COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 28. April 2008, 19.30 Uhr Zu Hause sterben Ambulante Palliativmedizin zwischen Bürokratie und Gesundheitspolitik von Horst Gross 1 Atmo 40'' Treppensteigen. Klingelton. Rieger: Sind schon oben. Hallo guten Tag....Lachen kurz weiter unter Text legen. Sprecher vom Dienst: Zu Hause sterben Ambulante Palliativmedizin zwischen Bürokratie und Gesundheitspolitik Eine Sendung von Horst Gross. Sprecher: Der Berliner Arzt Achim Rieger macht einen Hausbesuch. Die Patientin und ihr Mann warten schon. Doch der erste, entspannte Eindruck täuscht. Das ist kein normaler Hausbesuch. Achim Rieger ist Palliativmediziner. Er begleitet Menschen beim Sterben. In diesem Falle lautet die Diagnose: Darmkrebs. Das größte Problem der Patientin: Nach zahlreichen Operationen kann sie kaum noch Nahrung zu sich nehmen. O-Ton 1 Patientin: Mit dem Essen ist es natürlich nach wie vor.... Rieger: Aber das Gewicht ist nicht weiter runtergegangen? Patientin: ich halte jetzt meine 55,4. Rieger: Nun, gut. Patientin: so in dem Dreh. Sprecher: Die Frau weiß um ihre Lage. Bewusst hat sie sich entschieden, das Krankenhaus zu verlassen und nach Hause, zu ihrem Mann zu gehen. Da die normale Ernährung nicht mehr ausreichend möglich ist, muss die Patientin künstlich, über die Vene mit Nahrung versorgt werden. O-Ton 2 Patientin: Ich hatte ja mal gedacht, ich komme von der Ernährung runter. Aber ich denke mal... Rieger: Der künstlichen Ernährung? Patientin: Aber das schaffen wir mal vielleicht noch. Rieger: Die haben sie jetzt jeden zweiten Tag. Und zwischendurch versuchen sie so gut es geht zu essen? Sprecher: Achim Rieger ist Arzt bei Home Care Berlin. Eine Initiative von Ärzten, die sich auf Palliativmedizin spezialisiert hat. Home Care Berlin war eines der ersten Modellprojekte, dass sich in der ambulanten Patientenbetreuung von Krebskranken engagiert hat. Die Hausbesuche von Home-Care -Ärzten werden deutlich besser vergütet, als die von normalen Hausärzten. Deshalb steht diesen Ärzten auch das zur Verfügung, was eine gute Palliativmedizin ausmacht: Viel Zeit für den Patienten. Gegen die Beschwerden der Patienten werden gezielt Medikamente eingesetzt. Dabei scheuen sich Palliativmediziner auch nicht vor hoch dosierten Mitteln. So gelingt es, die Betroffenen zuverlässig von quälenden Beschwerden, Ängsten und Depressionen zu befreien. Entscheidend ist auch, dass die Patienten sich Tag und Nacht an ihren Arzt wenden können. O-Ton 3 Haben Sie noch Schmerzen? Das geht. Die sind auch nicht wieder so stark geworden, wie das zwischenzeitlich mal war? Ne, absolut nicht. Sprecher: Viele Menschen haben den Wunsch, so wie diese Patientin, die letzten Stunden gut versorgt in der häuslichen Umgebung zu erleben. Doch nur etwa 10 % können das realisieren. O-Ton 4 Wir wissen aus Umfragen, dass 70 bis 80 % der Menschen, wenn sie sich es denn aussuchen dürften, gerne in der Häuslichkeit, in der ihnen vertrauten Häuslichkeit sterben würden. Das heißt, der Wunsch der meisten Menschen kann nicht erfüllt werden. Sprecher: Thomas Schindler ist hauptamtlicher Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. O-Ton 5 Eine ganz wichtige Voraussetzung für die Versorgung zu Hause bis zum Lebensende ist sicherlich das soziale Umfeld. Das muss intakt sein. Angehörige spielen eine ganz zentrale Rolle. Angehörige, die auch in der Lage sind in der Pflege mitzuarbeiten. Nachbarn und Freunde. Es muss nicht nur die Familie sein, aber wenn so ein soziales Netz vorhanden ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr viel größer, dass auch medizinisch und pflegerisch eine Betreuung bis zum Lebensende zu Hause organisiert werden kann. Wenn das fehlt, ist ein wesentliches Element nicht vorhanden für eine entsprechende Versorgung bis zum Tod. Sprecher: Pflegedienste könnten eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung schon aus Kostengründen nicht leisten, auch wenn sie manchmal mit 24-Stunden-Bereitschaft werben. Patienten machen andere Erfahrungen. O-Ton 6 Die ambulante Pflege, da heißt es zwar, sie ist Tag und Nacht bereit, aber sie ist nur Tag und Nacht bereit mit Telefon. Nachmittags ab 17:00 Uhr können sie zwar noch anrufen, aber es kommt dann keiner mehr. Sprecher: Insbesondere Singles sind in einer schlechten Ausgangslage. Doch allein in Berlin gibt es mittlerweile fast eine Million dieser Einpersonenhaushalte. Rund die Hälfte dieser Singles sind über 50 Jahre. Tendenz zunehmend. Die Wohnsituation dagegen spielt, erstaunlicherweise, kaum eine Rolle. Thomas Schindler: O-Ton 7 Da haben wir doch die Erfahrung gemacht, dass selbst in sehr beengten Verhältnissen, wo es sicher schwieriger ist, bestimmte Dinge durchzuführen, eine Versorgung möglich ist, wenn es von den Menschen gewünscht wird. Das ist der Dreh- und Angelpunkt. O-Ton 8 Was macht die Haut? Juckt sie noch? Patient: Nee. Rieger: Nicht?! Das ist ganz weggegangen das Hautjucken? Patient: Jaaa, Ja. Rieger: Ne Spur sieht man doch noch. Das Gelbe sieh man doch noch. Weniger als beim ersten Besuch. Patient: Aber das Gewicht hat zugenommen wieder. O-Ton leiser und unter Text Sprecher: Der nächste Patient, den der Home-Care-Arzt Achim Rieger heute besucht, hat ein weit fortgeschrittenes Leberkarzinom. Trotzdem ist der 68-jährige Mann froh, nach einem langen Krankenhausaufenthalt wieder zu Hause sein zu können. Versorgt von seiner Tochter, wirkt er in seiner kleinen Neubauwohnung recht zufrieden. O-Ton 9 Ich wollte Sie erstmal fragen, wie es gegangen ist in den letzten Tagen? Patient: Ja so weit geht es ... Ja ganz gut. Nur, das Wasser sammelt sich langsam. Rieger: Kommt wieder? Patient: wahrscheinlich. Weil zu viel Ruhe ist. Man läuft ja nicht viel. Rieger:Das Problem ist einfach, dass die Lymphe aus dem unteren Teil des Körpers nicht gut abfließen kann. Durch den Tumor. Und wir können, wenn das anfängt Probleme zu machen, also Druckschmerz und Spannungsgefühl entsteht. Dann würde ich Ihnen eine Lymphdrainage verordnen. Dann kommt ein Physiotherapeut, Krankengymnastik, nach Hause und hilft, dass die Beschwerden einfach dadurch gelindert werden, dass man versucht das immer wieder auszustreichen. Sprecher: Palliativmedizin ist auch Teamarbeit. Nur durch das Zusammenspiel mit anderen Fachgruppen, wie etwa der Krankengymnastik oder dem Pflegedienst, kann man die Krankheitssymptome lindern. Doch während die Zusammenarbeit hier meist sehr gut läuft, ist die Koordination mit den Krankenhäusern dagegen oft mangelhaft. In diesem Fall hatte das Krankenhaus einfach vergessen, die Tochter auf die Möglichkeit einer ambulanten Versorgung ihres Vaters hinzuweisen. Sie hat selbst die Initiative ergriffen. O-Ton 10 Tochter des Patienten: Ja! Wir haben das eingefädelt. Patient: Ja die beiden da. Tochter: Er ist aus dem Krankenhaus gekommen und war in einem schlechten Allgemeinzustand. Ganz niedriger Blutdruck. Ganz tüttelig. Und einige Kilo weniger. Sprecher: Hätte die Tochter nicht zufällig von der Möglichkeit erfahren, dass unheilbar Kranke bis zu ihrem Tod auch zu Hause versorgt werden