COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 5.6.2007, 19.30 Uhr Mythos vom paradiesischen Europa - Über Tahar Ben Jelloun Von Joachim V. Hildebrandt Atmo 1: arabischer Markt O-Ton 1 Ben Jelloun, liest aus "Verlassen" Sprecher 1 (Zitat) Meine geliebte Heimat (ja, man muss "meine geliebte Heimat" sagen, der König sagt ja auch mein geliebtes Volk), heute ist ein großer Tag für mich, endlich habe ich die Möglichkeit, die Chance wegzuziehen, dich zu verlassen, deine Luft nicht mehr zu atmen, die Schmähungen und Erniedrigungen durch deine Polizei nicht länger über mich ergehen zu lassen, ich gehe weg, mein Herz öffnet sich, mein Blick ist auf den Horizont, auf die Zukunft gerichtet. Ich weiß nicht genau, was ich tun werde, ich weiß nur, dass ich bereit bin, mich zu verändern, frei zu leben, mich nützlich zu machen, Dinge zu unternehmen, die mich zu einem Mann mit aufrechtem Gang machen ... Autor Nachdem er das Einreisevisum und die Aufenthaltserlaubnis für Spanien erhalten hat, schreibt Azel, die Hauptfigur in Tahar Ben Jellouns Roman "Verlassen", diesen Brief. Im Flugzeug fühlt er sich befreit und doch auch bedrückt, als er die vertraute Umgebung allmählich aus dem Blick verliert. Der Roman spielt Ende der 90er Jahre als in Marokko das Königtum von Hassan II. zu Ende ging. Viele - vor allem junge - Leute sahen keine Zukunft in ihrem Land. Tausende von Oppositionellen verschwanden spurlos oder wurden in Wüstenlagern der Militärs gequält. Ben Jelloun war selber in einem solchen Lager eineinhalb Jahre interniert, bevor er 1971 nach Frankreich ausreiste. Atmo 2: Markt Esel Autor Der Roman "Verlassen" spielt zum großen Teil in der Hafenstadt Tanger. Azel, der als junger Jurist keine Arbeit findet, sitzt mit Freunden in einem der Cafés der Stadt. Gemeinsam träumen sie davon, die Meerenge von Gibraltar zu überqueren, um ein besseres und leichteres Leben in Europa zu finden. Obwohl sein zwanzigjähriger Cousin Noureddine vor kurzem bei dem Versuch ertrunken ist, in die "Festung Europa" zu gelangen. Atmo 3: Markt Esel Autor Die Situation ist hoffnungslos für junge Männer wie Azel. Nicht nur, weil sie keine Arbeit und damit keine Möglichkeit finden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie ist auch gefährlich: Sie könnten der Mafia der Schlepper in die Hände fallen oder den islamischen Fundamentalisten, die junge Männer als Dschihadisten rekrutieren wollen. Oder der Polizei, die korrupt ist. Deshalb wollen viele aus Nordafrika oder auch aus anderen afrikanischen Ländern auswandern. Gerade im letzten Jahr drängten verstärkt junge Maghrebiner und Schwarzafrikaner in das vermeintliche Eldorado EU. Afrikanische Internetseiten werben sogar für eine Auswanderung nach Europa: Sprecher 2 "Dort wirst du besser essen als im Senegal, hast eine kostenlose Unterkunft und wirst auch noch gratis telefonieren können." Autor Besonders Spanien wird empfohlen - als Sprecher 2 "das toleranteste Land der Welt in Sachen Ausländerpolitik". Autor Doch die Realität weicht deutlich von diesen Versprechungen ab. Je öfter wir hierzulande die Fernsehbilder zu sehen bekommen, desto alltäglicher werden sie: Leichen, vor allem junger Männer, die die Flut an die andalusische Küste gespült hat, manchmal nur mit Badehose bekleidet oder gnädig mit einem weißen Laken bedeckt. Die waghalsige Überfahrt in einer zerbrechlichen Nussschale endet