Deutschlandradio Kultur KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : "Dolchtänzer hassen Tangotänzer". Syriens Literaten im Kampf gegen die Tabus Politik, Sexualität und Religion Autor : Ibtissam Mouré (Ps.) Redakteurin : Jörg Plath Sendetermin : 17.5.2011, 19:30 Besetzung : Ingo Hülsmann, Ulrike Pollay, Eva Kryll und Julia Mohn Regie : Beate Ziegs Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Sprecherin, Zitator und Zitatorin, zugleich Overvoice-Sprecher und Overvoice-Sprecherin, Musik, Poolsprecherin Musikeinspielung unterlegt: "Fast Adiga Song", Dolchtänzer Sprecherin "Dolchtänzer hassen Tangotänzer". Davon handelt Hanna Minas Roman "Sonne an einem bewölktem Tag". Denn der Tangotanz ist salonfähig, angepasst und lautlos. Der Dolchtanz aber ist wild, frei und laut. Der Dolchtänzer stampft so kräftig auf die Erde, dass diese erwacht. In Hanna Minas Roman wird der Sohn eines Patriarchen aufgefordert, gegen das Establishment, gegen seine eigene, Tango tanzende Familie aufzubegehren. Musik hochziehen Zitator "Wenn du deine Eltern zufrieden stellen und nach ihrer Fasson leben willst, dann lerne Noten und tanze Tango. Der Dolchtanz kennt keine Noten, er braucht nichts Schriftliches, um von Herzen froh und glücklich zu machen. Der Dolchtanz kennt keine Partitur. Er ist frei wie der Sturm. Diesen Wind lieben wir, und wir hassen die Zugluft der Klimaanlagen und Ventilatoren." (aus: "Sonne an einem bewölkten Tag") Sprecherin Hanna Mina zählt zu den Vätern der syrischen Literatur, die erst seit der Unabhängigkeit des Landes 1946 existiert. Sein Roman "Sonne an einem bewölkten Tag", verfasst in den siebziger Jahren, erzählt von jener Epoche, in die Mina selbst hineingeboren wurde: der französischen Kolonialzeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Eine Zeit voller Erniedrigungen - fielen doch die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien über die Landkarte des Nahen Ostens wie über einen Legokasten her, den sie nach Belieben sortierten und aufteilten. Das damals entstehende, besetzte Syrien spaltete sich in zwei Lager: in Kollaborateure und Widerständler. In die Tango- und die Dolchtänzer also. Hanna Minas Metapher bezieht sich auf die Geburt der syrischen Nation - an Aktualität hat sie aber nichts eingebüßt. Denn Syriens Literaten sind bis heute Dolchtänzer. Die meist vereinzelten Individuen begehren nicht mehr gegen die Kolonialherren auf, sondern gegen ihr eigenes Regime. Auch die syrische Diktatur zieht Tangotänzer vor. Und um die Zahl der Dolchtänzer möglichst klein zu halten, bedient sie sich der Zensur. Einer besonderen Zensur, erklärt der Schriftsteller Nabil Suleiman: O-Ton: Nabil Suleiman / Sprecher Overvoice Das Hauptinstrument zur Zensur syrischer Schriftsteller ist - man lasse es sich auf der Zunge zergehen - der landeseigene Schriftstellerverband. Eine parteiähnliche Organisation, deren Mitglieder über minimale literarische Fähigkeiten verfügen. Ihnen kommt ein Gesetz von 1972 zugute: Syriens Autoren sollen nicht mehr vom eigentlich zuständigen Informationsministerium zensiert werden, sondern vom Schriftstellerverband. Nach dem Motto: Zensiert Euch doch am besten einfach gegenseitig. Sprecherin Wer nun auch immer zensiert - zensiert werden die Werke von Syriens Literaten. Doch nach welchen Kriterien? Das weiß niemand. Sicher ist nur: Die drei Tabus Sexualität, Religion und Politik hängen seit jeher als Damoklesschwerter