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Spengler-Axiopoulos Redaktion: Sigried Wesener Stimmen: Sprecherin Sprecher Zitator O-Ton Ritsos (auf CD) Musik (auf CD) Musikeinspielung: CD 1,Stück 3, 00:26 ? 01:12 spielen und wieder ab 01:42 auf die Instrumentalmusik einsprechen und allmählich ausklingen lassen Zitator: An einem Maitag gingst Du fort, an einem Maitag habe ich Dich verloren, im Frühling, Sohn, wo Du so gern hinaufstiegst auf die Terrasse, um zu schauen, und unersättlich mit deinen Augen das Licht der ganzen Welt aufsogst???? Ach Söhnchen, wenn du mir auch die Sterne und den weiten Himmel zeigtest, ich sah sie noch leuchtender in deinen meeresblauen Augen??. Und sagtest mir, mein Sohn, dass all dies Schöne uns gehören werde, doch jetzt bist du erloschen und mit dir erloschen Licht und Feuer. (1) (zitiert aus: Jannis Ritsos, ?Unter den Augen der Wächter? (Buchtitel), ?Epitaphios? (Gedichttiel) S 11-12, Hanser 1989, Übersetzer: Armin Kerker) Sprecherin: Am 9. Mai 1936 wird in der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki bei einer Demonstration streikender Tabakarbeiter ein junger Mann erschossen. Das Zeitungsfoto seiner weinenden Mutter, die verzweifelt am Boden kniet, erschüttert einen Dichter, der damals selbst erst 27 Jahre alt ist. In einer einzigen Nacht schreibt er die zwanzig Gesänge des ?Epitáphios?, der Trauer einer Mutter um ihren Sohn nieder und wird damit berühmt. Sprecher: Kurze Zeit später wird der ?Epitáphios? unter der Diktatur von Ioannis Metaxás zusammen mit anderen ?gefährlichen? Werken verbrannt. Dies ist der Beginn eines fast vierzig Jahre dauernden politischen Systems der Verfolgung und Unterdrückung der Linken in Griechenland. Die heute gültige Fassung des Gedichtzyklus sollte erst 1956, zwanzig Jahre später, erscheinen. Vertont hat sie Mikis Theodorakis, der damals als Stipendiat der französischen Botschaft in Athen am Pariser Konservatorium studierte. Musikeinspielung: CD 1, Stück 1, 00:00-00:16, falls mehr Zeit, noch weiter Sprecherin: ?Epitáphios?, so lautet die orthodoxe Totenklage am Karfreitag. Sie erzählt die Geschichte der Kreuzigung aus der Sicht der verzweifelten Mutter Maria. Der junge Dichter Jannis Ritsos hat die moderne, säkulare Trauer einer Mutter im Frühling in diese alte byzantinische Form gefasst; zugleich verband er sie mit den griechischen Totenliedern, den Mirológia, die bei Beerdigungen von den Dorfbewohnern gesungen werden. Ihm war etwas völlig Neues gelungen, nämlich das traditionelle griechische Volkslied mit einer schlanken, poetischen Sprache zu verbinden. Sprecher: Wie sein Freund Jannis Ritsos in der Dichtung, knüpft auch Mikis Theodorákis bei der Vertonung des Werkes an die Wurzeln der Volksmusik sowie der byzantinischen Musik an und verbindet sie mit den Rembétika, den Liedern der Flüchtlinge aus Kleinasien. Er unterlegt seine Komposition mit dem Instrument der Huren und Zuhälter, der Bouzouki, die damals verpönt war. Diese herbe, bittere Musik verstärkt den Klang der Poesie von Jannis Ritsos: Musikeinspielung, CD 1, Stück 3, 02:51 ? 