Forschung und Gesellschaft Die Poesie der Nervennetze Wie Gehirn und Gedicht zusammenspielen Von Volkart Wildermuth Redaktion: Kim Kindermann Sendetermin: 16.5.2013 Poetryslam (Fanfare) O-Ton 1 Altmann Diese Werke werden von menschlichen Gehirnen für menschliche Gehirne verfasst. O Ton 2 Poetryslam (Fanfare) Herzlich willkommen zum Saalslam, meine Damen und Herren hey, (Applaus). Ein Poetryslam ist ein Dichter und Dichterinnenwettstreit. Autor Poet tritt an gegen Poet, Reim für Reim wird um die Gunst des Publikums gedichtet. Das drängt sich noch vor dem Heimathafen Neukölln, rund vierhundert junge Menschen, die sich für Poesie begeistern. O Ton 3 Umfrage Die Künstler, diese Sprachkunst, das gefällt mir. / Also ich lese Bücher aber Gedichte ist nicht so mein Favourite, aber das kann sich heute Abend ja noch ändern. / Dass oft auch eine Botschaft dahinter, das interessiert mich eigentlich ziemlich. /Weil hier auch der Kopf mit eingeschaltet wird, ich muss nicht nur mit den Augen gucken, sondern vor allem mit den Ohren. O Ton 4 Hoth draußen Lyrik war nie weg und Lyrik war immer da. Ich mag formlastige Texte auch sehr, verlieb mich sehr schnell in Rhythmen und mag die Musikalität von Lyrik sehr. Autor Lyrik, das ist für Slammer Daniel Hoth Teil seines Lebens. O Ton 5 Hoth im Slam Block und Bleistift das Symbole für das menschliche Schaffen ist die Evo- und Revolution des Menschenaffen. Doch was die meisten Schreiberlinge leider nicht raffen, bezüglich Innovation hat das das Deutsche einen schlaffen, Wortschatz, ihr wisst was ich meine, Deutsch zu spreche ist langweilig, heute braucht man Reime. Aber recht jetzt auch, denn es reicht nie. In diesem Sinne Bruce Lee! (Applaus) Sprecherin (auf Bach, Präludium in d-moll) ?Ein Gedicht, aus Worten gemacht. / Wo kommen die Worte her? / Aus den Fugen wie Asseln, / Aus dem Maistrauch wie Blüten, / Aus dem Feuer wie Pfiffe, / Was mir zufällt, nehme ich, /?/ Mit seinesgleichen / Mit seines ungleichen / Zeile für Zeile / Meine eigene Wüste / Zeile für Zeile / Mein Paradies.? Marie-Luise Kaschnitz: ?Ein Gedicht?. O Ton 6 Schrott Um überhaupt erklären zu können, wie Gedichte auf uns wirken, muss man zumindest einen Ansatz haben, warum wir beim Dekodieren von schwarzen Zeichen auf weißen Papier derart vereinnahmt werden, dass wir manchmal am Flughafen fast das Einsteigen vergessen. Autor Das von Fremden irgendwann Erdachte wird wirklicher, als das im Augenblick selbst Erlebte. Diesen paradoxen Sog der Sprache, über den der Dichter Raoul Schrott auf einer Podiumsdiskussion spricht, ist das zentrale Geheimnis der Lyrik. Um es zu ergründen hat sich Schrott mit dem Psychologen und Neurowissenschaftler Arthur Jacobs vom Cluster ?Language and Emotion? der Freien Universität Berlin zusammengetan. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die kleinste Einheit der Literatur, das geschriebene Wort. Worte werden von einem Hirnareal erkannt, das eigentlich blitzschnell Objekte in der Umwelt identifiziert. Gesichter, einen fallenden Felsen, einen Leckerbissen, alles, was eine schnelle Reaktion erfordert und deshalb eng mit Gefühlen wie Angst oder Lust verknüpft ist. O Ton 7 Jacobs Wenn sie das Gesicht eines Tigers im Dschungel sehen, dann können sie sich ähnlich intensive Reaktion vorstellen. Und gute Autoren schaffen ähnliche Effekte mit vermeintlich symbolischen Stimuli wie Wörtern. Sprecherin (auf Bach, Präludium in d-moll) ?Sehet ihr am Fensterlein / Dort die rote Mütze wieder? / Nicht geheuer muss es sein, / Denn er geht schon auf und nieder. / Und auf einmal welch Gewühle / Bei der Brücke, nach dem Feld! / Horch! Das Feuerglöcklein gellt: / Hinterm Berg / Hinterm Berg, / Brennt es in der Mühle!? Eduard Mörike: ?Der Feuerreiter?. Autor Gedruckte Worte haben einen bevorzugen Zugang zu den Gefühlen. Genauso wichtig ist, dass Worte weit mehr sind, als nur abstrakte Symbole. Das hat schon der Sprachpsychologe Karl Bühler in den dreißiger Jahren erkannt. O-Ton 8 Jacobs Bühler sagte, immer wenn er das Wort ?Radieschen? hört oder liest, dann hört er eigentlich in seinem Kopfe das Knacken, er sieht die rot-weiße Farbe, er riecht möglicherweise sogar den erdigen Geruch. Autor Diesen ?Sphärengeruch? der Worte kann Arthur Jacobs heute mit den Mitteln der Neurowissenschaft tatsächlich nachweisen. Beim Lesen der Buchstabenfolge ?Radieschen? werden verschiedenen Sinnesareale im Gehirn aktiv, bei ?Ball? auch Bewegungszentren und bei ?Kuss? Nerven, die Emotionen verarbeiten. Das Gehirn erlebt mit, was es doch eigentlich nur abliest. Diese Simulationskraft des Gehirns ist zu einem gut Teil für das Versinken in der Lektüre verantwortlich. Sprecherin (auf Bach, Präludium in d-moll) ?Ihr denkt ich bin ein alter Hut / mein Aussehen ist auch gar nicht gut. / Dafür bin ich der schlauste aller Hüte, / und ist?s nicht wahr, so fress ich mich, du meine Güte! / Ich weiß in Hogwarts am besten Bescheid / und bin für jeden Schädel bereit?. Joanne. K. Rowling: ?Harry Potter und der Stein der Weisen?, Übersetzung Klaus Fritz. Autor Der Zauber der Sprache ist im Hirnscanner nur zu vermessen, wenn die Probanden auch Zauberhaftes lesen dürfen. Deshalb zeigt ihnen der Psychologe Chu-Tien Hsu kurze Abschnitte von Harry Potter und beobachtet, was dabei in ihrem Gehirn geschieht. Auffällig sind vor allem zwei Regionen: Eine kümmert sich um die Integration verschiedener Informationen und die Verarbeitung abstrakter Konzepte. Hier wird wohl die Handlung analysiert. Gleichzeitig sind aber auch Empfindungs- und Bewegungsregion aktiv, die insbesondere auch für das Gesicht zuständig sind. O Ton 9 Hsu So that they are ? immersed in the world of the author. Übersetzung Viellicht können wir so die Mimik verstehen und die Ereignisse rekonstruieren und nacherleben. Wir verstehen das Buch nicht nur, ganz automatisch durchleben wir, was die Figuren erleben. Weil wir die ausgedachte Handlung nachfühlen, tauchen wir unwillkürlich tiefer in die Welt der Autorin ein. Autor Eine Geschichte zu lesen, heißt für das Gehirn, sie buchstäblich mit zu erleben. Das gilt allerdings nur für eine literarische Lesehaltung, nicht für das Faktensuchen in Sachtexten. Sprecherin ?Weil er etwas nicht bedacht hatte, bleiben viele Menschen am Leben, nur er nicht?. Holger Bösch, ?black stories 5?. Autor Ist das ein Zeitungsartikel oder ein Krimi? Gar nicht so leicht zu entscheiden, bei den Ein-Satz-Geschichten aus dem Kartenspiel ?black stories?. Genau deshalb nutzt sie Ulrike Altmann für ihre Experimente. Der Hälfte ihrer Versuchspersonen präsentiert die Psychologin eine ?black story? als seriöse Meldung. Im Gehirn werden dabei Netzwerke aktiv, die Sätze analysieren, mit bekanntem Wissen vergleichen, und dann abspeichern. Etwas ganz anderes passiert, wenn die Versuchspersonen genau