über den Häuptern der Schriftsteller. Werden sie weite schweben? Werden sie herabstürzen? Wann? Keiner weiß es. Diese undurchsichtige Atmosphäre voller Verbote und Drohungen produziert einen mafiösen Kulturbetrieb. Fawwaz Haddad setzt sich bissig-ironisch mit dem Schriftstellerverband auseinander, dessen Mitglied er nicht ist. Sein Roman "Der Verrat des Übersetzers" erzählt von einem Übersetzer, der englische Literatur ins Arabische überträgt - und das durchaus eigenwillig: Bei einem Roman ändert er kurzerhand das Ende. Es ist nicht diese Eigenmächtigkeit, die ihm den heftigen Zorn seiner Umgebung einbringt. Sondern vielmehr der Umstand, dass er überhaupt eigenwillig ist. Soviel Verrat am Konformismus muss geahndet werden. Eine regelrechte Hetze beginnt. Zitator In jenen Tagen kritisierte der bekannte Journalist Scharif Husni in seiner Zeitungskolumne, die wöchentlich unter dem Titel "Literarische Ratschläge" erschien, den jungen Übersetzer Hamed Salim. -> 18 Der Artikel hatte etwas Niederträchtiges, obgleich er fundiert daherkam. Dem Übersetzer wurde vorgeworfen, seine Übertragungen seien minderwertig, armselig und von Beliebigkeit und übermäßiger Zurschaustellung vermeintlichen Sprachtalents getragen. An Ratschlägen gab der Kritiker nur einen einzigen, gerichtet an das Zensurbüro im Schriftstellerverband, nämlich dass man den Übersetzer in einen Kurs einweisen solle, in dem ihm das ABC des Übersetzens beigebracht würde. Der Artikel endete ironisch: Man hätte dafür zu sorgen, dass Hamed Salim das Übersetzen sein lasse, da Zensur auch für literarische Unfähigkeit zuständig sei, nicht nur zum Schutz der drei berühmten Tabus Religion, Sex und Politik. Wörtlich hieß es: "Wenn wir eine Literaturpolizei hätten, so sollte sie ihm zur Strafe die Finger brechen!" (aus: "Der Verrat des Übersetzers") Sprecherin Die Finger werden dem Übersetzer in Fawwaz Haddads Roman nicht gebrochen, man bricht aber seine Individualität. Er erhält keine neuen Aufträge als Übersetzer, muss aus Geldnot in immer neue Rollen schlüpfen und gerät dadurch völlig aus dem Gleichgewicht. Jede neu geschaffene Identität besteht neben den früheren fort oder liegt im Kampf mit ihnen. Unübersehbar prangert der 63-jährige Fawwaz Haddad die politische Kultur seines Landes an und ihre verheerenden Auswirkungen auf das Leben der Bürger: O-Ton: Fawwaz Haddad / Sprecher Overvoice (bei 9 sek Einstieg) Wir alle sind Schauspieler, die Rollen spielen wollen. Politische, gesellschaftliche, kulturelle Rollen. Wir alle wollen sie spielen. Warum? Weil die LEERE um und in uns so riesig ist. (12 - er bei 22, bei 24 kommt "Leere" - bei 26,5 wieder raus) Die Leere entsteht, weil wir keine geordneten unterstützenden Strukturen haben. Weil wir nur als isolierte Individuen umherirren. Ohne diese Leere, würden wir unser Leben leben. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass wir das tun. Doch - sind wir deshalb irreal? Nein! Wir sind keineswegs nur Schauspieler - bewegen uns keineswegs nur in Romanen. Das ist auch die Botschaft, die ich meinem Helden mitgebe: Wenn du glaubst, dich ständig verstellen zu müssen, dann tötest du dich real selbst und machst aus der Rolle das Reale. Sprecherin Fawwaz Haddads Klage über die politische, gesellschaftliche, kulturelle Leere in Syrien und die Haltlosigkeit der Bürger in ihr teilt nicht jedermann. Nadia Khost, die Grande Dame des syrischen Schriftstellerverbandes, hält nicht die nationale, sondern eine transnationale Identität für entscheidend: O-Ton: Nadia Khost / Poolsprecherin Im Vordergrund für uns alle muss doch die panarabische Frage stehen. Diese Region wird von Kriegen heimgesucht. 