03:18 bis Ende Sprecherin: Im ?Epitáphios? hat Ritsos einen Ton gefunden, der zur Volkssprache, der Dimotikí, in einem lebendigen Kontakt steht. Er erinnert an den griechischen Dichter Dionysios Solomós, der im 19. Jahrhundert die Dörfer aufsuchte und sich Sprache, Gesten und Idiome der Menschen notierte. Dies war ein poetischer Fundus, auf den auch Ritsos zurückgriff. Die frühe Begegnung mit der Landbevölkerung und ihrer Sprache gehört zu den wenigen glücklichen Erinnerungen an seine Kindheit. Sprecher: Jannis Ritsos wird am 1. Mai 1909 in Griechenlands tiefstem Süden, an der Ostküste der Peloponnes, in Monemvassiá, geboren. Ein abgeschiedenes Felsennest, an dessen Steilküste das Meer seinen Rhythmus der Jahrtausende schlägt. Ritsos ist der jüngste Sohn einer wohlhabenden großbürgerlichen Familie. Er wächst in einem Haus auf, das von Krankheit und Tod, Wahnsinn und Einsamkeit geprägt ist. Die Regierung von Ministerpräsident Wenizélos hatte die Familien der Großgrundbesitzer in den zwanziger Jahren im Zuge einer Bodenreform entschädigt. Das Geld, das die Familie Ritsos erhielt, hatte der Vater in kurzer Zeit für seinen Lebenswandel durchgebracht. Die Mutter teilte ihr Leben mit einem Mann, der seine Tage in Kneipen und die Nächte beim Kartenspiel verbrachte. Ritsos notierte: Zitator: Die Erinnerung an den großen, schönen, arroganten und eigensinnigen Vater ist eine Erinnerung an die Pest, da alles, was er berührte, zerstört wurde.(2) (zitiert aus: Evi Petropoulou, Geschichte der neugriechischen Literatur, (Titel) Übersetzerin: Evi Petropoulou, S 317, Suhrkamp 2001) Sprecherin: Mit der geliebten Schwester Loula, mit der Ritsos ab 1921 das Gymnasium in der nächstgelegenen Provinzstadt besucht, verbindet ihn eine enge Beziehung. Der Lyriker Nikiphóros Vrettákos ging damals auf dieselbe Schule und erinnert sich an sie: Zitator: Die eng miteinander verbundenen Geschwister sonderten sich von den anderen Kindern ab. Der junge, sensible, die Einsamkeit suchende Ritsos flößte seinen Mitschülern eine Art Respekt ein. Man konnte sich die beiden Geschwister nicht getrennt voneinander vorstellen.(3) (zitiert aus: Jannis Ritsos,? Unter den Augen der Wächter?, (Titel), Hanser 1989, S 126, Übersetzer: Armin Kerker) Sprecher: Zu dieser Zeit stirbt Ritsos? älterer Bruder an Tuberkulose und auch die Mutter, die zeitweise in der Psychiatrie war, erliegt dieser Krankheit einige Monate später. 1923 gehen Loula und Jannis nach Athen, um dem traumatischen Familienschicksal zu entfliehen. Ritsos, der für seine schöne Schrift bekannt war, arbeitet in verschiedenen Ämtern als Schreibkraft, bis auch er 1926 an dem heimtückischen Lungenleiden erkrankt. Die Tuberkulose, die Krankheit der Habenichte und Hungerleider, haftet ihm von nun an wie ein Stigma an. Die folgenden Jahre verbringt er in Lungenheilanstalten in Athen und auf Kreta. Diese Zeit der langsamen und ruhigen Rhythmen in Sanatorien zwingt ihn, über sich selbst nachzudenken; sie ist zugleich eine Zeit der Entbehrung: er verbringt sie in Vergessenheit, als Kranker ?zweiter Klasse? in der ?Abteilung für Arme.? Kurze Musikeinspielung CD 2, Stück 4, 00:20 ? 00:25 Sprecherin: Die Zensur des Regimes von Diktator Metaxás zwingt Ritsos zur sprachlichen Selbstbeschränkung. Er entwickelt Formen des verknappten Ausdrucks, der Andeutung und der Ambivalenz. 