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Musik Titelmusik Oton Dieser Baum ist bereits mit zwölf Urnengräbern belegt und wir haben uns bei Einrichtung des Ruheberges eben überlegt, dass wir um einen Baum herum genau zwölf Urnenplätze ausweisen. Musik Titelmusik Oton Die Leute haben anders ausgesehen wie wir, die waren gegerbt wie der Speck und sie haben anders geschmeckt. Musik Titelmusik Oton Im Alemannischen funktioniert es in sofern besser, als ich mehr Ausdruckmöglichkeiten hab. Musik Titelmusik Sprecher vom Dienst: Das verborgene Gedächtnis der Nation Oberried im Südwesten Baden-Württembergs Eine Deutschlandrundfahrt mit Paul Stänner Regie Atmo Oberried, Bach, Natur, zwei Autos Autor Von Freiburg bis Oberried braucht man mit dem Auto ca. zwanzig Minuten. Wenn Annegret fährt, reichen zwölf. Ich brauch' Urlaub, sagt Annegret, als ob das die Straßenverkehrsordnung außer Kraft setzen würde. Das kleine Oberried liegt in einem Tal und ist umgeben von idyllischen Bergen, die so hoch sind, wie im Schwarzwald die Berge hoch sind - also nicht so hoch. Es ist Mittagszeit. Vor der Dorfschänke, die hier "Dorfschänke" heißt, ballt sich der Verkehr. Ein Wagen kommt von links, will über den Bach, aber da kommt von rechts ein anderes Fahrzeug und blockiert die Straße. Das Durcheinander ist perfekt. Weil nichts mehr weitergeht, können wir uns das Dorf ansehen. Gegenüber der fatalen Kreuzung liegt der Friedhof mit der Kirche. Daneben das frühere Kloster, ein Teil davon ist heute das Rathaus. Es gibt ein Gasthaus, das heißt "Sternen Post". Was könnte märchenhafter klingen? Eine Sternen-Post. Was schickt man den Sternen, die sich hier ihre Post abholen? Auf der Straße geht es weiter, der Zwei-Auto- Stau hat sich aufgelöst. Wir werfen einen Blick auf den Friedhof: Karl Winterhalter ist 72 Jahre alt geworden, Maria Spiegelhalter hat es auf 92 Jahre gebracht. Josef Riesterer auf 73, Frieda Zähinger auf 82 Jahre und Paulina Wiestler auf sage und schreibe 98 Jahre. Annegret sagt, hätte man als Freund Hein, als der Tod selbst, geschäftlich in Oberried zu tun, man würde in Depressionen verfallen. Das Leben ist ruhig, es ist idyllisch und es ist lang in Oberried. Annegret sagt, wenn sie auf Rente ist, will sie nach Oberried. Atmo 34 sec Gemurmel vor dem Konzert Autor Es ist der Auftakt der Alemannischen Woche in Oberried. Im früheren Speisesaal der Mönche, die es schon lange nicht mehr gibt, hat sich der Gesangsverein "Schwarzwald" versammelt. Atmo Gesang der Männer "Heil dir mein alemannisch Heimatland" Autor Zum 15. Mal wird die Alemannische Woche eröffnet. Es ist Oktober 2010. Die Woche ist so etwas wie die Selbstdarstellung des Ortes von circa 2800 Einwohnern mit seinen drei Eingemeindungen. In der Alemannischen Woche wird es eine Weinprobe geben mit einem ausgewählten Menu, um die Speisen und Weine der Region bekannt zu machen. Eine Mountainbiketour führt in die Berge, es wird gesungen und gekocht und am Ende wird das geschmückte Rindvieh in langen Prozessionen von den Sommerweiden ins Tal getrieben. Aber da sind wir schon nicht mehr hier. Und wieder singen die Männer. Der Text ist alemannisch, das versteht nicht jeder. Der Refrain sticht heraus: "Heil dir mein alemannisch Heimatland" Atmo Zweiter Gesang der Männer frei, dann wegblenden Autor >Wiesenthal< hört man immer wieder heraus. Wiesenthal spielt in vielen der hiesigen Volkslieder eine Rolle. Bei einem hören wir heraus, wie ein Liebchen, welches mit einem eng geschnürten, überquellenden Mieder ausgestattet ist, aufgefordert wird, dem Sänger ins Wiesenthal zu folgen. Der Text geht noch ein gutes Stück weiter, der Nicht-Alemanne vermutet ein Loblied auf die weltberühmte Schwarzwaldtracht im Allgemeinen und ein hoch geschnürtes Mieder im Besonderen. Was aber mit dem Liebchen und dem Mieder beim Sänger im Wiesenthal geschehen soll, bleibt für Nur-Hochdeutsch- Sprechende rätselhaft. Atmo Gesang, einige Zeit frei, dann wegblenden Autor Bürgermeister Winterhalter, auf den mutmaßlich galanten Inhalt der Volksweise angesprochen, lächelt freundlich, aber undurchsichtig. Annegret versteigt sich zu der Einschätzung, Volkskunst sei oft frivol und in ihrer verderblichen Wirkung weithin unterschätzt. Weil sie aber nicht viel Alemannisch versteht, wird ihr Einwand zurückgewiesen. Atmo Männergesang wegblenden, ab "Nach wenigen Metern" Atmo draußen, Gemurmel Autor Wir fahren langsam durch Oberried - man fährt immer langsam in Oberried - und folgen der Strasse, die aus dem Ort herausführt. Dann biegen wir rechts ab in den Hörnegrundweg. Von hier quält sich eine gewundene Straße den Berg hinauf, vorbei an zwei malerischen Schwarzwaldhäusern. Nach wenigen Metern wird aus der Asphaltstraße ein Schotterweg, der schlängelt sich durch den Wald - und dann geht nichts mehr. Links schauen wir hinab in ein Tal, rechts hinein in einen Tunnel. Der ist normalerweise verschlossen, aber jetzt, zur Alemannischen Woche, öffnet das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe seine Schatztruhe. Oton Preuß Der Barbarastollen gehörte ursprünglich zum Bergwerksgebiet Schauinsland. Autor Bernhard Preuß, groß und schlank und die Welt freundlich von oben herab betrachtend, ist Abteilungsleiter im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe und dort zuständig für den Kulturgutschutz. Es ist seine Aufgabe, dass die im Barbarastollen von Oberried gelagerten Kulturgüter so lange wie möglich halten. Oton Preuß Man hat das nicht zu Ende gebaut, weil die Silberpreise gesunken sind, aber der Stollen wurde 750 Meter weit vorgetrieben, endet jetzt blind