja gar nicht den Faust, sondern hören sich zu, wie sie ihn damals gehört haben. Fausts verzweifelter Schrei nach dem Tod: "O sähst du, voller Mondenschein, zum letztenmal auf meine Pein" ist Lyrik für sie, weil das Wort 'Mond' vorkommt. Sie bestehen darauf, daß der Faust vom Darsteller unverstanden sprechgesungen und ihm von ihnen, heute wie damals unverstanden, zugehört wird. Mit meinen sechzehn Jahren ahnte ich etwas von dem Unterschied zwischen Lyrik und der Beteuerung, wie lyrisch Lyrik sei." Sprecherin 2: Kortner hält hier eine Strafpredigt gegen das falsch verstandene Theater, gegen Gemütskitsch und pseudolyrische Erbaulichkeit, vorgetragen mit der wortgewaltigen Spott- und Vernichtungslust eines Karl Kraus. Mit geradezu genießerischer Entrüstung wütet Kortner gegen die unverstandene Deklamation von klassischen Texten, gegen das Gedudel und Abhaspeln alt vertrauter Melodien, die uns an den Schulunterricht und pubertäre Leseverzückungen erinnern. Das Theater ? und man darf hinzufügen: die literarische Vortragskunst - haben aber andere Aufgaben: uns wieder aufhorchen zu machen, uns erkennen zu lassen, dass wir selber gemeint sind. ?Ich führe einen Kampf mit dem Betriebstheater?, hat Kortner in seiner Autobiographie geschrieben, ?hoffend, hoping against hope, für das außerordentliche Theater doch noch eine mich überdauernde Bresche zu schlagen.? Sprecher 1: Kortner hatte ein solches Theater erstmals durch den 1910 verstorbenen Schauspieler Josef Kainz am Wieder Burgtheater erfahren. Was an Kainz faszinierte und seine Zeitgenossen bis zur Verzückung mitriss, war der neue Nerventon und das Primat des Dramatisch-Geistigen, mit dem Kainz die Bühnendeklamation erneuerte. ?Seine Rede war Starkstrom?, so Fritz Kortner in seiner Autobiographie, ?sie nahm bisweilen schallschnelle Geschwindigkeit an, wenn er zornig, aufrührerisch, liebestoll, jauchzend sich entlud und seine Stimme zu bisher noch nicht gehörten Höhen emporschnellte. Hier sang ein Genie eine neue Melodie, von den Rhythmen der anbrechenden Zeit durchpulst, ehe sie uns bewußt ward?. Wenn Josef Kainz Goethes 'Prometheus' rezitiert, ist diese fiebrige Elektrizität hörbar. Es handelt sich um eine der ersten in Deutschland angefertigten Rezitations-Aufnahmen aus dem Jahre 1902, die als Schallplatte mehrfach wieder aufgelegt wurde: 15. Tonbeispiel: Josef Kainz rezitiert Goethes ?Prometheus? Ich kenne nichts ärmers Under Sonn' als euch, Götter! Ihr nähret kümmerlich Von Opfersteuern Und Gebetshauch Eure Majestät, Und darbtet, wären Nicht Kinder und Bettler Hoffnungsvolle Toren. Da ich ein Kind war, Nicht wußte wo aus noch ein, Kehrt' mein verirrtes Auge Zur Sonne, als wenn drüber wär' Ein Ohr zu hören meine Klage. Ein Herz wie mein's Sich des Bedrängten zu erbarmen. Wer half mir Wider der Titanen Übermut? Wer rettete vom Tode mich Von Sklaverei? Hast du nicht alles selbst vollendet, Heilig glühend Herz? Und glühtest jung und gut, Betrogen, Rettungsdank Dem Schlafenden da droben? Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert Je des Beladenen? Hast du die Tränen gestillet Je des Geängsteten? Hat nicht mich zum Manne geschmiedet Die allmächtige Zeit Und das ewige Schicksal, Meine Herrn und deine? Wähntest du etwa, Ich sollte das Leben hassen, In Wüsten fliehen, Weil nicht alle Blütenträume reiften? Hier sitz' ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen Zu genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich! Sprecherin 2: Josef Kainz' Prometheus'-Rezitation ist ein Markstein der Sprechkunst auf Tonträgern ebenso wie der literarischen Vortragskunst im 20.Jahrhundert. Fern aller didaktischen Textvermittlung und doch unmittelbar verständlich durch klare Diktion und sinnbetonende Akzentuierung, ist dieser Vortrag glühend intellektuell und zugleich leidenschaftlich-wild. Kainz gliedert den Text in große, durch Akzente und Tonhöhenbewegungen strukturierte Ton- und Phrasierungsbögen, um die Kaskaden der rhetorischen Fragen dieses aufbegehrenden Halbgotts hörbar