DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 31.07.2010 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 ? 20.00 Uhr Ortserkundungen Fluchtpunkt Agcasar Geschichten aus einem anatolischen Dorf Von Lothar Kittstein und Hüseyin Michael Cirpici URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Atmo Salman spielt Baglama und singt. O-Ton Salman Übersetzer 3 1989 sind wir raus aus Agcasar. Die Schlepper brachten uns zu einem Dorf bei Edirne und kassierten von uns die abgemachte Summe. Dann zeigten sie auf die griechischen Dörfer und sagten: "Ihr könnt jetzt da rüber gehen. Da drüben, wo die Lichter brennen, ist Griechenland." Wir sind dann zu Fuß durch die schlammigen Maisfelder! Fünf, sechs Leute waren wir. Kinder waren auch dabei. Gegen Morgen sind wir dann ganz in der Nähe eines griechischen Dorfes eingeschlafen. Als wir aufwachten bekamen wir Hunger und sind ins Dorf rein. Dann kam auch schon die Polizei und steckte uns in den Knast. Ansage: Fluchtpunkt Agcasar Geschichten aus einem anatolischen Dorf Ein Feature von Lothar Kittstein und Hüseyin Michael Cirpici Atmo Billardhalle O-Ton Kumru Übersetzerin 1 Ich hab das einfach nicht ausgehalten. Ich bin doch eine Mutter! Wer hält das ohne seine Kinder aus? O-Ton Ercan Übersetzer 1 Wie meinst du das? O-Ton Kumru Übersetzerin 1 Die wollten mit dem Boot rüber nach Griechenland...und das Boot ist gesunken. Und die haben gesagt: Alle sind tot! ? Alle tot. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Wo ist das passiert? O-Ton Kumru Übersetzerin 1 Gerade als sie an Griechenland vorbei waren. Mein Mann hat daraufhin einen Schlaganfall bekommen. Aber dann hat sich herausgestellt, dass das gar nicht meine Söhne waren. Das waren siebzehn Iraner! Die sind gesunken, und nicht meine Söhne! Sound Autor: London. London -Tottenham, um genau zu sein. Ein Migrantenstadtteil. Hier mischen sich Inder, Pakistani, Westafrikaner, Araber, Türken. Eigentlich wollte ich gar nicht hierher. Eigentlich hatte ich vor, etwas über meinen Vater und die erste Generation türkischer Einwanderer in Deutschland herauszufinden. Er war einer der ersten Türken, die eine Deutsche heirateten, in diesem Fall eine Deutsch-Niederländerin ? und er verließ uns ganz plötzlich, als ich noch im Grundschulalter war. Aber während ich recherchierte, lief mir im Berliner Kreuzberg-Museum Ercan Arslan über den Weg. Ercan erzählte mir von seiner Verwandtschaft, die verstreut in den Metropolen Europas lebt. Er könne in der Familie ein paar interessante Interviews zum Thema Migration arrangieren, zum Beispiel in London. Er bot sich auch an, für mich zu übersetzen. Spontan sagte ich zu. Und jetzt, kaum drei Wochen später, betrete ich mit Ercan, den ich kaum kenne, eine verrauchte Londoner Billardhalle namens "Club Agcasar", wo ein paar Männer und Frauen schon auf uns warten. Um ihre Geschichte zu erzählen. O-Ton Kumru Übersetzerin 1 Die haben sofort meine Aussage gewollt, haben gefragt: Warum bist du hier? ? Wie warum? Ich hab 7 Kinder hier! Zeig mir meine Kinder, dann fahre ich wieder zurück! Da sagte der Mann: Nein! Du musst hier erst Asyl beantragen. Ich hab gesagt: Nein! Ich bin nicht hier, um Asyl zu beantragen. Ich will nur meine Kinder sehen. Ich hab zweimal ein Visum beantragt und ihr habt es mir nicht gegeben. ? Nein! Wenn du hier kein Asyl beantragst, lass ich dich nicht gehen. ? Hast du eine Depression? Wurdest du von der Polizei geschlagen? Ich hab gesagt: Nein! ? Okay, setz dich und ruh dich erst mal aus! Du hast Stress, du hast eine Depression! ? Wurdest du geschlagen? Ich hab gesagt: Nein! Ich werde kein Asyl beantragen. Ich bin eine alte Frau. Was soll ich denn hier machen? ? Zum Schluss hat er uns dann doch Asyl genehmigt. Geh zu deinen Kindern hat er gesagt! Autor: In Berlin hatte ich zuerst gezögert. Hatte Ercan gesagt, ich wollte eigentlich etwas über meinen Vater herausfinden, den ich nie richtig kennenlernen konnte. Dem ich mich auf diese Art nähern wollte. Aber Ercan sagte nur, warte ab ? wer weiß, vielleicht näherst du dich deinem Vater. Und jetzt muss ich an ihn denken. Wäre er jetzt hier, an einem der Billardtische, würde ich ihn überhaupt erkennen? Den Mann, der uns sitzen ließ, meine Mutter und mich? Uns gegenüber sitzt Kumru, eine kleine, unauffällige Frau von vielleicht 65 Jahren. Inmitten des Lärms und des Rauchs erzählt sie ganz selbstverständlich von ihren Kindern, ihrem Leben hier. Mehr und mehr Leute kommen hinzu. Man begrüßt sich mit Umarmung, Kuss auf die Wange. Wer spricht, gestikuliert heftig. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Ibrahim! Ich möchte dich etwas fragen. Dieser Laden hier gehört doch dir? O-Ton Ibrahim Übersetzer 3 Ja. Danke, danke! O-Ton Ercan Übersetzer 1 Was bedeutet es dir, dass die Verwandtschaft hierher kommt? O-Ton Ibrahim Übersetzer 3 Es ist mir enorm wichtig, dass sie her kommen. Nur wenn sie hier sind, fühle ich mich hier auch wohl. Wenn sie nicht hier wären, wäre ich auch nicht hier. Es macht mich glücklich ? und stolz. O-Ton Turabi Übersetzer 4 Wenn du so gern hier bist, warum gehst du dann zurück in die Türkei? O-Ton Ibrahim Übersetzer 3 Ich gehe zwar zurück, aber dieser schöne Laden hier wird weiter uns gehören. Meinen Brüdern. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Gehst du für immer? O-Ton Ibrahim Übersetzer 3 Ja! ? Um Geschäfte zu machen. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Aber ab und zu kommst du wieder hierher zurück? O-Ton Ibrahim Übersetzer 3 Ja, aber nur, um nach dem Rechten zu sehen. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Und leben wirst du in der Türkei? O-Ton Ibrahim Übersetzer 3 Genau so ist es. Autor: Turabi mischt sich noch mal ein. Er glaubt, dass Ibrahim hier doch nicht so glücklich ist. Zwar sehr erfolgreich, aber Geld allein mache die Menschen wohl nicht glücklich. O-Ton Ibrahim Übersetzer 3 Ich bin hier nie richtig angekommen. Und es war wirklich sehr anstrengend meine Brüder hierher zu bringen. Das hat mich alles fertiggemacht! Und ich kann das einfach nicht vergessen. Und jetzt könnte ich die britische Staatsbürgerschaft haben und ich will sie gar nicht mehr! O-Ton Ercan Übersetzer 1 Wo genau wirst du denn hingehen? O-Ton Ibrahim Übersetzer 3 Nach Adana. Scheiß auf Europa! Autor: Ibrahim. An die 50, früh ergraut. Ein bescheidener Mensch, der es mit der Billardhalle zu etwas gebracht hat. An die dreißig Leute sind inzwischen gekommen. Ein Stuhlkreis hat sich gebildet. Ercan übersetzt meine Fragen ? jedenfalls nehme ich das an, denn ich verstehe kein Wort Türkisch. Auf einmal bin ich nervös. Alle diese Leute sind meinetwegen hier. Sie alle kommen aus demselben kleinen Ort in der Türkei: Agcasar. "Das Dorf", wie sie es nennen. Alle sind miteinander verwandt, und in London gibt es noch viel mehr Familienmitglieder. Auch in Paris, Berlin und anderen Städten. Ich will zwischenfragen, Verwandtschaftsverhältnisse klären, eine Chronologie fixieren. Überblick gewinnen. Aber das Gespräch läuft unaufhaltsam weiter. O-Ton Salman Übersetzer 3 Hidir wollte die Polizisten bestechen und sagte: "Mark, Mark!" Und der Polizist sagte: "Wir sehen uns noch." Im Revier schlug er Hidir sehr heftig und sagte dabei: "Mark, Mark!" ? Wir mussten uns ausziehen. Dann steckten sie uns nackt wie wir waren für viele Stunden in eine der Zellen. Später fuhren sie uns dann zum Gericht, stellten uns in eine Reihe und machten uns einen kurzen, schnellen Prozess, ohne dass sie uns irgendetwas fragten, oder wir irgendwas verstanden hätten. Sie gaben uns irgendwelche Stempel, tack, und schoben uns einfach ab nach Jugoslawien. Dort geschah das gleiche, tack, wieder ein kurzer Prozess und ab nach Italien. Die einen sagten: "Du kommst aus Jugoslawien!" Die anderen: "Du kommst aus Italien! Die wollten uns einfach schnell wieder loswerden. Sie banden uns im Zug mit Handschellen an Eisenstangen, damit wir nicht abhauen konnten. Zwanzig bis dreißig Stunden. Atmo Billardhalle Sound Autor: Salman. Mitte vierzig. Zerfurchtes Gesicht, umrahmt von einer silbergrauen Lockenmähne. Vollbart. Ein Hippie, denke ich, Ein alter türkischer Hippie in London! Er hat darauf bestanden, mit uns in ein ruhigeres Nebenzimmer zu gehen. Ich weiß nicht, warum. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass es Dinge gibt, über die in dieser Großfamilie nicht gesprochen wird. Nicht mit Absicht vielleicht, einfach aus alter Gewohnheit. Blinde Flecken, denke ich. Ein "missing link". Nur so ein Gefühl, dass ich noch etwas herausfinden muss, das ich jetzt noch nicht verstehe. Atmo Billardhalle O-Ton Ercan Übersetzer 1 Ich merke, dass wir unsere Vergangenheit gar nicht gut kennen? Jeder hat eine andere Ansicht. Wir haben keine verlässlichen Quellen! O-Ton Ali, Kumrus Mann Übersetzer 4 Unsere Eltern und Großeltern konnten uns nichts mit auf den Weg gegeben. Hätten sie das gewusst, dann wäre uns das heute so nicht passiert! O-Ton Ercan Übersetzer 1 Stimmt. O-Ton Salman Übersetzer 3 Bald werden uns unsere Kinder zur Verantwortung ziehen! Und sie werden sagen: "Scheiß auf unsere Väter!" O-Ton Ali, Kumrus Mann Übersetzer 4 Ich habe großen Respekt vor unseren Ahnen. Nur auf den heutigen Tag haben sie uns nicht vorbereitet. Aber was kann man da schon machen? Unsere Ahnen waren schon immer Auswanderer. Von Geburt an Auswanderer. Immer wieder auswandern! Da kann man nichts machen! Der Engländer gibt und wir essen, so ist es! Aber wenn die Ahnen Respekt verdienen, warum sind wir dann heute hier bei den Engländern? Sie sind damals schon vor dem Krieg mit Russland nach Afsin geflüchtet. Sehr viele sind dabei auf der Strecke geblieben. O-Ton Kumru Übersetzerin 1 Viele haben "Gras gefressen". O-Ton Ali, Kumrus Mann Übersetzer 4 Meine Tanten sind bis heute vermisst! O-Ton Kumru Übersetzerin 1 Und sein Vater ist vor Hunger gestorben. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Du bist also in Afsin geboren? O-Ton Ali, Kumrus Mann Übersetzer 4 Ja. Ich bin in Afsin geboren und aufgewachsen. Dann bin ich nach Adana ausgewandert. Von dort bin ich wieder ausgewandert und jetzt bin hier gelandet. ? Das Auswandern geht weiter! Ich frag mich, wohin das führen soll. Meine Mutter ist in Erzincan geboren. Ich bin in Afsin geboren. Meine Kinder sind in Adana geboren. Meine Enkel sind in England geboren. Autor: Ali, Kumrus Mann. Um die 70, Halbglatze. Er hat sich fein gemacht für das Gespräch. Müde Augen, denke ich. Als hätte er zu viel Ungerechtigkeit erlebt. Eine seltsame Suche spiegelt sich in all diesen Geschichten. Ruhelosigkeit. Ein Bedürfnis nach Klarheit, nach Wahrheit. Etwas treibt all diese Menschen um, es ist, als versuchten sie alle ständig etwas zu formulieren ? aber ich bekomme es noch nicht zu fassen. Atmo Billardhalle O-Ton Zeynep Übersetzerin 2 Sobald die Neuen hier ankommen, sehen sie, dass die Realität hier ganz anders ist als sie dachten. Und wir haben ihnen das vorgespielt. Bevor wir hierher kamen, wurden wir von unseren deutschen Auswanderern in die Irre geführt, und jetzt machen wir genau dasselbe mit den Verwandten im Dorf. Das jüngste Beispiel ist Ali Haydar. Was soll er denn machen, wenn er hier ankommt? Ich befürchte, er bekommt eine Depression. Er wird den ganzen Tag im Laden seines Bruders arbeiten müssen. Aziz kann doch nicht die ganze Zeit allein in seinem Laden arbeiten. Autor: Zeynep. Um die 50, kurze, graue Haare. Ercans Schwester. Ruhig, souverän. Sie ist, denke ich, was man eine coole Frau nennt. Klug, denke ich, diese Frau ist klug. Es ist spät geworden, die Billardhalle leert sich. Die meisten unserer Gesprächspartner sind gegangen. Zeynep steckt sich eine Zigarette an, schlägt die Beine übereinander, nimmt einen tiefen Zug. O-Ton Zeynep Übersetzerin 2 Ali Haydars Leben im Dorf ist wesentlich besser. Es geht ihm dort gut. Er kann im Dorf, oder in irgendeiner Stadt in der Türkei mit weniger Aufwand arbeiten und besser leben als hier. Alle die hier sind, hätten das so machen können. Ja, auch ich hätte in der Türkei bleiben können, zumal, wenn man bedenkt, dass ich hier schufte wie ein Esel. Die Menschen in der Türkei können sich die Sachen, die ich hier zum Essen auf dem Tisch habe genauso leisten. Warum bin ich denn dann überhaupt hier? Warum in die Fremde gehen, die Strapazen auf sich nehmen und dann mit dieser Sehnsucht leben? ? Wir waren unerfahren, dachten für leichte Arbeit bekommt man hier viel Geld. So ist es aber nicht. Arbeiten ist überall auf der Welt gleich schwer. Atmo Billard/Flughafen Türkei. Sound Atmo Taxi O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Ich heiße Ali Haydar Arslan. Ich bin 23 Jahre alt. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Was machst du momentan beruflich? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Im Moment mache ich gar nichts. Nur so ein paar Bauernsachen. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Und du arbeitest außerdem noch als Taxifahrer? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Ja. Aber nur so...als... O-Ton Ercan Übersetzer 1 Als Hobby? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Ja, genau. Als Hobby. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Du willst dieses Jahr noch nach England? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Ja, das habe ich vor! O-Ton Ercan Übersetzer 1 Ja, warum? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Jemand möchte mich dahin bringen. Und ich kein nicht "Nein" sagen. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Wer möchte dich denn hinbringen? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Mein großer Bruder. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Er lebt in London? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Ja! Autor: Die Türkei. Eine fremde Welt für mich. Istanbul kenne ich, bruchstückhafte Bilder aus meiner Kindheit tauchen auf. Aber nicht von hier, aus Zentralanatolien. Wir fahren in einem klapprigen Taxi ins Taurusgebirge. Die Gegend ist wüst und leer. Viel Geröll, nackte Erde, dazwischen zähes Gestrüpp. Nach drei Tagen in London bin ich mit Ercan nach Istanbul geflogen. Von dort nach Kayseri, dann drei Stunden Busfahrt nach Afsin. Ich will dieses Agcasar, das Dorf, kennenlernen. Mit uns im Taxi sitzt Ali Haydar ? der Mann, auf dessen Einreise Ercans Verwandte in London warten. Er war offenbar neugierig auf Gäste aus Europa. Wollte uns abholen, in Afsin hatte er schon ein Taxi gerufen und den Preis verhandelt, als wir aus dem Bus stiegen. Jetzt sind wir schon fast eine Stunde unterwegs. O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Am Flughafen kauften mir die Schlepper die Flugtickets. Eins nach London und ein weiteres nach Zypern. Dann gaben wir mein Gepäck nach London auf und ich ging zum Zoll. Dort gab