1941 taumelt Griechenland in den zweiten Weltkrieg. Der kranke Dichter arbeitete während dieser Jahre in der Erziehungsabteilung der EAM, der Linken Nationalen Befreiungsfront. Nach dem Ende des Krieges wartet auf die gequälte Bevölkerung weiteres Leid: dem Dezemberaufstand von 1944 folgt der blutige Bürgerkrieg von 1945 bis 1949, in dem sich rechte Royalisten und die linke Volksfront in erbitterter Feindschaft gegenüberstehen. Dieser grausame Bürgerkrieg sollte das Klima Griechenlands noch für die nächsten Jahrzehnte vergiften. Sprecher: Ritsos fasst seine Vision von einer griechischen Einheit in zwei größere Gedichtzyklen, in denen er an den ?Epitáphios? anknüpft. ?Romiosíni? und ?Die Herrin der Weinberge?, die zwischen 1945 und 1947 entstehen. Während der Osmanischen Herrschaft wurde mit ?Romiosíni? das Griechentum bezeichnet. Es geht aus dem türkischen Wort ?Rum? hervor. Auch im modernen Griechisch ist ein ?Romiós? ein Synonym für einen stolzen Griechen. ?Romiosíni? - ?Griechentum? ist eine Hymne an die karge griechische Landschaft und die Menschen, die mit ihr verschmolzen sind: Zitator: Diese Bäume dulden einen geringeren Himmel nicht, diese Steine verweigern sich dem fremden Schritt, diese Gesichter können nur unter der Sonne sein? Diese Landschaft ist hart wie das Schweigen, sie presst in ihrem Schoß das heiße Gestein, in ihrem Licht die verwaisten Ölbäume und die Weinstöcke, sie presst die Zähne zusammen. Es gibt kein Wasser. Nur Licht?. Alle dürsten. Jahre nun. Alle kauen sie einen Bissen Himmel über ihrer Bitterkeit. Ihre Augen rötet die schlaflose Nacht, eine Furche tief, eingekeilt zwischen den Brauen, wie eine Zypresse zwischen zwei Bergen im Abendglanz.(4) (zitiert aus: ?Milos geschleift,? (Buchtitel) Reclam Leipzig 1979, S 14, ?Griechentum? (Gedicht) Übersetzer: Thomas Nicolaou) Musikeinspielung CD 3,Stück 1, 01:04 ? 02:04 Sprecherin: Auch nach dem Krieg führt Ritsos in Athen ein unbeachtetes Leben. Er hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, arbeitet als Schauspieler und Regisseur, manchmal auch als Tänzer bei drittklassigen Revuen. Eine sogenannte ?bessere? Arbeit konnte ein armer Provinzler nur finden, wenn er ein Gesundheitszertifikat und ein Entlassungszeugnis vom Militär vorlegen konnte. Einmal gelang es Ritsos jedoch, Gedichte in der avantgardistischen Literaturzeitschrift ?Nea Grámmata? zu veröffentlichen. Ihr Herausgeber war der konservative Lyriker und spätere Nobelpreisträger Giorgios Seféris. Ritsos berichtet: Zitator: Als die Zeitschrift ?Nea Grámmata? 1936 einige Gedichte von mir veröffentlichte, wussten die Redakteure nicht, dass sie von mir sind. Da mich dieser Kreis, zu dem auch? Seféris gehörte, ständig bekämpfte und boykottierte, wollte ich wissen, ob die Gründe hierfür mehr künstlerischer oder weltanschaulicher Natur waren. Ich schickte also der Zeitschrift unter dem Pseudonym Kostas Eleftheríou einige Gedichte. Die Redaktion war begeistert und druckte.. sie sofort. Als bekannt wurde, dass sie von Ritsos stammten, waren sie dort außer sich. (5) (zitiert nach: Jannis Ritsos, Deformationen, (Buchtitel) Romiosini Köln 1996, S 267, Übersetzer: Asteris Kutulas) Sprecher: Im Prozeß des Verfalls seiner Familie, der Krankheit und der ständigen Demütigungen sucht der Dichter Zuflucht bei den Dingen, die ihn umgeben. Die Welt des Jannis Ritsos besteht aus kleinsten und einfachen Dingen, sie werden in seiner Dichtung ständige Begleiter sein: Zitator: Unbedeutende Dinge, die dir gehören, uns. Ja, sie sind unbedeutend, aber sie bestätigen dir zart, dass du existiert hast, dass du existierst, existieren wirst.