COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 19. April 2010, 19.30 Uhr Leicht gesagt, schwer getan - Erziehung zur Demokratie Von Hannegret Biesenbaum O-1-Kinder Ich finde es auch interessant an der Politik, das geht ja uns auch was an. Ich meine jetzt, wenn Kinder jetzt Politiker wären, würde ja auch viel mehr für uns gemacht werden. - Also es geht ja auch um die Schulen, ob die Schulen jetzt erneuert werden oder so was, und dann könnten wir da auch mal bisschen mitbestimmen und so, aber das dürfen wir ja eigentlich nicht. O-2-Pankow Es ist für mich ganz wichtig, dass ich für die Schüler ein relativ klares Regelwerk erstelle ..., ein Korsett, in dem sie lernen müssen, sich zu bewegen ... Das Ziel ist natürlich, dieses Korsett immer größer werden zu lassen, die Schüler damit einzubinden, an der Veränderung des Regelwerks teil zu haben und sie dann zu Menschen zu erziehen, die demokratischen Ansprüchen genügen. Spr. vom Dienst Leicht gesagt, schwer getan - Erziehung zur Demokratie Eine Sendung von Hannegret Biesenbaum Autorin Kinder möchten in der Schule mitreden und mitentscheiden können. Für die Lehrer ist das oft eine Gradwanderung. Welches ist das richtige Alter? Wo liegen die Grenzen, wo die Möglichkeiten? In den letzten Jahren gibt es zunehmend Veröffentlichungen und Veranstaltungen zu dem Thema. Eine der wichtigsten: das Programm "Demokratie lernen und leben", das fünf Jahre lang von Bund und Ländern gemeinsam getragen wurde. In der Folge sind zahlreiche Projekte und Netzwerke zur Demokratieerziehung in den Schulen entstanden, unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik, kurz DeGeDe. O-3-Edler Das kommt daher, dass die Schule in der demokratischen Republik nicht unbedingt eine Schule der Demokratie ist und dass es offensichtlich nicht ausreicht, über Demokratie zu unterrichten, sondern dass man Kindern und Jugendlichen in der Schule die Gelegenheit geben muss, Demokratie auszuprobieren. Autorin Kurt Edler, Vorsitzender der DeGeDe. O-4-Edler Dazu gehört allerdings auch, dass man sie als ganze Menschen wahrnimmt und respektiert. Die Schule ist immer in Gefahr, den jungen Menschen zu einseitig, nur unter dem Gesichtspunkt des ,Schülers' zu betrachten. Autorin Die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik geht davon aus, dass Demokratie mehr umfasst als Wahlen, Parlament oder Verfassung. Demokratie ist nicht nur eine Regierungsform, sie ist eine Gesellschafts- und vor allem eine Lebensform, an deren Gestaltung alle Betroffenen beteiligt sein sollten. O-5-Edler Wir müssen überhaupt aufpassen, dass wir keinen zu engen Begriff von Demokratie benutzen. Demokratie in der Schule heißt nicht, dass dauernd Mehrheiten abstimmen und Minderheiten sich fügen müssen. Das wäre übrigens auch keine sehr gute Demokratie, wenn das das einzige wäre, was Demokratie ausmacht. Sondern dass ein Spielraum da ist für eine selbstständige Entwicklung und dem Kind die eigene Sicht nicht ausgeredet wird. Autorin Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Schließlich hat die UN-Kinderrechtskonvention schon vor zwanzig Jahren dem Kind das Recht zugesichert, eine eigene Meinung zu äußern und bei Dingen, die es selbst betreffen, mitzusprechen. Doch die Wirklichkeit, sie ist nicht so. Kurt Edler ist überzeugt, ... O-6-Edler ...dass in den meisten unserer Schulen das in den richtig wesentlichen Angelegenheiten noch nicht der Fall ist. Denn die wesentlichen Angelegenheiten entscheiden die Erwachsenen allein. Autorin Die Erfurter Gymnasiasten Fabian und Jonas sind in der Beurteilung der Situation gespalten. Einerseits