nicht selten in einer Katastrophe. Musik 1: Nehki Lik, Let me tell you, Abdeslam Cherkaoui, 15" Autor Im letzten Jahr wurde die Straße von Gibraltar nur noch äußerst selten von Schleppern aus Afrika überquert. Denn die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla sind inzwischen noch fester abgeschottet worden. Seit die marokkanischen Behörden Ende 2005 den Transitausgangspunkt Nordmarokko blockiert haben, suchen die Migranten neue Routen. Die Hoffnung, das Europa ihrer Träume zu erreichen, bleibt bestehen. O-Ton 2, Ben Jelloun Sprecher 1 Die Jugendlichen wollen aus dem Land raus, sie wollen weggehen. Allerdings hat sich das Problem verlagert und zwar in Richtung auf die Kanarischen Inseln. Das heißt, die jungen Marokkaner versuchen, dorthin zu gelangen statt ans spanische Festland. Autor Aber die Lager auf den bei Touristen so beliebten Kanarischen Inseln sind überfüllt, so dass viele Afrikaner im Freien schlafen müssen. Spanien hat vor einigen Jahren entlang der Küste ein elektronisches Überwachungssystem installiert. Gleichzeitig patrouillieren Schiffe der Küstenwache, um die Boote der Migranten abzufangen. Trotz all dieser Maßnahmen gelangen jährlich etwa 25.000 Schwarzafrikaner über die Maghrebstaaten nach Westeuropa. O-Ton 3, Ben Jelloun Sprecher 1 Diese Route nach Spanien ist schwieriger geworden, da es immer mehr Überwachung gibt. Deshalb wählt man eine Route, die weniger überwacht wird, ist auf Lanzarote ausgewichen, wo ich letztes Jahr war und mir die Situation angesehen habe. Autor In einem Artikel zum Thema "Grenzgänger Europa" schrieb die Wochenzeitung "Die Zeit", dass die afrikanischen Bootsflüchtlinge auf den Kanaren für maximal 40 Tage interniert und dann auf das spanische Festland abgeschoben würden. Spanien müssten sie allerdings innerhalb von acht Tagen wieder verlassen. Was danach passiert, werde nicht weiter überprüft. Ob sie sich eine Arbeit in Spanien verschaffen oder nach Frankreich weiterziehen, interessiere niemanden mehr. Musik 2: Nehki Lik Autor Delf Schmidt kennt den Autor Tahar Ben Jelloun seit zwanzig Jahren. Er ist sein Lektor im Berlin Verlag. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit ihm? O-Ton 4, Delf Schmidt Die Zusammenarbeit ergibt sich aus der besonderen Situation. Ben Jelloun spricht kein Deutsch, er muss sich sehr auf uns verlassen, und wir haben als Form der Zusammenarbeit eine Trias entwickelt, d.h., die Übersetzerin, Ben Jelloun und ich beraten uns, was für Deutschland das Beste wäre. Nehmen wir den Titel des letzten Buches. Im Original heißt es "Partir". Wenn man es wörtlich übersetzen würde, hieße das "aufbrechen", "losgehen", "abhauen"... Im eigentlichen Sinne hieße es aufbrechen. Aufbrechen hat im Deutschen eine sehr positive Bedeutung. Aufbrechen in ein unentdecktes Land, in ein Paradies usw. Die Thematik des Buches ist aber, dass dieser Aufbruch in ein Scheitern führt oder nicht notwendigerweise in ein Glück führen müsste. Also haben wir uns überlegt, dass wir eine doppelte Bedeutung nehmen: Verlassen. Das heißt, etwas verlassen im Sinne von Aufbrechen, aber auch verlassen sein, im Partizip. Autor Mit dem Titel wird also bereits eine Interpretation vorgenommen. Dafür haben der Lektor und die Übersetzerin das Einverständnis des Autors eingeholt. Doch diese Interpretation entspricht genau dem, worauf Jelloun beim Thema Auswanderung aufmerksam