können, wäre der Wunsch Ihres Vaters in dieser Form nicht in Erfüllung gegangen. Mangelnde Informationen durch das Krankenhaus sind aber nicht das einzige Problem. Ambulante Palliativmedizin ist extrem zeitaufwendig. Die Ärzte von Home Care Berlin werden für ihre Betreuungsarbeit im Rahmen einer Sonderregelung angemessen bezahlt. Doch der normale Hausarzt, der Schwerkranke zu Hause versorgt, steht seit Beginn des Jahres 2008 vor einem besonderen finanziellen Problem. Je mehr und intensiver er seine Patienten zu Hause betreut, umso schlechter wird seine wirtschaftliche Lage werden. Viele Hausärzte machen allein deshalb schon keine Hausbesuche mehr. Thomas Schindler von der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin: O-Ton 11 Die neue Gebührenordnung für Ärzte berücksichtigt zum Beispiel diesen Bereich überhaupt nicht. Das ist eine mittelgradige Katastrophe. Weil ärztliche Leistungen, das gilt für Hausärzte wie für Fachärzte, zunehmend über Pauschalen entgolten werden. Dafür gibt es auch gute Gründe. Das bedeutet aber, dass ein Arzt für den Patienten genauso viel Geld bekommt in Zukunft, ob er nun viel macht oder wenig. Sprecher: Hinzu kommt, dass es in einigen Regionen zu wenig Hausärzte gibt. Es kann aber nicht nur Schwierigkeiten mit der ärztlichen Betreuung geben. Die letzten Lebenstage können auch durch unerwarteten bürokratischen Aufwand der Krankenkassen belastet sein. Wie etwa für diesen Ehemann, dessen Frau regelmäßig Infusionen braucht. Doch das Infusionssystem ist der Kasse auf einmal zu teuer. O-Ton 12 Plötzlich kam die Apothekerin: "Ja, ich kann Ihnen das nicht mehr so aushändigen. Die Kasse bezahlt mir das nicht." Das muss vorher immer alles erst eingereicht werden, bei der Kasse. Diese Genehmigung für diese Zuläufe, Dosiflow, heißen diese Dinger. Und da habe ich gesagt, na das ist doch eigentlich ein Irrsinn. Wenn ich das Material verschreibe, also die Nahrung, dann brauche ich doch eine Zuleitung. Das ist doch eigentlich eine ganz logische Sache. Sprecher: Durchaus kein Einzelfall. Achim Rieger erlebt so etwas fast täglich. Erst nachdem zeitaufwendig ein paar Formulare hin und her gewandert sind, genehmigt die Kasse meist das benötigte Material. Oder eben auch nicht. Und dann kommt es zur Katastrophe. Wegen Mangelversorgung zu Hause muss der Patient wieder ins Krankenhaus. O-Ton 13 Vor kurzem hatte ich die Situation, dass ich eine Patientin hatte, die tagelang in ihrem Bett lag, mit einer feuchten Windel um, weil sie nicht mehr ihren Urin halten konnte. Und für diese Patientin, die sich begann wund zu liegen, brauchte ich dringend eine Antidekubitus-Matratze, damit eben nicht ein stärkeres Druckgeschwür entsteht. Ich hatte dann daraufhin eine Firma angerufen, die mir bekannt war, die Hilfsmittel liefert. Die es auch unbürokratisch sehr schnell erledigen kann. Diese Firma konnte aber nicht eingreifen, weil die betreffende Krankenkasse der Patientin mit der Firma keinen Vertrag hatte. Die Krankenkasse versprach dann, diese Aufgabe zu übernehmen. Und in der folgenden Woche ist nichts passiert. Es ging alles seinen bürokratischen Gang. Und letztendlich musste ich die Patientin dann stationär einweisen. Sprecher: Der Wunsch vieler Menschen, wenn es soweit ist, die letzten Stunden zu Hause zu verbringen, ist also gar nicht so leicht zu realisieren. Umständliche Krankenkassenbürokratie, schlechte Bezahlung der Hausärzte und das fehlende soziale Umfeld sind aber bei weitem nicht die einzigen Probleme. Jahrzehntelang hat man in der Ausbildung der