bemängeln sie das fehlende Gleichgewicht. O-7-Fabian/Jonas Das ist oft eine Schwierigkeit, da die Struktur, die normalerweise herrscht, impliziert, dass der Lehrer gewissermaßen über dem Schüler steht. Und das ist eine Beziehung, an der man, glaube ich, noch arbeiten muss, da oft in solchen Fällen, denke ich, die Meinung der Lehrer am Ende doch die ist, die durchgesetzt wird. Autorin Da bleibt eigentlich nur ein geschicktes Taktieren. O-8-Fabian/Jonas Also die einzige Chance, so was aus dem Weg zu gehen oder mit so was zu arbeiten, ist, auf eine respektvolle Art und Weise, mit Lehrern und mit der Schulleitung zusammen zu arbeiten, und dann denke ich auch, dass die Lehrer und die Schulleitung sich dann auch mal sagen, gut, sie haben bis jetzt sehr gut mit uns zusammen gearbeitet, dann können wir das auch mal durchgehen lassen, und dann machen wir das auch mal. Ich denke, das ist der einzige Weg, wie man so was erreichen kann - das, was die Schülervertretung will oder die Klassensprecher, das auch durchzusetzen. Autorin Andererseits meinen die beiden Schüler, ... O-9-Fabian/Jonas dass man auch mal Gehorsam zeigen muss, und das muss man auch lernen, dafür sind solche Situationen auch sehr wichtig. Autorin Hinzu komme der Wissensvorsprung des Lehrers gegenüber dem Schüler. O-10-Fabian/Jonas Und in diesem Sinne ist, glaube ich, auch wichtig zu erkennen, dass ein Lehrer vielleicht Erfahrung schon gemacht hat und Wissen hat, das man selber mit seinem eigenen Blickwinkel gar nicht unbedingt bewerten kann. Und das ist, denke ich, eine sehr, sehr wichtige Erfahrung, dass natürlich die eigene Meinung nicht immer die richtige und wichtigste sein kann, sondern dass es eben viele verschiedene Meinungen gibt, die berücksichtigt werden müssen. Autorin Was gegenseitiger Respekt wirklich bedeutet, erleben junge Leute oft erst außerhalb der Institution Schule. So wie Ahmet, Hussein, Michele und Rima, die in Berlin an einer Afghanistan AG teilnehmen, organisiert von dem pensionierten Lehrer Heiner Hütsch. O-11- Ahmet/ Hussein/ Michele/ Rima - Ich bin jetzt einen Monat dabei. Und mir ist extrem aufgefallen und was auch wirklich, finde ich, super hier ist, wo jeder wirklich seine Meinung oder seinen Satz dazu sagt, wo man einfach richtig erkennt, dass die Gruppe auf einer Augenhöhe ist... Und ja, da habe ich einfach richtig erkannt und war richtig erstaunt, wie die Gruppe hier insgesamt einfach harmoniert. - Wir sind hier mit Herzen dabei, und machen das alles wirklich gerne und jeder kann sich auf jeden verlassen, - und unser Lehrer ist, glaube ich, nicht mehr für uns ein Lehrer, sondern eher ein Freund, und wir machen das alles demokratisch, damit jeder damit einverstanden ist, was wir überhaupt machen, und jeder hat natürlich das Sagen, alle haben gleiche Gewichte. - Also mir wird das hier nie langweilig, weil es halt immer neue Dinge gibt, immer neue Dinge, die man besprechen kann, und immer neue Themen auch. - Wir planen zusammen gemeinsame Planung und Zielbestimmung, ja, hier habe ich auch sehr viel von Demokratie gelernt, und hier habe ich auch das erste Mal das Wort gehört von meinem Lehrer, und Demokratie ist ja nicht nur, wenn man jemanden hilft, Demokratie ist ja auch, wenn man für sich selber etwas macht. Autorin Anderen helfen, meint Ahmed, kann zur eigenen Zufriedenheit beitragen. Die Afghanistan AG ist dafür das beste Beispiel. In etlichen Aktionen und Projekten haben die jungen Leute auf die Not der Menschen in Afghanistan aufmerksam gemacht und Spendengelder gesammelt. O-12- Ahmet/ Hussein/ Michele/ Rima Wir in der AG