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Und man könnte vielleicht noch daran anschließen und fragen, ob nicht der Schriftsteller der einsamste Mensch der Welt ist. (3) O-Ton(Becker dito): Es gibt nichts im Leben, wo die Fehler so hart bestraft werden. Und Boxer werden auch für Fehler ähnlich hart bestraft wie Schriftsteller oder umgekehrt, selbst wenn es dann bei uns nicht immer physische Schmerzen sind, die zugefügt werden. (4) O-Ton(Meyer): Es ist eine unglaubliche Dynamik drin in so einem Kampf für mich. Also ich denke immer, Mensch, wenn du das beschreiben kannst in Literatur, da läuft soviel ab: Parallel, im Publikum, im Ring und beim Ringrichter. Wenn man das so zu Literatur machen kann, also diese Faszination und dieses Archaische - und dann gibt es auch noch ein Ausspruch von Barry McGuigan - das ist ein englischer Ex-Weltmeister aus den Achtziger Jahren - der hat gesagt: Warum ich Boxer geworden bin? Ich bin kein Schriftsteller, ich kann keine Geschichten erzählen. Regie: (52a )Atmo Boxer/Musik (Schluß ab "...Körper zittert unter Starkstrom..." ) unter vorigen Take einblenden, mit Atmo Glocke abschließen, trocken weiter Sprecherin: Gerade für die Schriftsteller ist das Gehirn das wichtigste Organ. Im Kopf des Schriftstellers kämpft die Sprache mit den Abenteuern des Geistes. Nur wenn die Sprache siegt, wird der Leser etwas erfahren von dieser Welt in den Hirnwindungen des Autors. Von einer Welt, die es ohne ihn nicht gäbe. Selbst die Geschichten nach wahren Begebenheiten färben sich bekanntlich im Feuerwerk der Neuronen. Müssten da nicht die Boxer so etwas wie natürliche Feinde der Schriftsteller sein? Jene Männer mit gestählten Körpern, die nur ein Ziel kennen: Dem Gegenüber die Faust vor den Kopf zu hauen. Immer und immer wieder das Gehirn des anderen zu erschüttern mit ihren Schlägen, bis beim Gegner schließlich die Lichter ausgehen? Zwei Welten, die nichts miteinander zu tun haben dürften: Brutale Attacken auf den Kopf hier - sensibles Horchen auf den Takt der Nervenfasern dort. Tat gegen Wort. Handeln gegen Nachdenken. Rechte Gerade gegen Bleistift. Faust gegen Geist. Während die Schriftsteller noch grübeln, schlagen die Boxer schon zu. Zitator: Andere Sportarten wie Baseball, Football, Basketball sind eindeutig Sport, die enthalten ein spielerisches Element. Man spielt Football, aber man spielt nicht Boxen. Sprecherin: ... sagt die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates. Boxen ist kein Spiel. Boxen ist Ernst. Weniger sportlicher Wettkampf, vielmehr eine nicht erzählte, sondern dargestellte Parabel aufs Leben. (5) O-Ton(Kohtes): Im Grunde sind wir ja alle Boxer. Jeder von uns muss kämpfen, einstecken, sich nach Kräften behaupten, solange bis uns buchstäblich die Puste ausgeht. Sprecherin: Michael Kohtes, der sich mit seinem im Suhrkamp Verlag erschienenen Essay "Boxen, eine Faustschrift" als Boxphilosoph einen Namen gemacht hat. (6) O-Ton(Kohtes): Der Boxer als tragische Figur hat aus künstlerischer Sicht eben mehr Fallhöhe als die Karriere eines Tischtennisspielers oder einer Springreiterin. Hinzu kommt, dass der Boxkampf die Massen mobilisiert. Massenphänomene sind für Künstler und Intellektuelle per se interessant. Regie: Atmo Boxen, Atmo Training kurz hochfahren, unter folgendem Take ausblenden (7 a) O-Ton(Becker): Von dem Boxer, der mir da als Modell zur Verfügung gestanden hat - Sentürk Özdemir, dem