zu machen. Höhepunkt ist die Absage an die Götter und die Hinwendung zu den leidenden und genießenden Menschen: "Hier sitz' ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde." Sprecher 1: Kainz' biegsame, in allen Höhenlagen und Lautstärkegraden wohl durchgebildete Stimme erlaubt ihm, in ein, zwei Worten große Tonintervalle zu überspringen und damit den Wechsel von Stimmungen und Affekten nachzuvollziehen. Während sich das alltägliche Sprechen im Tonraum einer Quarte bewegt, durchmisst Kainz' Stimme den Umfang einer Oktave. Das bühnenmäßige Sprechen sei "wie ein Gesang zu gestalten", soll Kainz einmal gesagt haben. Allerdings benutzt er diese sprechmusikalischen Mittel nicht als Selbstzweck, sondern zur Charakterisierung des zugrunde liegenden Textes. Jede kleinste Phrase erhält ? im Interesse von Deutlichkeit und Fasslichkeit ? einen individuellen Ton und wird gegenüber dem Vorhergehenden wie dem Nachfolgenden abgesetzt. Sprecherin 2: Man muss sich den zu Josef Kainz' Zeit noch üblichen getragenen, metrisch bewussten und rhythmisch skandierenden Deklamations-Stil vergegenwärtigen, wie ihn Goethe für seine Weimarer Schauspieler verbindlich gemacht hatte und wie ihn das Meininger Hoftheater bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts pflegte, um den neuen Ton zu erkennen. Der Theaterkritiker Alfred Kerr meinte, Kainz habe die "rasenden Jambenjünglinge" mit den in schönem Wahnsinn rollenden Augen beiseite geschoben und "jene realistischere, unserem Gefühl ungleich näher stehende Spielart eingeführt, ... mit halb verhaltenen seelischen Gesten, die Empfindungen moderner, nervöser junger Leute" zeigen. Allerdings befremdet der mit Stentorstimme gehämmerte Schluss von Kainz' Rezitation: 16. Tonbeispiel Joseph Kainz mit ?Prometheus?-Schluß Wähntest du etwa, Ich sollte das Leben hassen, In Wüsten fliehen, Weil nicht alle Blütenträume reiften? Hier sitz' ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen Zu genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich! Sprecher 1: Dieser sich überschlagende Ton kommt uns bekannt vor, wir kennen ihn aus politischen Ansprachen von Adolf Hitler, als Gestus fanatischer Willensbeteuerung. Der Agitator hatte Echos von Kainz wohl in seinem Wiener Milieu aufgefangen und in seinen Sprechstil eingebaut, ein Beispiel dafür, wie Töne von Bühne und Tribüne sich mischen können. Sprecherin 2: Josef Kainz wurde mit seinen Rezitationen zum Ahnherrn von Generationen von Schauspielern und Rezitatoren, von Alexander Moissi über Fritz Kortner bis hin zu dessen Schüler Peter Stein. Mit Kainz etablierte sich ?das Primat geistiger Wahrhaftigkeit vor der Rhetorik und dem musikalischen Effekt?, so hat Gert Westphal Anfang der 60er Jahre geschrieben. 17. Tonbeispiel: Josef Kainz spricht Prometheus Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst Und übe, dem Kanben gleich, Der Disteln köpft, An Eichen dich und Bergeshöhn; Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn Und meine Hütte, die du nicht gebaut, Und meinen Herd, Um dessen Glut Du mich beneidest. Ich kenne nichts ärmers Unter der Sonn' als euch, Götter! abblenden: darauf: Sprecherin 2: Mögen auch die technischen Bedingung von Aufzeichnung und Übertragung heute andere sein als zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so hat sich mit Josef Kainz eine anspruchsvolle literarische Vortragskunst begründet, deren Traditionen in vielen Echos auch heute noch lebendig sind, bis hin zu Sprechern wie Ulrich Mühe, Bruno Ganz und Walter Schmidinger. Fortsetzung 17. Tonbeispiel Wer half mir Wider der Titanen Übermut? Wer rettete vom Tode mich Von Sklaverei? Hast du nicht alles selbst vollendet, Heilig glühend Herz? Und glühtest jung und gut, Betrogen, Rettungsdank Dem Schlafenden da droben? Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert Je des Beladenen? Hast du die Tränen gestillet Je des Geängsteten? Hat nicht mich zum Manne geschmiedet Die allmächtige Zeit Und das ewige Schicksal, Meine Herrn und deine? Ende 9