machen will. Dass man, wenn man etwas verlässt, auch verlassen sein kann. Dass das eine mit dem anderen oft einhergeht. Azel verlässt die geliebte Heimat, um zu einem Mann zu werden, der ein neues Leben findet. Unterlegt von Musik 3, erst 15" frei: Al-warda As-sghira, The young rose, Abdeslam Cherkaoui O-Ton 5, Jelloun, liest aus "Verlassen" Sprecher 1 (Zitat) ... zu einem Mann, der keine Angst mehr hat, der nicht darauf wartet, dass ihm seine Schwester ein paar Scheine zusteckt, damit er sich auf die Straße trauen und Zigaretten kaufen kann. Zu einem Mann, der nie mehr mit Al Afia, dem Drogen schmuggelnden Gauner und korrumpierenden Schurken zu tun haben wird, zu einem Mann, der nicht mehr der Zuhälter von El Hadj sein wird, diesem senilen Greis, der an den Mädchen herumfummelt, ohne mit ihnen zu schlafen, zu einem Mann, der keine kleinen Jobs mehr machen muss, der sein Diplom nicht mehr vorzeigen muss, um zu bedeuten dass er zu nichts nutze ist. Ich gehe weg, meine geliebte Heimat, ich gehe über die Grenze, mit einem Arbeitsvertrag in der Tasche peile ich andere Orte an, endlich werde ich selber meinen Lebensunterhalt verdienen, denn mein Heimatboden war mir nicht gewogen, mir nicht und vielen jungen Menschen meiner Generation nicht. Autor Das sind viele schöne Träume, von denen in der Wirklichkeit nur wenige in Erfüllung gehen. Träume von einem gelobten Land, in das aufzubrechen sich für viele zu lohnen scheint. Aufbrechen im Sinne von "partir", dem Originaltitel des Buches im Französischen. Auf der bereits erwähnten afrikanischen Internetseite wird außerdem suggeriert, dass alles ganz einfach sei: Sprecher 2 (Zitat) "Wenn alle Männer eines Dorfes ihr Geld zusammenlegen, können sie ohne Probleme ein Boot kaufen. Ein Kahn mit einem guten Motor kostet nicht mehr als 4.500 Euro" Autor Das wären bei 50 Passagieren 90 Euro pro Kopf. Für Benzin, Lebensmittel und Schwimmwesten müssten noch einmal 150 Euro pro Nase veranschlagt werden. Wenn die Fahrt gut organisiert würde, so heißt es weiter, gäbe es: Sprecher 2 "keine Risiken bei der Fahrt über das Meer." Musik 4: The young rose, 15" Autor Tahar Ben Jelloun wurde 1944 in Marokko geboren. Nach der Emigration nach Frankreich studiert er in Paris Psychologie. 1975 promoviert er mit seiner Arbeit über die Situation der Immigranten in Frankreich. Seitdem hat er zahlreiche Romane veröffentlicht. International berühmt wurde er durch den Roman "Die Nacht der Unschuld", für den er 1987 den Prix Goncourt erhielt. Aufsehen erregte Jelloun auch mit seinen Kinderbüchern. 2002 erschien "Papa, was ist der Islam?" Nach den Anschlägen vom 11. September versucht der Autor darin, seinen Kindern den Islam zu erklären. Er beginnt mit der Geschichte Mohammeds, erzählt von dessen Kindheit und späterem Leben als Erwachsener. Es handelt sich um die Zeit zwischen dem neunten und elften Jahrhundert als die arabisch- islamische Zivilisation in Medizin, Philosophie, Mathematik, Architektur und Literatur höchste kulturelle Leistungen hervorbrachte. Eine Epoche kultureller Zusammenarbeit zwischen Juden, Arabern und Christen in Andalusien, die von Toleranz geprägt war. Auch heute, so die Botschaft des Buches, sei vor allem Toleranz die Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen. Musik 5: Let me tell you, 15" Autor Seinem Roman "Verlassen" hat der Autor eine Widmung vorangestellt. Für