und als wir auf der Suche waren nach einem geeigneten Lagerort für unsere Kulturgutfässer sind wir auf diesen Stollen gestoßen und den können wir ideal brauchen. Autor Drei blau-weiße Rauten an der Eingangspforte zeigen an, dass hier unter dem Mantel der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Angriffen unbewegliches Kulturgut unter Sonderschutz lagert - so die offizielle Bezeichnung. Das heißt, dieser Ort ist dem besonderen Schutz aller an einem kriegerischen Konflikt beteiligen Parteien empfohlen. Es herrscht Überflugverbot und militärische Bewegungen dürfen nur in drei Kilometern Abstand erfolgen. Unter dem Schutz der Haager Konvention gehen wir in den Stollen. Atmo Gang in den Stollen Oton Preuss Dieser Stollen ist ein backup, ein Superarchiv zur endgültigen Sicherung von staatstragenden Dokumenten, von wichtigen Dokumenten, die das kulturelle Leben der Deutschen charakterisieren können. Und es ist nur eine kleine Auswahl von Dokumenten die zur Verfügung stehen, aber es ist eine sehr umfassende Sammlung, und man findet die wichtigsten Dokumente, die in Deutschland schon bearbeitet worden sind, die klassifiziert worden sind, wo man etwas mit verbindet, die findet man in diesem Stollen als Mikrofilmkopie und so kann man beruhigt sicher sein, dass bei Verlust der Originale eben noch eine zweite Kopie zur Verfügung steht, mit deren Hilfe man das restaurieren könnte. Autor Nach den Erfahrungen vor allem des letzten Weltkrieges hatte 1954 die internationale Gemeinschaft in der Haager Konvention die Kulturgüter unter Schutz gestellt. Seit 1978 ist der Barbarastollen in das Internationale Register der UNESCO eingetragen als ein Ort, an dem Kulturgut geschützt gelagert wird. Wir gehen einen langen Gang entlang tief in den Berg hinein. In regelmäßigen Abständen hängen Neonleuchten an der Decke, eine lange Aluminium-Röhre verläuft entlang dem Scheitelpunkt des Gewölbes. Die Wände sind gleichmäßig mit Spritzbeton verkleidet. Am Ende des Ganges versperrt ein Gitter den weiteren Weg, im Halbdunkel erkennen wir im Gestein ein Stück von einem grob gehauenen Stollen. Hier könnte man weitermachen, tiefer in den Berg hinein. Aber wir biegen ab nach links und gehen in einen Parallelstollen. Dort sieht es aus wie im Faßlager einer gut geführten Brauerei. Oton Preuss Wir haben versucht, möglichst ökonomisch zu arbeiten und haben tatsächlich die Blaupause von Bierfässern für unsere Zweck abgewandelt. Die Fässer sind in der Hälfte geteilt haben einen Schließring, mit dem sie luftdicht verschlossen werden können. Das ist der Unterschied zu normalen Bierfässern. Autor Ein amerikanischer Besucher meinte nach einem Blick auf die Fässer trocken: This is not very sexy! Womit er recht hat - eigentlich sieht das hier nach nichts aus. Aber was eingelagert wird, sind wichtige Dokumente aus der Geschichte der Deutschen: Eine Kopie des Vertragstextes des Westfälischen Friedens, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, die Baupläne des Kölner Doms, die Ernennungsurkunde eines gewissen Adolf Hitler zum Reichskanzler. Kopien von Akten, so war der ursprüngliche Gedanke, die im Falle eines Krieges gerettet werden müssen. Aber nachdem das Kölner Stadtarchiv durch Fehler beim U-Bahn-Bau eingestürzt war - kein Kriegsfall, nur ein Fall von Kölner Klüngel, aber fast so verheerend wie Krieg - zeigte sich, wie wichtig dieses backup-Lager im tiefen Granit ist. Oton Preuß In so einem Fass sind 16 große Rollen Mikrofilme, jede Rolle hat 1500 Meter Film, die Filme kommen aus den Archiven der Bundesrepublik Deutschland, und es ist sehr gemischt, was in den einzelnen Fässern drin ist,... so ist zum Beispiel das Kölner Stadtarchiv hier auf ungefähr 45 Tonnen verteilt gewesen und wenn wir für das Kölner Stadtarchiv Materialien herausholen um das zu restaurieren, weil das ja kaputt gegangen ist, dann müssen wir halt die entsprechenden Tonnen raussuchen und dann die entsprechende Filmrolle finden. Autor Jene besonders ökonomisch denkenden Kritiker, die an den Kosten herumgemäkelt haben, die man bloß zur Erhaltung von Kulturgut zahlen müsse - genau genommen hat das Bundesamt für den Kulturgutschutz 3 Millionen Euro zur Verfügung, gerade einmal 30.000 Euro braucht der Bunker - diese Kritiker sind nach der Katastrophe vorsichtiger in ihrem Auftreten geworden. Damit hätte das Kölner Desaster auch seine gute Seite gehabt. Im Stollen herrschen das ganze Jahr über eine konstante Temperatur von circa 10 Grad und eine Luftfeuchtigkeit von 35%, ohne dass eine Klimaanlage aktiv werden müsste. Dies sind - vorausgesetzt, die Edelstahlfässer sind sauber verschlossen - ideale Bedingungen für die Aufbewahrung von Mikrofilmen. Oton Preuß Der Film hält dann bei dieser Lagerung vermutlich ewig, aber die Fachleute lassen sich auf nicht mehr als 500 Jahre ein. Atmo Barbarastollen außen Autor Vorsichtige Fachleute - das hat man auch selten. Der Barbarastollen enthält nur Mikrofilme, keine Gegenstände. Was seine Innenausstattung auch so langweilig macht. Wieder draußen, an der wärmenden Sonne, treffen wir auf Martin Luchterhandt, Leiter des Berliner Stadtarchivs. Als Fachmann für Dinge, die man archivieren muss, kann er erklären, wozu das Ganze gut ist. Oton Luchterhandt Das Urszenario, nach dem Atomkrieg ist alles wüst und leer, man öffnet den Stollen, man nimmt eine Lichtquelle und kann sich anhand der Mikrofilme ein Bild machen von den verlorenen Kulturschätzen - das Szenario trifft so nicht. Eine Welt, die völlig leer ist und von jeder Zivilisation durch Kriege befreit wurde, in der braucht man auch den Inhalt des