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Sprecherin Die veränderte Zeitnorm war eine Zwangsmaßnahme, um die nationale Wirtschaftkraft zu erhöhen, sagt der 20er-Jahre-Experte Walter Prigge von der Stiftung Bauhaus Dessau. Take 1 (Prigge) Dann muss man sehen, dass die Kriegssituation immer eine Zeit der Rationalisierung ist, weil das eine Zeit der Knappheit ist. Und das hat dazu geführt, dass der Gedanke der Normierung enorm vorwärts getrieben worden ist und durchschlagenden Erfolg hatte. Sprecherin Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in den vier Besatzungszonen verschiedene Zeitzonen. Erst 1947 setzte der Alliierte Kontrollrat mit einer allgemein gültigen Zeitnorm dem innerdeutschen Chaos ein Ende. Sprecher 1949 wurde die Sommerzeit wieder abgeschafft, bis die Frage mit der Ölkrise in den 70er Jahren erneut auf der politischen Agenda stand. Seit 1980 gibt es in Deutschland wieder eine Sommerzeit. Über ihren Sinn und Nutzen wird seitdem heftig gestritten. Zurzeit prüft eine EU-Kommission, welche Auswirkungen die Zeitumstellung auf Verkehrsunfälle, Energieverbrauch und Milchproduktion bei Nutzvieh hat. Musik Sprecherin Normen hat es schon immer gegeben: eine ägyptische Pyramide, eine römische Wasserleitung oder ein gotischer Dom sind ohne normierte Steine nicht denkbar. Mitte des 19. Jahrhunderts begann in England, zunächst mit standardisierten Gewindeformen, die weltweite Erfolgsgeschichte der genormten Industrieprodukte. Take 2 (Prigge) Teile waren immer schon normiert, weil das eben ökonomischer war. Aber das 20. Jahrhundert, auf dem Höhepunkt der großen Industrie und der Moderne, da müssen wir sagen, dass diese Art der Normalisierung dann in den Vordergrund tritt, und die Forscher sagen, dass das ein neues System ist, was es zwar immer schon gegeben hat, sich aber in der Moderne dann als Hauptgesetz dieser Gesellschaft zeigt. Sprecherin Anfang des letzten Jahrhunderts wurden Normen vor allem vom Militär gefordert. Im Ersten Weltkrieg passten die Ersatzteile der Fahrzeuge und Waffen nicht zueinander. 08/15 hieß der erste Standard für ein Maschinengewehr. Die Zahl ist bis heute ein Synonym für Gleichmacherei. Sprecher Als Antwort auf den erhöhten Normierungsbedarf wurde 1917 der "Normenausschuss der deutschen Industrie" in Berlin gegründet. Es wurde ein erfolgreiches Projekt. Mit der DIN-Norm für Papier gelang es dem Normenausschuss, einen internationalen Standard zu setzen, der bis heute gilt. Ob Briefumschläge, Drucker oder Faxgerät, jeder bezieht sich auf die weltweit akzeptierte Norm. Sprecherin Mit der industriellen Norm ließen sich fabelhafte Produktivitätsgewinne erzielen. Es war ein Generalangriff auf das traditionelle Handwerk, das bis weit in das 19. Jahrhundert das Wirtschaftsleben dominierte, sagt der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann. Take 3 (Liessmann) Ein Tischler kann aufgrund seiner physischen Ausstattung auf handwerkliche Art und Weise nicht beliebig viele Tische erzeugen. Ein Künstler, nehmen wir mal eine Opernsängerin kann, aufgrund ihrer natürlichen Beschränktheit, nicht unendlich beliebig viele Vorstellungen singen. Erst die technische Reproduzierbarkeit macht es möglich, dass ich am Fließband unendlich viel Tische erzeuge und die technisch gespeicherte Stimme der Opernsängerin als Schallplatte, als Tonband, als CD, als digitale Audiodatei unendlich oft reproduzieren und damit auch vertreiben kann. Sprecher Mit der Industrialisierung wurde der Ruf nach Normen immer lauter, und mit der Massenproduktion von Wirtschaftsgütern kamen massive Wirtschaftsinteressen mit ins Spiel. Musik Sprecher Die nationale Gleichmachungsstelle steht in Berlin. Das Deutsche Institut für Normung, kurz DIN genannt, ist ein privatrechtliches Institut, das per Vertrag auch im Auftrag der Bundesregierung national