(6) (zitiert aus: Jannis Ritsos, Ikonenwand anonymer Heiliger, (Buchtitel), Volk und Welt Berlin 1986, Band 2, S 119, Übersetzer: Thomas Nicolaou) Sprecherin: Bei Ritsos werden die Dinge, das Haus, die Möbel, die Kleider und andere Gegenstände mit einer neuen Bedeutung aufgeladen, sie können sprechen und erwecken magische Assoziationen. Mit dem Blick auf Kleinigkeiten arbeitet der Dichter zielbewusst gegen eine quälende Selbstgefährdung an. Durch eine intensive sinnliche Beziehung zu scheinbar unbedeutenden Dingen vergewissert er sich immer wieder, dass Leben möglich ist. Eines seiner schönsten Gedichte erschien 1946 in der Sammlung ?Parenthesen?, zu Deutsch ?Beiläufigkeiten.? Der Titel gibt Auskunft über das Interesse, das seinen poetischen Blick leitet: Zitator: Der Sinn der Einfachheit Hinter einfachen Dingen verstecke ich mich, damit ihr mich findet. Findet ihr mich nicht, findet ihr die Dinge, ihr berührt, was meine Hand berührt hat, die Spuren unserer Hände treffen sich. Der Augustmond glänzt in der Küche wie ein verzinnter Topf (das ist zu dem Zweck, von dem ich spreche), er erhellt das leere Haus und das auf Knien liegende Schweigen des Hauses ? Schweigen bleibt immer auf Knien liegen. Ein jedes Wort ist ein Aufbruch zu einer Begegnung, viele Male gescheitert, und ein wahres Wort ist es dann, wenn es auf der Begegnung besteht.(7) (zitiert nach: Jannis Ritsos, Gedichte (Buchtitel) ?Der Sinn der Einfachheit? (Gedichttitel), Suhrkamp 1991, Übersetzer: Klaus-Peter Wedekind, S 11) Kurze Musikeinspielung: CD 2, Stück 4, 01:04 ? 01:12 Sprecher: Auch die Szenerie und die Ereignisse in Ritsos? lyrischer Welt kommen ohne Sensationen aus. Da ist ein Kranker, der der Musik einer Taverne in der Nachbarschaft lauscht. Ein Lastwagenfahrer bewacht seine Fracht von Honigmelonen und kämmt sich dabei die Haare. Aus der Ferne himmeln ihn ein paar Mädchen an. Die Früchte auf der Ladefläche faulen? Eine Schneiderin, die in der Dämmerung die Fensterläden schließt, hat den Mund voller Stecknadeln. Ritsos, der auch ein begabter Maler und Zeichner war, hat in vielen seiner Gedichte Szenen aus dem griechischen Alltag skizziert. In seiner Leidenschaft für das Leben und der Fähigkeit, die geringste Kleinigkeit, die unbeachtetste Person in Schönheit zu verwandeln, wird er zu einem Chronisten der Provinz von tschechowschem Format. Trotz ihres augenscheinlichen Interesses für einfache Dinge sind Ritsos? schönste Gedichte weit davon entfernt, ?einfach? zu sein: Zitator: Miniatur Die Frau erhebt sich vom Tisch. Ihre traurigen Hände schneiden dünne Zitronenscheiben für den Tee wie gelbe Räder für ein sehr kleines Wägelchen aus einem Kindermärchen. Der junge Offizier ihr gegenüber versunken im alten Sessel. Er achtet nicht auf sie. Zündet sich eine Zigarette an. Seine Hand mit dem