Stollen nicht mehr. Autor Zum Glück, sagen wir, hat sich die Welt gewandelt. Vielleicht geht doch nicht alles kaputt, wenn mal wieder alle durchdrehen. Oton Luchterhandt Es ist so gedacht, dass man aufgrund der Informationen aus dem Stollen wesentliche Aspekte, große Teile bestimmte Phänomene unserer Geschichte wieder feststellen kann, wobei niemand weiß, wie kaputt das Land um diesen Stollen herum dann sein wird, wenn der Stollen als solcher gebraucht wird und wir gehen ja heute davon aus, das das mehr ein unterstützendes Medium ist, weil wir noch andere Punkte haben, wo sich Verfilmungen als Kopie zum Beispiel befinden. Autor Aus der riesigen Menge von historischen Dokumenten, die eine Kulturnation durch die Jahrhunderte angesammelt hat, muss eine Auswahl getroffen werden. Jedes Bundesland entscheidet in eigener Regie, welche Dokumente es verfilmt und einlagert, in Berlin entscheidet dies Martin Luchterhandt: Oton Luchterhandt Zum Beispiel ist unser nächstes Projekt noch eine Fortsetzung einer Altverfilmung: Erbgesundheitsgericht Berlin, das sind Zwangsterilisationen aus dem Dritten Reich, dann demnächst werden Nachlässe verfilmt werden, weil sich bei dem Kölner Einsturz gezeigt hat, dass diesem Material noch besondere Bedeutung zukommt, nicht nur dass es unikal ist, sondern auch, weil die Personen eine besondere Stellung haben. Autor Nun könnte man sich ja vorstellen, dass man, wenn wir einmal nicht mehr sind und intelligentere Wesen, Maschinen oder Roboter, unseren Nachlass finden, man lieber mit einem Bauplan vom Kölner Dom als mit der Nazi-Barbarei in Erinnerung bleiben möchte, aber die Konzeption des Bunkerarchivs funktioniert anders: Es soll Geschichte nachvollziehbar bleiben - nicht nur einzelne Perlen, sondern auch die Fehlentwicklungen. Oton Luchterhandt Ja das Erbgesundheitsgericht Berlin ist eins von diesem Typ von Gerichten, den es im ganzen Reich gegeben hat und es ist dann auch stellvertretend eigentlich gemeint die Verfilmung für alle die Erbgesundheitsgerichte, die nicht in unserem Programm berücksichtigt werden und es ist nun nicht gerade dieses eine Gericht gegenüber von dem von meinetwegen München oder von Düsseldorf sonderlich anders, es ist eigentlich ein Ausschnitt, es hat in dem Fall auch Stichprobencharakter. MUSIK 1 Titel: Charades Komponist: Alexander Balanescu Interpret: Balanescu Quartett Verlag: Mute Records, LC 05834 Autor Ein wenig morbide fühlt man sich schon nach so einem Aufenthalt in den Tiefen der deutschen Geschichte. Mehr als 29 000Kilometer Mikrofilm bewahren die Kultur der Deutschen auf, wenn mal wieder was schief gehen sollte, wenn Krieg oder Profitgier oder eine andere Dummheit wertvolle Bestandteile der nationalen Geschichte vernichtet haben. Die Nation braucht ihr Gedächtnis. Annegret und ich brauchen einen Kaffee. Atmo Leises Gemurmel zum Übertexten Autor In dem Cafe "Waffelhäusle", in dem es prebiotische Nahrung gibt, haben sie Kürbisse auf dem Tisch liegen. Die seien zum Aushöhlen. Bald ist Halloween, aber hier sagen sie: "hallo wen"? als seien sie nicht sicher, wem man hier "Hallo" sagen müsse. Die Kürbisse sind klein, es wird wohl eher ein "hallo wen? -le" werden. Als ich zahlen will, fragt die Kellnerin "War's recht?" Das wird man hier oft gefragt, ob es recht war. MUSIK 2 Titel: Waterfalls Komponist: L. Lopes, M. Etheridge Interpret: TLC Verlag: Polystar, LC 04324 Atmo (Klingelton und Geräusche bei Eintreten) Oton Lorenz Das Haus, das wollte niemand mehr, das Haus war sehr alt, die Infrastruktur um das Haus herum ist auch nicht sehr attraktiv, es sind alles Steillagen, hier hinten kann man nicht mit Maschinen arbeiten...und von dem her wollte eigentlich niemand mehr das Haus so recht haben. Autor Der Schniederli-Hof liegt - für den Touristen bezaubernd - am Hang über einem Tal im Ortsteil Hofgrund von Oberried. Unten glitzert ein kleiner Teich, der Blick geht weit über den Schwarzwald bis zum Berg Tote Mann. Aber in dieser Hanglage Landwirtschaft zu betreiben, ist wohl nur etwas für Verzweifelte. In den 1960er Jahren verstarb der letzte Besitzer, der Hof wurde von der Gemeinde gekauft und als Museum hergerichtet, zur Erinnerung an das harte Leben der früheren Jahrhunderte. Ludwig Lorenz ist der Verwalter. Oton Lorenz Wir stehen jetzt in der guten Stube, das war der Raum, in dem sich das Leben so einer Bauersfamilie in früheren Zeiten grundsätzlich abgespielt hat. ... Wir sehen hier vorn im Eck den Herrgottswinkel mit Kruzifix und Leuchtern, der Herrgottswinkel, das war früher so eine Art Kirchenersatz. Wir sind hier beim Schniederli-Hof auf 1050 Metern Höhe und die Leute waren oft im Winter eingeschneit. Wenn es mehr wie knöcheltiefen Schnee hatte, gingen die Leute nicht mehr aus dem Haus, wenn sie am Sonntag nicht zur Kirche gehen konnten, dann hatte eben der Herrgottswinkel diese Kirchenersatzfunktion. Autor Annegret merkt flüsternd an, dass hier eigens ein Schild hänge: Rauchen verboten!, aber das ganze Haus stinke so maßlos nach Rauch und Qualm wie früher das Ruhrgebiet. So malerisch das Haus aus schweren Balken, mit dem tiefgezogenen Dach und den Balkonen aus dunklem Holz auch ist - im Winter müssen hier brutale Verhältnisse geherrscht haben. Die Fußböden sind aus blanken Brettern, die Räume niedrig, die Fenster klein. Das Elternbett im Schlafzimmer ist dicht an die Wand gerückt, auf der anderen Seite lag der Stall mit Kühen und Schweinen, an deren Wärme die Menschen teilhaben wollten. Ratten gab es sicherlich auch. Annegret sagt, dass in der Nähe ein Ort namens Notschrei gelegen sei. Wenn früher alle Häuser so