das Buch auch gewidmet ist - habe ich sehr sehr viel gelernt, insbesondere für meinen Beruf, für das Schreiben von Romanen. Sprecherin: In seinem Roman "Sieger nach Punkten" geht Thorsten Becker über die lange Distanz. Knapp tausend Seiten umfasst sein Werk. Was hat er dabei gelernt? (8) O-Ton(Becker): Zum Beispiel, wie man so einen Kampf - und das ist ja auch ein Kampf, wenn man so einen Roman schreibt, wie man so was angeht. Das klingt jetzt vielleicht lächerlich, aber bevor ich mir Material hole in den Bibliotheken, baue ich mir meine Kondition mit Lauftraining und Seilspringen auf, weil das ja ein Vorgang ist, wo man Kräfte auf Lager haben muss. Insbesondere wenn man über die Distanz geht - und ich bin ja jetzt von den Zweihundert-Seiten- Amateurkämpfen weggekommen und boxe über längere Rundenzahlen - dann merkt man so siebte, achte Runde, was mit Kondition gemeint war. Eben auch einen Kampf so planen. Vor allem nicht herumwirbeln in den ersten Runden, sondern das beobachten und sich Zeitlassen mit dem Niederschlag, wenn man ihn überhaupt braucht. Sprecherin: Im Mittelpunkt von Thorsten Beckers Roman steht Nasrettin, ein deutscher Boxer türkischer Herkunft, der den Europameister im Superfedergewicht herausfordert. Der 12-Runden-Kampf bietet die dramaturgische Klammer, innerhalb derer Becker nicht weniger als die gesamte Geschichte der Türkei erzählt. (9 a) O-Ton(Becker): Das ist auch so abgelaufen, wie es jetzt im Buch steht, dass ich die Runden des Boxkampfes zwischengelegt habe zwischen die eigentlichen Kapitel des Romans. Das hatte ja auch schon die technische Veranlassung, weil ich thematisch immer versucht habe, bestimmte Episoden aus der Biografie des Helden und aus der Geschichte abzubilden und zu reflektieren in dem Boxkampf. Zitator: Nasrettin kämpft nicht mehr gegen den Champ, er kämpft gegen sich selbst. Er kämpft gegen den Schmerz. Das Festlichste des Zuschauervergnügens am Boxsport liegt hierin. Einer der berühmten rechten Geraden von Sandol trifft sein Ziel - ein Stoß, dessen Wucht einen kleineren Baum gefällt haben würde. Mit seiner Backe fängt Nasrettin diesen Hammer. Wäre das ohne Handschuh und Mundschutz auf der Straße geschehen, hätte er im linken Oberkiefer sämtliche Zähne verloren, sein Jochbein und Sandols Mittelhandknochen wären zersplittert. (10 b) O-Ton(Becker): Wenn man die Ebene betrachtet, wo die Lebensgeschichte des Helden und die Saga der Familie erzählt wird, da raffe ich ja Jahrzehnte auf zwanzig, dreißig Seiten, in der Geschichte sind es dann 150 Jahre, die auf so einen Raum gedrängt werden, während es in dem Boxkampf auseinander gezogen wird. Da macht man aus was, das zehn Sekunden gedauert hat, was, was beim Lesen 15 Minuten dauert. Das ist eine ganz andere Technik. Es waren die Seiten, die mich den meisten Schweiß gekostet haben. Sprecherin: In Thorsten Beckers Roman "Sieger nach Punkten" ist der Franzose Marcel Sandol der amtierende Europameister. Nasrettin sein türkischer Herausforderer. Zitator: Die Doppelschläge links-links zum Kopf und zum Körper, links-rechts als Seitwärtshaken mit der Absicht, an den Halsseiten die Karotis zu treffen, um kurzfristig die Blutversorgung des zu bekämpfenden Hirnes zu unterbrechen, werden von Sandol gestoppt, abgelenkt oder gedeckt mit Schultern, Oberarmen und Unterarmen, so dass die Wirbelkraft des Türken verpufft. Nasrettin dagegen kehrt, als mit Vollendung der dritten