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(c) DeutschlandRadio Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 29.10.2012, 19.30 Uhr Schlagen und demütigen Wenn Eltern die Kontrolle verlieren Von Barbara Zillmann Musik O-Ton 1 Mann Wir wissen ja alle, wie Kinder sind - ja, dann kam's denn auch wirklich in Situationen vor und dann halt wirklich mir für den Moment keine andere sinnvolle Lösung kam als ihnen dann 'n Klaps zu geben - war n bisschen doller als n Klaps aber - um dann halt letzten Endes die Kinder auseinanderzuzerren, jedes in einen Raum, und dann mit sehr lauter Stimme, wo dann die Kinder wieder eingeschüchtert waren, in dem Augenblick kriegt ich dann mit, dass es vollkommen verkehrt war, wusste aber nicht, wie ich aus der Situation wieder rauskomme. Sprecher vom Dienst: Schlagen und demütigen Wenn Eltern die Kontrolle verlieren Eine Sendung von Barbara Zillmann O-Ton 2 Mann Gerade, da sie so jung warn, verstehen sie es natürlich auch schwer, die Kinder, und wollen dann halt nicht so, wie ich es dann gerne möchte - und das war halt wirklich sehr sehr schwierig. Sprecherin Was treibt Eltern dazu, ihre Kinder zu schlagen, zu treten, anzubrüllen und herunterzuputzen? Traut man Umfrageergebnissen, glaubt fast die Hälfte aller Eltern in Deutschland, das Schläge ein wirksames Erziehungsmittel seien. Und sie wenden es an, die einen mit mehr, die anderen mit weniger schlechtem Gewissen. Atmo Müttercafe, Kinderstimmen darüber: O-Ton 3 Mutter 1 Ich hab auch von vielen Pädagogen gehört, man soll auch den Kindern Grenzen zeigen, sonst machen sie, was sie wollen. Man muss natürlich nicht mit Gewalt setzen. Sprecherin Eine junge Mutter im Elterncafe des Kinderschutzbundes Köln. Sie beschreibt ein Dilemma, in dem sich viele Eltern sehen: O-Ton 4 Mutter 1 Dadurch, weil den Eltern alles weggenommen wird an Erziehungsmethoden, also diese Sanktionen, Klatsch auf die Finger oder Klatsch auf den Po - die Kinder sind ja auch nicht dumm und kriegen alles mit. Ich hab schon Kleinkinder gehört, wie die gesagt haben, ich zeig dich an. Und es ist doch nicht Sinn und Zweck der Methode, dass den Eltern die Hände gebunden sind, die Kinder in die richtige Bahn zu lenken!! Sprecherin "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig." - so steht es seit zwölf Jahren im Bürgerlichen Gesetzbuch. Wie aber erzieht man ohne die lange gebilligte Prügelstrafe, ohne das "Züchtigungsrecht" der Eltern? Atmo Nicht jeder ist pädagogisch talentiert. Kinder erziehen - ohne Gewalt - wer das lernen will, bekommt Hilfe. Rund sieben Milliarden Euro hat die Bundesrepublik 2010 für die Unterstützung bei der Erziehung ausgegeben. In den letzten Jahren wurde der ambulante Bereich ausgebaut, vor allem in großen Städten. Dazu gehören ganz niedrigschwellige Angebote wie die der zwei Elterncafés vom Kinderschutzbund in Köln. O-Ton 5 Corinna Bächer Wir haben im Bereich der frühen Hilfen ganz überwiegend mit motivierten Eltern zu tun, sagen wir so, die sind motiviert, dass es ihren Kindern gut geht - das ist die Schnittmenge. Sprecherin Über den Weg dahin, gäbe es manchmal unterschiedliche Auffassungen, sagt Corinna Bächer vom Kinderschutzbund in Köln. O-Ton 5 Corinna Bächer weiter ... aber wir haben so gut wie nie mit Eltern zu tun, die ihr Kind gewollt, bewusst, systematisch züchtigen. Das gibt es so