ich vor nach Zypern zu wollen. So einfach geht das, dachte ich noch. Doch dann wollten die Beamten plötzlich meinen Pass sehen und sagten mir: "Vorhin haben sie doch ein Ticket nach London gekauft! Und jetzt zeigen sie uns hier ein Ticket nach Zypern?" Die hatten uns wohl die ganze Zeit beobachtet. Naja, die wissen, wie es läuft! Zu diesem Zeitpunkt waren die Schlepper schon längst weg, die sind rechtzeitig abgehauen. Ja, und dann haben sie mich festgenommen! Autor: Der Taxifahrer flucht. Die Piste ist kaum befestigt, von tiefen Rillen durchzogen. Es geht steil bergauf. Bei Regen ist der Weg hier unpassierbar, denke ich. Es geht in immer verstecktere Seitentäler, wir tasten uns höher und höher. Karge Landschaft. Sonnenverbrannt. Wieder das Gefühl, das ich in London hatte. Irgendetwas Besonderes hat es mit diesem Dorf auf sich. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Wie viel hat es dich bei deinem letzten Versuch gekostet? ? Ungefähr. O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 2500 Pfund hat mein Bruder bezahlt! O-Ton Ercan Übersetzer 1 Wird es dieses mal genauso teuer? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Dieses mal wird es noch mehr kosten! O-Ton Ercan Übersetzer 1 Noch mehr? ? Was wirst du machen, wenn du in London bist? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Wenn ich in London bin...zum Arbeiten gibt es den Laden meines Bruders! Dort werde ich erst mal arbeiten. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Was ist das für eine Arbeit? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Ja...so im Laden. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Du kannst dir nicht vorstellen wie es dort sein wird, oder? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Nein. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Kannst du dir denn vorstellen, das Dorf zu vermissen? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Ja. Natürlich! Atmo Dorf ? Brunnen ? im Hintergund Autor: Wir sind da. Auf 2000 Meter Höhe. Ich sehe aus dem Autofenster. Ein paar geduckte Häuser, ein staubiger Dorfplatz. Menschenleer. Ein Hund kommt angelaufen. Ein Brunnen tröpfelt. Das ist "das Dorf", wie sie in London sagen. Agcasar. Wie klein es ist, denke ich. Ein paar Häuser in den Bergen, weiter nichts. Ein Familiendorf, das sich selbst versorgt. Sich selbst versorgen muss, so weit draußen. Hinter den Häusern felsige, kahle Berghänge. Ein Mann kommt aus einem der Häuser und begrüßt Ercan. Das ist Zeynel. O-Ton Zeynel Übersetzer 3 Ich habe keine Angst. Wieso sollte ich auch? Vor den Menschen habe ich keine Angst, denn ich habe ja niemandem etwas Böses getan. Vor den Tieren habe ich auch keine Angst. Die wissen, dass ich blind bin und tun mir nichts. Das rede ich mir zumindest ein. Meine Frau sagt immer: "Geh nachts nicht draußen spazieren." Aber das ständige Zuhause-Sitzen langweilt mich. Atmo Dorf ? Hundegebell, Zikaden, Hühner, Dorfbrunnen, leichter Wind etc. Autor: Zeynel ist ungefähr 50, niemand scheint es genau zu wissen. Einer der wenigen, die noch das Ganze Jahr über hier leben. Die Sonne brennt. Ich schwitze. Ich beobachte Ercan, der hier geboren wurde. Als Kind hat er hier gelebt. Ist das noch sein Zuhause? Dass Zeynel blind ist, sieht man ihm nicht an, so sicher bewegt er sich. Wir gehen auf einer Schotterpiste durchs Gebirge, er will uns eine Stelle in den Bergen zeigen, wo er oft alleine sitzt und singt. O-Ton Zeynel Übersetzer 3 Einmal habe ich mir einen Tee aufgesetzt. Es war sehr kalt und mir war wieder langweilig, weil ich allein war. Da bin ich raus und hab gepfiffen und geschrien: "So helft mir doch! Hilfe!" Ich habe alle zusammen getrommelt. Özkan, Nurcan, Onkel Süleyman. Da kamen alle angerannt: "Was ist passiert?" haben sie gefragt. Ich sagte: "Ach, nichts. Was soll schon passiert sein?" Ich wollte nicht alleine Tee trinken und da habe ich mir gedacht, schrei doch mal das Dorf zusammen. Dann haben wir hier bis zwei Uhr zusammen gesessen. Haben Kartoffeln in den Ofen geworfen und Tee getrunken. Weißt du, die sprechen heute noch darüber. Autor: Das Dorf ist hinter einer Anhöhe verschwunden. Um uns nur sonnendurchglühte Leere. Wie kann man hier leben, denke ich. In dieser alles durchdringenden Stille. Zeynel ist stehengeblieben. Hält Ercans Hand. Mein Reisebegleiter sieht mich an. Aber muss man nicht sagen, ich bin der Begleiter? Ercan ist hier die Hauptperson. Alle reden mit ihm, alle öffnen sich ihm, als hätten sie lange auf ihn gewartet. Durch Ercan öffnet sich mir diese Welt. Sein Vater war der erste, der hier wegging, 1969. Andere folgten, nach Berlin, Paris, London. Mit Ercans Vater konnte ich nicht sprechen, er hat seit einem Schlaganfall die Sprache verloren. Vielleicht treibt Ercan ja etwas Ähnliches an wie mich? Sein Vater ? nah und doch unerreichbar. Die Familie über ganz Europa verstreut. Jetzt, seit ich hier bin, mitten im