aussahen, dann muss die ganze Gegend ein Notschrei gewesen sein. Oton Lorenz Zu dem Bau gehört die warme Ecke, hier hinten, das sind zwei unabhängig voneinander funktionierende Öfen. Das große Bauwerk, das ist der Kachelofen, das niedere, das stufenförmige Gebilde, die so genannte Schwarzwälder Kunscht. Das hat nichts mit dem Wort Kunst zu tun, sondern Kunscht, das ist ein Eigenname, schreibt sich mit sch. Die Kunscht wird beheizt vom Herd aus in der Küche, der Kachelofen wird beheizt vom Backofen aus in der Küche. Atmo (Geräusche, Anzünden, 1'33), darüber Autor Autor Wir lernen den Begriff der "schwarzen Küche". Das ist ein Raum hinter dem Kachelofen und der Schwarzwälder Kunscht. Hier sind die Feuerungsklappen zum Herd und zum Backofen. Die schwarze Küche ist wirklich ein pechschwarzer Raum ohne ein Fenster nach außen. Im Prinzip ist diese Küche der Kamin für Herd und Backofen. Annegret beobachtet interessiert und erschüttert Herrn Lorenz beim Raucherzeugen. Oton Lorenz Ich habe jetzt hier den Backofen angefeuert, am Backofen kann ich noch demonstrieren, wie das früher abgelaufen ist in dieser Küche. Der Rauch, das ist hier der Kochherd, der Rauch hat sich hier aus dieser Öffnung entladen, je nachdem wie es gezogen hat vom Luftdruck her, hat man verschiedene Öffnungen aufmachen können. Er steigt hoch in dieses Gewölbe, das extra dafür gebaut wurde. Dieses Gewölbe hat die Aufgabe, den Rauch abzukühlen. Mit diesem heißen Rauch, der direkt aus der Öffnung kommt, kann ich keinen Speck räuchern, das Fett des Specks würde schmelzen. Autor Der Trick bei der Sache war, dass man den heißen Rauch nach oben steigen ließ. So blieben die Bergbauern, die sich sowieso nur für kurze Zeit in der fenster- und lichtlosen Küche aufhielten, unterhalb des schädlichen, heißen Rauches. Der Blick geht nach oben. Oton Lorenz Über diesen begehbaren Brettern ist der Speck gehangen, die Würste, die Schinken. Das ist die Rauchkammer da oben. Von der Rauchkammer dann nach oben ist der Rauch ausgetreten durch diese Rauchschlitze in den Dachraum und hat das ganze Gebälk im Dachstuhl geschwärzt..... Autor Nach und nach wird deutlich, wie durchtrieben die Menschen im Schwarzwald ihre Häuser gebaut haben - der Rauch, den Annegret mit verkniffener Miene eher unausstehlich findet, war ihr Helfershelfer. Oton Lorenz Der Rauch musste drei Aufgaben erfüllen: er musste die Leute wärmen, er musste ihnen den Fleisch und den Speck räuchern und er musste ihnen das Haus konservieren. Die Konservierung war eigentlich die Schwärze, die sich auf allen Balken, Decken, Wänden abgesetzt hat. Schwarzes Holz, sagte man früher, das hält ewig - und das hält auch ewig. Schwarzes Holz hält 2- 3000 Jahre. Autor 2 - 3000 Jahre - wenn im Barbarastollen die Mikrofilme schon verfallen sind, wenn die Menschheit sich vielleicht schon überlebt hat und Maschinen und Roboter die Erde bevölkern, dann wird das Bauernhaus in Hofgrund immer noch stehen. Man weiß nicht so recht, ob man diese Vorstellung tröstlich oder beängstigend findet. Oton Lorenz Die Leute haben anders ausgesehen wie wir, die waren gegerbt wie der Speck und sie haben anders geschmeckt, sie haben anders gerochen. Autor Annegret, die von sehr reinlicher Natur ist, möchte das Haus verlassen. Sie glaubt ohnehin nicht, dass ihr ein harzig-rauchiger Mann besser geschmeckt hätte als ein geduschter. Wieder in der freien Natur, geht es den Fußweg zurück zum Auto an der Dorfkirche, durch eine klare, milde, sonnengewärmte Spätsommerluft. Wir atmen tief durch, glücklich, den rauchigen Härten der früheren Jahre entkommen zu sein. MUSIK 3 Titel: Rain Dogs Komponist / Interpret: Tom Waits Verlag: Island Records, LC 00407 Atmo Wasser plätschert, vielleicht Vögel dazu mischen. Autor "Wozu Friedhof", will Annegret wissen. "Wir waren schon auf einem Friedhof. Die Leute hier werden uralt und Freund Hein, der Tod selbst, ist ein Versager." Ihre Einwände fruchten aber nicht, wir gehen auf einen Friedhof. Freund Hein, wenn man so will, hat einen eigenen Park in Oberried. Genauer gesagt ist es ein idyllischer Wald auf den Höhen des Schwarzwalds, ein landschaftliches Juwel. In einer Gegend, in der die Menschen so ungern sterben, ist das für Freund Hein ein echtes Verkaufsargument. Anstelle von Hein spricht Bürgermeister Franz- Josef Winterhalter: Oton Winterhalter Wir haben etwa im Jahr 100 Beisetzungen, die meisten kommen aus der Region, aus dem Bereich Südbaden, und wir haben das auch so ausgerichtet, dass wir sagen, wenn jemand hier beigesetzt werden will, dann soll er auch einen gewissen regionalen Bezug haben. Atmo Schritte auf Schotter, Gespräche Autor Annegret sieht auf der linken Seite den Skilift, der steil den Hang hinauf führt und rechts den sanften Hügel für die Kinder. Geradeaus die Berghütte. Ein Sport- und Erholungsgebiet. Und daneben beginnt der Friedhof, der ein Wald ist. Mit einer Gruppe von Besuchern gehen wir in den Wald - oder auf den Friedhof. Oton Winterhalter Dieser Baum trägt die Nummer eins, das war also der erste Beisetzungsbaum.... Diese Nummer eins, sehen Sie, das sind schon mehrere Personen beigesetzt und eben gekennzeichnet durch die kleinen Schilde am Baum selbst. Autor Die Idee ist folgende: Statt sich auf einem herkömmlichen Friedhof bestatten zu lassen, in einem herkömmlichen Sarg und einem herkömmlichen schwarzen Stein, der im Jargon der Steinmetze als "Schwarzbrot" verachtet wird, legt man sich im Wald zur letzten Ruhe. Oton Winterhalter Dieser Baum ist bereits mit zwölf Urnengräbern belegt und wir haben uns bei der Einrichtung des Ruheberges eben überlegt, dass