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Regie Atmo 1 Brügge draußen - Glocken Pferde Autor 1: In der Altstadt von Brügge fahren Pferdekutschen die Touristen durch die Gassen mit Kopfsteinpflaster. Ein Liebespaar kuschelt sich eng aneinander auf roten Sitzen, das Pferd trabt über eine steinerne Brücke. An einem Holzsteg steigen ein paar Japaner in kleine Boote, um sich die mittelalterlichen massiven Steinbauten von den unzähligen Kanälen aus anzuschauen. Das belgische Städtchen wirkt wie ein riesiges Freiluftmuseum. Regie: Atmo 2 Schritte Autor 2: Svenja Ossmann geht an dem Bootssteg vorbei. Die 24-jährige Deutsche aus Essen lebt in Brügge. Sie bleibt vor einem Schaufenster stehen, in dem sich kleine Schwäne aus Schokolade auf einem Präsentierteller drehen. Svenja fährt sich durch ihre blonden Haare und schüttelt den Kopf. 1. O-Ton Svenja deutsch Es ist schon wunderschön, sehr malerisch. Aber manchmal ist es ein bisschen zu viel. Zu viele Touristen, zu viel Schokogeruch. Es wirkt manchmal sehr absurd, realitätsfern. Regie: Atmo 3 Boot Autor 3: Der Wind zerzaust Svenjas Haare. Sie geht über eine der vielen Brücken. Unter ihr fährt ein Boot vorbei. Eine zierliche Frau mit einer Zigarette in der rechten Hand kommt auf Svenja zu. Inés kommt aus Madrid. Auch für sie ist Brügge eine völlig andere Welt: 2. O-Ton Inés (engl.) Du hast gar keine normalen Läden - nur Schokolade und Souvenirs. Das hat nicht viel mit der Realität zu tun. Brügge ist in der Vergangenheit stehen geblieben. Aber die Vergangenheit und die Zukunft treffen sich immer in der Gegenwart. Also warum nicht hier die Zukunft gestalten? Brügge liegt schließlich mitten in Europa. Regie: Atmo 4 Pferd Autor 4 Wieder trabt eine Kutsche an den beiden vorbei. Aber Svenja und Inés sind keine Touristen. Mitten in diesem riesigen Museum basteln sie an Europas Zukunft. Die beiden studieren am Europa-Kolleg, einer Elite-Universität, die Hoffnungsträger ausbildet, die zukünftigen Stützen der Europäischen Union. Knapp 300 sind es in diesem Jahr. Sie kommen aus über 50 Ländern. Nur die Besten dürfen nach Brügge. Maastricht, London und jetzt Brügge - das sind Svenjas bisherige Karrierestationen. Und die haben sie geprägt. Sie ist überzeugte Europäerin. 3. O-Ton Svenja Ossmann Ich finde die Europäische Union immer noch faszinierend - trotz der Krise. Wir hatten schon einige Krisen, aus denen wir gestärkt hervorgegangen sind. Deshalb denke ich, auch aus dieser Krise gehen wir gestärkt hervor. Ich glaube fest an den gemeinschaftlichen europäischen Gedanken. Regie Atmo 5 Chinesen/Tür Autor 5 Svenja und Inés kämpfen sich durch eine Gruppe chinesischer Touristen und betreten das College-Gebäude, ein einfacher Bau, der innen aussieht wie viele Universitäten: lange kahle Flure, eine Bibliothek, Klassenräume und ein Konferenzsaal. Nichts deutet auf eine Kaderschmiede hin. Regie Atmo 6 Flur und Atmo 7 Kaffee-Maschine Autor 6 Svenja zieht sich einen Kaffee an der Maschine im Flur. Sie hat ein Stipendium für Brügge bekommen, das auch die Verpflegung abdeckt. Zum Glück, sagt sie. Denn sie musste ihr Studium in London abbrechen, weil das Geld ausging. Ihr Vater arbeitet in einem Call-Center, ihre Mutter ist bereits verstorben. Svenja weiß aus eigener Erfahrung, was das Wort "Finanzkrise" tatsächlich bedeutet. Regie Atmo 8 Kantine allgemein Autor 7 Die beiden Studentinnen betreten die Mensa. Deutsch, französisch, englisch, spanisch ... alle Sprachen mischen sich hier an den Tischen. Svenja nimmt sich ein Tablett und stellt sich in die Schlange. Auf einer