Ärzte das Thema Sterben und Sterbebegleitung einfach vergessen. Selbst wenn Angehörige einen Arzt gefunden haben, der diese Aufgabe übernimmt, er kann es oft einfach nicht. Jens Papke, Palliativmediziner aus Dresden, bildet seit Jahren Hausärzte in der Sterbebegleitung aus. O-Ton 14 Also ich muss sagen, dass die Kollegen die unseren Kurs mitgemacht haben, eine Art positive Selektion waren. Die haben sich ja freiwillig dazu angemeldet. Aus eigenem Antrieb heraus. Und wenn man sieht, was also bei denen, die interessiert sind, allein vom Studium und der Facharztausbildung hängengeblieben ist, dann kann man daraus schließen, dass das Gros der Kollegen, die natürlich die gleiche Ausbildung hinter sich haben, noch viel weniger Kenntnisse und Kompetenz mitbringt. Sprecher: Jens Papke hat zusammen mit Kollegen eine wissenschaftliche Untersuchung publiziert. Fast 100 praktizierende Hausärzte wurden dafür zu ihrem Kenntnisstand in der Sterbebegleitung befragt. O-Ton 15 Ja wir haben gemerkt, dass das Echo im Kollegenkreis auch recht groß war, haben wir einmal die Kollegen gefragt, wie sie selber zur Palliativmedizin oder ihrem Interesse dazu gekommen sind. Und hatten uns an sich bei der Idee für diese Umfrage leiten lassen von einer kleinen Arbeit aus dem amerikanischen Schrifttum. Und da kamen witzigerweise die gleichen haarsträubenden Ergebnisse heraus, wie bei unserer Umfrage. Nämlich: dass die jungen Kollegen im Studium nahezu nichts erfahren beziehungsweise nichts an Implikationen aus dem Studium erinnern können und die meisten Impulse erst dann durch die praktisch klinische Tätigkeit und eben durch das Wahrnehmen eigener Fehler in der Patientenversorgung entstehen. Sprecher: Nur 16 % der befragten Hausärzte hatten im Studium überhaupt Kontakt mit dem Thema Sterbebegleitung gehabt. Und von diesen wenigen Hausärzten konnte sich im Nachhinein kein Einziger mehr an Studieninhalte erinnern. So etwas hat natürlich erhebliche Konsequenzen für die Patienten. O-Ton 16 Also am alarmierensten fand ich die Tatsache, dass 32 % der ärztlichen Kollegen erst einen Fehler machen müssen, um darüber zu stolpern und das wahrzunehmen, dass hier was nicht optimal gelaufen ist und sich dann in der Folge für die Vertiefung der eigenen Kompetenz auf palliativmedizinischem Gebiet zu interessieren. Sprecher: Die Fachorganisationen der Palliativmediziner bieten dafür mittlerweile ausreichend Kurse für Hausärzte an. Doch sind wenigstens die zukünftigen Ärzte besser vorbereitet? O-Ton 17 Es ist also sicherlich erst in mehreren Jahren damit zu rechnen, wenn jetzt nach und nach Lehrstühle entstehen an den Universitäten, dass sich die Ausbildung der Studenten oder wenigstens die Sensibilisierung der Studenten, verbessert. Sprecher: 800.000 Menschen sterben jährlich in Deutschland. Rund 90 % davon in einem Krankenhaus oder einem Heim und unter Bedingungen, die sie sich nicht selbst aussuchen können. Experten schätzen, dass etwa zwei Drittel der Menschen die jährlich in Deutschland sterben, dies in der vertrauten häuslichen Umgebung tun könnten, wenn man die Betreuung verbessern würde. O-Ton 18 (Beifall) Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Krankenversicherung ist unter allen sozialen Systemen etwas Besonderes. Denn für einen kranken Menschen gibt es nichts Wichtigeres als die Sicherheit, dass ein gutes und bezahlbares Gesundheitssystem für ihn da ist. Das heute zu beschließende Gesetz... Langsam leiser und unter Text legen. Sprecher: Deutscher Bundestag im Frühjahr 2007. Die Gesundheitsreform