sind für die Kinder in Afghanistan da, wir haben eine Schule gebaut, und ich muss wirklich sagen, dass wir auch wirklich was Großes bis jetzt geschafft haben. Dort herrscht ja, wie wir alle schon wissen, keine Demokratie, keine Gerechtigkeit, und so haben wir auch uns überlegt, dass - die Schule ist eigentlich eine Mädchenschule. Und wir haben uns überlegt, dass Jungen und Mädchen drauf gehen können, und somit habe ich Demokratie dort gelernt und Gerechtigkeit, dass einer für alle, und alle für einen da sein muss. Autorin Und ganz nebenbei gewinnen die Jugendlichen einen Blick für die Mängel in unseren eigenen Verhältnissen. Denn Heiner Hütsch, Organisator der Afghanistan AG und väterlicher Freund der jungen Leute, ist einer, der den Dingen gern auf den Grund geht. O-13-Hütsch Ich habe eine Frage an euch alle: Die SV in der Schule ist ja eine Institution, damit Schüler Demokratie lernen. Autorin "SV" steht für Schülervertretung. In manchen Bundesländern heißt sie auch Schülermitwirkung, Schülermitverantwortung oder Schülermitverwaltung. Der Name sollte eigentlich Programm sein. O-14-Hütsch/junge Leute Hütsch: Die SV hat ja die Aufgabe, Entscheidungen mit zu fällen, dann in die Klasse zu tragen und dann das Votum der Klasse zu holen, damit alle mit betroffen sind in dem Entscheidungsprozess. Stimmt das eigentlich, läuft das tatsächlich so? Schüler: Die Schülersprecher tragen eigentlich von vielen anderen Kindern, zum Beispiel bei mir in der Klasse, alle Beiträge zu mir, ich schreib die alle auf, zum Beispiel, dass wir auch bei uns in der Schule eine Afghanistan-AG gründen möchten, dann somit leiten die weiter an unseren Direktor, und Direktor entscheidet dann, ob er einverstanden ist oder nicht. - Hütsch: Der Direktor entscheidet. - Schüler: Ja, der Direktor. Also der Direktor. - Hütsch: Das ist dann Demokratie. - Lachen - Schüler: Also so, sozusagen. - Lachen. O-15-Horn Nur weil es eine Schülervertretung gibt, heißt es halt aus meiner Sicht noch lange nicht, dass die auch funktioniert, ... Autorin ... bestätigt Katharina Horn. Die 22jährige Studentin aus Kassel ist im SV-Bildungswerk aktiv. Der Verein aus meist ehemaligen Schülervertretern hat sich zur Aufgabe gemacht, Demokratie und Partizipation in der Schule zu fördern. O-16-Horn Eine Schülervertretung, die nicht zu Konferenzen eingeladen wird, beispielsweise zu Lehrerkonferenzen, aber auch zu Schulkonferenzen, oder auch so gar nicht vorbereitet werden, also wenn sie eingeladen werden und dann irgendwelche Anträge bekommen als Siebtklässler, und damit überhaupt nicht umgehen können, und nicht wissen, was ist denn Ganztagsschule überhaupt, ich soll jetzt darüber abstimmen, dass unsere Schule eine Ganztagsschule wird, aber über was stimme ich da denn jetzt eigentlich ab, dann ist das ja keine Partizipation in der Art, dann ist das eher eine Pseudopartizipation, ja. Autorin Partizipation setzt Wissen voraus. Das SV-Bildungswerk bietet deshalb verschiedene Projekte an, um Jugendliche mit schulrelevanten Themen vertraut zu machen. Eins davon ist das SV-Beraterprojekt, ein bundesweites Netzwerk aus rund 200 jungen Leuten. O-17-Horn Die gehen selbst aktiv an Schulen, nennen sich SV-Beraterinnen und SV-Berater, werden von uns methodisch weitergebildet und sprechen dann mit den Schülerinnen und den Schülern, also nicht nur mit der Schülervertretung, über Rechte in der Schülervertretung oder über Möglichkeiten, eine demokratische Teilhabe am Schulleben zu gestalten und zu verbessern. Autorin Vielen Schulen fällt es einfach aus Zeitgründen schwer, Schülerpartizipation im Alltag