Tafel steht das Tagesgericht: Fischgratin mit Salat. Sie lässt ihren Blick über die Tische schweifen. Die Eurokrise ist hier Dauergesprächsthema, sagt sie. Zusammen mit Inés setzt sie sich an einen der Tische. Regie Atmo 9 Tisch Autor 8 Dort unterhalten sich bereits Malte und Thomas aus Deutschland mit Ira, die aus Athen kommt. Sie wollen von der 26-Jährigen, die schon als Anwältin in Athen gearbeitet hat, wissen, wie es sein kann, dass ihr Land im Chaos versinkt. Ira lacht kurz. 4. O-Ton Ira (engl.) Sie versuchen es zu begreifen. Aber sie verstehen unsere Mentalität nicht. Sie können nicht nachvollziehen, wie wir so viel Korruption haben können. Sie sind an Ordnung gewöhnt. Und sie verstehen nicht, dass man nicht einfach alles von einem Tag auf den anderen ändern kann, dass man Leute nicht bestrafen kann für die Art, wie sie denken. Vor allem Deutsche sind manchmal echt schockiert von dem, was ich ihnen erzähle. Autor 9 Dass immer mehr junge Leute in Athen und anderswo auf die Straße gehen, kann sie gut verstehen, sagt Ira und trinkt einen Schluck Wasser. Die Studierenden halten in Brügge ihren eigenen EU-Gipfel ab - jeden Tag beim Mittagessen oder abends beim Bier. Hier treffen verschiedene Charaktere mit kulturellen Unterschieden und den jeweiligen nationalen Mentalitäten aufeinander. Jeder Vorschlag aus Berlin oder Paris wird diskutiert. Und die Studierenden sind kritisch - sie sehen - im Gegensatz zu vielen Politikern aus ihren Ländern - das große Ganze, Europa eben. So wie Thomas Stiegler, Student aus Bonn, und Kritiker des derzeitigen Krisenmanagements. 5. O-Ton Thomas dt. Den Grundkonstruktionsfehler haben alle begangen, dass man geglaubt hat, man kann die Finanzmärkte ohne Regeln lassen und auf der anderen Seite wollen wir in der EU nur Markt koordinieren, aber mehr nicht. Das war der Konstruktionsfehler, dass man nicht von Anfang an gesehen hat, man muss auch Finanzen regulieren, den haben alle begangen. Auch Deutschland. Regie: Atmo 11 draußen/ Autor 10 Die Diskussion ist in vollem Gange, als Inés die Runde verlässt. Mit schnellen Schritten geht sie an den Kanälen entlang. Die junge Frau aus Madrid will, bevor ihre nächste Unterrichtsstunde anfängt, noch in ihrer Wohnung vorbeischauen. Sie wohnt nicht, wie alle anderen Studenten, im Wohnheim. Denn sie hat ihr fünf Monate altes Baby mit nach Brügge gebracht. Während sie studiert, passt ihre Mutter auf Marianna auf. Regie: Atmo 12 kommt in der Wohnung an Autor 11: Inés schließt die Haustür auf und nimmt gleich zwei Treppenstufen auf einmal. Oben angekommen schließt sie ihre Tochter in die Arme, die auf dem Krabbelteppich liegt und mit ihrer Oma spielt. Sie hat schwarze dichte Haare und große braune Augen wie Inés. Regie Atmo 13: Hola! 6. O-Ton Inés engl. Ich lerne viel weniger als alle anderen, weil ich am liebsten mit meiner Tochter zusammen bin. Ich versuche schon, alle Kurse zu besuchen. Aber ich sehe Marianna immer ein paar Stunden am Tag. Manchmal gehen wir auch spazieren. Ich versuche - wie alle Mütter der Welt - Arbeit und Kind unter einen Hut zu bekommen. Wir werden sehen, wie die Prüfungen werden. Regie Atmo 14 zu Hause Autor 12: Zum Glück, ist sie pflegeleicht und beklagt sich kaum. Einfach ist es trotzdem nicht. Vom Vater ihrer Tochter hat sich Inés schon während der Schwangerschaft getrennt. Deshalb stört es sie auch, dass viele denken, in Brügge würden nur abgehobene Strebertypen studieren, die keine Ahnung haben vom Leben in Europa: 7. O-Ton Inés engl. Die meisten kommen mit einem Stipendium hierher. Du kannst richtig arm sein