wird verabschiedet. Inmitten eines Wusts von komplizierten Neuregelungen zum Gesundheitsfond versteckt sich ein Paragraf, der es in sich hat. Die Bundesregierung regelt die Palliativmedizin neu. Bundesministerin Schmidt verkündet etwas, das nicht nur in den Ohren deutscher Palliativmediziner sensationell klingen muss. O-Ton 19 Wir schaffen für schwerstkranke Menschen einen Rechtsanspruch auf palliativ- medizinische Versorgung. Damit sie das tun können, was sie möchten, nämlich zu Hause gut versorgt zu werden und zu Hause auch sterben zu dürfen, wenn sie es möchten. Das ist ein Riesenfortschritt in der Versorgung. Sprecher: 250 Millionen ? werden die Krankenkassen in Zukunft jährlich für die ambulante Sterbebegleitung ausgeben müssen. 330 palliativ-medizinisch spezialisierte Stützpunkte sollen in ganz Deutschland geschaffen werden, um Schwerstkranke auf ihrem letzten Weg zu Hause zu betreuen. O-Ton 20 Also die aktuelle Gesetzgebung geht weit über das hinaus, was die kühnsten Optimisten erwartet haben. Die Rahmenbedingungen stehen. Jetzt sind die Akteure gefordert. Sprecher: Volker Amelung ist Gesundheitswissenschaftler. An der Universität Hannover plant und berechnet er den Bedarf von Versorgungsleistungen im Gesundheitswesen. Sein Institut war maßgeblich an der Konzeption der neuen spezialisierten palliativ- medizinischen Versorgung von Schwerstkranken in häuslicher Umgebung beteiligt. Nun müssen die Kostenträger im Gesundheitswesen seine Berechnungen umsetzen. Für den Erfolg des neuen Gesetzes entscheidend wird die Zusammenarbeit mit den Hausärzten sein. Sind Sie in erster Linie zuständig? Wird man sich gegenseitig Konkurrenz machen? O-Ton 21 Nein! Also ich sehe keine wirkliche Gefahr. Es ist ja, und das muss man auch deutlich hervorheben, es unterstützt die Hausärzte. Und das ist ja auch ganz wichtig, das die Hausärzte in ihrer Leistungserbringung unterstützt werden. (blenden) Sprecher: Der Hausarzt, der einen sterbenden Patienten zu Hause betreut, soll sich bei Bedarf mit Problemen an die Spezialistenteams wenden können. Nur in besonders schweren Fällen wird der Patient komplett von einem solchen spezialisierten Team betreut werden. Der Übergang vom Hausarzt zum spezialisierten Team wird also fließend sein. In etwa 3 - 5 Jahren soll das Versorgungssystem stehen. O-Ton 22 Ich brauche als erste Stufe die Möglichkeit für die niedergelassenen Ärzte quasi Konsile einzufordern von hoch spezialisierten Fachärzten. Die zum großen Teil wahrscheinlich auch Krankenhaus basiert sein werden. Das ist auch richtig so. Das ist auch gut so, dass ein Hausarzt, wenn er sich nicht sicher ist, sich sagt: na, wie soll ich mich jetzt entscheiden, quasi jemanden im Hintergrund hat, an den er sich wenden kann und, dass das auch mit einer finanziellen Struktur abgedeckt ist. Zweite Stufe ist, dass er ihn mit hinzuzieht. Dritte Stufe ist, dass der übernimmt. Dieses stufenweise Vorgehen halte ich für ausgesprochen sinnvoll. Sprecher: Doch, ob dieses neue Konzept dann in der Praxis tatsächlich aufgeht, daran haben praktisch tätige Palliativmediziner durchaus ihre Zweifel. Der Berliner Palliativarzt Achim Rieger: O-Ton 23 Also das kann durchaus sehr problematisch sein. Weil, wenn der Hausarzt auch in schwierigen Situationen dann die Betreuung abgibt, kann es dazu führen, dass er sich auch nicht mehr zuständig fühlt für den Patienten. Und der Spezialist, der dann vielleicht aus irgendeiner Institution herauskommt mit einem bestimmten Auftrag, zwar diesen Auftrag beim Patienten erfüllt, vielleicht