2003 fielen die USA in den Irak ein. 2006 griff Israel den Libanon an. 2008 griff Israel den Gaza an. Wie kann ich mich angesichts all dessen auf andere Themen konzentrieren wollen? Gewisse Autoren aber schreiben lieber das, was der Westen gerne hört: Die zurückgebliebenen Araber, die mafiösen Machtapparate, die Vielehe unter Muslimen, Handgreiflichkeiten zwischen Eheleuten - er schlug mich, ich schlug ihn - etcetera etcetera etcetera. Sprecherin Zu diesen Etcetera zählen freilich auch Angriffe auf "den Führer". Etwa solche, wie Nihad Siris sie tätigt. In seinem 2004 erschienenen Roman "Ali Hassans Intrige" entwirft der 60-jährige Nihad Siris die Figur eines "großen Führers", der selbstverliebt und größenwahnsinnig wie Charly Chaplins "großer Diktator" ist. In "Ali Hassans Intrige" betrachtet der "grosse Führer" geschmeichelt immer wieder Videoaufzeichnungen seiner Auftritte. Eine zeigt einen Unbekannten, der ihn auffängt, als er zu fallen droht. Zitator Eines Nachts, als sich der große Führer die Szene im Bett noch einmal ansah, spürte er, dass er diesen unbekannten Mann liebte. Was ihn am meisten faszinierte und geradezu süchtig nach dieser Aufnahme von seinem Straucheln und seiner Rettung machte, waren die Körperbewegungen des Fremden. Zunächst hatte er ganz entspannt hinter ihm gestanden. Im selben Moment aber, als er zu fallen drohte, schob ihm der Mann die Hände unter die Achseln und ging mit ihm zusammen in die Knie. Dieser Synchronismus von Bücken und Sinken war verblüffend, besonders in der Zeitlupe. Sobald eine bestimmte Entfernung vom Boden erreicht war, verharrten die beiden Körper. Eng aneinandergedrückt, begannen sie sich durch die Kraft des Mannes allmählich aufzurichten. Auch nachdem er wieder fest auf seinen Beinen stand, blieb der Körper des anderen noch für drei Sekunden an seinen Rücken gepresst. Danach löste er sich langsam von ihm, nur die Hände steckten weiterhin unter seinen Achseln. Wohl tausendmal hatte der große Führer diese Bewegungen und das Gesicht des Mannes betrachtet, und nun - liebte er ihn. (aus "Ali Hassans Intrige") Sprecherin Der Schriftstellerverband hätte es lieber gesehen, wenn die Romane von Siris und Haddad in der Schublade verschwunden wären. Doch beide Autoren umgingen die syrische Zensur und reichten ihre Manuskripte bei libanesischen Verlagen ein. Dank vergleichsweise liberaler Gesetze ist das Land am Mittelmeer ein Verlagszentrum der arabischen Welt. Nun sind die im Libanon verlegten Bücher von Siris und Hadda auch in Syrien erhältlich, und die Autoren werden in Syrien keineswegs verfolgt. Wird die Zensur also überschätzt? Sie ist, meint Nabil Suleiman, jedenfalls nicht allein verantwortlich für das Klima der Repression: O-Ton: Nabil Suleiman / Sprecher Overvoice Das Regime selbst hat sich noch nie für Romanliteratur interessiert. Schon deshalb nicht, weil die breite Masse nicht liest. Echtes öffentliches Aufsehen erregt Literatur nur, wenn ein Roman, der jahrelang offiziell oder unter dem Ladentisch in den Buchhandlungen zu kaufen war, plötzlich irgendeinem Scheich oder sonstwem auffällt, weil er sich beleidigt fühlt. Sei es in punkto Sexualität, Religion oder papalapap... Auf diese Weise können dann