Wirklichkeit werden zu lassen. Übersehen wird dabei oft, sagt Katharina Horn, dass Demokratieerziehung von nachhaltiger Bedeutung auch für das Leben nach der Schulzeit ist. O-18-Horn Wenn ich mich mit Schülervertretern oder ehemaligen Schülervertretern unterhalte, haben die ein ganz, ganz anderes Auftreten als Personen, die nicht wirklich soviel Demokratiepädagogik, Demokratielernen in der Schule erfahren haben, weil sie können viel einfacher Referate vorbereiten und haben viel mehr Kompetenzen, die sie einfach mitnehmen und ich denke halt, dass das ganz wichtig ist für das Schulleben, auch Demokratie zu lernen und zu leben und dass dann halt später zu übertragen. Autorin Doch so wichtig die gesetzlich verankerte Schülervertretung auch ist - wirklich aktiv werden hier nur einzelne. Demokratische Teilhabe am Schulleben aber bedeutet weit mehr. Hier sollen Entscheidungen nicht an Klassensprecher oder Schülervertreter delegiert werden, sondern jede Schülerin, jeder Schüler ist gefordert, Demokratie zu lernen und zu leben. Das geeignete Gremium sei hier deshalb - eher als die Schülervertretung - der Klassenrat, meint Katharina Horn. Der ist zwar nicht gesetzlich vorgeschrieben, bezieht aber alle Schüler ein. O-19-Horn Ein Klassenrat ist ein Gremium, in dem sowohl über Probleme von einzelnen Personen, aber auch über schulinterne Dinge, also Entwicklung zur Ganztagsschule beispielsweise diskutiert werden kann. Autorin Doch es müssen nicht nur Probleme sein, es darf auch um Erfreuliches gehen. Ausschlaggebend ist: Die Schüler selbst entscheiden, welche Punkte auf der Tagesordnung stehen. O-20-Horn Am Sinnvollsten sollte dieses Gremium halt einmal pro Woche statt finden, der Lehrer nimmt daran ganz normal teil, der Klassenlehrer dann in dem Fall. Autorin Der hier aber keine leitende Funktion hat. O-21-Horn Er ist eher Beobachter und ist Teil dieser Gruppe und moderieren tut es dann halt ein Schüler, Protokoll führen tut ein Schüler oder eine Schülerin, dann gibt es noch jemanden, der Zeitwächter ist und sagt, jetzt haben wir schon zehn Minuten über den einen Punkt diskutiert, wollen wir denn jetzt nicht mal einen Beschluss fassen, und in diesen ganzen Rollen kann man ja sehr viel lernen, was man im normalen Unterricht eigentlich gar nicht so praxisnah erlernen kann. O-22-Kinder Also in meiner Klasse, da haben wir auch so was wie einen Klassenrat, ... also wir haben das alle zwei Wochen am Montag. Und da sagen wir auch, was uns nicht gefällt, und was uns gefällt, und was wir den andern Kindern vorschlagen wollen, dann stimmen die auch manchmal ab, was die machen wollen. Autorin Caroline und Janick, Nicolas und Pia gehen in die Europa-Schule-Erfurt. Der Klassenrat ist für die Grundschüler längst eine Selbstverständlichkeit. O-23-Kinder Also bei der Klassenfahrt zum Beispiel, da mussten wir auch abstimmen, weil dann gab's zwei Kinder, die mussten wir leider nach Hause schicken, und da mussten wir mit der ganzen Klasse abstimmen, ob wir die nun nach Hause schicken, oder ob wir die noch bei der Klassenfahrt behalten. Da ging es darum, da hat zum Beispiel ein Kind was geklaut, also Süßigkeiten, das ist schon bei ihm mehrmals vorgekommen, dass er was geklaut hat, nicht nur einmal, sondern zwei-, dreimal, dass es vorgekommen ist, und dann, ja, das war eben so schlimm, und dann mussten wir ihn nach Hause schicken. Autorin Ihre Freizeit vor und nach dem Unterricht verbringen die Kinder meist im Hort. Auch hier gibt es analog zum Klassenrat einen Hortrat. O-24-Kind Bei uns ging das einmal so, unser Stellvertretender, der hat in der Toilette