und in Brügge studieren. Das hat nichts mit Elite zu tun. Natürlich haben wir alle schon studiert und haben gute Abschlüsse. Aber das heißt nicht, dass Du ein Freak bist. Ich bin kein Freak. Regie Atmo 15 Flasche Autor 13: Inés legt ihre Tochter auf den Krabbelteppich zurück und macht ihr eine Flasche warm. Geldsorgen hat sie nicht. Ihr Stipendium deckt die Mietkosten. Und ihre Eltern helfen auch ein bisschen. Ihre Mutter hat sogar ihren Job zeitweise aufgeben, um ihre Tochter in Brügge zu unterstützen. Regie: Atmo 16 spielen Autor 14: Inés schaut auf ihre Armbanduhr. Schon wieder läuft ihr die Zeit davon. Noch ein paar Minuten nimmt sie sich und albert mit ihrer Tochter herum, dreht immer wieder eine Rassel vor ihrem Gesicht hin und her. Europa, sagt sie, ist ihre zweite Leidenschaft nach Marianna. Das Gezanke der Politiker in Brüssel kann sie nicht mehr hören: 9. O-Ton Inés engl. Wir sind eine Gemeinschaft und die Politiker müssen an alle denken - Du kannst nicht nur an Dein eigenes Geld denken, Deine eigenen Schulden, an Deine Verfassung und daran, dass bald Wahlen sind. Regie: Atmo 17 Brügge draußen - überblenden Atmo 18 Rektor spricht Autor 15: Das College-Gebäude liegt nur ein paar Hundert Meter von Inés Wohnung entfernt. Trotzdem, sagt sie, während sie zurück hastet, kommt sie fast immer zu spät. Regie: Atmo 18 Rektor redet mit Kollegen Autor 16: Im Flur unweit ihres Klassenzimmers steht der Rektor der Schule, Paul Demaret. Der untersetzte grauhaarige Professor für EU-Recht unterhält sich mit einem Kollegen. Es geht um neue Stipendien für die Studierenden. Traditionell kommen die von nationalen oder regionalen Regierungen. Aber wegen der knappen Haushaltskassen werden immer mehr Fördergelder gestrichen. Immerhin gibt es auch neue Geldquellen: 10. O-Ton Demaret (franz.) In Groß-Britannien gibt es zum Beispiel keine staatlichen Stipendien, aber es haben einige Ehemalige mit ihren Privatmitteln zusammengelegt. Österreich hat uns kürzlich mitgeteilt, dass aus finanziellen Gründen keine Stipendien mehr vergeben werden können. Daraufhin hat einer unser ehemaligen Studenten versprochen, dass er fünf Jahre lang einen österreichischen Studenten finanzieren wird. Autor 17: Paul Demaret schaut hinüber zu den Studierenden. Etwa die Hälfte von ihnen, sagt er, wird später im öffentlichen Dienst landen in Brüssel oder in den nationalen Hauptstädten. Die anderen 50 Prozent gehen in den Privatsektor und arbeiten zum Beispiel für die großen Lobbyfirmen in Brüssel. Auf ein paar Absolventen ist Paul Demaret besonders stolz: 11. O-Ton Demaret franz. Zum ersten Mal haben wir einen Regierungschef aus unseren Reihen - die dänische Premierministerin, die gerade gewählt worden ist. Sie hat hier vor nicht einmal 20 Jahren studiert. Der stellvertretende Premierminister aus Großbritannien, Nick Clegg hat hier studiert genauso wie der Europaminister aus Finnland. Und der junge Außenminister von Mazedonien war vor sechs oder sieben Jahren bei uns. Wir bereiten sie nicht explizit auf eine politische Karriere vor. Aber sie begreifen besser, was Europa ist, worum es geht und welche Entscheidungen sie treffen sollten als der Durchschnitt der Politiker in Europa. Autor 18: .. und dieser europäische Geist, sagt er, als das Mikrofon ausgeschaltet ist, fehlt gerade jetzt in der Krise. Regie Atmo 19: Studenten auf Flur Autor 19: Inés und Thomas nicken beifällig. Regie Atmo 20 Unterrichtsbeginn Autor 20: Die beiden verschwinden hinter einer roten Tür in den Unterricht. Vorne an der Tafel steht Vincent Laporte, einer der