und international tätig wird und in der ISO, der "Internationalen Organisation für Normung", den deutschsprachigen Raum vertritt. Knapp 400 Menschen arbeiten in Berlin an der Normierung der Welt. Holger Mühlbauer ist einer von ihnen. Take 4 (Mühlbauer) Das Normungsinstitut ist nicht, wie manche Leute denken, eine monströse Behörde, das vom finsteren Drang getrieben ist, möglichst viele Normen in die Welt zu bringen, sondern es ist immer ein Spiegelbild der wirtschaftlichen Situation eines Landes. Sprecherin Wenn eine Norm in Auftrag gegeben wird, kommen die Interessensvertreter bei DIN an einem Runden Tisch zusammen, um über die neue Norm zu beraten. Die Hersteller, der Handel, Verbraucherverbände, Wissenschaftler und die zuständigen Behörden sind berechtigt, Einfluss zu nehmen. Die Vertreter der Unternehmen, Verbände oder Gremien haben alle ein klares Mandat, oft setzen ihre Interessen der Konsensbereitschaft enge Grenzen, doch alle sitzen zusammen, um wenigstens den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Take 5 (Mühlbauer) Insofern ist das, was hier erzeugt wird, nicht von vorn herein mit Rechtskraft versehen, aber dessen ungeachtet ist eine Norm, wo die drei Buchstaben DIN draufstehen, natürlich ein Dokument mit herausgehobener Autorität. Es ist etwas, von dem man weiß, es ist im Konsens erstellt worden, es hat eine Kommentierungsphase gegeben, das heißt der Normentwurf wird verfügbar gemacht für jedermann zur Kommentarabgabe, und die empfangenen Kommentare werden dann, sofern sinnvoll, auch eingearbeitet in die Schlussfassung. All das trägt dazu bei, dass eine Norm ein Dokument mit hoher Autorität ist, eine Alternative, eine gute Alternative zu der gesetzgeberischen Schiene. Sprecherin Am Ende verhindert eine erfolgreiche Selbstbeschränkung, dass der Gesetzgeber die Keule rausholt und mit einer Rechtsverordnung oder einem Gesetz zuschlägt. Sprecher Ob Windeln, Zahnbürsten oder Eierkocher, überall wird nach DIN-Norm produziert. Viele Dinge des alltäglichen Lebens sind schon genormt, aber es bleibt noch viel zu tun. Noch herrscht genügend Chaos in der bunten Warenwelt: Unterschiedliche Staubsauger-Beutel, nicht konvertierbare Ladegeräte fürs Mobiltelefon oder Stecker, die im Ausland in keine Steckdose passen, sind ein beständiges Ärgernis für die Verbraucher. Und natürlich hegt jeder den Verdacht, dass Handy-Hersteller und Staubsauger-Fabrikanten auch gar keine verbindlichen Normen wollen, weil sich ohne Norm mehr Geld verdienen lässt. Sprecherin Ohne Normierung wären die Kunden im Baumarkt und anderswo eins, zwei, drei aufgeschmissen. Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass die Armatur, das Waschbecken und die Abflussrohre problemlos zueinander passen. Normierung hat tatsächlich eine entlastende Funktion, man muss darüber nicht nachdenken, man muss nicht prüfen, man muss nicht überlegen, also man kann sich drauf verlassen, und so sind die Verbraucher oft froh, wenn die großen und kleinen Dinge des Alltags normiert und verbindlich geregelt sind. Musik Sprecher In der Wirtschaft gilt eine einfache Formel: Wer die Norm hat, hat die Macht. Im Zeitalter der Globalisierung bestimmen Normen und Standards immer mehr den wirtschaftlichen Erfolg eines Produkts. Wenn es irgendwie geht, setzen die Firmen ihre eigene Norm. Als sich kürzlich große Filmverleiher auf das DVD-Nachfolgeformat Blu-ray Disc geeinigt hatten, stieg der Aktienkurs in schwindelerregende Höhen. Die Konkurrenz HD-DVD hatte das Nachsehen und gab auf. Take 6 (Mühlbauer) Das aktuelle Beispiel Blu-ray zeigt, wie massiv große namhafte Hersteller für ihre Interessen kämpfen, wobei hier weniger wir involviert sind. Leider muss man sagen, aber sicherlich ist dass ein schwieriges Terrain, insbesondere dann, wenn große Hersteller Unsummen investiert haben bereits in ihren Standard