nur noch ganz selten. Da hat sicher der § 1631 und die Öffentlichkeitsarbeit der letzten 12 Jahre ne große Rolle gespielt. Schlagen ist out, das wissen fast alle Eltern. Atmo kurz frei heulendes Kind O-Ton 6 Bächer Um so schwieriger wird es dann für manche Eltern, wenn sie feststellen, dass ihnen manchmal die Hand ausrutscht, dass sie mitkriegen, dass der Partner das Kind ab und zu misshandelt, schlägt, es gibt auch seelische Gewalt, es gibt sehr schräg laufende Beziehungen, es gibt Kinder die werden als Partnerersatz gebraucht und missbraucht, es gibt Kinder die werden wie Gegenstände behandelt, ich sag immer wie ne chinesische Vase, die muss geputzt und gepflegt werden, die darf nicht kaputt gehen und keinen Sprung kriegen. Die muss aber auch immer schön stehenbleiben. Wenn die anfängt, sich zu bewegen, ist das schwierig und ängstigend. Sprecherin Was will, was kann und was braucht ein Kind in welchem Alter, und wie kann man die Welt mit seinen Augen sehen? Modernes Wissen dazu geben Corinna Bächer und ihre Kollegen bei Tee und Kuchen weiter. Doch diese wohlwollende Sicht auf das Kind trifft auf viele autoritäre Traditionen. Heraus kommt eine gesellschaftliche Doppelmoral: O-Ton 7 Bächer Man glaubt nicht, unter was für einem Druck viele Familien aufgrund ihrer Nachbarn stehen. Und wie viele Kinder Gewalt erfahren, damit sie nicht so toben oder schreien. Atmo kurz frei quietschende schreiende nervige Kinder Collage Mütter 1 Mutter 1 Ich denke, wenn das gesunde Eltern sind, dann würden die das auch nicht aus Spaß machen, außer wenn man kein Ausweg finden. Mutter 3 Normal ich will nicht, aber wenig, mit Popo, aber nicht fest. Mutter 2 Es gibt bestimmte Sachen, da müssen die Mütter oder die Väter sehr stark sein, weil auch die Gesellschaft auch das verhindert, ohne Gewalt zu erziehen. Wenn das Kind mitten im Shoppingcenter anfängt zu schreien, ich konnte es aushalten - sie wollte mit dem Einkaufswagen rein und ich hab den Buggy in der Hand gehabt. Und die wollte unbedingt, dass ich den Einkaufswagen mitnehm und ich konnte das nicht beides machen. - und dann fing sie an zu schreien, als ob ich sie gegen die Wand geknallt habe. Und dann hab ich gesagt, ok, dann wein, und wenn du fertig bist, dann gehn wir. Ich musste mich extra zehn Schritte entfernen, damit die Leute nicht zu mir kommen und: Was hat sie denn? und: Warum machen sie das und: Wieso trösten Sie nicht? akustischer Trenner O-Ton 8 Mann Wenn ich halt irgendwie Stress von außen hatte - mit dem Auto hat was nicht geklappt, und wenn man dann nachhause kommt und Kinder sich mit Steinen oder Bausteinen bewerfen. da ist es dann halt einfach so, dass man reinkommt, da ist Krach, man hört se nur, weiß noch gar nicht so was los ist und geht schon an die Decke - ich hab ihnen halt die Vorschriften gemacht und des halt auch noch komplett verkehrt. Tja. Mit zu stark erhobener Stimme, mit ner Hand, die dann ausgerutscht ist, meist auf n Hintern. Sprecherin Der Vater von vier Kindern aus dem ländlichen Brandenburg sah sein Leben aus den Fugen geraten. Es gab finanzielle Probleme, irgendwann stand die Familie vor einer Zwangsräumung. Dabei wurden die Behörden auf die Situation der Kinder aufmerksam. O-Ton 9 Mann Daraufhin ist das Jugendamt auf uns zugekommen - und hatten erst mal gesagt, ihr braucht ne Familienhilfe - da war ich sehr