Nirgendwo, verstehe ich gut, wieso alle hier weg wollten. Das heißt, ich glaube zu verstehen, denn etwas später treffen wir Veli im Dorf. O-Ton Veli Übersetzer 4 Vor 11 Jahren habe ich angefangen, dieses Haus hier zu bauen. Es hat schon eine Menge Geld gekostet. Und ich habe hierfür auch eine ganze Menge sparen müssen. Schaut euch mal um. Ihr seht ja, die anderen bauen hier auch ihre Häuser, aber die sind lange nicht so schön wie meins. Sieht doch gut aus, oder? Die Fassade. Und drinnen ist es auch sehr schön. In Frankreich möchte ich kein Haus haben. Da gibt es nur diese hässlichen Betonbauten. ? Sieht doch schön aus, oder? Autor: Veli ist Rentner. Lebt in Paris. Aber hier hat er ein Haus gebaut. Ein schicker, gelb gestrichener Neubau. Mir fielen einige dieser neuen Häuser im Dorf auf, sogar mit Solarzellen auf dem Dach. Es wird investiert in Agcasar. Trotzdem wirkt es menschenleer. Auf Dauer, das heißt über das Ganze Jahr, leben hier nur acht Menschen. Alle alt oder krank. Veli, der 1974 nach Paris ging, verbringt vier bis fünf Monate pro Jahr im Dorf. O-Ton Veli Übersetzer 4 Ich vermisse das hier, wenn ich dort bin. Die Natur, die Verwandten, meine Freunde. Ich muss einfach jedes Jahr hierher kommen. Es geht mir so wie der Nachtigall, die in einem schönen goldenen Käfig eingesperrt ist und sich trotzdem nach Freiheit sehnt. Wir haben hier Gärten und Flieder, die Luft ist rein, das Wasser ist klar, die Menschen sind freundlich. Hier werde ich immer ganz ruhig. Jemand wie wir hat in Europa keinen Wert. Wir leben und funktionieren dort nur ? wie Roboter. Die verstehen sich dort untereinander, aber wir sind dort wertlos. Sound Autor: Eine ungeheure Sehnsucht bindet diese Menschen an Agcasar. Mein erster Eindruck war falsch: Das Dorf ist kein Ort, dem man entkommen will. Es ist karg und lebensfeindlich, aber doch eine Zuflucht. Wie ein Paradies, das man ständig sucht. Und aus dem man doch immer wieder verstoßen wird, weil man hier oben kaum leben kann. Was bindet die Menschen an diesen Ort? Was bindet sie so eng aneinander, dass jeder, der es sich irgendwie leisten kann, jedes Jahr so viel Zeit wie möglich im Dorf verbringt? Nur Heimatgefühl? Wieder habe ich das Gefühl, dass mir noch ein Mosaikstein fehlt. Es ist, als hätten alle vergessen, mir etwas Wesentliches mitzuteilen. O-Ton Nurcan Übersetzerin 3 In die Schule zu gehen war für uns ein Riesenalbtraum, oder? Unsere Beziehung zu den Lehrern und zu den anderen Schülern war sehr schlecht. Wir waren sechs, sieben Jahre in der Schule und hatten dort überhaupt keine Freunde. Wir haben unsere Lehrer immer verflucht, nicht wahr? Autor: Wir sitzen mit drei jungen Frauen im Schatten einer Felswand beim Dorf. Die drei sind in die Westtürkei gegangen, leben dort in den großen Städten. Moderne junge Frauen, aber sie verbringen jeden Urlaub im Dorf. Es geht um die Schulzeit in Afsin, dem nächstgrößeren Ort. O-Ton Nurcan Übersetzerin 3 Der Lehrer kam in die Klasse und fragte: Wer von euch fastet nicht? Los, Finger hoch! Die kleinen Kinder werden dauernd gefragt: Wo liegt denn Agcasar? Stell dir jetzt mal den psychischen Druck dieser Kinder vor! O-Ton Ercan Übersetzer 1 Der Lehrer hat Druck ausgeübt? O-Ton Nurcan Übersetzerin 3 So was ist uns oft passiert. Als wir auf der Straße gingen, riefen sie uns nach: Kurde! Kurde! O-Ton Sevda Übersetzerin 2 Ja, Kurde! Kurde! Kurde! O-Ton Nurcan Übersetzerin 3 Die haben uns gejagt. O-Ton Gülistan Übersetzerin 1 Die sind aus der Moschee raus und hinter uns her. O-Ton Sevda Übersetzerin 2 Und wir mussten unsere Identität verheimlichen. O-Ton Nurcan Übersetzerin 3 Ja, genau. Wir hatten Angst vor den Lehrern. Wir hatten dauernd Angst vor den anderen. (Kurze Pause) O-Ton Ercan Übersetzer 1 Was hast du gemacht als der Lehrer gefragt hat: Wer von euch fastet nicht? O-Ton Nurcan Übersetzerin 3 Ich habe natürlich den Finger gehoben! O-Ton Ercan Übersetzer 1 Du hast deinen Finger gehoben? O-Ton Nurcan Übersetzerin 3 Natürlich habe ich den Finger gehoben. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Warum hast du das nicht verheimlicht? O-Ton Nurcan Übersetzerin 3 Ich würde mich doch sonst selber verleugnen, nicht wahr?! Sound Autor: Die Sonne geht unter. Wir kehren zurück. Hinter uns lachen die Frauen über etwas, dass ich nicht verstehe. Die Sonne berührt den felsigen Gipfel über dem Dorf. Ich frage Ercan, was es mit dem Fasten auf sich hat. Ja, sagt er nur ? Aleviten fasten doch nicht. Aleviten, frage ich? Wir sehen uns an. Uns beiden wird klar, dass Ercan nie daran dachte, mir zu sagen, dass die Dörfler keine Sunniten sind. Dass sie einer islamischen Minderheit angehören. Die von der Orthodoxie nicht anerkannt ist, die immer wieder verfolgt wurde. Kurdische Aleviten, eine doppelte Minderheit! Ich will nachfragen, mehr wissen, aber Ercan berührt mich nur leicht am Arm und sagt: Morgen zeige ich dir etwas. Sound Atmo Kayseri ? Großstadt, dann