denselben Text für eine Erzählung halten. O Ton 10 Altmann Und zwar denken wir hier viel flexibler über den Text nach. Das heißt, wir verarbeiten nicht einfach nur die dargestellten Handlungen, sondern wir überlegen uns sehr wahrscheinlich auch Handlungsalternativen, zeigen eher Empathie mit den dargestellten Charakteren und die Aktivierungen, die wir hier finden, deuten darauf hin, dass wir das Geschehen, über das wir lesen, aktiv im Kopf mit konstruieren. Autor Es ist also kein bloßes Analysieren der Informationen, sondern ein Weiterspinnen, ein Ausloten vieler Möglichkeiten. Dass es bei Geschichten meist um Mord, Ehebruch, Bankrott und ähnliches geht, stört den Genuss dabei nicht im Geringsten. Denn gerade die Schwierigkeiten des Helden laden das Gehirn messbar zum mitfühlen ein. Sprecherin (auf Bach, Präludium in d-moll) ? Unkontrollierbar / kontrolliert es / Angst Lust Mord Sucht. / .. / Kriechströme, Schwelbrände, / Kurzschlüsse. / Kleine Defekte, / die rasch eskalieren. / .. / Ein paar Milliarden Zellen / im Dunkeln. Das Menschengeschlecht, / ein winziges Knäul / zwischen Anfang und Amnesie.? Hans Magnus Enzensberger: ?Limbisches System?. Autor Lesen wirkt, weil es etablierte Hirnregionen zweckentfremdet. Das ist in der Evolution nicht ungewöhnlich. Erstaunlich ist aber, dass Menschen überhaupt bereitwillig so viel Zeit mit ausgedachten Geschichten verbringen, wo sie doch auch echte Informationen einholen, einen Acker bestellen oder einen Partner verführen könnten. O Ton 11 Boyd One of the fascinating things ? tendency to engage in art. Übersetzung Es ist faszinierend, wie viel Zeit Menschen der Kunst widmen. Wenn uns das nicht nutzen würde, hätte uns die Evolution den Kunstsinn sicher ausgetrieben. Autor Die Wurzeln des menschlichen Kunstbedürfnisses vermutet der Literaturwissenschaftler Brian Boyd aus dem neuseeländischen Auckland in einer scheinbar ähnlich sinnlosen Verhaltensform: dem Spiel. Im Spiel erproben Tiere ihren Geist und Körper in einer sicheren Umgebung, um später fit zu sein für den Kampf ums Überleben. Löwen etwa sind auf Muskeln und schnelle Reaktionen angewiesen, ihre Jungen kämpfen daher schon früh spielerisch mit ihren Eltern. Menschen müssen sich mit ihrem Verstand behaupten, sie müssen Muster erkennen und die richtigen Schlüsse ziehen. Muster in Tönen, Muster in Formen und Farben und ganz besonders Muster im sozialen Gewebe der eigenen Gruppe. O Ton 12 Boyd Through processing stories ? you can experiment. Übersetzer Über Erzählungen können wir uns schneller in soziale Konflikte hineindenken. Wir werden Experten, weil wir sie immer und immer wieder hören. Wir verstehen, wie andere denken, entdecken versteckte Bedeutungen. Und weil es nur ein Spiel ist, ist es losgelöst von den Anforderungen des Alltags, wir können experimentieren. Autor Geschichten erzählen, Geschichten hören, ist demnach nicht nebensächlich, sondern notwendig. Deshalb - so die Forscher - hat die Evolution die Menschen mit einer schier unstillbaren Neugier auf Geschichten ausgestattet. O Ton 13 Altmann Das Durchleben dieser Szenarien und auch das Durchspielen dieser Szenarien allein in unserem Kopf ist vermutlich mit einer bestimmten Form von Lust verbunden, und dient aber gleichzeitig aber auch dazu unsere Fähigkeiten zu schulen, uns auch im realen Leben auch in andere Menschen hinein zu versetzen. Autor Dass das mehr