Minute der Gong ertönt, in seine Ecke zurück, ohne etwas in Erfahrung gebracht zu haben von Sandols Rhythmik, von den Aktionen, die er bevorzugt, ohne irgendeine Lücke gefunden zu haben im Bollwerk seiner doppelten Deckung. (11) O-Ton (Ziebarth): Diese Doppeldeckung, ich bin ja da ein absoluter Gegner von. Ich sage: Ja toll, wat bringt dit? Erstmal braucht man unglaubliche Energie dafür, um diese Blöcke zu halten. Zweitens entwickelt sich ein negativer Stress. Und was bewirkt negativer Stress? Man macht Fehler. Und das ist das, worum es geht: Man muss Fehler vermeiden und nur dadurch ist man erfolgreich. Regie: mit Atmo Trainig unterlegen, darüber weiter Sprecherin: Udo Ziebarth boxt seit nunmehr vierzig Jahren. Derzeit führt er beim "BSG 76" Jugendliche an die Sportart heran. Regie: Atmo Training ausblenden, trocken weiter (12) O-Ton (Ziebarth): Man hat ja als Mensch erstmal zwei Reflexe: Der eine ist der Fluchtreflex: Sie rennen weg. Der andere Reflex ist: Sie stehen da und sagen: Na komm, was willst du? Also man kämpft. (13) O-Ton(Kohtes): Bekanntermaßen war der Faustkampf im Alten Griechenland sehr populär. ... Sprecherin: Michael Kohtes hat in seinem Essay "Eine Faustschrift" die Kulturgeschichte des Boxens festgehalten. (13) O-Ton(Kohtes dito): Dort wurde - nach allem, was wir wissen, ohne jegliches Reglement geboxt. Der Kampf war entschieden, wenn jemand am Boden blieb, bewusstlos war. (14) O-Ton(Kohtes): Verschärft wurde der Boxkampf im Alten Rom. Dort hat man spezielle Handschuhe entwickelt, die aber nicht dem Schutz des Boxers dienten, sondern einzig und allein zum Zwecke übergestülpt wurden, um den Gegner zu verletzen. Das waren stahl- bzw. eisengespickte Handschuhe. Im Alten Rom war Boxen natürlich Teil der Gladiatorenkämpfe und lief in der Kategorie Brot und Spiele fürs Volk. (50'') Sprecherin: Erst die Londoner Regeln von 1838 bringen ein wenig Struktur in die wüsten Prügeleien. Die Größe des Ringes, in dem die Kämpfer gegen einander antreten, wird mit 24 Fuß im Quadrat festgeschrieben. Weiterhin werden bestimmte Handlungen im Ring untersagt: (15) O-Ton (Ziebarth): Also Beißen ist natürlich verboten. Kopfstoß, Ellenbogenstoß. Kniestoß - kommt ja auch schon vor, dass da der Boxer versehentlich mal das Knie hochzieht wie beim Kickboxen. Das ist auch verboten. Dem anderen auf die Füße springen. Da behindert er ihn ja. Sprecherin: Das Reglement besagt auch, dass jedem Boxer, der zu Boden geht, eine Erholungszeit zusteht. (16) O-Ton (Kohtes): Das eigentlich Mörderische war, dass es keinerlei zeitliche Befristung gab. Das heißt, es wurde nicht nach Runden geboxt, sondern solange, bis einer der beiden Kämpfer nicht mehr auf die Beine kam. So konnten diese so genannten Price-Fights, wie sie bis ins 19. Jahrhundert in England hießen, sich oft über Stunden hinziehen und dementsprechend waren Verletzungen an den Tagesordnung und auch Todesfälle keine Seltenheit. (17) O-Ton (Ziebarth): Wir kämpfen nicht auf Leben oder Tod, wir kämpfen über Sieg oder Niederlage. Und jeder, der dort in den Ring rein steigt, möchte gewinnen. Sprecherin: Im zwanzigsten Jahrhundert kommt es immer wieder zu direkten Begegnungen von Boxern und Literaten. So ist Brecht von dem Deutschen Schwergewichtsmeister Paul Samson-Körner derart fasziniert, dass er dessen Biografie zu schreiben beginnt. Brecht, körperlich ziemlich genau das Gegenteil von Körner, fehlt für dieses