ruhigere Seitenstraße O-Ton Ercan (deutsch): Man muss sich irgendwie entscheiden. Entweder man bleibt im Dorf unter sich, oder man ist gezwungen in die Stadt zu gehen und sich nach außen hin zu öffnen. Entweder gehst du auf die Felder und arbeitest und züchtest oder weidest Schafe, oder du willst weiter in die Schule gehen. Zwangsläufig überlegt man sich auch, wo will man hinziehen. Natürlich in die Stadt. Und die nächste Stadt ist Kayseri. Was anderes kam nicht in Frage. Autor: Kayseri. Eine türkische Millionenstadt. Hier ging Ercan zur Schule. Er ist unruhig. Nervös. Als ob er nicht wüsste, wohin. Seltsam, denke ich, es war doch sein Vorschlag, dass wir herfahren, er wollte mir seine alte Schule zeigen, aber jetzt gehen wir nicht hin. Wir stehen seit zwanzig Minuten vor seinem Elternhaus. Die Straße wirkt heruntergekommen, abweisend. Das Haus steht leer, ist verfallen. Die dunklen Fensterhöhlen verstärken mein Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt. Fast beiläufig zeigt Ercan auf ein Gebäude schräg gegenüber. Darin sei damals der Verein eröffnet worden. Welcher Verein, will ich wissen. Der Grauen Wölfe, sagt Ercan, türkische Nationalisten. O-Ton Ercan (deutsch): Diese grauen Wölfe die sind dann von Tür zu Tür gegangen, und haben geklopft und Spenden verlangt. Einfach Spenden. Und entweder du gibst Spenden, du bist dafür, oder du sagst nein, und dann bist du halt gefährdet. Es kann dir jederzeit was passieren. Oder die verdächtigen dich, dass du linksorientiert bist. Also, mein Bruder war ja 17 Jahre alt damals, also, in einem Alter, wo man sich schon politisch betätigen sollte. Und er war unpolitisch, immer noch, er ist immer noch unpolitisch. Und man hat ihn auch auf der Schule gezwungen, bei manchen Demonstrationen mitzumachen, Demonstrationen von den Grauen Wölfen. Er musste halt dabei sein, obwohl er zu deren Ansichten nicht stand, nicht geteilt hat. Meine Mutter hatte dann immer Angst gehabt, dass ihm was zustößt. Autor: Ich sehe die menschenleere Straße auf und ab. Wir sind die einzigen hier. Ich merke, wie meine Augen unwillkürlich die Fenster abtasten, um zu sehen, ob uns jemand beobachtet. Ercan zeigt auf ein anderes Haus. O-Ton Ercan (deutsch): Da wohnten auch Aleviten. Aleviten kennen sich untereinander, das fühlt man halt. Von der Sprache, von der Körpersprache auch. Die hatten auch zwei, drei Söhne, die waren auch linksorientiert. Eines Tages wurde deren Haus mit Maschinengewehren beschossen. Autor: Was weiß ich eigentlich über Aleviten? Sie gelten als liberal. Bei ihnen gibt es keine Imame. Kein Freitagsgebet. Und offenbar keine Fastenzeit. Eine Provokation für orthodoxe Muslime. Wir gehen einen Block weiter, stehen am Eingang des Schulhofs. Die Straße ist ruhig, kein Verkehr. Auf mich wirkt die Stille seltsam. Es ist eine Stille, die von Schüssen, von Schreien zerrissen werden will. Eine brütende, wartende Stille. Ercan starrt auf eine Stelle im Asphalt. O-Ton Ercan (deutsch): Als wir eines Morgens in die Schule gingen, da sahen wir so einen mit Zeitungen zugedeckten Mann. Drumherum waren Leute. Und als ich dann sah, dass das unser Lehrer war, der umgebracht wurde mit Steinen ... Der wurde an dem Kopf mit Steinen gehauen, und er ist dann gestorben. Das war so ein Revolutionärer, links orientierter Lehrer, der wurde von den "Grauen Wölfen" totgeschlagen. Das hat man schon, also, hab ich schon mitgekriegt. Das ich zum Beispiel nicht sagen durfte, dass ich alevitischer Kurde bin. Das haben wir auch als Kinder verheimlicht. Das durften wir nicht sagen. Sound Autor: Alevitischer Kurde. Von alldem hat Ercan bis gestern nie gesprochen. Ist diesen Leuten das Schweigen über die eigene Herkunft in Fleisch und Blut übergangen? Für türkische Nationalisten ist diese Mischung das perfekte Feindbild. Vor mir liegt der leere Schulhof. Es sind Ferien. Ich sehe mich um, unauffällig, bilde ich mir ein. Sofort merke ich, dass es das gar nicht gibt, sich unauffällig umsehen. Wer uns aus den gesichtslosen Wohnblocks, die auf die Schule herabschauen, beobachtet, sieht mich ganz genau. Autor: Viel später, zu Hause, finde ich bei Nachrecherchen mehr Details. 1979: Massaker an alevitischen Kurden in Maras, einem Ort nicht weit vom Dorf. In Dschorum, auch in der Nähe, gab es Krawalle, ebenfalls Massaker. In Sivas, einer Stadt etwas weiter weg, auch. Wie ein Funken, der auf Kayseri überzuspringen drohte. Junge Männer wurden nur auf Verdacht verprügelt oder sogar erschossen. Ich lese von einer muslimischen Regel, wonach, wer einen Aleviten tötet, ins Paradies kommt, denn Aleviten seien falsche Menschen, und wer einen tötet, tut Gutes. Eines Tages, auf dem Höhepunkt der Spannungen, kurz vor Beginn der Militärdiktatur, Ende August 1980, kam Ercans Onkel mit einem Auto aus dem Dorf. Er hielt am Hinterausgang des Hauses, und die Familie schlich sich hinaus. Ercan, seine Mutter und sein Bruder flohen nach