ist, als bloße Theorie, davon ist Ulrike Altmann überzeugt. Schließlich zeigen Studien, dass Kleinkinder, denen viel vorgelesen wurde, sich später in der Schule sozialer verhalten. Atmo Poetryslam O Ton 14 El Toro Ich glaube nicht, dass ich Dichter bin, ich habe festgestellt, wenn man mit Reimen arbeitet, erreicht man viel besser den Zuhörer, aber gleichzeitig macht es die Sache auch unglaublich kompliziert. Autor Der Kölner Mario El Torro präsentiert in Berlin, mal gereimt mal nicht, seine Version der Schöpfungsgeschichte. O Ton 15 El Toro Gott versuchte stets das Leid zu lindern. Doch er hatte es nie leicht, als neuntes von zehn Kindern. Wie jedes Kind liebte er das Spiel mit Dinosauriern und genau deshalb schuf er sie. Kein I-Phone und kein Tarif von Kongstar, als Kind liebte Gott die fiesen Monster. Der kleine Gott erfreute sich zahlreicher Kampf- und Fressaktionen die ihn später inspirierten die Wühltische bei C & A zu erfinden. Atmo weg Autor Geschichten machen Sinn, evolutionär betrachtet. Gedichte weniger, gesteht Bryan Boyd ein. Sie sind eher ein Nebenprodukt des menschlichen Spieltriebs. O Ton 16 Boyd We have a strong inclination ? play with languages. Übersetzer darüber Wir spielen gerne mit Worten, genauso wie wir mit anderen Mustern spielen. Die Werbung erregt mit Wortspielen unsere Aufmerksamkeit, Schulkinder singen Reime und dichten Spottverse. Unser Geist spielt einfach gerne und das erklärt auch Sprachspiele. O Ton 17 Rizik-Baer I need to rhyme but I actually suck compared to Open Mike Eagel / and the free style fellowship People / I aint seeing nothing except church steeples / around Germany. The last time I visited Munich / Octoberfest / What was happening I wasn?t walking around in a tunic / it was jeans and a vest. Autor Reimt Daniel Rizik-Bear spontan im Interview. Er ist Rapper aus Los Angeles und Freestyle ist seine Sparte. Er improvisiert Reime auf den Beat. Zufällig hörte er von einer Studie zur Hirnaktivität bei Jazzmusikern. Er schrieb daraufhin eine E-Mail an Allen Brown vom amerikanischen Nationalen Institut für Taubheit. Beide begannen ein Experiment zu planen: Daniel Rizik-Baer und sein Kollege Open Mike Eagle improvisierten Rap während sie im Hirnscanner lagen. Gar nicht so leicht, denn Freestyler halten den Rhythmus auch über Bewegungen - im Experiment strikt verboten. Open Mike Eagle brachte das gleich in seine Texte ein. O Ton 18 Eagle As a freestyler ? were happening at that moment. Übersetzung Als Freestyler nutzt Du die Umgebung. Also habe ich erst über den Scanner gerappt, wie schwer es ist, still zu liegen, der Lärm. Nach einer Weile war das ausgereizt und der Geist wanderte zu anderen Themen, die sich aus den Reimen ergeben. Aber ich erinnere mich an viel Rap über die Maschine und was wir in dem Moment erlebten. Autor Während der Untersuchung im Hirnscanner improvisierten die Rapper nicht nur, sie präsentieren auch auswendig gelernte Stücke. In der anschließenden Analyse substrahierte Allen Brown die Daten der gelernten von denen der improvisierten Reime. Auf diese Art erhielt er eine Art Muster der Hirnaktivität bei der literarischen Kreativität. Besonders rege war dabei eine Hirnregion, die mit Motivation und Multitasking verknüpft ist. Gleichzeitig wurden andere Hirnregionen quasi heruntergefahren, die für Selbstbeobachtung und Planung zuständig sind. O Ton 19 Brown So that means