Projekt jedoch die nötige Kondition, und so geht er bereits im vierten Kapitel k.o. Körperlich k.o. geht der surrealistische Dichter Arthur Cravan im April 1916, als er in der großen Stierkampfarena von Barcelona gegen den Ex-Box-Weltmeister Jack Johnson antritt. Der Schriftsteller und der Boxer haben nur eine einzige Gemeinsamkeit: Beide sind pleite. Johnson streckt Cravan bereits zu Beginn der ersten Runde nieder. Das Publikum fühlt sich betrogen, randaliert und bekommt schließlich das Geld zurück. Cravan aber gewinnt trotzdem: Er hat sich seine enorme Börse bereits vor dem Kampf auszahlen lassen und flieht nach Amerika. Existentiell wird die Begegnung mit dem Schriftsteller Jean Cocteau für den Boxer Panama Al Brown. Als der französische Surrealist 1932 den heruntergekommenen ehemaligen Box-Weltmeister in einer Bar entdeckt, fasst er den Plan, ihn wieder zum Weltmeister zu machen. Cocteau nutzt seine Kontakte zur Presse und zur High Society. Coco Chanel finanziert Trainingslager und Entziehungskur für Panama, der rasch wieder in Form kommt. Tatsächlich gelingt es ihm dann in einem spektakulären Revanche-Kampf vor 20.000 Zuschauern, den Titel zurück zu gewinnen. Cocteau fordert ihn daraufhin zu einem würdigen Abgang auf. Panama tritt zurück, frönt dann aber wieder seiner Alkoholsucht. Panama Al Brown stirbt arm und völlig vereinsamt mit nur achtundvierzig Jahren. Regie: Atmo Training + Atmo Jubel kurz einfahren mit Atmo Glocke abschließen, trocken weiter Zitator: Ich habe Ezra Pound Boxen beigebracht. Ohne großen Erfolg. Er besitzt etwa die Grazie eines Panzerkrebses. Heute Nachmittag gehe ich wieder rüber, aber es bringt nicht viel, weil ich zwischen den Runden noch schattenboxen muss, um überhaupt ins Schwitzen zu kommen. Sprecherin: ... schreibt Ernest Hemingway, der sich als Schriftsteller und als Boxer versteht. Für ihn ist Boxen die Formschule für seine Literatur. Er will die Präzision und Schlagkraft der Faustkunst aufs Papier übertragen. Jeder Satz ein Treffer, jede Pointe ein Kinnhaken. Boxen als Stilkunde für Literaten. Thorsten Becker: (18) O-Ton(Becker): Zum Beispiel gibt es etwas, was in der Boxschule wichtig ist: Nämlich das Einleiten des Nahkampfs. Also das Wechseln der Distanz. Da gibt es dann auch so feinere Ähnlichkeiten in Techniken. Es macht unter anderem den guten Boxer aus, wie er aus der Distanz in den Nahkampf geht und vor allem, wie er wieder rauskommt. Wie kommt man zum Beispiel von der Erzählung in den Dialog? Das sind ganz ähnliche Vorgänge. Und: Wie kommt man wieder raus aus dem Dialog, ohne dass man sich eine fängt dabei? Wo man entweder auf Distanz boxt oder schreibt. Sprecherin: Ezra Pound versucht Hemingway literarisch zu fördern. Hemingway trainiert seinen Schriftstellerkollegen im Ring. Beides offensichtlich mit einigem Erfolg: Zitator: Pound hat einen ungeheuren Schlag entwickelt. Meistens haut er allerdings in meine Deckung, und wenn er zu grob wird, strecke ich ihn nieder. Er ist ein guter mutiger Bursche und ist ein verteufelter Boxer geworden - und wenn ich eines Tages mal nicht aufpassen werde, wird er mir den Latz vollknallen. (19) O-Ton(Becker): Es ist ja auch so, dass Boxer, wenn sie am Ende sind, auch mal gern diese neun Sekunden nehmen. Das können wir uns ja jetzt gar nicht vorstellen: Was würde einem beim Zahnarzt neun Sekunden helfen, die der Bohrer zurückgehalten wird. Aber die schaffen das, in diesen