seinen Freund Flaubert aus Kamerun. Sprecher 1 (Zitat) Flaubert sagt: "Ich komme", wenn er geht, und: "Wir sind zusammen", wenn er von jemandem Abschied nimmt. Es ist ein Versuch, das Schicksal zu beschwören. In diesem Roman denken diejenigen, die gehen, nicht an Wiederkommen und wenn sie von jemandem Abschied nehmen, ist es für immer. Atmo 4: Muezzin (ruft zum Gebet) Allah u akbar Autor Tahar Ben Jelloun hält sich seit einigen Jahren meist in seinem Heimatort Tanger auf. In Paris wohnt er in einer geschäftigen Straße, unweit vom Quartier Latin. Die Wohnung liegt gleich unter dem Dach. Im Haus brennt kein Licht. Ich muss mich im Dunkeln zu seiner Wohnung empor tasten. Jelloun, der ein rotes Hemd und eine ockerfarbene Hose trägt, wirkt distanziert, aber er beantwortet alle Fragen offen. Bei unserem Gespräch stellt sich heraus, dass seine Romanfigur Flaubert nicht nur eine Romanfigur ist sondern im tatsächlichen Leben existiert. Flaubert kommt aus Kamerun, Zentralafrika. Jelloun sagt über ihn, dass Flaubert seine Landsleute dazu auffordere, in der Heimat zu bleiben, sie von dem Versuch abbringen möchte, über Tanger nach Spanien zu gelangen. Ich möchte ihn gern treffen. Nach meiner Rückkehr nach Berlin ist er zufällig für drei Tage in der Stadt. O-Ton 6, Flaubert Djateng Sprecher 2 (Übersetzung) Ich und einige meiner Freunde meinen, dass wir natürlich Bewegungs- freiheit haben möchten, reisen können möchten, andere Länder ansehen. Aber wir finden auch, dass man sich, wenn man ein Problem hat, der Verantwortung stellen sollte, dass man etwas dagegen tun und nicht davor weglaufen sollte. Man muss versuchen, die Situation zu ändern. Und die einzigen, die das können, sind die Afrikaner selber. Ich entscheide mich dafür, zu bleiben, weil ich mich verantwortlich für mein Land fühle angesichts unserer Geschichte und Tradition und mit einer Weltoffenheit, die es mir ermöglicht, auch woanders hinzugehen und zu sehen, wie andere es machen. Und vor diesem Hintergrund komme ich immer wieder nach Hause zurück und lebe dort und versuche, dort was zu ändern. Autor Im Roman ist Flaubert eher eine Randfigur. Einer, der verhalten auftritt, nur in Andeutungen spricht. Aber im Gespräch ist er ein sympathischer, selbstsicher wirkender junger Mann, einer, der kaum von seinen Überzeugungen abzubringen sein wird. Jemand, der weggeht, kann gewinnen aber auch verlieren. Für die Möglichkeit, in Europa mehr Geld zu verdienen, kann der Preis hoch sein: Einsamkeit, das Sich-Fremdfühlen, aber auch der Verlust der Würde. Dafür steht die Figur Azel. Azel muss sich, um auswandern zu können, auf eine homosexuelle Beziehung einlassen, obwohl er doch die Frauen liebt. O-Ton 7, Flaubert Sprecher 2 Viele haben keine andere Wahl als wegzugehen, sehen keine andere Möglichkeit - ob aus wirtschaftlichen, politischen oder anderen Gründen. Viele sind auch beeinflusst von dem Bild, das die Europäer in Afrika abgeben. Die Europäer, die dort leben, sind reicher, sie haben große Autos, schöne Häuser, und man stellt sich vor, das wäre das Leben in Europa. Autor Flaubert sieht das Problem, dass viele, die weggehen, die Nähe zu ihren Familien verlieren, zu ihrer Kultur, zu ihren Wurzeln. Doch manche kämen später wieder, weil die Beziehung zur Familie und zum Heimatland nicht völlig abgebrochen sei. Musik 6: Afak Gul li Ghir Iyyen, Please just say yes, 15" Autor "Alle