that ? flowing sort of sense. Übersetzung Das heißt, Motivation ohne Selbstkontrolle. Aufmerksamkeit ohne Selbstzensur ermöglichen einen geistigen Zustand, in dem es zum Fluss der Gedanken kommt. Autor Fasst Allen Brown die Ergebnisse zusammen. Zusätzlich aktiviert das Improvisieren von Reimen Hirnregionen, die für Emotionen zuständig sind und natürlich auch die Sprachzentren. Was zeigt: Freestyle-Rapper besitzen so etwas wie eine interne Datenbank für Reime, auf die sie blitzschnell zugreifen können. Der objektive Blick der Hirnforscher passt auch gut zum subjektiven Erleben von Daniel Riszik-Bear O Ton 20 Rizik-Baer There is a point ?. in young people. Übersetzung Irgendwann fühlt es sich so an, als rappe ich schneller, als meine Gedanken. Ich reime Sachen, die mich selbst überraschen. Als die Studie rauskam, habe ich zu Mike gesagt, wow, das kann ich auch bei meiner Arbeit mit Jugendlichen einsetzten. Ihnen beibringen, nicht nachzudenken, ist das gut oder schlecht, sondern einfach loszulegen. Das hilft die Kreativität der jungen Menschen zu entwickeln. Autor Loslassen und loslegen ist nicht alles beim Rappen und Dichten. Schon beim letzten Takt der Improvisation werden im Hirn die Netzwerke der Selbstkontrolle wieder hochgefahren, wohl um den perfekten Schlussreim zu finden und alles zu einem sinnvollen Abschluss zu führen. Allen Brown geht davon aus, dass Kreativität in zwei Stufen entsteht. Zuerst eine Phase der Improvisation, die neues Material erschafft und dann eine Phase der Revision, bei der der Text überarbeitet, verbessert wird. Die Aktivitätsmuster im Gehirn sind bei diesen beiden Phasen genau umgekehrt. Das belegt auch eine neue Studie mit Hobbydichtern. Besonders spannend: Im Gehirn ließ sich sogar ein Hinweis auf die Qualität der Verse finden. O Ton 21 Brown In the experts these ?. what they produced. Übersetzung Bei den Experten war das Runterregeln der Selbstzensur mit einer Aktivität besonders in den Hörzentren verknüpft. Die Fähigkeit, zu hören, was man formuliert war entscheidend für die Qualität des Gedichts. Sprecherin (auf Bach, Präludium in d-moll) ?Astern ? schwelende Tage, / alte Beschwörung, Bann, / die Götter halten die Waage / eine zögernde Stunde an. // Noch einmal das Ersehnte, / den Rausch, der Rosen Du - / der Sommer stand und lehnte / und sah den Schwalben zu.? Gottfried Benn: ?Astern?. Autor Das Geheimnis dieses Gedichts lässt sich im Hirnscanner noch nicht erfassen. Ulrike Altmann und Arthur Jacobs haben deshalb erst einmal klein angefangen, mit neu interpretierten Sprichworten. Sprecherin Kleider machen Neider / Reden ist Silber, Helfen ist Gold / Übung macht den Muskel / Rente gut, alles gut O Ton 22 Altmann Diese kreativen Verfremdungen haben schon in den Belohnungszentren des Gehirns, Aktivierungen ausgelöst. Die stärksten Aktivierungen dieser Art haben wir aber gerade für die altbekannten Sprichwörter gefunden. Das heißt, das was wir kennen, das mögen wir auch. Da gibt es diesen herrlichen Wiedererkennungseffekt und der scheint uns unglaublich zu erfreuen oder zu beruhigen zunächst einmal. Autor ?Literatur ist Neues, das bleibt?, hat der Dichter Ezra Pound in seinem ?ABC des Lesens? formuliert. Zu einem guten Gedicht gehörten wohl beide Elemente, ein bekannter Hintergrund vertraut und beruhigend, von dem sich ein innovativer Vordergrund abhebt, der die Neugier weckt. Wenn es dann ?Aha!? macht, das neue Sprachbild, das neue Reimschema, der neue Rhythmus plötzlich Sinn ergeben, dann stellt sich auch ein Gefühl des Genusses ein, so Ulrike Altmann. O-Ton 23 Altmann Es erschwert zunächst die Verarbeitung aber wenn wir daraus neue Informationen gewinnen, aus dieser erschwerten Verarbeitung und dieser Zuwendung von Aufmerksamkeit auf bestimmte Textelement wird die neue Erkenntnis, die wir gewinnen eben mit einem gewissen Lustgewinn verbunden sein. Musik: Bach, Fuge a-moll Sprecherin ?blau / der Himmel / wolkig und weit / ich finde ihn schön / unendlich? Autor Zeile für Zeile schreibt das der zehnjährige Jannis über ein Wolkenbild. Raoul Schrott ist nicht nur Dichter, er hat auch viele Poeten ins Deutsche übersetzt. Dabei stellte er fest: Die kurze Zeile findet sich in den Dichtungen fast aller Schriftsprachen. O Ton 24 Schrott Ich hab mich als Dichter permanent gefragt, warum Gedichte so eine Art von Platzverschwendung darstellen? Warum jeder das Gedicht identifiziert als kurze Zeile, also warum haben Gedichte kurze Zeilen? Autor Überall braucht es ungefähr drei Sekunden, sie auszusprechen. Das ist bemerkenswert, denn das Gehirn arbeitet in einem Dreisekundentakt, von Dreisekundenaugenblick zu Dreisekundenaugenblick. Mehr passt einfach nicht auf einmal in den geistigen Arbeitsspeicher. O Ton 25 Boyd So it seems as if poets ? human constraints. Übersetzer darüber Es scheint, als hätten die Poeten der verschiedenen Sprachen unabhängig voneinander diese Einheit entdeckt. So lenken sie die Aufmerksamkeit der Zuhörer gezielt auf eine Gruppe von Worten und transportieren so ihre Botschaft. Das ist keine spezielle Anpassung, die Poeten reagieren einfach auf die von der Evolution geschaffenen Beschränkungen des menschlichen Geistes. O-Ton 26 Schrott Das heißt im Grunde genommen, das ein Gedicht, dass eine Gedichtzeile die ideale Verpackungsgröße für Information darstellt. Sprecherin (auf Bach, Präludium in d-moll) ?Es schlürfen die Pfeiffen, es würbeln die Trumlen / Die Reuter und Beuter zu Pferde sich tumlen, / Die Donnerkartaunen durchblitzen die Lufft / Es schüttern die Thäler, es splittert die Grufft, / Ein jeder den Nechsten zu würgen begehrt , / So flinkert, so blinkert das rasende Schwert.? Georg Philipp Harsdörfer und Johann Klaj: ?Pegnesisches Schäfergedicht in den Berinorgischen Gefilden?. O-Ton 27 Boyd We just have an appetite for patterns ? a rich poem. Übersetzer darüber Wir haben einen Heißhunger nach Mustern. Muster sind unser Weg, die Welt zu verstehen und deshalb genießen wir das Spiel mit Mustern in einem Gedicht. Autor Reim und Rhythmus, Alliteration und Allegorie. Bryan Boyd interpretiert sie als poetische Werkzeuge beim Buhlen um die Gunst des Lesers. Das gelingt, weil Poeten geschickt Eigenheiten des Gehirns für sich nutzen. Eine Gedichtzeile wird nicht erst ganz gelesen und dann verstanden. Die Interpretation beginnt mit dem ersten Laut, so Raoul Schrott. O-Ton 28 Schrott Wenn Sie das Wort K hören oder nur den Laut K dann gibt es in ihrem Kopf je nach Erfahrungshorizont eine ganze Palette von Worten, die unbewusst bereits aktiviert wird von Ford K bis Kapitulation bis Katechese all das, was das Lexikon, ihr privates Lexikon zu bieten hat. Und das, was die Poesie versucht, ist all diese Bedeutungen, die da am mitschwingen sind, möglichst lange am Leben zu erhalten, um Fülle zu suggerieren. Autor