doll verletzt - weil sind dann auch die Worte gefallen: sie müssen es nicht, aber dann schalten wir sofort das Familiengericht ein und nehmen die Kinder weg - und da ist natürlich im Sinne der Kinder und für mich auch die Überlegung andersrum gegangen: Gut, was soll's, gucken wir uns das erst mal an - aber natürlich mit dieser negativen Voreinstellung hat man die Leute natürlich nicht an sich rangelassen. Sprecherin Die Familienberatung brachte ihm zunächst gar nichts, sagt er. Immer wieder wurde der junge Vater jähzornig. Wenn er innerlich raste, fand er nur diesen Ausweg: O-Ton 10 Mann In erster Linie bin ich meist abgehauen, rausgegangen, in meine Schrauberhalle, wo ich dann für mich allein war, den Frust rauslassen konnte, wo ich mir dann persönlich doll wehgetan habe - aber das war der Punkt, wo ich komplett runtergekommen bin und gesagt habe: Stopp! Und das in Ordnung gebracht habe, auch versucht habe mit meiner damaligen Frau drüber zu reden. Sprecherin Doch sie finden keine Lösung. Er verlässt Frau und vier Kinder im Alter von 1 bis 5, zu seinem und zu ihrem Schutz, sagt er. Und geht in die nächste Beziehung. Doch die neue Partnerin, die selbst Kinder hat, reagiert unerwartet: Er selbst sei schuld an seinen Problemen. Und Gewalt gehe gar nicht. Auch sie empfiehlt eine Beratung, einen neuen Anlauf. O-Ton 11 Mann Gerade dieser erste Schritt denn auch zu sagen, ich brauch Hilfe, seinen eigenen Schweinehund zu überwinden, sich selber zu verletzen innerlich - man hat erst mal das Gefühl, alle Welt ringsum kommt und sagt: du! Du bist das kleine Arschloch, welches dies und das gemacht hat. akustischer Trenner O-Ton 12 Kernich Mehr oder weniger freiwillig kommen die Leute, und alle haben eigentlich nicht das Thema Gewalt, Misshandlung, sondern alle haben eher das Thema Erziehung, Erziehungsberatung, wie kann ich denn mein Kind so behandeln, dass es sich so verhält, wie ich das will. Sprecherin Christine Kernich ist Familienberaterin bei "StIBB" in Potsdam, beim Sozialtherapeutischen Institut Berlin-Brandenburg. Ein freier Träger der Jugendhilfe: O-Ton 13 Kernich Direkt für Eltern ansprechbar, kostet auch nix, man kann sich anonym an uns wenden, und keiner muss erst zum Jugendamt gehen, wenn er sich mit uns in Verbindung setzen will, sondern wir arbeiten gleich los, und in Krisenfällen innerhalb von 48 Stunden. Sprecherin Hier hat der Vater aus Brandenburg eine Hilfe gefunden, die er annehmen konnte - für sich und seine Patchwork-Familie. Jedes Familienmitglied bekam zunächst einen Berater oder eine Beraterin für sich allein. O-Ton 14 Mann Gerade hier auch durch die Zusammenarbeit mit den Familienhelfern, viel Zusammenarbeit mit meiner jetzigen Frau - ist es halt so, dass wenn sone Situation noch mal auftreten sollte, dass ich irgendwie gestresst bin von der Arbeit und dann merk - der Puls geht schon wieder auf hundertachtzig, denn haben wir für uns jetzt die Regelung so getroffen - ich geh zu meiner Frau, sage halt, du pass auf - mir steht's gerade hier - geht gar nicht - ich muss raus kurzfristig, übernimm du kurz bitte. Ich bin ne halbe Stunde später wieder da - und gut. Ich geh aus der Situation raus, bevor sie überhaupt passiert, und hab dann wirklich ne halbe Stunde für mich. Sprecherin Jemand anderen um Hilfe zu bitten, nicht alles allein hinzukriegen, ist eine neue Erfahrung