Berlin, zum Vater. Ich schließe die Augen. Ich stehe in einer türkischen Millionenstadt, von der ich kurz zuvor noch nie gehört hatte, neben dem jungen Berliner, der mir bei meinem Projekt hilft ? und plötzlich denke ich: Das hier ist gar nicht mein Projekt. Es ist seins. Es ist Ercans Reise. Seine Suche. ? Wir fahren zurück nach Agcasar. Soundakzent. Atmo Dorf Autor: Es ist spätabends, mein letzter Tag in Agcasar. Ich sitze auf dem Dorfplatz, allein. Ercan besucht einen Mann, der im Sterben liegt. Wenn morgen die Sonne aufgeht, werden nur noch sieben Menschen ständig im Dorf leben. Ich erinnere mich an Tottenham, die Billardhalle, die vielen Migranten aus aller Welt... Wie weit weg das jetzt alles scheint! Mir fällt Aziz ein, der Bruder Ali Haydars, in London. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Fährst du jedes Jahr ins Dorf? O-Ton Aziz Arslan Übersetzer 3 Nein! Ich war schon fünf Jahre nicht mehr da. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Seitdem du den Laden hier hast? O-Ton Aziz Arslan Übersetzer 3 Wem soll ich denn den Laden anvertrauen? Das hier überlasse ich keinem Fremden! Autor: Aziz machte auf mich einen coolen, abgezockten Eindruck. Aber wer weiß? Vielleicht will er mit Ali Haydar auch ein Stück Heimat nach London holen? Einen Ruhepunkt im Leben in der Fremde? Ich lausche den Zikaden und denke an das Lied, das der blinde Zeynel uns auf dem Gipfel eines Berges vorsang. Selbstgedichtet, ein Klagelied über seinen Sohn, der in Europa lebt, und das aussterbende Dorf, seine Heimat, die ihn, den Blinden, gefangen hält und die er doch liebt. In meinem Kopf noch so viele Fragen. Heute Nachmittag erst habe ich erfahren, dass dieser Ort gar nicht die eigentliche Heimat der Familie ist! Sie kam erst 1904 hierher, aus Dersim, 500 Kilometer weiter östlich. Ein alevitisches Zentrum, noch dazu im kurdischen Kernland. Dort kam es immer wieder zu Pogromen durch türkische Nationalisten. Die Urgroßväter der heutigen Dörfler flüchteten aus Dersim ? und fanden Agcasar. Damals ein armenisches Dorf. Die Armenier, die hier lebten, spürten ihrerseits, dass eine Katastrophe nahte. Sie verkauften das Dorf an die flüchtigen Aleviten und zogen selbst nach Syrien. Wenige Jahre später wurden die Armenier Opfer des Völkermordes, den die offizielle Türkei noch immer leugnet. In Agcasar tragen Felder, Brunnen und Wege bis heute armenische Namen. Der Mond geht auf. Einen Moment lang scheinen selbst die Zikaden zu schweigen, so schön und ruhig liegen die Berge da, wie stumme Wächter. In London schließt Aziz jetzt seinen Kiosk ab, in dem er von morgens an arbeitet. Wie unwirklich jetzt die Vorstellung scheint, dass jemand Schlepper bezahlt, um hier weg zu kommen, nach Tottenham! O-Ton Aziz Arslan Übersetzer 3 Man macht seine Erfahrungen. Erfahrungen zu sammeln ist ja nichts Schlechtes. Wenn ich den Laden irgendwann mal verkaufe, kann ich sagen: Auch das habe ich gemacht! Nächstes Jahr werd ich den Laden wieder abwerfen. Ich hab Schulden, die müssen jetzt erst mal abbezahlt werden. Sobald die bezahlt sind, verkauf ich den Laden. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Gehst du dann wieder ins Dorf? O-Ton Aziz Arslan Übersetzer 3 Ach, ich kann ins Dorf. Ich kann aber auch ganz woanders hin. Vielleicht gehe ich auch mal nach Thailand. Autor: Aziz hat Schulden. Ali Haydar macht Schulden, um in London zu sein. Keiner findet Ruhe. Hier im Dorf nicht, im Ausland auch nicht. Die fünfzehn, zwanzig Häuser des Dorfs liegen im Mondlicht wie zusammengekauerte Tiere. Dunkel und kompakt. Am Berghang gegenüber sehe ich die weißen Steine des Friedhofs im Mondlicht. Dort liegen die alten Gräber der Armenier Seite an Seite mit den neueren der Aleviten. In diesem Dorf am Ende der Welt kreuzen sich die großen Linien der türkischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Wellen von Verfolgung und Gewalt. Ich sehe die schweigenden Berge im kalten Licht und atme tief durch. Veli, der so stolz auf sein Leben in Paris ist, will hier begraben werden, am Hang gegenüber. Ercan auch. Wie der sterbende Mann, zu dem er gerade gegangen ist. Habe ich jemals darüber nachgedacht, wo ich begraben werden will? Wo will mein Vater begraben werden, der unbekannte Mann, der doch auch einmal aus der Türkei aufbrach, um ein besseres Leben zu finden? In Agcasar stirbt heute Nacht ein alter Mann. Veli geht bald wieder nach Paris. Ali Haydar wartet auf die Ausreise. Stück für Stück stirbt das Dorf, die Spuren seiner Geschichte erodieren. Und doch lebt es weiter, in der Sehnsucht einer über Europa verstreuten Gemeinschaft, deren Fluchtpunkt Agcasar ist. Akustischer Übergang Atmo Arbeitszimmer Sound Autor: Ich bin wieder zu Hause in Köln. Ercan ist nach Berlin zurückgefahren. Vor mir liegt ein Berg unübersetzter Original-Ton-Bänder. So viel will ich noch wissen! Mehr über Aleviten, zum Beispiel über die Dedes, die weisen Männer, die