Auch der Reim sorgt für Fülle, für die Vielschichtigkeit guter Poesie. Die zweite Zeile ruft die erste noch einmal ins Gedächtnis, ermöglicht so eine Überlagerung von ganz verschiedenen Bedeutungen. . O Ton 29 Jacobs Das erzeugt Spannungseffekte, die, wenn sie gut gemacht sind, ästhetisch sein können, und es erzeugt auch rhetorische Effekte. Das was sich reimt, wird eher geglaubt. Autor Das konnte amerikanische Forscher tatsächlich bestätigen. Dichtung und Wahrheit stehen also in einem ganz besonderen Verhältnis, so Arthur Jacobs. Neben dem Reim ist der Rhythmus, die Betonung, ein wichtiges Element der Lyrik. Sprecherin ?Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule, / Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.? Friedrich Schiller: ?Das Distichon?. O Ton 30 Schrott Interessant ist aber an all diesen Figuren, an all diesen Metern, dass sie, wenn man sie evolutionsbiologisch betrachtet, letztendlich mit Warnsignalen vergleichbar sind. Das also die Stimme zu erheben ein Warnsignal ist, weil es Aufmerksamkeit schafft, weil es eine Art von vokalischen Uppercut ist. Also ich krieg ein Kinnhaken: daDa daDa daDA. Autor Schon die Griechen setzten den aggressiven Jambus für Spottgesänge und den beruhigenden Trochäus für elegische Dichtungen ein. Doch erst die Hirnforschung machte Raoul Schrott die Logik hinter den Rhythmen verständlich. Sprecherin (auf Bach, Präludium in d-moll) ?Des Todes Anfang zwar bringt mit ein hartes T; / Das Ende zeucht nach sich alsdann ein lindes D; / Das Mittel ist ein O: es ist ein Augenblick, / So kümmt für harte Pein ein immer sanfftes Glück?. Friedrich von Logau: ?Des Todes Buchstaben?. Autor Reim und Rhythmus geben Sätzen Gestalt, aber auch der Klang einzelner Worte prägt ein Gedicht. ?Wolkenpelztier?, ?es kribbelt und wibbelt?, ?Tandaradei? die Wirkung der Silben ist nicht zufällig, auch das zeigen Experimente von Arthur Jacobs. O Ton 31 Jacobs Wir machen das im interkulturellen Vergleich und gucken, ob zum Beispiel Konsonantecluster wie ?schtrr? oder ?krr?, ob die also generell sozusagen eher negative Emotionen wecken, und dann eher die bekannten runden Volkalcluster, die auch in Mamma und so weiter vorkommen, ob die tatsächlich auch auf der neuronalen Ebene mit positiven Reaktionen im Belohnungssystem einhergehen. Atmo O-Ton 39 Urban Inzwischen als Rentner würde ich sagen ja ich bin Sprachspieler. Autor Klaus Urban, der Veteran unter den Slammern im Heimathafen Neukölln erzählt vom kleinen Reim, der nicht reimen wollte. O-Ton 40 Urban So könnt ich nicht mehr weiterdichten, ich will nicht auf den Reim verzichten, doch wenn der sich sträubt, was soll es, schreib ich auch ohne Reim was Schönes. Wozu brauch ich eine Reim, der Reim erstick ja schon im?. Anfang, jeglicher anderer Erwartung. So kommt was kommen muss zum Dichter und Hörer zum Ver.. Ärger die Texte werden auch immer kärger, deshalb Fuck you Reim, go to hell verschwinde endlich und zwar ? behände. Ende, das reimt sich auch wieder sorry Schluss. Atmo weg Autor Jeder Dichter nutzt die universellen Muster des Gehirns, aber er muss sie jeweils auf neue, auf seine Weise einsetzen. O-Ton 34 Boyd Any neural tissue ceases ? as many levels as possible. Übersetzung Jedes Nervengewebe gewöhnt sich an wiederholte Reize, reagiert immer weniger. Das heißt, ein Sprachbild, das einmal frisch war, wird von mittelmäßigen Dichtern