für den Mann Mitte dreißig. Mit den Kindern lernt er Rituale, lernt, wie Konflikte gelöst werden können. Er lernt aber auch, seine eigenen Verletzungen anzuschauen: Wenn sein Vater von einer Dienstreise aus dem Ausland zurückkam, gab es für die inzwischen begangenen "Untaten" eine solche Tracht Prügel, das dem Jungen das Gesäß blau und rot anschwoll. O-Ton 15 Ja, ich denke. da bin ich als Kind mehr oder weniger in 'ner Ausnahmesituation gewesen, ich denke, ich hab mehr abgekriegt als so der Rest der Welt, aber damit hab ich natürlich auch ne relativ schwere Kindheit gehabt - das ist keine Rechtfertigung für das was ich selber gemacht habe, das darf nicht passieren. Bin halt mit 14 Jahren in einen Jugendwerkhof gegangen, eingewiesen - da war dann, was an häuslicher Gewalt da war noch mehr oder weniger Spielerei. Sprecherin Ein schwer traumatisiertes Kind also auch er. Einer, der seinen Kindern teilweise das antat, was ihm selbst widerfahren war. Corinna Bächer: O-Ton 16 Bächer/O-Ton 17 Kernich Es gibt den Begriff der Gespenster im Kinderzimmer, das sind meine eigene Projektionen und Ideen, die ich mitbringe aus meiner Kindheit. Zitat einer Mutter zu ihrem 2 Monate alten Baby: Wenn er mich anschreit, höre ich immer meinen Vater. Es ist nicht der kleine Junge, der sie bedroht, aber ihr Empfinden ist: Da bedroht mich jemand, da beschneidet jemand meine Autonomie. Und interessant ist: der Knoten, wenn er mal platzt, liegt immer beim Wiedererkennen; als mir das passiert ist, war's ganz furchtbar. Wenn das Empathische, das Empfinden reinkommt, dann gibt's n ganz ersten kleinen Weg, der vielleicht ne Bereitschaft bei den Eltern öffnet, sich in das Kind einzufühlen. Sprecherin Der Vater aus Brandenburg kann das inzwischen besser. Christine Kernich hat aber auch mit Menschen zu tun, die hartnäckig Widerstand leisten, die unzugänglich sind. Es sind manchmal gutsituierte Familien, in denen schwer misshandelt wird. Konflikte eskalieren wegen eines nicht runtergebrachten Mülleimers oder wegen der Schulaufgaben. Wie bei dem 12- jährigen Gymnasiasten, dessen mäkeliger Ton, dessen Widerworte den Vater reizten. Er schlug und trat seinen Sohn mehrmals wie in einem Rauschzustand - O-Ton 18 Kernich Der Junge fällt hin, ist blutüberströmt, dann nimmt er den, komm steig ein, fährt mit dem in die Klinik, sagt, mein Junge ist die Treppe runtergefallen, stimmt's?, der Junge sagt ja - und der Junge bleibt zwei, drei Tage im Krankenhaus. Das ist ein Beispiel. Und dieser Junge hat sich jemandem anvertraut. Nur dadurch ist er zu uns gekommen. Er hat ganz lange geschwiegen. Und der war auch der Meinung, er hätte ja seine Eltern ja immer so herausgefordert. Sprecherin Das Kind übernimmt die Sicht des Vaters. Dabei hatte es nur eine eigene Meinung geäußert, eine alterstypische Protesthaltung. Der Vater reagiert auf diese "Provokation". O-Ton 19 Kernich Ohne jede Empathie und wirklich im Hochgefühl von Rechthaben, und doch das Beste für sein Kind zu wollen. Und die Mutter, die das miterlebt, findet das ganz richtig so. Weil der Junge muss doch mal endlich zur Räson gebracht werden. Sprecherin Schwere Körperverletzung im Namen einer ordentlichen Zukunft. Solche Eltern leben in dem Bewusstsein, viel kostbare Zeit mit der schwierigen Aufgabe der Erziehung zu verbringen. Sie versuchen, das Kind für diese Welt