Stürme losbrechen. Aber das passiert alle drei Jahre einmal. Sprecherin Rote Linien, die niemand überschreiten darf, sind tückisch. Sie sind informell, nirgendwo festgelegt und verschieben sich dauernd. Und es gibt unterschiedliche Rottöne. So fällt die bissige Bloßstellung des eigenen Kulturapparates eher unter "Hellrosa". Wagt man sich an politisch Brisanteres heran, wird schnell ein "Dunkelrot" daraus. Salim Barakat tat es dennoch: Er schrieb über Syriens Kurdenproblematik. Musik Sherif Omeri (Musik vorher unterlegt, 48 Sek. bis Glasscheppern laufen lassen) Sprecherin In dem Roman "Die Spiele der jungen Hähne" verarbeitet Salim Barakat seine Jugenderinnerungen. Barakat, der in den achtziger Jahren Syrien verließ und heute in Schweden lebt, wurde 1951 als Sohn kurdischer Eltern im ärmlichen Norden des Landes geboren. Damit zählt Barakat zur einzigen ethnischen Minderheit, die in Syrien diskriminiert wird. Und das vehement: Vielen Kurden wird die Staatsbürgerschaft, allen Kurden werden höhere Posten im öffentlichen Dienst verweigert. Weil sie als Separatisten verdächtigt werden, stehen sie zudem unter scharfer Beobachtung durch den Geheimdienst. Ein heikles Thema. Salim Barakat hängt es ein wenig tiefer und spricht nicht direkt über die Kurdenpolitik, sondern darüber, was die Kurdenpolitik aus den Menschen macht. Zitator Margo war Kurdin und Krankenschwester im staatlichen Krankenhaus der Stadt. Wir prahlten damit, dass sie unsere Nachbarin war, denn sie war eine Staatsangestellte. Die Staatsangestellten hatten gewisse Privilegien und waren nicht eben zahlreich. Die Leute grüßten sie, aber nur selten wurden sie wiedergegrüßt. Margo war einäugig. Ein Band, weiß wie ihre Schürze, bedeckte ihr rechtes Auge, und dennoch wurde sie von vielen Staatsangestellten in ihrem Haus besucht. Das allein verschaffte ihr beträchtliche Macht. Ihre Macht im Krankenhaus aber kam der des Provinzgouverneurs gleich. Wer suchte das öffentliche Krankenhaus auf, wenn nicht die Dörfler und die Armen aus den Vororten? (aus "Die Spiele der jungen Hähne") Sprecherin Und Margo, die einäugige Krankenschwester im privilegierten Staatsdienst, ist sich ihrer Macht nur allzu bewusst. Ob Geld oder Sex - sie nimmt sich, was sie will. Weniger Beachtung schenkt Margo den Patienten. Eine Todkranke bleibt wochenlang unversorgt und stirbt schließlich. Ihre Söhne, die immer wieder um Aufmerksamkeit gefleht hatten, scheucht Margo wie Fliegen davon. Zitator Die Söhne überfielen das Krankenhaus nach der ersten Erklärung der tausendsten Regierung. Sie stießen alle Urinschalen um, die ihnen in den Weg kamen. Sie warfen die Betten über den Haufen, schleiften die Patienten über die Fliesen und suchten mit ihren blutunterlaufenen Augen nach Margo. Dann fanden sie sie. Margo krallte sich in die Gräser, riß sie büschelweise aus und griff in die Steine, die aufspritzten wie Eidechsen. Nicht ein Laut kam über ihre Lippen. Das gesunde Auge war geschlossen, während ihr blindes Auge weit aufgerissen in den Sonnenuntergang starrte, das all seine leuchtenden Gestirne verschlungen hatte. Kochend vor Zorn legten sie sie auf einen Holztisch, von dessen Kanten eingetrocknete Fleischfetzen baumelten und geronnenes Blut tropfte. Sie bogen ihr die beiden Schenkel auf die Brust und einer von ihnen stieß seinen Arm in die prächtige, fruchtbare Wahnsinnshölle. Er stieß hinein, wie er in den After der Kühe stieß, um den Kot herauszuholen, wenn