z. B. eine gezielte Schmerztherapie durchzuführen, den Patienten aber nicht wirklich kennt und auch sein Umfeld nicht kennt. Dann wird eben auch ein ganz wichtiger palliativ- medizinischer Inhalt vernachlässigt. Nämlich das Begleiten und Führen der Patienten und der Angehörigen in dieser schwierigen Zeit. Und man muss sich dann gut überlegen, wie man den Hausarzt noch motivieren kann, diese Aufgabe zu übernehmen. Sprecher: Das neue Gesetz zur ambulanten Palliativversorgung könnte auch dazu führen, dass Hausärzte versuchen diese für sie zu aufwendigen und deshalb finanziell unattraktiven Patienten möglichst abzugeben. Am Grundproblem, dass Hausärzte für Hausbesuche kaum etwas bekommen, ändert sich nämlich nichts. Volker Amelung: O-Ton 24 Die klassische hausärztliche Versorgung ist mit den Kopfpauschalen an die kassenärztlichen Vereinigung abschließend vergütet. Es geht nicht darum, dieses zu erhöhen. Das ist eine andere Baustelle. Atmo 2 Ein Beatmungsgerät, das kontinuierlich arbeitet. Als Loop. Langsam leiser und unter den Text legen. Sprecher: Szenenwechsel. Ein Pflegeheim in Dithmarschen. In einem kleinen Zimmer liegt der Patient Hans-Jürgen Leonhard an einem Beatmungsgerät. Er hat eine schwere Nervenkrankheit. Seine Muskulatur ist völlig gelähmt, doch dabei ist er bei vollem Bewusstsein. Sein einziger Wunsch: Die letzten Wochen und Monate zu Hause zu verbringen, in seiner gewohnten Umgebung, denn seine Prognose ist schlecht. Er will also genau das Recht wahrnehmen, dass die Bundesgesundheitsministerin im Parlament versprochen hat. Oliver Tolmein ist der Anwalt des Patienten. O-Ton 25 Herr Leonhard hat, als er erfahren hat, was er für eine Krankheit hat, Amyotrophe Lateralsklerose, bei der Krankenkasse nachgefragt "was mach ich damit" und dann hat ihm die Krankenkasse geraten ins Heim zu gehen, weil das ambulant, zu Hause, nicht zu versorgen wäre. Er ist dann ins Heim gegangen. Hat dort die Erfahrung gemacht, dass er dort sehr viel schlechter zu versorgen ist, als das zu Hause der Fall wäre und deswegen hat er dann irgendwann den Wunsch gefasst, wieder nach Hause zu gehen. Sprecher: Doch Hans-Jürgen Leonhard ist in eine versicherungsrechtliche Falle getappt. Was er nicht wusste: Aus einem Heim gibt es praktisch nie mehr einen Weg zurück nach Hause, wenn die Betreuung in der eigenen Wohnung teurer wird, als die Heimversorgung. Und genau das ist bei dem Patienten der Fall. Dazu kommt bei seiner Erkrankung auch, dass das Lebensende schwer abschätzbar ist. Sind es noch Wochen, Monate oder sogar Jahre? Die entscheidende Hürde ist der Paragraf 13 des Sozialgesetzbuches und der bleibt weiter bestehen. Er legt fest, dass Patienten nur das Recht auf eine angemessene medizinische Versorgung haben nicht aber auf eine optimale. In diesem Falle ist das die kostengünstigere Betreuung im Heim. O-Ton 26 Der Wille des Patienten zählt im Prinzip gar nicht in so einer Konstellation. Es geht nur um die Frage, ist es ihm zumutbar. Das heißt, darüber entscheiden dann letztendlich die Leistungsträger und die Gerichte. Sprecher: Die neue gesetzliche Regelung, die im Bundestag verkündet wurde, ist in solchen Fällen gar nicht relevant. Deshalb musste auch die Klage von Hans-Jürgen Leonhard vor dem Sozialgericht Hamburg scheitern. Oliver Tolmein zur Argumentation des Richters: O-Ton 27 Schlechte pflegerische Versorgung in einem Heim ist kein Grund dafür, dass das Heim unzumutbar ist. Dann muss man halt die Heimaufsicht anrufen. Und Selbstbestimmungsrecht in dieser Situation kann