Fiktion nähre sich von der Wirklichkeit" hat Jelloun einmal gesagt. Und dass er mit seinem Roman die Leser für das Problem der Auswanderung sensibilisieren wolle. Menschen auf diese Weise für bestimmte Themen zu interessieren, gelang dem marokkanisch-französischen Autor bereits mit Büchern wie "Papa, was ist ein Fremder?", die nach Gesprächen mit seiner Tochter entstanden sind. Der Titel erschien 1998 und verkaufte sich über eine halbe Million Mal. Der Roman "Verlassen" ist kein solches "Erklärstück" belehrt aber auch über den geschichtlichen Hintergrund des Konflikts. O-Ton 6, Ben Jelloun Es ist eine alte Geschichte zwischen Marokko und Spanien. Die arabische Anwesenheit dort geht bis aufs 12. Jahrhundert zurück. Die Spanier haben das in schlechter Erinnerung behalten, und deshalb existiert ein starker Rassismus gegen die so genannten "moros", wie es in dem Buch auch beschrieben wird. Viele Marokkaner haben sich in Spanien angesiedelt, haben sich mehr und mehr integriert aber nicht assimiliert, denn assimilieren bedeutet, auf seine Wurzeln zu verzichten. Musik 7: Afak Gul li Ghir Iyyen, Please just say yes, 15" O-Ton 8, Ben Jelloun, 18.44, ca. 15" Sprecher 1 Die Weigerung, sich zu assimilieren, ist vor allem in der Religion zu suchen. Für die Maghrebiner ist die muslimische Identität wichtiger als die Zugehörigkeit zur okkzidentalen Kultur. Ein Beispiel für gelungene Assimilierung ist Nicolas Sarkozy, der ungarische Eltern hatte und jetzt in Frankreich Präsident werden konnte. Die Algerier hingegen sind seit mehr als 100 Jahren hier und haben nicht mal einen Repräsentanten im Parlament oder in der Nationalversammlung. Autor Azels Schwester sagt im Roman über das Thema Herkunft: Sprecher 1 (Zitat) "Man kann nie vergessen, wo man herkommt. Unsere Herkunft verfolgt uns überallhin, man kann seine Wurzeln nicht so einfach abstreifen. Oft glaubt man, sein Denken verändert zu haben, doch unsere Mentalität ist tief verwurzelt". O-Ton 9, Ben Jelloun Sprecher 1 In Frankreich gibt es durchaus eine Vermischung von Immigranten mit Franzosen, aber das sind Ausnahmen. Es gibt keine allgemeine Angleichung. Immer noch sind psychologische Sperren vorhanden - auf beiden Seiten. Aber es gibt keine klaren Grenzen. Es gibt Mischehen zwischen Einwanderern und Franzosen, aber es sind nicht viele. Musik 8: Afak Gul Autor Jelloun ist ein Verteidiger von Moral in der Politik und ein Gegner von reinem Pragmatismus, der zu Zynismus führen könne, und dazu, dass sich allein das Recht des Stärkeren durchsetzt, wie er das in seinem Beitrag "Tyrannen sterben nicht" nach der Hinrichtung Saddam Husseins beschrieben hat. Der pädagogische Impuls, der in seinem Roman "Papa, was ist der Fremder?" steckt... O-Ton 10, Delf Schmidt ... ist letztlich ein moralisch-aufklärerischer Impuls. Seine früheren Romane über Mädchen, die als Jungen erzogen werden müssen, das alles sind aufklärerische Positionen. Autor Auch in seinem Roman "Verlassen" hat Jelloun den Anspruch, aufzuklären. In dem Fall über das aktuelle und drängende Thema illegale Migration. Jelloun hat den Flüchtlingen individuelle Gesichter gegeben und ihnen Geschichten zugeordnet. Damit gelingt es ihm, seine Leser für das schwierige Thema der Auswanderung, die sehr oft zu Zerrissenheit und Konflikten führt, zu sensibilisieren. Atmo 5: Männergespräch O-Ton 11, Ben Jelloun Sprecher 1 In Frankreich