zu optimieren, aber das Kind in seiner Eigenart und seinen Rechten kommt dabei gar nicht vor. O-Ton 20 Kernich Typisch denke ich für solche Misshandlungsverhältnisse ist ganz oft so was wie n symbiotisches Verhältnis, dass die Eltern ein Gefühl haben, das Kind ist wie so 'n verlängerte Arm - das muss perfekt sein. Aber wenn es das grad nicht perfekt ist, dann darf man auch es so quälen, wie man sich selber innerlich beschimpfen würde. Das Kind wird nur was, wenn ich ständig kontrolliere, ob es das macht, was ich richtig finde. Und das kann ich nur mit Macht ausüben herstellen. Sprecherin Die psychische Gewalt kommt hier in Form einer angestrengten Fürsorge daher. Unkenntnis der kindlichen Entwicklung paart sich oft mit unbewussten eigenen Verletzungen. Die Kontrollsucht kann sadistische Züge annehmen, auch bei Frauen. O-Ton 21 Kernich Und es ist sehr stark so was wie immer wieder n gezieltes Demütigen und n Prüfen, lässt sich das Kind jetzt unter Druck setzen. Das ist dann wie ein Selbstlauf zwischen Kind und Eltern oder Täter und Opfer, wo auch keiner aussteigen kann, wo's dann auch richtig gefährlich wird. Sprecherin Das Kind sitzt in der Falle. Am schlimmsten sei es, sagt die Beraterin, wenn es innerlich aufgibt, weil es komplett überfordert ist. Es zieht sich zurück, tobt oder heult, wird auffällig, oder wendet selbst Gewalt gegenüber anderen an. Es identifiziert sich immer mehr mit der Rolle, die man ihm zuschreibt. Wenn die Situation sich nicht auflöst. O-Ton 22 Kernich Das sind Kinder, die zwar leiden, aber auch andere Kinder quälen, die dann auch in so eine Machtrolle reingehen, das sind nicht so viele Fälle, aber da würde ich dann heranwachsen sehen die nächste Person, die ihre Kinder quält, weil sie selber so gequält worden ist, und weil sie selber nie Hilfe erfährt. Oder ausreichende Hilfe, die die Eltern begrenzen. Atmo halliger Raum, Schritte, Telefon, Tür geht zu O-Ton 23 Graichen Sie befinden sich hier in dem bundesweit einzigen Fachkommissariat für Delikte an Schutzbefohlenen, wir sind immer noch einmalig sozusagen - Sprecherin Gina Graichen hat sich in Berlin vor Jahren für eine zentrale Kinderschutzhotline starkgemacht und eine fachkundig besetzte Anlaufstelle bei der Polizei eingerichtet. Der Schwerpunkt des Kommissariats ist Kindesmisshandlung ohne sexuellen Hintergrund. Anlass war eine immergleiche Erfahrung: Wenn der Tod eines Kindes durch die Medien ging, riefen Bürger an: Wir wussten etwas, aber wir wussten nicht, wohin wir uns wenden sollten. Oft versickerten Hinweise auch im Dschungel der Zuständigkeiten. Heute kann jeder bei einem Verdachtsfall das Kommissariat 125 anrufen, das bei Bedarf sofort reagiert und mit den Jugendämtern eng vernetzt ist. Meist geht es dann um schwere Misshandlung oder Vernachlässigung. Seelische Grausamkeiten kommen fast immer hinzu, sagt Gina Graichen. O-Ton 24 Graichen Kinder reden gerade über diesen Bereich, wenn sie gemein behandelt werden, wenn sie mit Schimpfworten belegt werden, wenn sie die Drecksarbeit zuhause machen müssen, das erzählen sie nicht gern - da muss schon sehr viel Verzweiflung bei einem Kind dabei sein, wenn's dann hier bei uns sitzt, vielleicht auch in diesem Raum und dann für sich entscheidet: Ich möchte nie mehr nachhause gehn. Sprecherin Der Raum im Altbau ist hoch und schmal wie in einer alten