für Aleviten so etwas wie Priester und Heiler sind. Und dann die offenen Fragen, mit denen auch all die leben, die ich getroffen habe: Ist Entfremdung der Preis für Freiheit? Oder Freiheit der Gewinn, den man mit Entfremdung gerne erkauft? Ich denke an meinen Vater, den ich kaum kenne. Ein Sunnit, aber so UNOrthodox wie die Aleviten. Ich weiß noch, wie befremdet ich als Kind war, als er einmal Besuch bekam und plötzlich einen Gebetsteppich herausholte, sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden kniete. Heimatlos, auch er, auf seine Art. Die Türklingel reißt mich aus meinen Gedanken ? die Post bringt ein Päckchen, aus London. Darin eine kleine Kassette. Ercan hat sie mir geschickt! Mit einem Zettel, wieder so unnachahmlich beiläufig: Bin kurz nach London. Hoffe, du kannst den O-Ton einbauen. Lieben Gruß, Ercan. O-Ton Ali Haydar: Übersetzer 2 Einer der Schlepper hat angerufen und gesagt, ich solle nach Istanbul kommen. Da bin ich sofort hin und habe dort drei, vier Tage gewartet. In dieser Zeit hat der Schlepper die Geschäfte erledigt. Dann hab ich mich ins Flugzeug gesetzt und bin hergekommen. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Kanntest du den Mann? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Nein. ? Doch! Ich hatte ihn etwa vier Monate vorher einmal gesehen und ihm die Fotos für den Pass gegeben. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Für den Pass? O-Ton Ali Haydar: Übersetzer 2 Ja, für den Pass. ? Sie hatten meinen Bruder angerufen und gesagt: "Er kann jetzt kommen! Alle Vorbereitungen sind getroffen" Ich solle einfach warten. Und das habe ich gemacht. Dann habe ich mich ins Flugzeug gesetzt und bin hier gelandet. Bin festgenommen worden und habe Asyl beantragt. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Was machst du, wenn du bleiben darfst? O-Ton Ali Haydar: Übersetzer 2 Was ich dann mache? ? Arbeiten natürlich! Autor: Er hat es geschafft! Ali Haydar ist in London. Saß ein paar Wochen im Aufnahmelager und wartet jetzt bei Aziz auf sein Asylverfahren. Ich sehe die beiden vor meinem inneren Auge. In dem mit Waren vollgestopften, engen, überheizten Kiosk, den Aziz führt, in London. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Hast du dir die Stadt schon mal angesehen? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Nein, noch nicht! Ich habe Angst rauszugehen. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Hat dir einer der Verwandten schon mal die Stadt gezeigt? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Nein. Die meisten haben viel zu tun. O-Ton Ercan Übersetzer 1 Und wie nimmst du deinen Bruder hier wahr? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Er arbeitet sehr viel. Er wirkt sehr müde. Es dreht sch alles um Arbeit. Sein soziales Leben ist... O-Ton Ercan Übersetzer 1 ...ist verkümmert! O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Ja. Von zuhause zur Arbeit und von der Arbeit nach Hause. Das ist sehr hart. Autor: Denkt Ali Haydar nicht ständig ans Dorf, fragt Ercan ihn? O- Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Ich vermisse es und habe große Sehnsucht. Alles auf einmal. Es geht mir immer mal wieder durch den Kopf. Auch wenn ich es nicht will. Ich kann das nicht steuern. Mein Gehirn macht das einfach. Aber man gewöhnt sich wohl daran. Bei den meisten läuft es so ab. Die Leute hier sagen: "Im ersten Jahr kannst du dich nur schwer daran gewöhnen. Aber danach willst du gar nicht mehr weg." Autor: Was sind seine Pläne für die Zukunft? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Zuerst Englisch lernen. Ich werde einen Sprachkurs machen. Und was danach kommt, wird die Zeit schon zeigen. Arbeiten natürlich. Was willst du hier sonst machen. Autor: Was hat er der Schlepperbande zahlen müssen? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Elftausend Pfund. Autor: Elftausend! Das ist viel Geld! O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Ja, sehr viel. Das muss ich hier abarbeiten und bezahlen. Schulden! Autor: Wie lange musst du dafür arbeiten, fragt Ercan für mich? O-Ton Ali Haydar Übersetzer 2 Keine Ahnung. Wenn ich gut arbeite, kann ich es in einem Jahr abbezahlen. Arbeiten. Wozu bin ich sonst hier? ? Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war herzukommen. Vielleicht wird alles gut. Oder auch nicht. Wir werden sehen. Deswegen sag ich: Die Zeit ist alles! ? Sie wird es zeigen. Sound Absage: Fluchtpunkt Agcasar Geschichten aus einem anatolischen Dorf Ein Feature von Lothar Kittstein und Hüseyin Michael Cirpici Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2010 Es sprachen: Hüseyin Michael Cirpici, Ergan Arslan, Omar El-Saeidi, Oliver Krietsch-Matzura, Ernst August Schepmann, Susanne Flury, Esther Hausmann und Sigrid Burkholder Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Jutta Stein Regie: Hüseyin Michael Cirpici Redaktion: Karin Beindorff 2