neun Sekunden mit sich was zu veranstalten, wofür unser einer drei Nächste Schlaf braucht. Sie reden ja wirklich von Erholung. Wo dann die Fans des Gegners schon jubeln: Mach ihn fertig, Atze! Aber die schaffen es, dann irgendwoher Kräfte, die sie im Training aufgespart haben, zu mobilisieren. (20) O-Ton(Ziebarth): Gegenüber allen anderen Sportarten zeigt Boxen die Wahrheit knallhart auf: Wenn ich talentiert bin, dann bin ich auch in der Lage da zu stehen und zu boxen, und wenn ich's nicht kann, dann gibt's nur Schmerz auf die Nase und das schreckliche Verlierergefühl. Sprecherin: Boxtrainer Udo Ziebarth: (21) O-Ton (Ziebarth): Der Boxer lernt im Laufe der Jahre: Wie komme ich damit klar, wenn mir jemand gegenübersteht, der mir überlegen ist? Das muss er lernen. Sprecherin: Der Trainer von Nasrettin in Beckers Roman "Sieger nach Punkten" hat in der letzten Runde einen Schwachpunkt beim Gegner entdeckt: Zitator: Das war deine beste Runde bis jetzt. Leider kam der letzte Lebertreffer zu spät. Du hättest ihn unten gehabt. Sogar nach Punkten stehst du inzwischen besser als er. Aber verlass dich nicht drauf. Vergiss seinen Kopf, der ist aus Holz, den schlägst du mit einer Keule nicht ein. Geh zum Körper, versuch die Leber zu treffen. Da hält er nicht mehr viel aus. Wenn du noch einmal mit dem Haken rein kommst, dann müsste er purzeln. Regie: Atmo Training Leberhaken unter folgenden Take legen (22) O-Ton (Ziebarth): Das ist richtig. Also ein Lebertreffer ist ein richtiger Wirkungstreffer und man geht als Boxer auch sofort zu Boden. Wenn Sie auf die Leber getroffen werden, gehen Sie auch sofort zu Boden. Regie: Atmo Leberhaken ab "...Bang det Ding rein...", Atmo ca. 30`` frei stehen lassen unter nächstem Take ausblenden (23)O-Ton(Eckoldt): Beim Zusehen verspüre ich immer so eine Angstlust, so was, was man hat, wenn man an einem Autoumfall vorbeifährt, und der Krankenwagen ist schon da. Wo man immer fragt, gucke ich jetzt hin oder gucke ich nicht hin? Und genau so ist es beim Boxen. Sprecherin: Der Berliner Schriftsteller Matthias Eckoldt hat im letzten Jahr mit "Letzte Tage" einen Boxerroman vorgelegt. (23)O-Ton(Eckoldt dito): Es ist so eine Faszination, wo die zivilisierte Gesellschaft in ihrer Zivilisation Totschlag im Prinzip erlaubt hat. Deswegen ist ja Sport so faszinierend, weil im Sport die großen Tragiken ausgefochten werden, die wir im Alltag kaum merken. Wir haben dann immer so das Gefühl, warum gucken wir das eigentlich? Wir gucken es deswegen, ist meine These zumindest, weil da im Ersatz für unser normales Leben etwas ausagiert wird. Sprecherin: Eckoldt zeichnet in seinem Roman das tragische Porträt des alternden Boxtrainers Toni. Dieser kommt aus der ehemaligen DDR und versucht seine letzte Chance im westdeutschen Profi-Geschäft zu ergreifen. Nach anfänglichen Erfolgen stellt ihn der Manager des Boxstalls vor eine folgenschwere Entscheidung. Er setzt einen spektakulären Schaukampf zwischen den beiden Boxern an, die Toni trainiert. Zitator: Toni hatte keinen Sohn, aber er hatte zwei Boxer, denen er Vater war. Wäre es Alex nicht merkwürdig vorgekommen, wenn er ihn jetzt noch einmal ins Büro geholt und um Verständnis für seine Entscheidung gebeten hätte? Mit wenigen Worten wäre aus dem bewunderten Trainer, der ihn zum Europameister gemacht und ihm seine Alkoholsucht ausgetrieben hatte, ein windelweicher alter Sack geworden, der einen Boxer