wissenschaftlichen Assistenten des College. Der Franzose erklärt den Studierenden die Grundlagen für politische Verhandlungsstrategien. Die aktuellen Entwicklungen in Brüssel gehören da natürlich dazu: 12. O-Ton Laporte engl. Wir wollen von Euch eine kritische Analyse, die sich auf aktuelle Ereignisse bezieht - zum Beispiel die Bildung der neuen Regierung in Belgien oder die Verhandlungen über die Rettungspakete für Griechenland. Ihr könnt in den Aufsätzen gerne Verbindungen dazu herstellen. Autor 21: Vincent Laporte erklärt die verschiedenen Phasen einer typischen internationalen Verhandlung. Thomas Stiegler schreibt eifrig am Laptop mit. 13. O-Ton Thomas dt. Man lernt eben, dass man Koalitionen braucht, dass man angewiesen ist auf die anderen Parteien - gerade in der Europäischen Union. Es geht vielleicht, dass man den anderen ausspielt in Verhandlungen, wenn man sich nie wieder sieht. Aber wenn man sich wie in der Europäischen Union ständig über den Weg läuft, dann kann man nur zusammen arbeiten. Regie Atmo 21 Unterricht Autor 22: Im Klassenraum sitzen Studierende aus mindestens 20 verschiedenen Ländern: Neben Thomas sitzt eine Chinesin. Daneben ein Kroate. Auch Inés ist dabei. Sie ist überzeugt, dass diese Mischung ihr auch später im Job weiter helfen wird: 14. O-Ton Inés engl. Du verstehst die Konflikte besser, die es in politischen Diskussionen gibt. Wir kommen natürlich aus unseren Ländern und verteidigen unsere Interessen. Hier verstehst Du, dass es manchmal schwierig sein kann, einen Kompromiss zu finden, dass Du manchmal an einer Stelle nachgeben musst, um etwas anderes zu bekommen. Autor 23: Nach dem Unterricht eilt Inés in die Bibliothek. Sie will sich auf die Klausuren vorbereiten. Regie Atmo 22 Raum leise/Atmo 23 Bericht Gipfel Autor 24: Vor dem Eingang zur Bibliothek stehen ein paar rote Sessel um einen niedrigen Holztisch herum. Thomas und Ira sitzen hier. Sie trinken Tee aus weißen Tassen und schauen sich auf einem Laptop Videos von einem der zahlreichen EU-Gipfel der letzten Zeit an. Regie aus der Atmo Da kommt Herr Sarkozy ... . Autor 25: Auf dem Bildschirm schüttelt der französische Präsident Nicolas Sarkozy gerade der deutschen Bundeskanzlerin die Hand. Beide sind umringt von Fotografen und Kameraleuten im Verhandlungssaal im Brüsseler Ratsgebäude. 15. O-Ton Thomas dt. Ich glaube nicht, dass es da besonders fair und gesittet zugeht in diesen Sitzungen. Wir wissen eigentlich gar nicht, wie da die Entscheidungen getroffen werden. Sie brauchen eine gewisse Art von Vertraulichkeit, um schwierige und delikate Fragen zu lösen. Aber die Idee kann ja nicht sein, dass wir alle zwei Wochen so etwas sehen. Autor 26: Thomas rückt seine Brille gerade. Er wünscht sich mehr Bürgerbeteiligung, mehr Nähe zum Volk. Mit Gipfeltreffen, sagt er, lässt sich die Krise garantiert nicht lösen. Regie Atmo 24 Gemurmel/Kaffee Autor 27: Der neue italienische Ministerpräsident Monti betritt den Verhandlungssaal auf dem Bildschirm und schaut suchend in die Runde. 16. O-Ton Ira engl Monti ist wie unser Premierminister. Sie kommen aus der gleichen Ecke. Sie werden ungefähr das gleiche tun. Sie haben die gleiche Funktion: Technokraten. Sie sind da hingesetzt worden. Die EU, der IWF und die Europäische Zentralbank haben unseren Politikern vorgeschrieben, wen sie für das Amt aussuchen sollten. Autor 28: ... sagt Ira. Mit Demokratie hat das nicht mehr viel zu tun, findet die Griechin. Thomas pflichtet ihr bei: 17. O-Ton Thomas Das wird hoffentlich nicht andauern. Diese Idee, dass wir - wie im Wiener Kongress - zwei Staatschefs haben, die sich aufschwingen, ganz Europa zu regieren, das ist nicht machbar. Autor 29 Ira nickt und rührt ihren Kaffee um. Deutschland und Frankreich haben in Brügge zurzeit keinen guten Stand. 