Streichholz zittert, als das Licht sein rundes Kinn und den Henkel der Tasse erhellt. Die Uhr unterbricht ihren Herzschlag für einen Augenblick. Etwas wurde aufgeschoben. Vorbei der Augenblick. Es ist spät. Lass uns den Tee trinken. Könnte vielleicht der Tod mit solch einem Wägelchen kommen? Vorbeikommen und fortgehn? Dass schließlich nur bleibt dieses Wägelchen mit den gelben Rändern der Zitrone jahrelang abgestellt in einer Nebenstrasse mit ausgelöschten Laternen und dann ein kurzes Lied, ein Hauch, und weiter nichts? (8) (zitiert aus: Jannis Ritsos, Deformationen, (Titel), Romiosini Köln 1996,? Miniatur? (Gedichttitel), S 29 Übersetzer: Asteris Kutulas) Sprecherin: In dieser Szene hat Ritsos ein komplexes Miniaturdrama geschaffen, in dem die ?einfachen? Zitronenscheiben zu einer wunderbar komplizierten Metapher werden, die das Herzstück des Gedichtes ist. Es stellt Fragen über einen möglichen Tod. Wessen Tod? Des Augenblicks zwischen zwei scheinbar isolierten Menschen? Oder wörtlich, den möglichen Tod des jungen Offiziers während des Bürgerkrieges, der vom Schicksal beschlossen wird, als die Uhr für einen Herzschlag aussetzt? Das Gedicht stellt mehrere plausible Fragen, ohne eine Antwort anzubieten. Kurzer Musiktakt CD 2, Stück 5, 00:05 ? 00:15 Zitator: Ich kann nicht genau sagen, wie und warum ich mich besonderer Ausdauer und Hingabe so viele Jahre hindurch,? immerzu mit den ?Zeugenaussagen? beschäftigt und ihnen eine so herausragende Bedeutung beigemessen habe. Obwohl ich doch die langen, synthetischen Gedichte bevorzuge und zu diesen hinneige- trotzdem schreibe ich weiterhin diese lakonischen und oft epigrammatischen Gedichte??.. vielleicht auch aus dem Wunsch, einen Augenblick zu isolieren, festzuhalten, was seine ?mikroskopische? Tiefenuntersuchung ermöglichen würde?.(9) (zitiert nach: Jannis Ritsos, Deformationen (Buchtitel), Romiosini Köln 1996, Übersetzer: Asteris Kutulas, S 65-66) Sprecher: Jannis Ritsos wurde zum Zeugen von Krieg, Besatzung und Bürgerkrieg, weshalb er eine Gedichtsammlung, die ihm besonders am Herzen lag, ?Martiríes?, ?Zeugenaussagen? nannte. An dieser dreibändigen Edition arbeitete er seit 1938, parallel zu anderen Arbeiten, viele Jahre lang, bis sie ihren endgültigen Titel ?Zeugenaussagen? bekam. Wie bei den ?Parenthesen? geben auch hier die Dinge ein Geheimnis preis; diese ?greifbaren, unfasslichen und beruhigenden Gegenstände,? diese kleinen, alltäglichen Mythen, die ohne es zu wollen, an einem Drama, das sie nicht betrifft, teilhaben und in ihm sogar die Hauptdarsteller sind.?(10) (zitiert nach: Jannis Ritsos, Deformationen, (Buchtitel) Romiosini Köln 1996, S 68, Übersetzer: Asteris Kutulas In einer historischen Aufnahme aus dem Jahr 1966 rezitiert Ritsos eines seiner Lieblingsgedichte aus ?Martiríes?: Einspielung der CD Nr. 4, Ritsos liest Ritsos, 2, 04:42 ? 