die Tiere an Verstopfung litten. Doch statt den Kot herauszuholen, riss er jetzt Margos innere Organe heraus: Gebärmutter, Blase und Darm. Margos Kopf kippte langsam nach hinten, ihr weißes Auge blieb offen und starrte auf das erste und letzte Bild, dass dieses Auge vor 27 Jahren gesehen hatte. (aus: "Die Spiele der jungen Hähne") Musik (Ein paar Sek. Pause, dann: Musik: Hochzeitsgesang - Trillernde Frauen) Zitatorin Wenn er mich küsste, drang seine Zunge tief in meinen Mund ein. "Es gefällt mir", sagte ich, "dass du die Gebote des Propheten befolgst". Wie heißt es bei ihm? Zitator Keiner von Euch soll über seine Gattin wie über ein Stück Vieh herfallen. Lasst den Kuss und das Gespräch euer Mittler sein. Zitatorin Und Aischa, die Lieblingsfrau des Propheten sagte, wenn der Gesandte eine seiner Frauen küsste, sog er an ihrer Zunge. Bin ich nicht die rechtmäßige Tochter eines solchen Erbes? (aus: "Honigkuss") Sprecherin Diese Frage stellt die knapp 60-jährige Salwa al Neimi in dem Roman "Honigkuss". Die Schriftstellerin lässt ihre Protagonistin, die autobiographische Züge trägt, mit Hilfe vieler Zitate aus der klassischen arabischen Erotikliteratur über die Sexualität nachdenken - und zu dem Schluss kommen: Muslime und frei ausgelebte Sexualität schließen einander nicht aus. Im Gegenteil. Zitatorin Meine Lektüre hat mich zu der Überzeugung gelangen lassen, dass die Araber als einziges Volk den Sex als Gnade ansehen, für die man Gott danken muss. Wie sonst sollte man die Zeilen verstehen, mit denen der hochgelehrte und furchtlose Scheich Mohammad al-Nafzawi, Heil und Segen über ihn, sein Werk "Der duftende Garten" eröffnet: Zitator Lob und Dank sei Gott, der dem Mann mit der Vulva der Frau und der Frau mit dem Penis des Mannes den größten Genuss bereitet. Denn die Vulva kann sich nicht entspannen, zur Ruhe kommen und Befriedigung erlangen, ohne vom männlichen Glied aufgesucht worden zu sein, wie denn auch das männliche Glied keine Erleichterung findet, ehe es nicht vom weiblichen Geschlechtsteil freudig aufgenommen worden ist. (aus: "Honigkuss") Sprecherin: Salwa al-Neimis Aufforderung, die Sexualität lustvoll auszuleben, richtet sich vor allem an Frauen. Denn jede Leidenschaft, der Beischlaf ausgenommen, verhärte das Herz - und Frauen müssten darauf achten, dass ihre weichen Herzen auch weich blieben. Daher sei jeder Beischlaf zu begrüßen, auch der außereheliche. Als "Honigkuss" 2007 im Libanon erschien, wurde er in Syrien verboten. Er ist jedoch weiter unter dem Ladentisch erhältlich und heizt eine Debatte an, die seit längerem brodelt. Allerdings weniger auf gesellschaftlicher denn auf literarischer Ebene. Die Hauptfrage: Wie ist das detaillierte Schreiben über Sexualität bei Salwa al-Neimi und anderen syrischen Autoren zu bewerten? Ist es eine heilsame Emanzipation und als solche zu begrüßen? Oder ist es lediglich der durchsichtige Versuch, Leser zu ködern? Die Jungautorin Abeer Esber hat da keinen Zweifel. O-Ton: Abeer Esber /Sprecherin Overvoice Ich habe nichts gegen sexuelle Themen. Wenn ich über Sexualität schreibe, verschweige ich nichts. Meist sind aber oberflächliche Beschreibungen sexueller Handlungen zu lesen, und es besteht ein großer Unterschied zwischen solchen Beschreibungen, mit denen eine beliebige Handlung lediglich aufgeputzt wird, und der Behandlung des Themas in all seinen Facetten. Es ist ja wie ein Spiel: Einerseits gibt es Fundamentalisten