man nicht erwarten. Man kann nicht die bestmögliche Versorgung erwarten, sondern nur eine angemessene Versorgung. Was das dann im Lebenspraktischen, in der Wirklichkeit, heißt? Ich glaube, das kann er sich nicht vorstellen. Ich habe den Antrag gestellt, dass eine Gerichtsverhandlung im Zimmer des Betroffenen stattfindet, damit sich das Gericht ein Bild machen kann, worüber und über wen es dort entscheidet. Das hat das Gericht abgelehnt. Und ich glaube, das hat auch etwas damit zu tun, dass das Gericht das gar nicht zur Kenntnis nehmen möchte, was dort an Lebenswirklichkeit zur Verhandlung steht. Sprecher: Doch für wen sind denn dann die 250 Millionen ? pro Jahr gedacht, wenn nicht für Menschen wie Hans-Jürgen Leonhard? Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es eine ganz klar definierte Zielgruppe gibt. Es geht um die Patienten, die aufgrund einer schweren, unheilbaren Krankheit teure Krankenhausbetten blockieren. Nach Hause können sie im Moment noch nicht entlassen werden, da Ihre Symptome zu pflegeintensiv sind. Normale Heime sind ebenfalls überfordert und ein Platz in einem Hospiz ist schwer zu bekommen und zudem ebenfalls sehr teuer. Die neue spezialisierte ambulante palliativ-medizinische Betreuung schließt nun diese Versorgungslücke. Wenn das Programm voll angelaufen ist, wird es möglich, Krebspatienten zügiger aus dem Krankenhaus zu entlassen und kostengünstiger zu Hause zu versorgen. Schließlich übernehmen ja auch die Angehörigen einen wesentlichen Teil der Pflegetätigkeit. Somit sind die jährlich 250 Mio. ? durchaus auch als Investition zu verstehen, von der man sich erhebliche Einspareffekte für die Krankenhäuser und die Kassen erwarten darf. Doch dieses Konzept rechnet sich nur, wenn die Sterbephase der Patienten kalkulierbar bleibt. Wer zu lange stirbt, wird zum Kostenrisiko. Ambulante Palliativmedizin wird dann zu teuer. Das ist heute schon erkennbar.Oliver Tolmein: O-Ton 28 Zum Beispiel Patienten mit Aids. Bei denen wird prognostiziert, die leben noch ein halbes Jahr. Und dann überleben sie ein Jahr, weil sie so gut versorgt werden im Hospiz. Und was macht man dann mit ihnen? Schickt man sie dann in eine schlechtere Versorgung, damit sie schnell sterben? In der Realität ist das Problem, dass die Krankenkassen normalerweise sagen drei Monate, in manchen Fällen auch sechs Monate, in extremen Einzelfällen auch 12 Monate und dann fällt die Finanzierungsklappe. So kommt es vereinzelt dazu, dass Menschen, die bis dahin ganz gut gelebt haben, weil sie gut versorgt worden sind, dann in Pflegeverhältnisse geraten, die nicht akzeptabel sind. Und das führt dann in der Tat dazu, dass sie schneller sterben. Sprecher: Der Versuch, ein selbstbestimmtes Sterben in häuslicher Umgebung notfalls juristisch durchzusetzen, ist kompliziert und zudem ein finanzielles Risiko. O-Ton 29 Die Schwierigkeit ist, sie müssen jemanden finden, einen spezialisierten Anwalt. Davon gibt's nicht schon so viele, der sich mit dieser Thematik auskennt, der bereit ist schnell zu handeln und den müssen Sie dann natürlich vor der Klage, und das ist sinnvoll vor der Klage hier etwas zu machen, den müssen sie auch bezahlen. Und das kostet ein paar Hundert bis wenige Tausend ? würde ich einmal sagen. In der Regel werden das ein paar Hundert sein. Und das Geld müssen sie erst einmal aufbringen. Und dann müssen sie gucken, dass sie in ihrer kurzen Lebenszeit, die sie haben, in der sie eigentlich ganz andere Sachen machen möchten, nämlich sich von ihrer Familie verabschieden, mit ihrem