05:12 Zitator: Erinnerung Ein warmer Duft war in den Achseln ihres Morgenrocks haftengeblieben. Der Morgenrock am Haken des Korridors wie ein geschlossener Vorhang. Was jetzt noch geschah, war in einer anderen Zeit. Das Licht wechselte die Gesichter, alle unbekannt. Und wenn jemand ins Haus wollte, hob jener leere Morgenrock langsam, verbittert die Arme und schloss stumm wieder die Tür. (11) (zitiert aus: Jannis Ritsos, Milos geschleift (Buchtitel), Reclam Leipzig 1979, ?Erinnerung? (Gedichttitel), S 57, Übersetzer: Thomas Nicolaou) Sprecherin: Ritsos verstand seine Dichtung als Zeugnis ablegende Kunst. Sein politisches Engagement war Ziel häufiger Angriffe. Viele Widerstandskämpfer waren nach dem Bürgerkrieg in sozialistische Nachbarländer geflohen; die, die blieben, wurden von der rechten griechischen Regierung auf öde, wasserlose Inseln verbannt: Um die fünfzigtausend linke Demokraten wurden, da sie im Verdacht ?antinationaler Umtriebe? standen, in sogenannten ?Umerziehungslagern? interniert. Sprecher: Jannis Ritsos, der nie eine Waffe in die Hand genommen hatte, wird 1948 deportiert und nach Limnos gebracht. Von 1948 bis 1952 verbringt er vier Jahre in den Straflagern auf Límnos, Makrónissos und Aji-Stráti. Er überlebt schreibend. Bis zu seinem Tod 1990 hielt Ritsos seine Gedanken auf einem Holzbrettchen fest, das er auf den Knien liegen hatte. Seit der Zeit, als er unter den Bedingungen der Verbannung seine Gedichte in winzigkleiner Schrift auf Zigarettenpapier immer wieder abschreiben musste und dazu eine harmlos wirkende, aber praktische Unterlage brauchte, die er jederzeit mühelos verstecken konnte, wurde es für ihn ein transportabler Mini-Schreibtisch. Sprecherin: Ritsos wählt die Untertöne, eine leise, aber direkte Sprechweise, um vom Tod, der immer da ist, zu berichten. In einem Gedicht stellt er unter dem Titel ?Elementares? scheinbar alltägliche Fragen: Zitator: Hast Du dein Brot gegessen? Konntest du ruhig schlafen? Konntest du sprechen? Deine Hand ausstrecken? Hast du daran gedacht, aus dem Fenster zu sehen? (12) (zitiert nach: Jannis Ritsos, Unter den Augen der Wächter, (Buchtitel) Hanser 1989, ?Elementares? (Gedichttitel) S 98, Übersetzer: Armin Kerker) Kurze Musikeinspielung:CD 2, Stück 5, 00:29 ? 00:37 Sprecher: Auch nach dem Krieg sollte Griechenland eine schwierige Heimat bleiben. 1952 wird Ritsos aus Aji-Stráti entlassen, weil sich Künstler wie Louis Aragon, Pablo Neruda und Pablo Picasso für ihn einsetzten. 1954 heiratet er die Ärztin Garifaliá Giorgiádou aus Samos. Ein Jahr später wird seine einzige Tochter, Elefthería, was Freiheit bedeutet, geboren. Doch sein spätes Lebensglück blieb fragil. Er und seine Generation sollten noch Jahrzehnte später in der Öffentlichkeit als ?Unperson? gelten. 1967 putschten die Obristen und errichteten eine Militärdiktatur. Sprecherin: Wegen seiner labilen Gesundheit wird Ritsos in das Haus seiner Frau auf Samos gebracht, wo er sieben Jahre unter Hausarrest und strengster Bewachung lebt. Einige seiner Gedichte aus diesen Jahren sind luzide Beobachtungen über die Paranoia des Gefangenen, der den Zustand der allgegenwärtigen Bespitzelung erlebt und die Auflösung der Grenze zwischen Alptraum und Wirklichkeit. Gleichwohl mündet die verstörte Empfindung des Verlorenseins in ein Gefühl der unangefochtenen Sicherheit, bei sich selbst zu sein, denn der Blick des Dichters fällt immer wieder auf etwas Schönes: Zitator: Schönheit? ist etwas, was dich zwingt, (oder besser gesagt, sie suggeriert es dir), sie zu bewahren und mit ihr zusammen auch dich zu