so Papierhandtücher, so kleine Dinger, an denen man sich die Hände abwischt, die hat der genommen und hat die nass gemacht und hat die an die Decke geworfen. Da mussten wir auch überlegen, ob wir den noch im Hortrat lassen und - weil es bei ihm nur einmal aufgekommen ist und einmal, da ist das ja nicht so schlimm, und deshalb haben wir ihn dann drin behalten. Autorin Hortrat und Klassenrat sind Gremien, in denen Kinder lernen, sich mit Fragen der Gerechtigkeit auseinanderzusetzen, differenzierte Meinungen zu bilden und Stellung zu beziehen, meint Katharina Horn vom SV-Bildungswerk. O-25-Horn Ja, und man lernt halt auch ganz anders aufeinander zu achten, man merkt viel, viel schneller, was für Probleme vielleicht jemand anders in der Klasse hat, man kann über Mobbing sprechen oder ähnliches. O-26-Kinder -Ich wollte auch noch was sagen zur Meinungsäußerung. Wenn ich jetzt jemandem meine Meinung sagen möchte, dann mache ich das langsam und mit Gefühl auch ein bisschen und nicht gleich so, ich sag' jetzt mal, anschreien oder so und dann weggehen, ich mach das halt mit ein bisschen Gefühl, ja. -Und bei einigen in unserer Klasse - dem haben wir das schon oft und langsam gesagt, dass er es nicht machen soll und so, und wenn das noch mal vorkommt, dann sagen wir es halt ein bisschen deutlicher und auch ein bisschen lauter, damit er es endlich mal versteht. Autorin Für Katharina Horn - wie für etliche Bildungsexperten auch - sollte die Teilnahme an Gremien spätestens in der ersten Klasse beginnen, damit Unlust an Schule erst gar nicht aufkommt. O-27-Horn Je früher man damit anfängt, umso sinnvoller ist es, und umso mehr kann man auch in der eigenen Schule bewirken, um halt Schule vielleicht auch ein bisschen mehr als Lebensraum zu gestalten, weil man ja gerade jetzt im Zeitalter der Ganztagsschulen doch eine sehr, sehr große Zeit in der Schule verbringt und dann auch Schule mit gestalten sollte, ... und man sich nicht nur wie in so einem Lernapparat fühlt, wo man wieder raus geht und denkt, oh Gott, da will ich morgen nicht noch mal hin. O-28-Edler Ein Kind, das sich mit seiner Schule nicht identifizieren kann, weil es dort lieblos behandelt wird, weil alles langweilig ist, oder weil es den Eindruck hat, das die Erwachsenen sich gar nicht für es interessieren, kann auf die Dauer auch gar nicht verstehen, wieso man sich in öffentlichen Angelegenheiten engagieren soll, denn die Schule ist ja der primäre öffentliche Raum, in den es eintritt, wenn es aus der Familie heraus kommt und spielt eine unglaubliche Bedeutung im Leben aller Kinder. Deswegen hat sie auch eine so riesige Verantwortung in Bezug auf die Demokratieerziehung. Autorin Kurt Edler, dem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik, geht die Schülerbeteiligung deshalb in vielen Schulen nicht weit genug. Oft sei es so, dass der Klassenrat ... O-29-Edler ...sehr stark unter dem Zwang steht, zum Beispiel Disziplinarangelegenheiten zu regeln oder über Klassenreisen oder ähnliche Dinge zu reden, die eher banal sind, so dass es also nicht darum geht, dass die Kinder im Klassenrat an der Konstitution der Schule und der schulinternen Verfassung mitwirken. Autorin Gerade diese Mitwirkung ist aber für die Erziehung zur Demokratie von großer Tragweite. O-30-Edler Das bedeutet auch, dass sie selber Regeln bilden können des Umgangs miteinander, dass sie auch Regeln entwickeln können im Umgang mit Regelverletzungen, zum Beispiel wenn jemand unfreundlich ist zu dem anderen, oder wenn Schimpfwörter benutzt werden, oder wenn es gar zu Gewalthandlungen kommt. Und die Regelbefolgung