Schule. Kinderspielzeug liegt da, Urlaubsbilder und bunte Familienszenen hängen an der Wand. Ein Versuch, den Räumen die Kälte zu nehmen. Kinder, die hier befragt werden, haben in der Regel Schreckliches erlebt. Ihre Aussage ist in Strafverfahren von zentraler Bedeutung. Dennoch muss die Polizistin die Kinder darauf hinweisen, dass auch sie ein Zeugnisverweigerungsrecht haben. O-Ton 25 Graichen So schlau sind Kinder, wenn sie n gewisses Alter haben schon zu überlegen, wenn ich jetzt was sage und ich geh wieder nachhause, dann fragen meine Eltern, was war denn bei der Polizei, die Angst, dass es dann schlimmer wird, ist schon da - Es gibt aber auch, dass das Kind in der rechtlichen Belehrung, die wir ja machen, dann schon sagt, ja ich möchte, dass mein Papa dafür ne Strafe bekommt oder meine Mama - geht gar nicht um Gefängnisstrafen, einfach, dass da mal einer ist, der sagt; so geht's nicht. Wir erleben im letzten Jahr häufiger, dass Kinder tatsächlich zum Abschnitt gehen und ne Anzeige machen, oder dass sie auch dann, wenn zuhause grad wieder mal die Luft brennt, vom Handy aus die Polizei rufen. Und dann eben auch sagen: Ich möcht hier weg. Sprecherin Falls die Kinder sich nicht klar äußern, ist das für die Ermittlungen ein Dilemma: O-Ton 26 Graichen Wenn ein Kind schlecht behandelt wird, wird's auffällig, es kann aggressiv gegen andere sein oder autoaggressiv, ritzen, sich wehtun, alles kaputtmachen, nicht gruppenfähig sein, das sind alles Anhaltspunkte, nur das ist kein Beweis dafür, dass es dem Kind zuhause schlecht geht. Das kann auch ganz andere Gründe haben. Und das eben dann beweisbar zu machen, damit es zu einer Strafe für die Eltern führt, ist wahnsinnig schwer und geht leider häufig im Nichts aus. Sprecherin Die polizeiliche Arbeit zwischen Anzeige, Vermutung und Beweis hat rechtliche Rahmenbedingungen, die manchmal schwer auszuhalten sind. Gina Graichen erlebt Eltern, die keinerlei Einsicht zeigen, dass sie ihr Kind nicht quälen dürfen. O-Ton 28 Graichen Die häufigste Anzahl sagt hier entweder gar nichts, lassen sich vertreten oder sagen nicht die Wahrheit und bleiben auch dabei, dass das für sie eben ihre Erziehungsmethoden sind und da hat eben keiner reinzureden, das ist mein Kind und das gehört mir. Das ist sehr sehr häufig so. Sprecherin Die Kindeswohlgefährdung in der Familie ist in gewisser Weise ein Paradox, denn eigentlich gilt die Familie als Ort der Geborgenheit. Im Juristendeutsch ein "unbestimmter Rechtsbegriff", muss Kindeswohlgefährdung daher im Einzelfall interpretiert und bewiesen werden. Professor Reinhard Wiesner ist juristischer Berater im Bundesfamilienministerium. Die Schwelle für ein Eingreifen des Staates sei hoch, sagt Wiesner. O-Ton 29 Wiesner In unserer rechtlichen Terminologie ist diese Schwelle der Kindeswohlgefährdung durch einen Klaps oder mehrere Schläge nicht erreicht - das Recht auf gewaltfreie Erziehung soll ein Leitbild sein, soll deutlich machen, Gewalt ist kein sinnvolles oder taugliches Mittel der Erziehung. Ein Leitbild, was wünschenswert ist im Sinne des Gesetzes, aber eben nicht mit einer automatischen Rechtsfolge, da muss wie gesagt mehr hinzukommen, es muss eine gewisse Schwere, Nachhaltigkeit da sein, bevor der Staat reagiert im Sinne von Strafrecht oder im Sinne von Sorgerechtsentzug. Sprecherin Im Klartext: Das im Bürgerlichen