erhalten? (13) (zitiert nach: Jannis Ritsos, Ikonenwand anonymer Heiliger, (Buchtitel) Band 1, Volk und Welt Berlin 1986, S 216, Übersetzer: Thomas Nicolaou) Sprecher: In dem Gedicht ?Makrónissos? hatte Ritsos von dem Halbkreis gesprochen, den die Gefangenen im Lager schlugen, ?damit wir die kleine Blume nicht zertraten.? (14) (zitiert nach: Jannis Ritsos, Gedichte (Buchtitel), Suhrkamp 1991, S 13, Übersetzer: Klaus-Peter Wedekind) Diesen Gedanken nahm er in ?18 kleine Lieder der bitteren Heimat? auf, die er 1969 aus Samos schickte. Theodorákis vertonte sie und führte sie nach der Diktatur weltweit auf: Musikeinspielung: Lianotrágouda CD Nr. 5, Stück 2, 00:00 - 00:42 Zitator: Gespräch mit einer Blume Zyklame der Kykladen, Veilchen im Felsenspalt, wo fandest du die Farben um zu blühen, und wo den Stiel, dass du dich wiegst? Mitten im Felsen las ich das Blut auf, Tropfen für Tropfen, flocht mir ein rotes Tuch daraus und sammle jetzt die Sonne. (15) (zitiert nach: Jannis Ritsos, Unter den Augen der Wächter, (Buchtitel) Hanser 1989, ?Gespräch mit einer Blume? (Gedichttitel) S 75, Übersetzer: Armin Kerker) Musikeinspielung CD Nr.5 unterlegen , Stück 2, ab 00:42 noch ein wenig ausklingen lassen Sprecherin: In den fünfziger und sechziger Jahren schreibt Ritsos eine Reihe großer, dramatischer Gedichte, die 1972 unter dem Titel ?Die vierte Dimension? veröffentlicht wurden. Er war zu dieser Zeit spürbar stark vom Surrealismus beeinflusst und arbeitete mit Elementen der écriture automatique, die damals in Griechenland aufkam. Für Louis Aragon war dies nicht mehr das Griechenland eines Byron oder Delacroix, sondern ?ein Griechenland, das die Schwester eines Sizilien von Pirandello sein könnte, ein Griechenland, das die Atmosphäre der Gemälde de Chiricos atmet.? (16) (zitiert nach: Jannis Ritsos, Meletes gia to ergo tou, (Buchtitel) Diogenis Athen 1976, S 13-14, Übersetzerin: B. Spengler-Axiopoulos) Sprecher: Jannis Ritsos, der nie einen Beruf erlernte, hatte in seinen Personalausweis die Berufsbezeichnung ?Piitís?, zu deutsch ?Dichter? eintragen lassen. Das Schreiben war ihm zeitlebens größtes Bedürfnis und tiefste Leidenschaft. Ritsos hat der Nachwelt um die siebentausend Gedichte hinterlassen. Seine immense Produktivität wurde von griechischen Intellektuellen oft belächelt. Dem deutschen Leser blieb verborgen, dass er sich schon früh von der Kommunistischen Partei distanziert hatte. In späteren Gedichten bilanzierte er sorgenvoll die Zivilisationsbrüche des vergangenen Jahrhunderts und setzte sich vor allem mit dem Stalinismus auseinander. Zitator: ...und ich antwortete mit weit metaphysischeren Gedichten eines weit tieferen Realismus ? aber zusammen auch mit den verurteilten Katzen der Achmátowa ich glaube es waren schwarze sie saßen hungrig hinter dem Fenster und sahen auf die eisigen Fluten der Newa oder der Moskwa ich erinnere mich nicht genau mit zwei weiten Augen wie zwei erfrorene Jahrhunderte (17) (zitiert nach: Jannis Ritsos, Deformationen (Buchtitel), Romiosini Köln 1996, ?Das ungeheure Meisterwerk. Erinnerungen eines ruhigen Menschen, der nichts wusste? (Gedichttitel), S 213, Übersetzer: Asteris Kutulas) Sprecherin: Ritsos? ästhetische Sensibilität rettete ihn davor, zum Produzenten von Parteiliteratur zu werden. Es erschien wie eine Gnade, dass er trotz seiner lebenslangen Krankheit ein hohes Alter erreichen durfte. 