wird umso intensiver, je stärker unter den Kindern auch ein Einverständnis darüber besteht, dass bestimmte Dinge in Ordnung sind und andere nicht. Autorin Vor der Regelbefolgung steht das Aushandeln von Regeln. Und das setzt voraus, dass die Kinder lernen, mit den Mitteln der Demokratie schöpferisch umzugehen. Demokratie ist ein offener Prozess. O-31-Edler Demokratiepädagogik heißt in diesem Sinne, dass die Schule dem Kind einen großen Baukasten aus einzelnen Bestandteilen zur Verfügung stellen muss, das wären zum Beispiel Verfassungsnormen oder Regeln des Umgangs oder auch Gremien und Verfahren, und es aber selbst seine eigene Demokratie konstruieren lässt, so wie der Lehrer auch nur dann ein überzeugter Demokrat ist, wenn er einen ganz eigenen Zugang zur Republik hat. Ich spitze zu: wenn er eine innere Republik hat. Autorin Umgekehrt sind Pädagogen, die Demokratie nur aus dem Lehrbuch unterrichten, wenig glaubwürdig. O-32-Edler Demokratiepädagogik im Unterricht heißt, dass der Schüler, die Schülerin immer die Möglichkeit haben muss zu sagen, ich probiere jetzt mal was Neues aus. Wir machen jetzt hier einfach mal ein anderes Quorum. Lasst uns doch mal im Klassenrat die Frage des Verfahrens klären. Autorin Fabian von der Edith-Stein-Schule in Erfurt erzählt zum Beispiel: O-33-Fabian Da haben wir über ein neues Modell der Organisation der Schülervertretung gesprochen und zwar dem Ausschussmodell, was man durchaus aus der Politik kennt. Das heißt, dass zu bestimmten Themen ein Ausschuss gebildet wird, in dem dann alle Schüler der Schule und alle Klassensprecher die Chance haben, mitzureden und mitzubestimmen. Darüber haben wir dann in der Klassensprechersitzung gesprochen und pro und contra abgewägt und sind dann zu einer Abstimmung gekommen. Autorin Etwas Neues ausprobieren dürfen - das gilt nicht nur für das Gemeinschaftsleben, sondern auch für den anderen Kernbereich der Schule, den Unterricht. Auch hier gehört zur Demokratieerziehung, dass Kinder mitbestimmen dürfen. O-34-Edler Natürlich geht es nicht darum, dass die Mehrheit der Kinder entscheidet, dass eins und eins drei ist. Sondern es geht um die Frage, wie dieser Unterricht stattfindet. Autorin Ein Mathematiklehrer, der verschiedene Sichtweisen zulässt und zeigt, welche unterschiedlichen Rechenwege zum richtigen Ergebnis führen können, der, meint Kurt Edler, handelt in diesem Sinne bereits demokratisch. Der Erziehungswissenschaftler Peter Fauser aus Jena hat dazu ein beeindruckendes Beispiel gebracht. O-35-Edler Das besteht aus einem großen Dreieck, in dem ein kleineres Dreieck umgekehrt genau eingepasst ist, so dass Sie jetzt als Mathematiklehrer sagen können oder in der Geometrie sagen können, so, liebe Kinder, wie viele Dreiecke sind denn das? Und man kann darauf antworten ,eines', und dann sieht man das Ganze. ,Drei', dann nimmt man nur die, die mit der Spitze nach oben stehen. Oder ,vier', das wäre eine Möglichkeit. Oder wenn man alles addiert, ,fünf'. Wenn nun der Lehrer sagt ,richtig ist drei', dann ist hier das Problem, er redet den Kindern ihre eigene Wahrnehmung aus, sie zweifeln an dem, was sie sehen, und was doch Faktum ist; und lassen sich darauf ein, dem Lehrer zu glauben, obwohl das eigentlich nur eine Interpretation der Welt ist. Autorin Bisher war es meist selbstverständlich, dass der Lehrer die Welt für das Kind interpretierte - im festen Glauben am besten zu wissen, was für den jungen Menschen das Richtige ist. O-36-Edler Es gibt zum Beispiel Schulen, die sich einen sehr demokratischen Anstrich geben, aber im Unterricht dann doch zeigen, wer