verriet, nur um selbst weiter am Ring stehen zu dürfen. Dass er auch noch um Verständnis bettelte, hätte die Sache noch erbarmungswürdiger gemacht. Toni wischte erst mit dem Finger, dann mit dem Ärmel der Trainingsjacke über seinen Mund. Nein, er würde niemandem etwas erklären! Väter durften nicht reden, sie mussten handeln. Sprecherin: Tonis Entscheidung für einen seiner Boxer übersteigt seine Kräfte, da er damit unweigerlich den anderen verrät. Eckoldt erzählt die Geschichte dieses existenziellen Patts bis zum bitteren Ende. Und so lesen wir von einem Menschen, der seinem Körper alles abverlangt und sich dabei doch abhanden kommt. (24) O-Ton(Meyer): Boxen bietet ja, das ist ja nun mal so, viele Metaphern. Wo ich och kein Freund davon bin: Boxen ist ne Metapher fürs Leben und so. Es ist aber was dran, muss man mal so sagen. Dieser Kampf Mann gegen Mann. Und dass och im Prinzip Tragik und Erfolg und Scheitern ganz nah beieinander ist. Sprecherin: Der Schriftsteller Clemens Meyer. In seinem Debütroman "Als wir träumten" ist die Hauptperson ein Boxer. (25) O-Ton(Meyer): Und das muss man ja auch mal sagen: Es gibt och Kämpfe, wo jemand dann danach tot war. Das ist da ganz nahe dran. Das ist ja nun mal kein Ringelpiez und das birgt wirklich viele Metaphern für Literatur oder vieles, was man so mitlaufen lassen kann. Zitator: Es war die Zeit der großen Kämpfe. Ricos großer Kampf war zwar schon lange vorbei, und seitdem hatte er nicht mehr im Ring gestanden, aber wenn im Fernsehen Sir Henry Maske, Rocky Rocchigiani, der Tiger oder der dicke Axel Schulz boxten und Rico nicht gerade im Jugendarest oder im Knast war, saßen wir bei Goldi in der Kneipe vorm Fernseher, und er kämpfte mit. Am liebsten sah er "Rocky" kämpfen. "Ein Straßenköter", sagte Rico, "der ist ein Straßenköter, genau wie ich. Der wühlt sich in dich rein und frisst dich auf!" O-Ton (Ziehbarth): Ja, Mensch! Straßenköter! Also, als Straßenköter möchte ich den Graciano nun wirklich nicht bezeichnen. Also ich kenne ihn noch von ganz früher. Sprecherin: Graciano Rocchigiani, deutscher Boxer im Halbschwergewicht, verliert 1995 in zwei Kämpfen um den Weltmeistertitel gegen seinen Landsmann Henry Maske. (51)O-Ton (Ziehbarth): Der Graciano hatte auch so ein entsprechendes Umfeld. Deswegen ist das ja kein schlechter Mensch, er hat eben halt nur nicht - was bestimmte Umgangsformen angeht - das hat er eben nie so richtig lernen können. Und man muss auch dazu sagen, dass er eben auch so ein Mensch ist, der nicht unbedingt jedes Wort, was er sagt, in dem Augenblick darüber nachdenkt, sondern einfach sein innerliches Gefühl raus lässt. (26) O-Ton (Meyer): Die Figuren im Buch halten auf den Underdog, auf Rocchigiani. Der ist so der Typ des Straßenkämpfers, dem sie versuchen nahe zu sein. Sprecherin: Clemens Meyer erzählt in seinem Roman von einer Jugend im Leipzig der Nachwendezeit. Die Zwiesprache mit dem Tod gehört für Ricos Klicke zum Alltag im ostdeutschen Großstadt-Ghetto. Jede Nacht ziehen sie durch die Straßen. Sie saufen, sie klauen, sie prügeln sich und sie träumen von ihrer Zukunft: Zitator : Wir rennen los. Rico vornweg. Wir laufen die Kellertreppe hoch, durch den Hausflur auf den Hof. Wir kriechen durch die Zaunlücke rüber auf den Nachbarhof. Der Hof ist voller Gerümpel. Auf der Wiese steht ein alter Kühlschrank, und Rico bleibt vor ihm stehen und knallt ein paar Geraden und Haken auf das weiße