Gesetzbuch neu eingeführte Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung hat bisher kaum juristische Konsequenzen. Eltern können sich nicht mehr auf ihr Züchtigungsrecht berufen, aber erst wenn allgemeine Straftatbestände wie Körperverletzung oder Misshandlung Schutzbefohlener vorliegen, wenn ein Kind sichtbar verletzt, systematisch gequält oder lange vernachlässigt wird, ist die Rechtslage eindeutig, erst dann werden Eltern bestraft. Andererseits fordert das Kinderschutzgesetz, dass das Jugendamt an die Eltern herantritt, sie aufsucht und ihnen Hilfe vermittelt, sobald Gewalt in der Erziehung bekannt wird. Erst wenn Eltern sich dem verweigern oder die Gewalt fortsetzen, kann das Kind aus der Familie genommen werden. Ein Prozess, der sich oft über Jahre hinzieht. Und den Eltern viel Spielraum lässt für ihre Aggression. O-Ton 30 Graichen Mann kann auch mit Worten ein Kind so niedermachen, dass es gar nicht mehr rausgehen möchte. Sprecherin Das Ausschimpfen steigert sich dann, man haut schon mal mit den Fingerknöcheln an den Hinterkopf, schubst das Kind. Das verhält sich irgendwann gleichgültig. O-Ton 31 Graichen ... dann geht's richtig los, weil dann eben mit der Hand, mit der Faust geschlagen wird, das sind die häufigsten Methoden, die wir hier zu vermerken haben, das ist das Treten, das Brechen von Armen oder Beinen, das Zerren am Ohr, das Ausreißen von Haarbüscheln - mit heißem Wasser sehr sehr viel, dass man Kinder zur Strafe eben eiskalt abduscht oder in heißes Wasser setzt, oder auf die Herdplatte setzt, immer mit dem hehren Anspruch, das Kind soll lernen, dass man so was nicht macht. Das ist eigentlich so der Hintergrund. Und - em - det is auch für uns nicht einfach. Sprecherin Haben die Eltern keinerlei Empathie und Emotion? Anfangs durchaus, sagt die Kommissarin, sie möchten alles besser machen. O-Ton 32 Graichen Na ja, Empfindungen haben die schon - wenn wir mit den Leuten zu tun haben, dass dann schon klar rauskommt, relativ junge Eltern, die n schlechtes Elternhaus haben, weil geschlagen wird, weil gesoffen wird, weil niemand sich um sie kümmert, und dann gucken sie siebenundvierzig Dokusoaps im Fernsehen, und da ist allet chic - und das wünschen die sich, das wollen die haben und dann gehört dazu natürlich n Kind. Ganz wichtig. Partner, Wohnung, Kind und am besten natürlich noch n Hund und ne Katze. Sprecherin Aber nichts ist so wie in der Dokusoap, die Enttäuschung ist vorprogrammiert. O-Ton 33 Graichen Dann ist dieses Kind da, aber: det Kind schreit, dann wird unterstellt, du willst mich ärgern, du nörgelst den ganzen Tag rum, weil sie überhaupt nicht wissen, dass n Baby n ganzen Tag nichts anderes machen kann als weinen und schreien. Atmo Kleinkind brabbelt Mutter 3 Wir wollen die Kinder haben, und wir können nicht an ein zweijähriges Kind zu viele Erwartungen haben. Dass wir dreimal sagen, hör auf, auf den Knopf zu drücken, dass er dann schon hört, der Kleine weiß nicht, dass zum Beispiel die Waschmaschine kaputt geht - was hab ich gemacht, hab den auf die Hände geschlagen. Im Nachhinein denkt man, es ist falsch, man kanns nicht vom Kind erwarten. Es gibt für alles Lösungen bevor man n Kind schlägt. Mutter 4 Das hat mir echt was gebracht hier, auf jeden Fall. Ich bin auch viel ruhiger geworden, ich war immer so - oh, schaff ich das, bin ich gute