der Herr ist, oder dass der Lehrer immer am längeren Hebel sitzt. Das versuchen viele Schulgesetze und auch Qualitätsrahmen in der Schulentwicklung jetzt anders zu machen, indem sie zum Beispiel vorschreiben, dass das Kind auch an der Unterrichtsgestaltung maßgeblich mitwirken sollte. Autorin Kurt Edler ist überzeugt: Der Lehrer darf den Kindern vertrauen, dass sie dazu willens und in der Lage sind. O-37-Edler Kinder sind Spezialisten für Unterricht, auch wenn sie keine Pädagogik oder Fachwissenschaft studiert haben, die in den einzelnen Fächern zum Tragen kommt, können sie doch sehr gut beurteilen, ob sie in einem Unterricht etwas lernen oder nicht. Das können sie eigentlich selber sogar am besten beurteilen. Autorin Doch sind tatsächlich alle Schüler fähig zu konstruktiver Kritik? Bringen sie hierfür überhaupt genügend Interesse mit? Die jungen Leute selbst sind da skeptisch. O-38-Afghanistan-AG Fünf Leute hören zu im Unterricht, und der Rest kümmert sich um was anderes. Und wenn man zum Beispiel was bespricht, der Lehrer was bespricht mit den Schülern, dann gibt's halt die Interessierten, die machen mit, und die nicht so interessiert sind, die halt andere Gedanken im Kopf haben, die sind halt woanders, und manche sagen, ja ihr könnt mich alle mal, ... und manche halt sagen, ja, ich bin interessiert, ich möchte mich dafür einsetzen, der Lehrer muss sich auch auf einen verlassen können. Also man muss sich gegenseitig aufeinander verlassen können und sagen: Kannst du das bitte organisieren, es muss auch so eine Übereinstimmung geben. Jeder muss sich auf den andern verlassen können, aber im Unterricht ist halt ein bisschen anders, ein bisschen chaotisch, nicht alles läuft so geregelt ab. Autorin Manfred Pankow, viele Jahre Lehrer an einer Realschule in Berlin, kennt das Problem. O-39-Pankow Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Schüler im Laufe von vier Jahren immer lethargischer werden, uninteressierter werden, und von daher weder für sich Verantwortung übernehmen, noch für die andern. Und wir wollen sie erziehen, dass sie in der Gemeinschaft lebensfähig sind, für sich und für die Gemeinschaft, und positiv dazu beitragen, und da muss man sie zum Bewegen bringen. O-40- Afghanistan-AG - Das ist auch eine Frage der Kultur, wie man zuhause miteinander ist. So, das ist auch eine Sache, wie es zuhause abläuft. Wie die Eltern die behandeln, wie die mit den Eltern klar kommen. - Früher war das ja so, dass man alles gesagt hat, du machst das jetzt und das ist jetzt so, (in die Hände Klatschen) keine Widerrede. - Das ist halt auch falsch, finde ich, weil man muss halt wirklich ein Vertrauen zwischen den Eltern und den Kindern machen, und viele, sag' ich mal, haben noch die alten Traditionen, so die alten Regeln, aber ich finde, es muss langsam alles lockerer und die Demokratie, also dass jeder etwas auch zu sagen hat, halt in der Familie. Autorin Wer in der Familie nur Gängelei und Druck erfahren hat, reagiert auch in der Schule oft mit Unlust, meinen die jungen Leute. Vertrauen müsse in der Familie beginnen, wenn es in der Schule Wirkung zeigen soll. O-41-Afghanistan-AG Kinder fangen an mit Fehlern, und aus Fehlern lernt man ja. Ich glaub', wenn die Eltern sagen, okay, dieses Mal hast du etwas Falsches gemacht, aber man lernt ja daraus, dass man's vielleicht beim nächsten Mal besser macht, sozusagen. Autorin Wie weit Eltern hier sind, hänge sehr häufig mit Bildungsferne oder -nähe zusammen, meint Kurt Edler. Die Schule könne jedenfalls nicht erwarten, dass alle Eltern hier fortschrittlich denken. O-42-Edler Zum