18. O-Ton Ira engl. Sie sind die zwei Supermächte der Union. Bis zu einem bestimmten Punkt ist das fair. Wenn Du so viel bezahlst, dann hast Du eine wichtige Stimme. Das ist normal. Aber ich mag gar nicht, wie sie auf die Entwicklungen in Griechenland reagiert haben. Es hat sich wirklich angefühlt, als wäre Griechenland kein souveräner Staat mehr - nur weil zwei europäische Politiker das sagen. Das war eine Vergewaltigung unseres Landes. Regie Atmo 26 Tür zu, Schritte, Stuhl Autor 30: In der ersten Etage des Gebäudes, sitzt der Rektor, Paul Demaret, an seinem Schreibtisch. Hinter ihm an der Wand hängt ein Foto von der wieder errichteten Brücke im herzegowinischen Mostar - für ihn ein Symbol für die europäische Einheit. Regie Atmo 26 Wasser einschenken Er schenkt sich ein Glas stilles Wasser ein und wirft einen Blick auf das Foto. 19. O-Ton Demaret franz. Wir sind überzeugt, dass Europa weiter zusammen wachsen muss, um in der Welt eine Stimme zu haben und um seine Probleme zu lösen. Wir sind kein College, in dem wir unsere Studenten einer Gehirnwäsche unterziehen, indem wir ihnen sagen: Ihr müsst so oder so denken. Sie begreifen die Notwendigkeit der EU auch alleine. Autor 31: ... sagt Demaret und lächelt. Seinen Optimismus hat er noch nicht verloren - trotz Krise. Aber wie seine Studierenden versteht er nicht, wieso die Politiker noch immer nicht begriffen haben, dass der Weg aus der Krise ein mehr an Europa braucht und nicht weniger: 20. O-Ton Demaret franz. Wenn es in der EU ein größeres politisches Zusammengehörigkeitsgefühl geben würde, dann wäre die Krise nicht so schlimm wie sie ist. Es ist wirklich erstaunlich: Wenn man die Wirtschaftsdaten der gesamten Eurozone nimmt, dann sind sie besser als die Daten der USA, von Japan oder von Großbritannien. Aber diese Länder werden nicht von den Märkten und Spekulanten angegriffen wie einzelne Länder der Eurozone - und das obwohl die Zahlen schlechter sind was Schulden und Wachstum angeht. Wenn es mehr Einheit gäbe, dann wäre man besser gegen diese Angriffe gerüstet. Regie Atmo 27 Brügge draußen mit Fahrrädern Autor 32: Am nächsten Tag gehen Svenja, Ira und Inés zu einem Fußballplatz am Rand der Altstadt. Regie Atmo 28 Fußballplatz Autor 33: Auf dem Spielfeld ist gerade ein Tor gefallen. Ira jubelt. Einer ihrer Klassenkammeraden hat es geschossen. Die Spieler aus dem Jahrgang der drei Frauen tragen weiße Trikots mit dem Aufdruck "Marie Curie" - so ist der diesjährige Jahrgang vom Rektor getauft worden. Sie spielen gegen die Darwin-Gruppe, die vor zwei Jahren ihren Abschluss gemacht hat. Regie Atmo 29 Spiel Autor 34: Am Spielfeldrand unterhalten sich ein paar Studierende mit den Ehemaligen. Die Fragen sind immer die gleichen, sagt Stefan aus Serbien: 21. O-Ton Stefan engl. Ist es möglich, einen Job zu finden? Wie kann ich den finden? Lauter solche Sachen. 22. O-Ton Ira engl. Sie sagen, wir sollten uns nicht so stressen. Aber ich bin sehr gestresst. Ich muss unbedingt einen Job finden. Ich kann nicht zurückgehen nach Griechenland, weil es dort keine Arbeit gibt. Ich muss es hier schaffen. Deshalb bin ich auch ans College gekommen. Nach Weihnachten sollte ich anfangen, mich zu bewerben. Autor 35: ... sagt Ira. Neben ihr steht Aurore. Die 31-jährige Französin aus der Absolventengruppe von 2009 arbeitet mittlerweile als Beraterin für Europa-Fragen in der Stadtverwaltung der nordfranzösischen Stadt Amien. Erst, erzählt sie, hat sie es in Brüssel versucht. Aber nach fünf Praktika hat sie es dort aufgegeben. 