aller Couleur, die gegen alles auf die Barrikaden gehen, was mit Sexualität zu tun hat, andererseits gibt es Autoren, die Leser brauchen. Denn wir haben keine. Wir, die syrischen Autoren, sind auf der Straße nicht präsent. Wir sind eine Handvoll Leute, die in Cafés herumhängen und gelesen werden wollen. Daher spielen manche von uns in diesem Spiel auf provozierende Weise mit. Sprecherin Rosa Yassin Hassan sieht das ganz anders. Wie Abeer Esber zählt sie zur Generation der 30- bis 40-jährigen Jungautorinnen, die seit einigen Jahren von sich reden machen. Doch in diametralem Gegensatz zu Esber hält Rosa Yassin Hassan es für gesellschaftlich und kulturell geboten, über Sexualität zu schreiben. O-Ton Rosa Yassin Hassan /Sprecherin Overvoice In arabischen Ländern ist das sexuelle Tabu riesig. Bis heute werden außereheliche Beziehungen gesellschaftlich verdammt, aber es gibt sie. Sich damit literarisch zu befassen und dadurch das Tabu zu brechen, ruft starke Gegenwehr hervor. Und das umso mehr, wenn es Schriftstellerinnen tun. Denn die arabische Frau ist an sich ein Tabu. Sie darf ihren Körper nicht für sich selbst reklamieren. Im Gegenteil: sie erfährt in ihrer sexuellen Freiheit und Selbstbestimmung enorme Sanktionen und darf gerade deswegen nicht am Eingefahrenen rütteln. Sprecherin Rosa Yassin Hassan weiß, wovon sie spricht. Ihr Roman "Ebenholz" erschien 2004 in Syrien wegen einiger Sexszenen nur in zensierter Fassung - und seine heute 36-jährige Autorin sah sich seitens des Schriftstellerverbandes so mancher Verbalattacke ausgesetzt. Das Stimmengewirr darüber, wie sehr man "literarisch zur Sache kommen darf", wird also weitergehen. Und das ist gut so. Zumal sich zwar noch vereinzelt, aber lautstark junge Frauen zu Wort melden. Musik Ziyad al Rahbani Sprecherin Ziemlich lautes Schweigen herrscht hingegen über das dritte Tabu, die Religion. Hartmut Fähndrich ist als Übersetzer und langjähriger Kenner der arabischen Literatur nicht erstaunt darüber. O-Ton: Hartmut Fähndrich (-2) Man kann über bestimmte Dogmen, zumal in der islamischen Welt, nicht direkt etwas sagen. Ich glaube, niemand wird sich im Augenblick speziell lustig machen über die Vielehe des Propheten Mohammad. Auf der anderen Seite - ich frage mich manchmal, ob dieses Interesse an der Religion nicht ein spezifisch westliches ist und dass die arabischen Autoren und Autorinnen viel weniger über Religion schreiben, weil das ein Element des täglichen Lebens ist. Sprecherin Hartmut Fähndrich spricht vielen arabischen Schriftstellern aus dem Herzen. Sie stört, dass westliche Leser Islam und Islamismus oder gar Extremismus allzu oft gleichsetzen. Denn die Radikalen werden durchaus kritisiert, und die Kritik wird auch begrüßt. Fawwaz Haddads jüngster Roman "Die Soldaten Gottes" befasst sich kritisch mit al Qaida und wurde prompt für den arabischen Booker Preis 2011 nominiert. Der alltägliche, gelebte Islam dagegen scheint merkwürdigerweise sakrosankt. Ironische Seitenhiebe, wie sie Zakaria Tamer, der 1931 geborene Altmeister der Satire, noch in den siebziger Jahren austeilte, gehören der Vergangenheit an. Tamers Erzählung "Die Bärte" ist eine genüssliche Parodie auf eine religiös erstarrte Gemeinde, in die ein mongolischer Eroberer einfällt. Er stellt die Einwohner, die sich ihre Bärte nicht abrasieren wollen, vor die Alternative: Entweder eure Bärte fallen - oder eure Köpfe. Die Antwort ist eine Replik auf