und dann natürlich versuchen, den dann am Markt auch durchzudrücken. Da ist dann wenig Platz für Konsensfindung, da geht's dann nur noch um wirtschaftlichen Wettbewerb. Inwieweit das wirtschaftlich sinnvoll ist und insbesondere für den Verbraucher sinnvoll ist, ist eine andere Frage. Sprecherin 2006 wurden in Deutschland 650 Millionen Euro in 2500 neue Standards investiert. Laut einer Studie des Fraunhofer Instituts für Innovationsforschung steht dem ein jährlicher Nutzen von 16 Milliarden Euro gegenüber. Holger Mühlbauer vom Berliner DIN-Institut. Take 7 (Mühlbauer) Im Moment ist der Bestand an Normen an die 30 000, klingt viel, aber das, denke ich, ist einer hochindustrialisierten Gesellschaft nicht unangemessen. Ansonsten gibt es natürlich noch andere normschaffende Institutionen im elektrotechnischen Bereich beispielsweise. Wichtig ist vielleicht auch noch hinzuzufügen, dass das DIN Mitglied in europäischen und der internationalen Normungsorganisation ist, und dass DIN mit an vorderster Front ist bei der Federführung von solchen globalisierten Normungsprojekten, oder zumindest europäisierten Normungsprojekten. Sprecherin Nicht nur DIN oder VDE, auch Unternehmen, Verbände und Regierungen setzen Normen. Dabei spielt der nationale Anteil eine immer geringere Rolle, denn die globale Wirtschaft verlangt internationale Normen, um effektiv produzieren zu können. Mittlerweile werden rund 90 Prozent der nationalen DIN-Normen auch im Ausland verwendet. Mit der Schaffung des EU- Binnenmarktes wurden die Normen angeglichen. Europäische Gemeinschaftsprojekte wie der Airbus sind ohne länderübergreifende Normung gar nicht denkbar. Sprecher Der globale Kampf um die Norm ist in vollen Gange. 2007 stelle das Bundeswirtschaftsministerium über zwei Millionen Euro zur Verfügung, um Projekte aus der Nanotechnologie oder der Medizintechnik auf mögliche Standards zu untersuchen, die für eine Normung geeignet sind. Wer hier den Wettbewerb gewinnt, ist wirtschaftlich auf der sicheren Seite. Musik Sprecherin Traditionell stehen vor allem Behörden im Verdacht, mit gesetzlich verordneten Normen mehr Schaden als Nutzen zu stiften. Man vermutet einen chronischer Hang zur Überregulierung: Im fernen Brüssel sitzen gut bezahlte Beamte, die Steuern verschwenden, während sie ständig neue Regeln ersinnen, um den Bürgern das Leben zu schwer zu machen, lautet ein gängiges Vorurteil. Take 8 (Mühlbauer) Die Beispiele, die in der Öffentlichkeit kursieren seit Jahr und Tag, wie zum Beispiel die Gurke oder der Treckersitz, die immer wieder hervorgeholt werden, wenn über oder gegen Bürokratie geschrieben wird, die haben mit uns nichts zu tun. Das sind nicht Normen, die wir erlassen haben, sondern das sind Dinge, die entweder die Europäische Kommission in Form von Direktiven herausgebracht hat oder die der Gesetzgeber anderweitig erlassen hat. Das waren nicht wir, wir werden leider nur alle in einen Topf geworfen, wir sind es nicht, sondern das DIN ist ein Angebot für freiwillige Regelsetzer. Sprecher Holger Mühlbauer wäscht seine Hände in Unschuld. Er wähnt sich bei den Guten. Auch die Politik hat das Problem verstanden. Edmund Stoiber fordert einen europäischen Normen-TÜV. Er will jede neue Regelung auf ihre "zwingende Notwendigkeit und überzogene bürokratische Lasten" hin untersuchen. Edmund Stoiber als Tarzan im europäischen Bürokraten- Dschungel. Musik Sprecherin In der Weimarer Republik wurde erstmals umfassend genormt. Jetzt hatten alle verstanden, dass es ohne verbindliche Industriestandards nur wenig zu produzieren gab. Auch Schulen wie das Bauhaus, die zunächst noch handwerklich-künstlerisch orientiert waren, setzten schon bald auf Normierung und industrielle Fertigungsverfahren. Sprecher Eines der erfolgreichsten Projekte der Zwischenkriegszeit war die Beseitigung der Wohnungsnot. Doch