Leben abschließen, dann plötzlich doch einen Kostentragungsärger mit der Krankenkasse haben. Das ist eine ganz schlimme Situation. Sprecher: Für den Hamburger Anwalt Oliver Tolmein ist die neue gesetzliche Regelung deshalb eine Enttäuschung. O-Ton 30 Es ist ohnehin ein Problem dieses neuen Gesetzes, dass wir eine Situation haben, dass die pflegerische Versorgung bis kurz vor den Tod miserabel sein kann und miserabel sein wird, weil die Pflegeversicherung keine gute Pflege garantiert. Dann ist in der letzten terminalen Phase plötzlich eine sehr gute Versorgung möglich, aufgrund dieses Gesetzes. Wenn die terminale Phase zu lange dauert, dann wird die gute Versorgung wieder abgeschaltet. Man hat wieder das schlechte Niveau von vorher. Das ist eine absurde Regelung. Es zeigt wie sinnlos und wie falsch es ist hier einen isolierten Bereich regeln zu wollen. Wir müssen die gesamte pflegerische Versorgung von Menschen sehr viel besser regeln. Unabhängig von Zeitbegrenzungen. Atmo 3 Treppen, laufen, Klingel guten Tag ... Sprecher: Zurück nach Berlin. Der Home Care Arzt Achim Rieger besucht für heute seine letzte Patientin. Sie ist kaum 60 Jahre. Ihr Brustkrebs ist im Endstadium. Ein gutbürgerlicher Haushalt. Die Kinder sind anwesend und betreuen die Mutter. Atmo 4 Wohnungsgeräusch mit offenem Fenster,Straße, Vögel, leise Klassikmusik im Radio. Unter Text legen. Sprecher: Der nahe Tod der Frau erfüllt die ganze Wohnung. Ihr Bett steht am offenen Fenster mit Blick auf ihren Lieblingsbaum. Im Radio die Lieblingsmusik. Erstaunlich, wie ruhig die Frau wirkt, obwohl sie weiß, was geschieht. Der Arzt setzt sich für ein paar Minuten an ihr Bett. Durch starke Schmerzmittel ist die Frau völlig schmerzfrei. Übelkeit und Durst wurden erfolgreich bekämpft. Das Leben aber geht zu Ende. Sie hat viel durchgemacht. O-Ton 31 Es ist ja nun bei der Patientin eine ganz verheerende Situation. Dadurch, dass sie auch einfach starke Schmerzmittel braucht. Auch, dass sie sich nicht bewegen kann und vieles, vieles mehr. Und trotzdem ist sie gelassen und entspannt und hat das Gefühl, das ist eine gute Zeit gewesen in den letzten Wochen. Sie sagt, es sei eine gute Zeit für sie gewesen und sie hat es sehr genossen. Ich finde, das ist immer wieder völlig erstaunlich, dass eine solche Zeit auch so eine Bedeutung hat und solche Gefühle auslösen kann. Sprecher: Wir haben jahrzehntelang das Sterben als unangenehmen Vorgang in Institutionen wie etwa das Krankenhaus ausgelagert. Jetzt zeichnet sich ein Umdenken ab. Das würdevolle Sterben in den eigenen vier Wänden und dem eigenen sozialen Kontext wird wieder als wertvoll erkannt. Doch nun muss die Realität diesem Wertewandel angepasst werden. O-Ton 32 Wichtig ist, sich immer wieder respektvoll einer solchen Situation zu nähern und sich klarzumachen was für eine große Bedeutung so ein Augenblick im Leben des sterbenden Menschen und auch seiner Angehörigen hat. Um einfach mit der Situation dann würdevoll und respektvoll umzugehen. Und an sich ist sie ja auch immer nur ein Erinnern daran, dass einem selbst diese Situation ja nicht erspart bleibt, sondern, dass man selbst auch irgendwann in dieser Situation kommt und dann wünscht man sich dann auch eine entsprechende Umgebung und eine entsprechende Begleitung. Sprecher: Zu Hause sterben Ambulante Palliativmedizin zwischen Bürokratie und Gesundheitspolitik Eine Sendung von Horst Gross Es sprach: Viktor Neumann Technik: Alexander Brennecke Regie: Beate Ziegs Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2008 1