1990 starb er in Athen im Alter von 81 Jahren. In Monemvassiá, wo er nicht leben wollte, wurde er begraben. Ganz kurzer Musiktakt: CD 2, Stück 6, 00:00 ? 00:10 Sprecher: Seine letzten Gedichte stammen aus dem Sommer 1987 und tragen den unglücklichen deutschen Titel ?Die Umkehrbilder des Schweigens.? Zu dieser Zeit weiß Ritsos, dass er krebskrank ist. Die Sammlung ist ein großer Abschied in achtundsechzig Gedichten. In jenem Sommer schrieb er jeden Tag ein Gedicht in Karlóvassi auf Samos. Es ist eine seltsame Rückkehr an diesen unscheinbaren Provinzort. In seiner Unauffälligkeit musste Karlóvassi geradezu Ritsos? Vorstellungen von der ästhetischen Wertigkeit des Alltäglichen entsprechen. Die ?Schönheit?, das ist ein Strohhut, der hinunterrollt ?durch die Sitzreihen des leeren Stadions?, ein ?tieftrauriges Pferd auf einer Holzbrücke? und eine ?stille Verrückte mit einem Zigarettenstummel und einem Zwieback.? Sprecherin: Diese Gedichte sind so etwas wie ein Vermächtnis. Klaus-Peter Wedekind hat sie in einer wunderbaren Übersetzung vorgelegt und darauf hingewiesen, dass der ganze Zyklus auf das letzte Gedicht ?Epilog? hinführt. Todkrank ergibt sich der Dichter nicht dem Sterben, sondern dem Leben, der Ungewissheit, und tauscht, sehend und lauschend, alle Erklärung gegen das Unerklärliche ein. Sicher ist nur, dass ?ich? Ritsos ist, der sich den Nachlebenden gegenüber als der Überbringer der Schönheit versteht und ihnen deshalb einen sorgfältigen Umgang mit seinem literarischen Erbe empfiehlt. Denn die Bedeutung seines Lebenswerks wird mit dessen ausnahmsloser Verpflichtung auf die Schönheit begründet: ?Die Schönheit/- niemals verriet ich sie.?(18) (zitiert nach: Jannis Ritsos, Die Umkehrbilder des Schweigens, (Buchtitel), Suhrkamp 2001, Übersetzer Zitat: Klaus-Peter Wedekind), S 143 Zitator: Als Epilog Denkt an mich zurück, sagte er. Tausende Kilometer ging ich ohne Brot, ohne Wasser, über Steine und Dornen, um euch Brot und Wasser und Rosen zu bringen. Die Schönheit - niemals verriet ich sie. Alles, was ich besaß, verteilte ich gerecht. Für mich selber behielt ich nichts. Bettelarm. Mit einer Lilie vom Feld erhellte ich unsere schlimmsten Nächte. Denkt an mich zurück. Und seht mir diese letzte Traurigkeit nach. Ich würde gern noch einmal mit dem dünnen Mondsichelchen eine reife Ähre schneiden. Auf der Türschwelle stehen, schauen und ein Getreidekorn ums andere mit den vorderen Zähnen zerkauen in Bewunderung und Lobpreis für diese Welt, die ich verlasse, in Bewunderung auch für Ihn, der den Hügel hinaufsteigt im Sonnenuntergang ganz von Gold. Seht: Am linken Ärmel hat er einen tiefroten viereckigen Flicken. Der ist nicht sehr deutlich zu erkennen. Und das vor allem wollte ich euch zeigen. Vielleicht vor allem deshalb lohnte es sich, dass ihr an mich zurückdenkt.(19) (zitiert nach: Jannis Ritsos, Die Umkehrbilder des Schweigens, (Buchtitel) Suhrkamp 2001, ?Als Epilog?, (Gedichttitel) S 141, Übersetzer: Klaus-Peter-Wedekind Musikausklang CD 2, Stück 10, 00:00 ? 00:20 oder später ausklingen lassen 9