Metall. Rico boxt ziemlich gut und will mal Profi werden, und das zeigt er überall. Sprecherin: Im entscheidenden Kampf wird Rico allerdings die Nerven verlieren. Gegen seinen Rivalen Steffen Eismann. Clemens Meyer schildert im Schlüsselkapitel des Romans diese Niederlage, während im Fernsehen der Kampf zwischen Graciano Rocky Rocchigiani und Henry Maske läuft. (27) O-Ton(Meyer): Ich habe sechs Jahre an dem Buch geschrieben. Und ich habe dieses Kapitel ganz zum Schluss gemacht, wo ich im Prinzip sagte: Jetzt bist du auf der Höhe deines Könnens. Jetzt bist du drin, jetzt kannst du das. Das Problem war eben dieses Parallelschneiden: Die kämpfen im Ring miteinander und der Protagonist kämpft innerlich einen anderen Kampf, den er im Ring geführt und verloren hat und er kämpft auch noch einen Kampf mit sich selbst mit seiner Drogensucht. Diese Parallelmontage: Dass die Dynamik, die im Ring passiert, bei Rocky und Henry Maske, parallel quasi die Dynamik und Dramatik im Leben des Protagonisten spür- und fühlbar macht. Das hat lange gebraucht, bis das funktioniert. Och einem Boxkampf nicht unähnlich. Ich hatte da wirklich viel zu kämpfen mit dieser Sache, aber es hat ja gut geklappt. Man kann das alles nachprüfen. Jeden Schlag, den ich da beschreibe, den hat es auch so gegeben. Und wenn nicht, dann haben die Leute nicht richtig hingeguckt. Zitator: Aber Maske fiel nicht um. Er taumelte, klammerte, stolperte zurück, aber er fiel nicht um. Und Rocky wollte ihn fressen, er setzte immer wieder nach, aber dann ertönte der Gong. Wir feierten. Wir klatschten in die Hände und schrien: "Rocky! Rocky!" und prosteten uns zu. "Goldie, noch ne Runde. Ne dreizehnte Runde!" wir lachten. "Wird n enges Urteil", sagte ich und zündete mir eine an. "Ja! Nicht wie gegen Eismann", sagte Rico und lächelte. Jetzt sah es so aus, als hätte er durch Rockys großen Kampf mit seinem letzten Kampf endgültig abgeschlossen, es "gefressen", wie er sagte. Er war bei neun wieder auf den Beinen gewesen und hatte an den Seilen gelehnt, aber es war zu spät, und der Ringrichter fuchtelte mit den beiden Armen vor ihm rum und nahm ihn aus dem Kampf. Aber Rico schob ihn einfach weg, taumelte auf Eismann zu, und ehe Eismann wusste, was los war, hatte Rico ihm zwei, drei Kopfstöße verpasst, genau auf die Nase, und Eismanns Blut war in seinem Gesicht, und dann knallte er seinen Ellenbogen direkt unter Eismanns Kinn in seinen Hals. Und Eismann war am Boden und stand nicht wieder auf. (28) O-Ton (Ziebarth): Ich würde sagen, das ist kein Sportler, und so ein Sportler muss sofort gesperrt werden. Einen Kopfstoß nach dem Kampf, in dem Augenblick, wo der andere gar nicht mehr damit rechnet, zeigt, dass er für diesen Sport nicht geeignet ist. Er ist charakterlich nicht dazu geeignet. (29) O-Ton(Meyer): Also Rico hat im Prinzip die Regeln verletzt. Das ist auch das Faszinierende für mich am Boxpsort, dass sich auch die Leute, die vorher Hass aufbauen, um sich zu motivieren, sich danach umarmen und sich die Hand geben. (30) O-Ton(Becker): Das ist ja das Interessante, dass Aggressivität zu gar nichts führt im Ring, und dass man auch sehr schlecht beraten ist, zum Beispiel Hass gegen den Gegner aufzubauen. Wenn man den richtig fertig machen will, muss man den eigentlich gern haben. (31 a) O-Ton(Becker dito): Von daher ist es auch gar nicht so verwunderlich, dass die sich da nach dem letzen Gong in den Armen liegen und