Descartes' Maxime "Ich denke, also bin ich". Zitator Da griff Empörung um sich und einer schrie: "Was hülfe es uns, wenn wir das Leben gewönnen und verlören doch unsere Bärte?" Sogleich stimmten andere beifällig und bekräftigend ein. Und es erhob sich der Träger des längsten Bartes der Stadt und sprach mit fester Stimme: "Wir - Lob sei Gott - tragen Bärte, also sind wir." (aus: "Die Bärte") Sprecherin Unnötig zu sagen, was in Zakaria Tamers Geschichte letztlich fiel: die Köpfe. In Erzählungen und Romanen von heute fallen weder Köpfe noch Bärte. War Zakaria Tamers Spitzzüngigkeit eine seltene Ausnahme? Oder hat es damit zu tun, dass die Religion seit der Entstehung von "Die Bärte" vor 40 Jahren den Alltag verstärkt durchdrungen hat und das Tragen von Bärten und Kopftüchern mittlerweile eine Selbstverständlichkeit ist? - In einem Cafe in Damaskus sitzen zwei befreundete Schriftstellerinnen. Über mehr Publicity im Ausland würden sie sich zwar freuen, doch in diesem Fall wollen beide lieber ungenannt bleiben. Denn, mit dem, was sie sagen, benennen sie die tiefrote Linie in der Diktatur. Dabei wagen sie kaum, ihre Meinung laut auszusprechen. O-Ton: 2 Schriftstellerinnen / Sprecherin Overvoice (bei Wechsel der Sprechenden kurz frei stellen, damit Wechsel klar wird) (O-Ton 1) Wenn wir hier in Syrien über Religion sprechen, meinen wir in den seltensten Fällen Christentum, Islam etc. etc., sondern etwas Gefährliches - nämlich ... Also: Syriens Bevölkerung besteht zu bald 80 Prozent aus Sunniten, wird aber von Angehörigen der alawitischen Minderheit regiert. Verstehen Sie? Hilf du mir mal, vielleicht kannst du es besser erklären ... (O-Ton 2) Also, was meine Freundin meint, ist: Wir reden nicht von Religion, wenn wir Religion sagen. Wir reden von der alawitischen Minderheit. Beziehungsweise vom Militär. Denn seit bestimmte Angehörige der alawitischen Religionsgemeinschaft vor über 40 Jahren die Macht ergriffen haben, ist das Militär dominiert von Alawiten. Wir reden also von den Vertretern der Diktatur. Deshalb ist das Thema so gefährlich, und um es nicht direkt anzusprechen, sagen wir "Religion" oder "Religionsgemeinschaft" oder "Minderheit". Maximal fügen wir auch das Wort "Alawiten" hinzu. Noch konkreter zu werden, wäre sehr, sehr gefährlich. Also reden wir am besten gar nicht von Religion. Schließlich können wir nicht die diversen Religionsgemeinschaften - Sunniten, Drusen, Christen und so weiter - kritisieren und ausgerechnet die Alawiten außen vorlassen. Das wäre eine Farce und zu durchsichtig, und es würde bei den ausdrücklich Genannten unnötig böses Blut schaffen. Außerdem setzt das Regime selbst alles daran, dass in Syrien Religion als Privatsache betrachtet wird. Schließlich haben wir ja auch eine säkulare Verfassung. Das Thema ist also wahnsinnig politisch belastet. So ist das. Es geht nicht um Religion, es geht um das Militär, um den spezifischen Hintergrund der syrischen Diktatur. Musikeinspielung Fast Adiga Song Sprecherin Wie hieß es noch bei Hanna Mina? Zitator Lockere deine verkrampften Glieder. Stampf. Stampf. Stampf so laut auf, dass die Erde unter dir erwacht. (aus: "Sonne an einem bewölkten Tag") Sprecherin Das klingt gut. Und es ist viel leichter gesagt als getan. Dennoch - Syriens Literaten scheuen vor den roten Linien nicht zurück, sie überschreiten sie immer öfter. Zumindest versuchen sie es. Mehr können Autoren kaum tun. Schon gar nicht in einer Diktatur.