wir um einen Baum herum genau zwölf Urnenplätze ausweisen. Das hat einmal eine symbolische Bedeutung, weil die Zahl zwölf ja eine Zahl ist, die im Kulturkreis des Christentums eigentlich sehr häufig vorkommt, zwölf Apostel gibt es, zwölf Stämme Israels und so weiter, hat also eine hohe symbolische Bedeutung. Autor In einer Urne aus Holz oder ungebranntem Ton, Materialien also, die in der Erde zerfallen, wird die Asche des Verstorbenen bestattet. Am Baum hängt eine Plakette - die man in der Tat geschmackvoller gestalten könnte, so dass sie nicht wie eine behördliche Hundemarke aussieht. Die Plakette nennt Namen und Daten des Verstorbenen. Auf einer Internetseite kann - wer will - weitere Informationen veröffentlichen. Oton Darüber hinaus hat die Zahl zwölf auch eine ganz praktische Bedeutung. Wenn ich eine Uhr habe, dann hab ich ja auch die Zahlen von eins bis zwölf dadrauf, kann diese Zahlen verwenden um mich am Baum zu orientieren. Atmo Schritte und Gemurmel, verblenden mit Oton Autor Eine Dame in den 50igern mit leuchtenden Augen und großer Beredtsamkeit berichtet davon, wie sie die Natur als Heilmittel einsetzt. Oton Frau (...einblenden:) Bäume umarme, ich glaub daran, glaube Sie des net? Doch, da geht eine Kraft aus von den Bäumen, umarme, Augen zumache und Kopf drahebe und dann wird's besser. (Autor im Oton: Und was wird besser?) Überhaupt so, mit der Psyche, wenn ich traurig bin, ich find des gut. Ich mach des, aber der Herr Römer glaubt da net dra? - (abblenden zur Atmo, darüber Autor) doch! ich kann mir des schon vorstelle, beim einen wirkts beim einen wirkts nett, ...ich sag halt zu den wieber (Weiber), die rumjammere - geht's halt in den Wald, da wird's euch und besser und umarmet die Bäume. Und dann haben sie wieder Angst und gehen nicht in den Wald und meinen, sie werden überfallen. ... Autor Herr Römer, der Förster neben ihr, bleibt skeptisch. Lieber verweist er darauf, dass die Bäume am Ruheberg zumeist Buchen seien, die bis 5 oder 600 Jahre alt werden. Das - denkt man, müsste einem als Leiche reichen. Die Ruhezeiten hier sind insgesamt länger und preiswerter als auf einem normalen Friedhof, und ohnehin wird es so sein, dass irgendwann einmal die Urne und ihr Inhalt verfallen sind und das Grab verloschen. Unter den Spaziergängern, die den Wald mit aufmerksamen Blicken mustern, entwickeln sich Gespräche. Da ist ein Paar, vielleicht Mitte vierzig, bei dem man glaubt, die Frage des letzten Platzes hätte noch ein wenig Zeit. Oton Sie Als Bürger von Oberried möchte ich einfach auch für unseren Tod sehen, was hier angeboten wird, weil wir halt einfach befürchten, dass die Gräber verlassen sind weil keine - wir haben zwar Kinder, aber die vielleicht in der Weltgeschichte rumreisen und die Gräber nicht pflegen und hier oben ist das alles so ohne diesen Pomp und das denke ich wird einfach die schönere Vorstellung wie ein Grab zu haben, was halt ungepflegt ist und wo sich keiner drum kümmert und dann denke ich auch sind es die Kosten, die enorm sind. Autor Und die Vorstellung, dass man nach einigen Jahren im Waldboden verschwunden ist, Teil der Natur, Biomasse? Oton Er Nee, das würde ich nicht so sehen, denn es stehen ja immer noch Schilder am Baum, dass man den Namen und auch den Todestag oder das Geburtsdatum dokumentiert, man kann , wenn man es wünscht, wieder diesen Menschen aufsuchen und das ist ja für mich das Entscheidende, dass man nicht wie in einem anonymen Grab einfach weg ist, verschwunden ist von der Welt, sondern das man immer noch identifizierbar ist und wer den Wunsch hat, diese Nähe aufzusuchen, dass auch kann. Autor Oder so: Oton Anderer Mann Ich musste immer mit meiner Tante auf den Friedhof gehen, wo nur Tote sind, und für mich ist der Tod nur eine Übergangsphase, das ist so eine innere Einstellung und ich fand es toll, wenn ich an einer Buche bin und da sind Bucheckern und die Enkel kommen, dann können sie mit den Bucheckern was basteln, so stell ich mir das einfach vor, da bleibt man auch lebendig. Also, ich mag nicht tot sein, nee. Autor Dann ist noch ein Paar dabei, offenbar Vater und Tochter. Der alte Herr geht langsam und unsicher am Arm seiner Tochter. Ein rührendes und in dieser Umgebung auch mahnendes Bild. Auch wenn für die meisten der hier Anwesenden der Tod eine Erfahrung sein dürfte, die - wenn alles nach der Natur geht - erst am Ende einer noch langen Zeitachse auf sie wartet, fühlt man sich doch aufgefordert, darüber nachzudenken, dass alles einmal zu Ende geht. Oton (Sie) Für mich persönlich finde ich es absolut attraktiv. Ich finde es klasse, dass hier jeder gestatten kann mit der Zeremonie, was er oder sie will und so würde ich mir das auch wünschen. Autor Und dann die Frage an den alten Herren: Wäre das was? Oton Alter Herr Ich kann mich ihr nur anpassen (korr.) anschließen. Denn ich bin ein Naturmensch und in der Natur schlafen irgendwann einmal finde ich gar nicht so schlecht. MUSIK 4 Titel: Always look on the bright side of life Komponist: Eric Idle Interpret: Monty Python Verlag: Koch Universal, LC 00116 Atmo Küche Autor Bernd Maier ist hochgewachsen und schlank, man sieht ihm an, dass professionelles Kochen, vor allem für siebzig Gäste gleichzeitig, so etwas wie Hochleistungssport ist. Wie eine indische Gottheit wirbelt er mit - wie es aussieht - sechs bis acht Armen in der kleinen Küche umher. Bernd Maier vom "Goldenen Adler" in Oberried gehört zur Vereinigung der so genannten "Naturparkwirte". Oton Maier Also Naturparkwirte machen sich zur Aufgabe, mit den Produkten der Region zu arbeiten, d.h. die heimische Landwirtschaft