23. O-Ton Aurore franz. Ein Abschluss aus Brügge ist keine Job-Garantie, aber eine gute Visitenkarte. Manche sprechen von der Brügge-Mafia. Aber es ist etwas komplizierter. Wenn man aus Brügge kommt, bekommt man nicht sofort den Traumjob. Aber Du kannst Dich auf Dein Netzwerk verlassen und das wird immer größer. Autor 36 Es ist keine Selbstverständlichkeit, in Brüssel einen Job zu finden - erst recht nicht in den Europäischen Institutionen. Im vergangenen Jahr gab es für 50 000 Kandidaten gerade einmal 400 Jobs. Keine sonderlich rosigen Aussichten. Aurore trinkt einen Schluck Bier aus der Flasche und feuert ihre Mannschaft an. Regie Atmo 30 Anfeuern Autor 37: Nach 90 Minuten steht es Eins zu Eins. Elfmeterschießen soll entscheiden. Gerade nimmt ein Spieler vom Team Darwin Anlauf zum ersten Schuss. Ein Treffer. Aurore reckt die Arme in die Höhe. Christian Backert - ebenfalls ein Ehemaliger - prostet ihr zu. Er kommt aus Frankfurt und arbeitet mittlerweile bei einer Firma für Politikberatung in Brüssel. Er schätzt, dass etwa die Hälfe seines Jahrgangs in der EU-Hauptstadt einen Job gefunden hat. Zwar ist dort die Stimmung gerade alles andere als gut, sagt er. Aber darauf hat ihn das College auch vorbereitet: 24. O-Ton Christian Backert dt. Ich glaube nicht, dass wir blauäugig nach Brüssel gegangen sind. Man hat auch am College in Diskussionen gesehen, dass sich nicht immer alle einig waren. Wir hatten unsere Briten, die gegen die europäische Einigung waren. Wir hatten die Leute, die total dafür waren, Leute dazwischen. Es war ein Abbild der verschiedenen Strömungen, die es in Europa gibt. Autor 38: Er denkt gerne an seine Zeit am College zurück, sagt der junge Deutsche. Aurore geht sogar noch einen Schritt weiter: Für sie ist Brügge die letzte Insel der wahren Europäer: 25. O-Ton Aurore franz. Das Ziel des Kollegs war es von Anfang an, Menschen zu formen, die ihre eigene Nationalität vergessen und daran arbeiten, die Völker nach den Weltkriegen zu versöhnen. Das klingt altmodisch heute. Aber ich merke, dass heute in der Krise das College der einzige Ort ist, an dem ich noch Leute treffe, die an das Europa der Völker glauben, nicht nur an das der Wirtschaft. Regie: Atmo 31 Spielende Autor 39: Aurore und Christian jubeln. Ihre Mannschaft hat knapp gewonnen - mit einem Elfmeter mehr im Tor. Svenja, Ira und Inés gehen zurück in die Stadt. Es ist kalt geworden in Brügge. Svenja zieht ihren rosa Schal enger um den Hals. Sie weiß, sagt sie, dass ihr nach dem Studium nicht alle Türen offen stehen werden. 26. O-Ton Svenja dt. Heutzutage sprechen alle drei Sprachen fließend, dazu noch zwei, drei exotische Sprachen. Und alle waren im Ausland. Auch das ist nichts Besonderes mehr. Dadurch, dass wir alle so mobil sind, haben das fast alle Jugendlichen in unserem Alter gemacht. Autor 40: Sie hakt sich bei Inés unter, die genüsslich an ihrer Zigarette zieht. Noch ein paar Monate bis zum nächsten Sommer, dann müssen sie sich wieder trennen und selbst Arbeit suchen. Große Erwartungen lasten auf ihnen. Sie sollen Europa retten - die Union, die Völker - und vor allem die Wirtschaft. Wie das gehen soll, dafür hat auch das Europakolleg in Brügge kein Patentrezept. Aber eines ist klar: an mangelnder Leidenschaft wird es nicht scheitern. 27. O-Ton Inés engl Natürlich machen wir uns Sorgen. Aber ich glaube an die EU. Ich glaube wirklich daran. Es gibt keine Alternative. 1