Mutter, wenn ich mein Kind bisschen anmotzen tu, ihm das verbiete, ich will natürlich mein Kind schützen, jede Mutter schützt - da dran darfst du nicht, nee also, ich muss ehrlich sagen, ich bin offener geworden, ich lass ihn, ich lass ihn wirklich vieles machen und - ich bin stolz, also innere Ruhe habe ich gekriegt, ne? Atmo kurz hoch Sprecherin Die niederschwellige Arbeit wie im Kölner Elterncafe und eine wertschätzende Familienberatung, auch für harte Fälle können viel dazu beitragen, eine bessere Erziehung, eine Erziehung ohne Gewalt einzuüben. Doch eine Garantie für das Kindeswohl in der Familie wird es nie geben, sagt der Jurist Reinhard Wiesner: O-Ton 34 Wiesner Wir können mit rechtlichen Rahmenbedingungen, Verbesserungen der Fehlerkultur, des Managements auch in den Jugendämtern - also aus Fehlern lernen, sicherlich dazu beitragen, dass der Korridor der Unsicherheit n Stückweit enger wird. Aber ne Sicherheit, dass wir immer rechtzeitig alle Kinder vor Gefahren für ihr Wohl schützen können, die wird es aus fachlichen Gründen nicht geben. Wir leben - Gott sei Dank - in einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft, und das Kind braucht für sein Gedeihen einen freien privaten Raum. Und da gibt es eben Risiken, die man nicht von vornherein einschätzen und übersehen kann. Sprecherin Das vor einem Jahr in Kraft getretene novellierte Kinderschutzgesetz will die Prävention stärken, frühe Hilfen für Familien etablieren und den Informationsaustausch verbessern. Aber auch betroffene Kinder haben mehr Rechte, unabhängig von den Eltern Hilfe zu bekommen. Denn manche Väter und Mütter sind beratungsresistent. Wie lange lohnt es sich, um sie zu kämpfen? Wöchentlich sterben in Deutschland etwa drei Kinder durch Gewalt oder Vernachlässigung. Die staatliche Inobhutnahme, die Herausnahmen gefährdeter Kinder aus ihren Familien nimmt wieder zu. Die Kommunen sehen sich kaum in der Lage, mehr Geld in die Hilfe zur Erziehung zu investieren. Doch es ist auch klar: die meisten Kinder möchten zuhause bleiben, und die meisten Eltern wünschen sich einen Ausweg aus der Gewaltspirale. Selbst wenn sie sich hinter ihrer Eltern- Autonomie verschanzen. O-Ton 35 Mann Familie - redet mir keiner rein, das ist halt mein Ding - das ist denk ich die größte Falle, die man sich selber stellen kann. Sprecherin Der Vater aus Brandenburg teilt sich inzwischen das Sorgerecht mit seiner Ex-Frau: zwei Kinder leben bei ihr, zwei bei ihm. Alle sehen sich regelmäßig, man spricht wieder miteinander. Eltern und Kinder sowie die neuen Partner haben in Kleinarbeit und bei vielen Treffen in der Potsdamer Familienberatung STIBB Regeln und Rituale entwickelt, die Gewalt überflüssig machen können. O-Ton 35 Mann weiter - im Lauf der Zeit hat sich für mich gezeigt gerade auch durch die Familienhilfe, dass halt dieses Wort von außen, ganz ganz viel Bedeutung hat, ob es nu die eigenen Eltern sind, ob's die Freunde sind, man muss es nicht annehmen - man sollte aber für sich selber mal drüber nachdenken, ob da halt vielleicht was Gutes dran ist oder nicht. Atmo etwas ältere Kinder, lebendig Sprecher vom Dienst Schlagen und demütigen Wenn Eltern die Kontrolle verlieren Eine Sendung von Barbara Zillmann Es sprach: Marina Behnke Ton: Ralf Perz Regie: Gabriele Brennecke Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur, 2012 1