zu unterstützen. Atmo Küche Autor Im Rahmen der Alemannischen Woche findet in Oberried eine Weinprobe statt. Weinprobe heißt in diesem Fall, es gibt ein ausladendendes Abendessen mit Schweinebäckle auf Berglinsen, Oberrieder Rehkeule auf Apfelrotkraut und Crème brulée mit Zwetschgenkompott. Zu jedem Gang gibt es drei Weine zur Verkostung, die von einem Weingut circa zwanzig Kilometer nördlich von Freiburg stammen. Oton Der Hintergrund ist der, dass wir mit den Bauern im gleichen Boot sitzen, weil die Gäste kommen, weil der Schwarzwald schön attraktiv ist und nicht alles zuwächst, und die Bauern haben ja auch schwierige Bedingungen im Vergleich zu den Großflächen in Ostdeutschland, und dadurch muss man auch schauen, sehr viele hören auf und wenn man sie ein bisschen stützt, dann machen sie ihre Arbeit weiter zur Pflege der Landschaft. Autor Naturschutz mit Messer und Gabel lautet der Slogan der Naturparkwirte. Denn die Konzentration der Lebensmittelproduktion auf immer größer werdende Herstellerbetriebe und Vermarktungskonzerne bedroht nicht nur die Qualität der Lebensmittel, sondern auch den Erhalt der Landschaft. Ein Blick aus Bernd Maiers Küche - und man weiß, wovon die Rede ist. Oton Wir zum Beispiel kaufen noch viele Tiere direkt bei den Bauern und lassen sie dann schlachten und die kommen direkt zu uns. Und dann weiß ich, das Tier ist nicht durch halb Europa transportiert worden, dass es direkt von der Gegend ist und wie es aufgewachsen ist und im Prinzip meisten Mutter-Kuh-Haltung gemacht, d.h. die Rinder sind mit ihren Kälbern auf der Weide und die Kälber kriegen nur die Muttermilch und das Gras und sonst nichts und (das sieht man ja, wenn man rumfährt und) nicht irgendwie künstliches Futter oder Hormone oder sonst was. Atmo Gaststube Autor Der Gastraum im "Goldenen Adler" wirkt gediegen und alt. Das Hotel und Restaurant ist schon seit fünf Generationen im Familienbesitz, der riesige Kachelofen dürfte auch alle fünf gesehen und gewärmt haben. Ein Naturparkwirt bietet mindestens drei Hauptgerichte aus regionalem Anbau ganzjährig an, damit verpflichtet er sich, die Hauptzutaten aus der unmittelbaren Umgebung zu beziehen. Atmo Pökelmaschine in der Schlachterei Autor Bernd Maier hat Besorgungen zu erledigen, unter anderem bei Peter Reichenbach. Noch rattert die Maschine, mit der das Fleisch gepökelt wird, eine Verständigung ist nicht möglich. Atmo Maschine aus Autor So geht's. Bislang war in Oberried der Weg des Tieres vom Bauernhof zur Schlachtung angenehm kurz, die Tiere blieben ruhig und starben - so makaber es klingt - einen friedlichen Tod. Und das war gut so - nicht, weil Peter Reichenbach ein so tierliebender Mensch ist, sondern weil seine Kunden gutes Fleisch von ihm kaufen wollten. Oton Reichenbach Die Tiere müssen ruhig sein, wenn sie zum Schlachthof kommen, sie dürfen nicht aufgeregt sein, sonst steigt der Säuregehalt im Fleisch und da baut sich, wenn man das Fleisch abhängt, baut sich der Säuregehalt wieder ab. Wenn das Vieh gestresst ist, dann bleibt der Säuregehalt oben, und dann wird das Fleisch nicht mürbe, dann geht es praktisch vorher kaputt, bevor es zart ist. Autor Annegret nimmt Rücksicht auf ihre zarte Seele und verlässt die Schlachterstube. Um sich abzulenken, inspiziert sie auf dem Hof den Kühlanhänger, den Peter Reichenbach gekauft hat. Annegret hat sich noch nie für Kühlanhänger interessiert, aber ein Kühlanhänger in der Sonne ist immer noch besser als kaltes Fleisch in einem gekachelten Schlachtraum. Oton Reichenbach Früher durfte ich schlachten in einem Raum und nach der Schlachtung musste ich den Raum reinigen, desinfizieren, musste das Ganze dokumentieren und dann durfte ich weiterarbeiten im selben Raum. Autor Im Januar 2010 ist ein neues Hygienegesetz in Kraft getreten. Ab jetzt wird verlangt, dass die so genannten unreinen Vorgänge des Schlachtens, also Töten, Enthäuten und Teilen der Tiere, in einem Raum stattfinden, die Weiterverarbeitung in einem getrennt anderen. Oton Reichenbach Jetzt hab ich praktisch einen Betriebsraum zu wenig und ich kann nirgends anbauen, das ist unmöglich, für uns kommt nur in Frage, entweder Betrieb einstellen und aufhören oder die Schlachtung auslagern. Das haben wir jetzt gemacht. Autor Vielleicht hätte die Behörde dem Betrieb von Peter Reichenbacher auch einen Bestandsschutz aussprechen können, zumal es ja nie Gründe für Beanstandungen gegeben hat. Aber die Behörde, vertreten durch eine Vegetarierin, hatte sich entschlossen, nach den Buchstaben des Gesetzes zu verfahren. Also fährt Reichenbach jetzt die Tiere zum Schlachthof nach Freiburg, lässt sie dort schlachten und holt dann die zerlegten Tiere zur Weiterverarbeitung in seinen Betrieb nach Oberried. Die Idee von der stressfreien Schlachtung hat sich damit erledigt. Das lokale Handwerk wird behindert und der Großbetrieb macht das Geschäft - sinnvoll erscheint das nicht. Und dass das Fleisch leidet, bestätigt Koch Bernd Maier: Oton Maier Ja, man schmeckt das schon, weil zum Beispiel viele Großhandelsketten, da kriegt man das Kalbfleisch, das ist ja immer beschriftet, und wenn man so einen Zettel mal liest, dann steht da immer: Geburt Deutschland, Aufzucht Holland, Schlachtung Holland, Zerlegung Deutschland. Also, wenn ich jetzt ein Tier bei Bauern kaufe, dann weiß ich, dass es nicht diesen Weg hinter sich hat. Autor Annegret lehnt im Sonnenschein am Kühlanhänger und überlegt, ob sie nicht Vegetarierin werden sollte. Und was ihre Freundinnen dazu sagen würden. MUSIK 5 Titel: A hard rain's gonna fall Komponist: Bob Dylan Interpret: Melanie Verlag: Deshima, LC 03891 Autor Es ist ein wunderschönes Spätsommerwetter, blau der Himmel, durchzogen von den Kondensstreifen hochfliegender Flugzeuge. "Das ist der Oma-Sommer", sagt Annegret, die den Begriff "Altweiber- Sommer" diskriminierend findet. Es liegt also ein milder, herzlicher Oma-Sommer-Tag über dem Schauinsland. Auf der Bergstation sitzen die Spaziergänger in der Sonne. Männer trinken schon vormittags Alkohol. Ihre Frauen werden sie nach Hause fahren. Mountainbiker aus Freiburg, die sich den Berg hochgequält haben, eilen kurzatmig zum Tresen und bestellen große Mineralwasser. Dann große Biere. Sekretärinnen tragen zur weißen Bluse und grauen Flanellhose kleine Rucksäcke, um ihre Verbundenheit mit dem Leben in der freien Natur zum Ausdruck zu bringen. Kurzum, ein wunderbarer, sonniger Sonntag wölbt sich über dem Breisgau und es gibt überhaupt keinen Grund, unter die Erde zu gehen. Oder vielleicht doch? Annegret wüsste nicht, warum sie jetzt ausgerechnet in einen Stollen soll, wo es wahrscheinlich nass und kalt ist, aber sie gibt nach. Wir setzen rote Helme auf, stolpern über Schienen in den Stollen und treffen auf Götz Baumeister. Atmo Wasser tropft auf Wellblech Autor Götz Baumeister ist ein Mann in den 60igern, groß, schlank, grauer Vollbart und angetan mit einer derben, weißen Kluft. Wie wir alle trägt er einen Plastikhelm, aber er hat noch ein bergmännisches Licht aufgesteckt. Atmo im Folgenden die Tropfen auf dem Blech, wann immer es passt. Oton Götz Welcome in the largest mine in Germany. Wir sind ungefähr 1000 Jahre alt, 800 Jahre können wir nachweisen, können sie besichtigen, wir haben hier Silber und Blei gefördert, auch noch ein bisschen - jetzt fällt's mir grade nicht ein: Zinkblende, aber das war nicht so wichtig im Mittelalter, mit dem Silber haben sich die Freiburger ihr Münster gebaut, und das sehen sie auch hier mit den wunderschönen Bildern, wenn sie reinkommen im Münster auf der rechten Seite: Bergleute. Autor Annegret ist an Silber, solange es noch im Gestein steckt, wenig interessiert. Draußen scheint die Sonne, flüstert sie. Hier drinnen ist es kalt, da hat sie Recht, ununterbrochen tropft Wasser von der Decke. Götz Baumeister erläutert den Besuchern, dass im Mittelalter die Bergleute freie Unternehmer waren, die von ihrem Ertrag 10% abliefern mussten. Mehr als 10% erlaubte das biblische Zinsverbot nicht. Für die Regierenden war das keine befriedigende Lösung. Also ließen sie die Bergleute 10% zahlen: 10 für den König, 10 für die Königin, 10 für den Hofmarschall, 10 für den Bischof und so weiter: Am Ende waren 60% der Schinderei unter Tage in den Taschen anderer Leute gelandet. Oton Baumeister Um 1875 wurde diese Maschine hier entwickelt, jetzt brauch ich einen starken Mann, der zuhause eine Waschmaschine hat. Warum eine Waschmaschine? Er soll diese Maschine mal ein bisschen heben. - Sie kommen mir stark vor, oder...Wollen sie die mal heben? Ist ein bisschen leicht schwerer als ihre Waschmaschine (Joh, isses schon) Aber ich habe ihnen ja gesagt, es wird an der Decke abgebaut. (Gelächter)...Also acht Stunden an der Decke - (Puuh!) - Also die Antwort: Puuh! Puuh! bedeutet Nein! Autor Nicht einmal für 100 % Gewinn würde dieser Mann den Pressluftbohrer acht Stunden an die Decke stemmen. Dann wird er uns vorgeführt, die Kinder halten sich die Ohren zu und Annegret schaut sich um nach einem Fluchtweg. Oton Baumeister Die Maschine hat zwei Vorteile und zwei Nachteile. Den ersten Vorteil sehen sie sofort (Lärm) oioioi, findet ihr nicht, dass ich ein toller Kerl bin? Wenn ich jetzt nach Hause komme, nach einer Schicht, leg mich hin und ein Glas Wein in die Hand und meine Frau sagt, der Müll muss runtergebracht werden: Ich bin Bergmann, ich höre auf dem Ohr nicht (Gelächter) - also die Bergleute wurden schwerhörig. Autor Die Maschine machte es möglich, große Mengen Gesteins abzusprengen. Dadurch entstand ein zeitliches Missverhältnis: Mit dem pressluftbetriebenen Rüttelbohrer konnte der Bergmann in kurzer Zeit viel Gestein, und also auch viel Silber, aus dem Felsen lösen, aber dann brauchte er unverhältnismäßig lange, um das Material zum Transport auf die Lore zu schaufeln. Götz Baumeister führt uns einige Meter weiter. Dort stehen auf einem schmalen Gleis eine hüfthohe, gelbe Maschine und noch eine Lore dahinter. Oton Baumeister Ich führe die Maschine jetzt wieder vor. Sie können sich jetzt wieder die Ohren zuhalten. (Zweimal Einsatz der lauten Maschine) Diese Maschine schafft in der Stunde 35 Kubikmeter, d.h. jetzt ist der Chef gekommen, hat einen Bleistift genommen und hat gerechnet und hat gesagt, da sind ja fünf Bergleute zuviel, und die kriegten dann am Monatsende den blauen Brief...Das war die erste Entlassungswelle zusammen mit der Automatisierung in den 50/60er Jahren... Diese Modernisierung hat dem Bergbau hier das Genick gebrochen, weil jetzt diese unheimliche Technik, die eingesetzt wurde, bedeutete, dass der, der hier schnell bohrt und der, der hier schnell wegräumt, zusammen müssen sie ungefähr 300 oder 500 000 Euro Umsatz machen und wenn nicht, dann machen wir das Bergwerk zu. Und das haben wir bereits 1954 gemacht. Atmo Stollen und Wasser abblenden Autor Gott sei Dank, flüstert Annegret, dass hätte viel früher passieren sollen. Nichts wie raus hier. Wir gehen, haben aber nachzudenken: Ausgerechnet die dem Menschen weit überlegene Produktivität der Maschine machte das ganze Bergbauunternehmen im Schauinsland sinnlos. Und: Ist das vielleicht ein Trend für die Zukunft? Immer mehr Computer und Roboter, immer weniger zu tun, immer sinnlosere