Pluralismus in der modernen Demokratie gehört auch, dass die Schule sich darauf einstellt, dass in manchen Elternhäusern bestimmte Bedingungen nicht vorhanden sind, deswegen ist es unheimlich wichtig, dass die Schule auch Möglichkeiten anbietet für die Kinder, einen vertieften Lernprozess und einen vertieften Erlebnisprozess zu durchlaufen, damit solche Defizite ausgeglichen werden und außerdem muss sie natürlich mit dem Elternhaus auch kommunizieren, da sind die Möglichkeiten noch keineswegs ausgereizt. Autorin Ein Irrtum sei es aber zu glauben, dass alle Kinder aus Migrantenfamilien Defizite mitbringen würden. O-43-Edler Ich habe als Lehrer in meinen Klassen türkische Schüler gehabt, polnische Schüler gehabt, Schüler aus dem arabischen Raum gehabt, die ganz wertvolle Stützen für die Gemeinschaft waren, weil sie gelernt hatten in der Familie, die soziale Gemeinschaft viel eher aufrecht zu erhalten als die deutschen Einzelkinder. Autorin Soviel ist sicher: Ohne die Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus kann Demokratiepädagogik kaum funktionieren. Demokratieerziehung greift immer über den engen Rahmen von Schule und Unterricht hinaus. Bestenfalls wirkt sie sogar bis in die Kommune hinein. An der Kurt-Löwenstein-Schule in Berlin-Neukölln, einem Bezirk mit einem hohen Migrantenanteil, haben Mütter deshalb ein Elterncafé eingerichtet. Es soll Schwellenängste verringern und besonders den Frauen zu mehr sozialen Kontakten außerhalb der Familiengrenzen verhelfen. O-44-Mütter - Also unser Ziel ist, mehr Eltern, dass die mehr Kontakt haben und mehr in die Schule kommen können, - - Ich schäme mich immer vor den Männer oder Frauen. Ich konnte nicht reden auf deutsch und auf türkisch auch nicht. Ich hab' nicht viel Kontakt mit den Leuten, aber als ich hier war, habe ich mehr Kontakt die Leute. Deswegen habe ich bisschen schon selbstbewusst. Ich schäme auch nicht soviel. Früher konnte ich nicht über Probleme reden, mit den Lehrern, jetzt kann ich Kleinigkeit, kann ich mit den Lehrer sprechen, und das hilft auch dem Kind. - Ich hab' bisschen schüchtern gewesen, wo ich zum Beispiel vor Sachbearbeitern, wollte ich klopfen, Tür ist bisschen schwer gewesen. Aber jetzt ist einfach, klopfen, guten Tag, da kann ich sprechen, das habe ich schon bisschen überwunden, ja. Autorin Demokratie als Lebensform lässt sich in Kategorien des Respekts, der Anerkennung und Toleranz definieren, so der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik. Gültig ist das für jeden. Besonders wichtig aber womöglich für alle, die sonst am Rande der Gesellschaft stünden. Das darf Schule trotz aller Belastungen nicht vergessen. Auch davon hängt entscheidend ab, meint Kurt Edler, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse friedlich und errungene Freiheiten erhalten bleiben. O-45-Edler Nichts wäre schrecklicher für mich als die Vorstellung, dass wir unter dem Druck perfektionierter Bildungssysteme, wo in Rastern gelernt wird, eilig etwas runter geschnurrt wird, am Ende einen jungen Menschentyp erzeugen, der sich für nichts mehr interessiert, was mit der gesellschaftlichen, der politischen oder der kulturellen Sphäre zu tun hat, sondern nur noch sich privat als Arbeitsbiene und als Konsument durchkämpft und dann eben auch durchboxt. Solch eine Gesellschaft ist nicht human, sondern grausam. Und vor der habe ich Angst. Spr. vom Dienst Leicht gesagt, schwer getan - Erziehung zur Demokratie Eine Sendung von Hannegret Biesenbaum Es sprach: die Autorin Ton: Bernd Friebel Regie: Beatrix Ackers Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 1