hat die Integration versagt. Mittlerweile stellt sich das Problem gar nicht mehr. Jedenfalls nicht für die Einwanderer, die inzwischen alt sind. Die interessiert es nicht, ob sie integriert werden oder nicht. Aber für ihre Kinder, die man heute le beur nennt, ist es wichtig. Autor Der negativ gemeinte Ausdruck Le beur ist durch die Umdrehung des Wortes arab entstanden. Durch eine nuschelige Aussprache blieb davon schließlich le beur übrig. Die Kinder der Einwanderer haben einen französischen Pass, sind also keine Einwanderer, werden von der französischen Gesellschaft aber mitunter so behandelt. Während der Vorstadtrevolten 2005 hatten diese jungen Leute ganz klare Forderungen, sagt Jelloun: O-Ton 12, Ben Jelloun Sprecher 1 Wir sind Franzosen, und Frankreich muss sich um uns kümmern! Bis heute hat sich aber nichts geändert, sie werden behandelt wie Franzosen der 2. Kategorie. Man kann nur auf die nächste Revolte warten. Autor In Jellouns Buch "Papa, woher kommt der Hass?" gibt es eine Geschichte, die heißt: "Das verratene Kind." Über einen Selbstmordattentäter. Und die Art und Weise, wie er dazu gebracht wird. O-Ton 13, Ben Jelloun Das sind ganz einfache Techniken, die auch bei Sekten angewendet werden. Methoden der Gehirnwäsche, wie man am besten Leute manipuliert. Als Schriftsteller interessiert mich, wie ich auf solche Entwicklungen in der Gesellschaft reagieren und wie ich mich in diese Thematik hineinversetzen kann. Ein Schriftsteller muss versuchen, das Innenleben eines solchen Menschen zu verstehen . Ich habe einen enormen psychologischen Aufwand betrieben, um zum Beispiel die Terroristen vom 11. September zu verstehen. Habe mir Fragen gestellt. Zum Beispiel, wie haben sie sich gefühlt am Vortag, dem 10. September? Woran haben sie gedacht? Autor Ala, den sie den Ingenieur nennen, versucht sich an diesem Tag von abschweifenden Gedanken zu befreien und sagt sich immer wieder: Sprecher 2 "Ich darf nicht denken. Ich darf nicht denken. Ich darf nicht denken, mich auch nicht erinnern ... kein Gedanke, kein Erinnern ... mein Kopf muss leer sein." Autor Auch an seinen Vater will er sich nicht erinnern, der ihm riet, die Sterne zu zählen, wenn er nicht einschlafen konnte. Ala zählt dafür die Stunden und Minuten, die ihn vom Tod trennen, einem sicheren und vorsätzlichen Tod, den er akzeptiert hat. Er hat keine Angst vor dem Tod, nur Angst vor der Schande, heißt es. In der Geschichte "Das verratene Kind" begibt sich Jelloun tief ins Innere der Psyche eines muslimischen Terrorhelfers mit Märtyrer-Ambitionen. Musik 9: Ya Hbibi Malek Sahi, Lover, why are you forgetful, 15" Autor "Verlassen" ist ein fesselnder Roman. In 40 Kapiteln wird von verschiedenen Personen erzählt, die aus der verzweifelten Situation in der Heimat in eine neue verzweifelte Situation in der Fremde geraten, wo ihnen Einsamkeit, Prostitution und der Verlust der Würde drohen. Einige Kritikerstimmen meinten, der Autor neige mitunter zur Vereinfachung der Handlung und bei der Charakterisierung der Protagonisten. Und die Dreiecksgeschichte zwischen Azel, seinem schwulen Gönner, dem spanischen Galeristen Miguel, der eine Scheinehe mit Azels Schwester eingeht, sei nicht unbedingt typisch für die Problematik der Migranten. Was sagt Jellouns Lektor Delf Schmidt dazu? O-Ton 14, Delf Schmidt In meinen Augen hat es eher die Struktur des Reigens und der Reihung