abknutschen. Weil das ist natürlich auch eine Art und Weise des sich körperlich Kennenlernens, die uns im Alltag verborgen bleibt. Den Menschen, mit dem man geboxt hat, den kennt man doch ganz anders als Menschen, mit denen man nicht geboxt hat. (32) O-Ton(Kohtes ): Wer durch das Fegefeuer eines 10, 12 oder 15 Runden-Fights geht und dabei seine Existenz aufs Spiel setzt, der kommt an Grenzen, die eben nur diese beiden Rivalen im Ring ermessen können. Genau das verbindet die beiden. (30'') (33) O-Ton(Meyer): Den Rico hat das verletzt, der hat dann im Prinzip, wo er merkte, er unterliegt im Ring, seinem Gegner einen Kopfstoß verpasst und ihn übel zusammengetreten. Man muss eben verlieren können. Und dann sagt man eben: Okay, der war heute Abend besser als ich. Und das muss man akzeptieren. Und das hat der Protagonist des Buches nicht gemacht und das war der Anfang von seinem Abstieg. (30''/47') Sprecherin: Rico verliert seinen Kampf. Auch Nasrettin in Thorsten Beckers Roman "Sieger nach Punkten" unterliegt durch technisches k.o. in der letzten Runde. Am Schluss des Romans "Letzte Tage" wirft Toni kurioserweise das Handtuch für den überlegenen Boxer. Damit erlaubt Matthias Eckoldt seinem Protagonisten einen allerletzten Akt der Loyalität, bevor er seinen finalen Kampf gegen den Alkohol verlieren wird. Verlierer scheinen für die Kunst die eigentlich interessanten Figuren zu sein. Jene, die scheitern, die ihre Glücksansprüche nicht durchsetzen können, erzählen von den tragischen Dimensionen des Lebens. Das Glück bleibt der Werbung vorbehalten - Literatur findet ihre Konflikte im Scheitern. Zitator: Boxen, Sprecherin: so schreibt Joyce Carol Oates, Zitator: Boxen ist eine Kunstform, die es innerhalb der Künste nicht gibt. Sprecherin: Literaten und Boxer sind Künstler. Glücksritter, die sich einer selbstgewählten Unbedingtheit unterworfen haben. Sie müssen stets an ihre Grenzen gehen. Auch wenn beim Boxer die körperliche und beim Schriftsteller eher die geistige Qual im Zentrum steht, liegt der Glutkern beider Kunstformen im Kopf des Wort- beziehungsweise des Faust-Kämpfers: (34) O-Ton(Eckoldt): Es ist natürlich auch extrem intelligenter Sport, was man eigentlich gar nicht denkt, wenn man nur das Bild von der Schlägerei im Kopf hat. Es ist extrem intelligent, weil, wenn man sich mal einen Boxkampf in Zeitlupe anguckt, dann sieht man, was da in dem Moment geleistet wird: Wo ein Schlag kommt und der geschlagene Boxer ausweicht und sofort kontert, das sind Sachen, die brauchen eine unglaubliche mentale Fitness auch. (35) O-Ton(Kohtes): Sowohl der Künstler als auch der Boxer sind einsame Streiter unter einem leeren Himmel. (36) O-Ton(Becker): Aber man muss natürlich, wenn man hier als der, der man ist, das Leben fortführen will, sagen, es ist nicht der Boxer, sondern es ist vielmehr der Schriftsteller, der der einsamste Mensch der Welt ist. Der hat ja dann eben nicht den Gegner, den er dann knutschen kann, wenn er mit dem Kämpfen am Ende ist. Und genau wie der Schauspieler hat der Boxer ja dann auch sein Echo. Bei uns kommt das ja immer erst, wenn wir uns schon lange nicht mehr für die Sachen interessieren. Also in dem Moment, wo sich der Leser mit dem Buch beschäftigt, interessiert das den Schriftsteller ja nicht mehr. Regie: O-Ton Hallen-Musik Boxen unter vorigen Take einblenden, bei Textende "...heute ist der Tag der Tage..." hoch und langsam ausblenden. 2