recycelt, es hat ja einmal funktioniert. Aber so wird es zum Klischee. Innovative Dichter versuchen uns auf vielen Ebenen zu überraschen. Autor Brian Boyd ist den Mustern der Sprache beim Meisterschreiber seiner Muttersprache nachgegangen bei den Sonetten Willam Shakespeares. Eine Sonnett-Sequenz im Elisabethanischen Zeitalter folgte strengen Konventionen. Es gibt eine unerreichbar tugendhafte schöne, um die sich der Poet, ohne nachzulassen, aber vergebens dichterisch bemüht. O-Ton 35 Boyd The sonnet sequence ? he has built up. Übersetzung Obwohl es um etwas geht, das uns alle interessiert, Liebe, führt diese Form doch zu Wiederholung und Stillstand. Shakespeare weiß, wie wichtig Aufmerksamkeit ist. Er verändert das Spiel. Schreibt an eine dunkle Lady, die keineswegs unerreichbar ist, sondern mit vielen geht. Damit bricht er die Erwartung und dann verändert er noch einmal alles und schreibt an einen jungen keuschen Mann. Sprecherin (auf Bach, Präludium in d-moll) Zwei Lieben hab ich - Trost und Höllenpein. / Von diesen zweien kommt alles, was ich schreib, / Mein guter Geist: ein Mann, blond, schön und rein, / Mein böser Engel ist ein dunkles Weib. Shakespeare: ?Sonnett 144?, Übersetzung Christa Schuenke. Autor In seinen Sonetten verhandelt Shakespeare Liebe, Status, Tod, und die unsterbliche Dichtkunst. Kombiniert Reime mit Rhythmus, mit Klangassoziationen, spielt mit Doppelbedeutungen und Metaphern. Schilt andere Dichter, die ihre Liebste prunkend aber lügnerisch als Sonne preisen. Nur um selbst zu fragen: ?Soll ich Dich einem Sommertag vergleichen??. Ein Kaleidoskop, das die verschiedenen Elemente zu immer neuen Mustern ordnet. ?Große Literatur ist einfach Sprache, die bis zur Grenze des Möglichen mit Sinn geladen ist?, wie Ezra Pound formuliert. O-Ton 36 Boyd The real appeal of lyrics ? mind can go anywhere. Übersetzung Der Reiz der Poesie im Gegensatz zu einer Geschichte liegt in der absoluten Freiheit des Dichters und der absoluten Freiheit des Lesers. Der Poet kann sich selbst in den Mittelpunkt setzten, den Leser, die Situation, ein Gefühl, der Geist kann sich überall hinwenden. Sprecherin (auf Bach, Präludium in d-moll) ?Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts / wir trinken und trinken / Wir schaufeln ein Grab in den Lüften, da liegt man nicht eng.? Paul Celan: ?Todesfuge?. Autor Schrecklich und schön zugleich. Mit den Mitteln der Hirnforschung lässt sich die Wucht eines Gedichts wie der ?Todesfuge? nicht verstehen. Dichter aber haben es schon immer gewusst: poetische Stilmittel funktionieren. Literatur wenn sich der Bildgehalt der Worte mit der Melodik der Sätze und dem Inhalt des Gedichts scheinbar natürlich verschränken. Raoul Schrott. O Ton 37 Schrott Das Problem ist, dass diese drei Ebenen nur sehr, sehr selten synchron gehen. Deshalb gibt es so wenig gute Gedichte. Sprecherin ?Wer auf Island zischt ein Bier, wird zur Elfe im Geysir.? Die taz. Autor Spaßlieder, Reime in der Werbung, Alliterationen in Schlagzeilen. Das poetische Handwerkszeug wird längst nicht nur von Dichtern eingesetzt, überflutet den öffentlichen Raum. Die wahre Macht des Gedichts erlebt aber wohl immer der einzelne Leser, der seinen Geist von ein paar gedruckten Worten in Bewegung setzen lässt. Musik: Bach, Fuge a-moll Deutschlandradio ? Forschung und Gesellschaft ? Redaktion: Kim Kindermann ? Autor: Volkart Wildermuth 1