auch als der psychologischen Feinzeichnung . Ich glaube nicht, dass man ihm vorwerfen kann, dass die Figuren nicht hinreichend bis in die letzte Tiefe psychologisch ausgelotet worden sind, denn er hat hier eine Vielzahl von Figuren vorgestellt. Er führt einen großen Bogen, eine große Reihe von Personen vor, um der ganzen Vielfältigkeit der Schicksale des Exodus gerecht zu werden durch eine Vielfalt von Personen, die er vorstellt. Autor Einer, der in Afrika einen Antrag für ein Visum stelle, werde automatisch als einer gesehen, der in Europa bleiben wolle, sagt Flaubert, eine der Figuren aus Jellouns Roman, der aber auch in der Wirklichkeit existiert. Doch das verfälsche das Bild. Denn es gebe ja auch Leute wie ihn, die reisen aber auch zurückkehren wollen. Flaubert arbeitet in der Entwicklungshilfe. Dadurch hat er Kontakte zu Organisationen in Europa. Als ich ihn in Berlin treffe, soll er einen Vortrag an der Humboldt-Universität halten. Was raten Sie den jungen Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens in Fischerbooten nach Europa kommen wollen? O-Ton 15, Flaubert Sprecher 2 Ich versuche sie davon zu überzeugen, dass es andere Wege gibt als nach Europa zu gehen. Für viele dieser Jugendlichen ist es fast schon eine Obsession. Als könnten sie sich nur verwirklichen, wenn sie nach Europa gingen. Ich rede mit ihnen - so viel wie möglich - um ihnen zu vermitteln: Wir müssen hier etwas ändern. Auch wenn das in manchen Ländern besonders schwierig sein mag. Aber es ist immer noch besser, zu versuchen, da etwas zu ändern, wo man ist, als die Flucht zu ergreifen. Autor Den Europäern möchte Flaubert auch etwas mit auf den Weg geben: O-Ton 16, Flaubert Sprecher 2 Nicht alle, die nach Europa kommen, sind Banditen und Kriminelle. Es gibt viele, die vielleicht nicht wohlhabend aussehen aber sehr gebildet sind und auch qualifiziert, und es ist wichtig, das anzuerkennen. Ich bin dagegen, dass so viel Geld für Prämien ausgegeben wird, um illegale Migranten zu finden. Und um Mauern zu errichten, Hubschrauber und Sicherheitsdienste zu finanzieren. Kann man dieses Geld nicht besser investieren und diejenigen unterstützen, die versuchen, in Afrika etwas aufzubauen, damit die Leute nicht abhauen? Autor Freie Wahlen zu garantieren, das allein reiche nicht, meint Flaubert. O-Ton 17, weiter, Flaubert Sprecher 2 Es gibt vier Dinge, die man dort unterstützen müsste: Ausbildung und Erziehung, Gesundheitswesen, Infrastruktur, die Straßen sind oft nicht gut, und eine bessere Transparenz d.h., dass die Entscheidungsträger auch Rechenschaft ablegen, zur Verantwortung gezogen werden müssen. Wenn man diese vier Dinge fördern und damit die Menschen in Afrika unterstützen würde, würde man vermutlich mehr erreichen als mit all diesen Abwehrmaßnahmen. Autor Ein Aspekt der Globalisierung ist, dass Geld und Waren uneingeschränkt zirkulieren können, doch die Menschen, die auswandern wollen, scheitern an den Mauern Europas. Bis zum Jahre 2010 will Marokko seine Zollschranken aufheben und mit der Europäischen Union eine Freihandelszone schaffen. Die Chancen der Marokkaner, im Raum der Gemeinschaft ihre Lebensbedingungen zu verbessern, werden dadurch kaum steigen. Wie geht es Flaubert, wenn er nach Europa kommt? Spürt er Fremdenfeindlichkeit? O-Ton 18, Flaubert Sprecher 2 Jemand wie ich ist davon nicht so betroffen. Problematisch ist es für