Unternehmungen? Werden auch wir eines Tages neben die alten Maschinen in die aufgelassenen Bergwerke gestellt, als Anschauungsmaterial für die intelligenten Roboter, die unsre Welt übernehmen werden. Junge Roboter besuchen auf Klassenfahrt die Silbergrube. So sahen die Maschinen aus, werden die alten Roboter sagen, und so die Menschen, die damit gearbeitet haben. Und wo sind die Menschen geblieben? werden die jungen Roboter fragen. Die haben es gut, werden die alten Roboter antworten, die liegen da drüben unter den Bäumen auf dem Ruheberg und haben ihren Frieden. Und dann werden die Roboter auf Klassenfahrt zum Barbarastollen fahren, in alten Mikrofilmen blättern und sehen, was für eine Kultur diese Menschen gehabt hatten. Annegret mag keine düsteren Gedanken. Sie steht in der Spätsommersonne und wärmt sich auf. MUSIK 6 Titel: Raindancer Komponist: Grant Geissman Interpret: Retail Verlag: Teldec, LC 03706 Autor Die letzte Station unserer Reise zum verborgenen Gedächtnis unserer Nation. Wir fahren fast zwei Kilometer in ein enges Tal hinein. Es geht vorbei am bungalowartigen Vereinshaus des Tauziehclub Eschbachtal e.V. Annegret möchte wissen, ob Tauziehen für Männer ein anspruchsvoller Sport sei. Etwa so wie Hinsetzen-und-Bier-trinken. Aber die Frage kann nicht abschließend entschieden werden. Das Tal wird immer enger wie ein Flaschenhals, die Straße führt immer höher hinauf und dann liegt rechts der kleine Berghof von Roswitha Dold. Als der Wagen ausrollt, ist eine Katze nicht glücklich über die Besucher, weil sie eine sicher geglaubte Maus verscheucht haben. Bis auf uns ist es sehr ruhig hier. Oton Dold Ich find das ist relativ, die Nachbarn wohne ja auch noch obe dran, gut bei uns sieht man jetzt nicht direkt die nächsten Nachbarn vom Hof her, aber die lebe ja au relativ abgeschieden, aber die sind ständig belegt, auch mit Fremdenverkehr und so also der Platz hier ist wunderschön und wird halt gern besucht. Und die Leut, die mal da waren, die kommen gern immer wieder. Und ich selber auch, ich war auch fort und bin gern wieder zurückgekommen, es war ganz klar, es war nirgends schöner als hier. Autor Roswitha Dold ist etwas unter mittelgroß, trägt lange, schwarzgraue Haare, und kleidet sich ländlich-unaufwendig. Sie ist Liedermacherin. Von Dieter Bohlen hätte sie wohl keine Gnade zu erwarten, aber andererseits wäre Roswitha Dold an dem Urteil eines Bohlen wohl kaum interessiert. Roswitha Dold dichtet und singt in alemannischer Sprache. Aber zunächst einmal wagte auch sie in den 70er Jahren den großen Ausbruch, reiste durch die Mittelmeerländer und durch Deutschland. Oton Dold Ich bin dann wieder zurückgekommen und hab dann meinen Mann kennen gelernt und wir haben dann hier die Landwirtschaft weiterbetrieben und ja auf unsere Art und Weise - Lebenskünstler - wissen wir den Wert zu schätzen, den Freiheit hat. Autor Wir gehen hinter das Haus auf die Veranda in der Abendsonne. Die Katze nimmt ihren Platz auf dem Fensterbrett ein. Ein dicker Hund versucht, sich mit Annegret anzufreunden, aber die zieht es vor, sich der Katze zu nähern. Später erfahren wir, dass der dicke Hund mutig die Hühner gegen den Habicht verteidigt, was man ihm rein körperlich nicht zugetraut hätte. Die Hänge vor der Veranda sind ungefähr 45 Grad steil, wenn sie hier grasen wollte, müsste sich sogar eine Ziege anseilen. Oton Dold Ich hab 30 Jahre lang hochdeutsch geschrieben, zu politischen und umweltpolitischen Themen und dann Feminismus, war mir noch ganz wichtig, das war in den 80er ... und dann nach dieser feministischen Phase war die innere Reife da, dass ich meine eigenen Wurzeln aufarbeiten, in dem ich dann angefangen habe, alemannisch zu schreiben, es ging vorher gar nicht. Ich habe das manchmal probiert, aber ich konnte es nicht. Autor Roswitha Dold empfindet das Nebeneinander von Hochdeutsch und Alemannisch wie eine Zweisprachigkeit - auch dem geübten Sprecher fällt der Wechsel von der einen Mundart in die andere Mundart nicht leicht. Und dass ist vielleicht auch der Grund dafür, dass Alemannisch immer mehr aus dem Gedächtnis der Menschen verschwindet. Oton Dold Also die wenigsten Leute möchten, dass ihre Kinder das Alemannische sprechen, weil sie Angst haben, dass die Kinder Nachteile dadurch kriegen, erstens dass sie ausgelacht werden, dass sie vielleicht nicht so firm sind oder dass sie in der Schule Probleme kriege Musik 7 Titel: S schmeckt nu Herbst Komponist / Interpret: Roswitha Dold Adresse: Hilzihäusle Scherlenzendobel 5, 79252 Eschbach im Schwarzwald Oton Dold Im Alemannischen funktioniert es in sofern besser, als ich mehr Ausdruckmöglichkeiten hab, weil es gibt Ausdrücke im Alemannischen, de viel mehr transportiere an Fülle. Wenn ich zum Beispiel in meinem Lied sing "Es schmeckt no Herbst" dann transportiert es im übertragenen Sinn und im direkten Sinn. Das kann man ja nicht direkt übersetzen: "Es schmeckt nach Herbst" ist komisch, Musik Dieses Lied von CD, dann wegblenden, darüber Oton Dold ... wenn die Spinne in ihrem Netz schaukelt oder man sieht dann, die Blüte ist fast verwelkt, aber die Biene kommt noch und saugt - sugt, die immle suget, .... suge, das sagt man ja auch nicht im Hochdeutsche, das sind einfach so wärmere Begriffe, die Sprache ist einfach wärmer, lebendiger (Hund bellt) Musik Weiter Lied von CD wechselt über in Schlussmusik Sprecher v. Dienst: Das verborgene Gedächtnis der Nation Oberried im Südwesten Baden-Württembergs Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt mit Paul Stänner. Ton: Borris Manych Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2010 1