Einwanderer, die inzwischen Europäer sind. Wenn es um Arbeitsplätze geht beispielsweise. Menschen also, die aus Afrika stammen aber in ihrer Identität, auch in ihrer Kultur eigentlich europäisiert sind. Die in Frankreich oder Deutschland geboren wurden und keine Afrikaner sind, auch nicht in ihrem Denken. Die sitzen zwischen den Stühlen. Die leiden wahrscheinlich am meisten unter Fremdenfeindlichkeit, und paradoxerweise sind sie gar keine Fremden, denn sie haben ja meist einen Pass des jeweiligen Landes. (Autor Der neue Roman von Tahar Ben Jelloun heißt "Die Früchte der Wut": O-Ton 19, Delf Schmidt ... über eine junge algerische Einwanderin der zweiten Generation der Einwanderung, die sich in einem Pariser Vorort durchsetzt gegen ihre muslimischen Brüder, ihre muslimische Familie, die Politikerin wird, und es ist der Weg dieser jungen Frau zu einer europäischen Position des Laizismus. Autor Laizistisch ist ein Land, wenn die Trennung von Kirche und Staat in der Verfassung verankert ist. Die Türkei war das erste islamische Land, das die Trennung von Kirche und Staat vollzog.) Was Afrika angeht, so möchte Flaubert darum bitten, dass die Medien hierzulande nicht immer nur über Katastrophen berichten. O-Ton 20, Flaubert Sprecher 2 Es gibt auch positive Dinge, von denen die Menschen erfahren sollten. Europäer haben meist ein negatives Bild von Afrika. Aber es gibt auch positive Geschichten. Ich möchte, dass darüber auch berichtet wird und nicht nur dann, wenn es ganz schlimm kommt. Autor Und wie fühlt er sich als Romanfigur in Jellouns Roman? O-Ton 21, Flaubert Sprecher 2 Das ist merkwürdig, weil ein Roman Fiktion ist und nicht Realität. Es ist so, als würde man in eine Zukunft geworfen. Andererseits hat es mich gefreut, weil ich mich in gewisser Weise wiedererkannt habe. Und weil ich dort vorkomme als jemand, der diese Alternative darstellt. Musik 9: The young rose, 10" Autor Wann schreibt Tahar Ben Jelloun eigentlich seine Texte? Früh oder abends? O-Ton 22, Ben Jelloun Sprecher 2 Ich schreibe vor allem vormittags, habe mein ganzes Leben mit der Hand geschrieben, aber mittlerweile schreibe ich mit dem Computer. Ich schreibe überall. Ich reise sehr viel, deshalb schreibe ich überall. Wenn ich einen Roman schreibe, sogar im Zug, auf Bahnhöfen, im Flugzeug oder im Hotel. Autor Wenn er nicht reist, schreibt er dann vorwiegend in Paris oder in Tanger? O-Ton 23, Jelloun Sprecher 1 Ich schreibe vor allem in Tanger. Ich habe keinerlei Bedürfnisse während ich schreibe, keine Musik, keine Gerüche, nur Stille. Stille finde ich vor allem dort, nicht in Paris. Paris ist sehr laut. Hierher komme ich vor allem wegen der Kontakte zu Freunden und meinen Verlegern. Autor Er schreibe immer in Französisch, gibt er mir zu verstehen. Als wir uns verabschieden, schlüpft er in seinen beigefarbenen Mantel, der mich an Marokko erinnert und an die Wüste. Genau so eine Farbe hat der Mantel. Wir gehen gemeinsam nach unten. An der Haustür schlägt er die entgegen gesetzte Richtung ein. Ich schaue ihm nach bis von ihm nur ein Punkt am Horizont zurück bleibt. Mir kommt es so vor, als nähme er mich mit in sein Schweigen hinein. Ein Abschiedswort hat er mir nicht mit auf den Weg gegeben. So wie Flaubert sagt: "Ich komme", wenn er geht, und: "Wir sind zusammen", wenn er von jemandem Abschied nimmt. Es ist sein Versuch, das Schicksal zu beschwören. 15 1