der genossenschaftliche Siedlungsbau hatte die Normierung der Bauwirtschaft zur Voraussetzung, sagt Walter Prigge von der Stiftung Bauhaus Dessau. Take 9 (Prigge) Sie müssen sich eben vorstellen, die Massen werden ein großes Problem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie müssen auch teilhaben an dem Konsum, jeder soll die gleiche Ration Wohnung bekommen, die gleiche Ration Verkehrsinfrastruktur und so weiter und so fort. Man kann sagen, es darf kein Raum verschwendet werden, und dann beginnt die Idee, dass man sagt, man muss kleine Wohnungen bauen, neue Typen erfinden, Kleinwohnungen. Und diese Bewegung ergreift dann die Architektur und den Städtebau der zwanziger Jahre, und eigentlich geht es dann nur noch um die Wohnung für das Existenzminimum, also Kleinstwohnungen, die dann auch so zusammen sortiert werden, dass daraus eine neue Stadt wird. Sprecherin Ernst Neufert war ein begabter Bauhaus-Schüler, der schon bald ein enger Mitarbeiter von Walter Gropius wurde. Für seine Studenten hatte Neufert Normzettel entworfen, auf denen die notwendigen Maße für ganz unterschiedliche Bauaufgaben standen. Die Studenten sollten nicht jedes Mal aufs Neue Schlafzimmer, Flure oder Garagen vermessen müssen. Take 10 (Prigge) Um diesen Entwurfsvorgang zu rationalisieren, hat Neufert alles Wissen eingesammelt und ein enzyklopädisches Handbuch geschrieben, was dann 1936 herausgekommen ist und durchschlagenden Erfolg hatte. Sprecher Es gab gleich mehrere Neuauflagen. Mit der "Bauentwurfslehre" hatten die Architekten ein Nachschlagewerk, das die Größe eines Karnickelstalls ebenso vorgab wie den Platzbedarf für Mülltonnen oder das Automobil. Das nützliche Handbuch war auch Albert Speer nicht entgangen. Hitlers Baumeister und späterer Reichsminister für Bewaffnung und Munition musste normgerecht produzieren, weil der Kriegsverlauf davon abhing, und auch der Wiederaufbau der zerstörten Städte konnte nur durch streng rationalisiertes Bauen gelingen. Dabei half Neufert, der unter Speer Reichsnormierungsbeauftragter wurde. Sprecherin Damals schrieb Neufert ein weiteres Buch. Seine "Bauordnungslehre" von 1943 war kein Handbuch mehr, sondern ein monströses Regelwerk mit normativem Charakter, sagt Wolfgang Voigt von Deutschen Architektur Museum in Frankfurt am Main. Take 11 (Voigt) Er glaubt an die Normung, er entwickelt sie zu einem universellen System, und er will sie durchsetzen. Das erste Buch, das ist eigentlich das Handbuch für die Masse der Praktiker, und das wird ja auch in einer ungeheuer großen Auflage vertrieben. 100 000 Exemplare, das muss man sich mal vorstellen, also jeder, der irgendwie mit Bauen zu tun hatte, hat dieses Buch benutzt. Das andere Buch, das absolute Gegenteil, 1500 Exemplare, das ist ein Buch für die Experten, und das ist ein Buch, um zu überzeugen. Das eine ist der Katechismus für die Masse, mit tausenden von praktischen Lösungen und das andere Buch, das ist die Bibel, die will überzeugen. Sprecherin Die Elite im Dritten Reich sollte überzeugt werden, jene Fachleute, die für die rechtsverbindlichen Normen zuständig waren. Mit dem Segen der allerhöchsten Stellen saß Neufert damals am Schreibtisch. Musik Sprecher Was lehrt der Fall Neufert? Bilden Normierung und Kontrolle eine unvermeidliche Symbiose? Auf jeden Fall nimmt mit der Normierung auch die Kontrolle zu, sagt der Philosoph Konrad Paul Liessmann. Er ist sich sicher, dass die Industrialisierungs- und Normierungsprozesse eine gewaltige Kraft und Dynamik erzeugen, und zwar aus einem simplen Grund. Take 12 (Liessmann) Normieren heißt ja Normen setzen, und Normen sind gültig, wenn man sie befolgt, und wenn man sie befolgt, verstärkt das wiederum die Norm. Es hat ja auch Versuche geben, Normen einzuführen, an die sich niemand gehalten hat, die den Menschen vollkommen egal waren. Aber dort wo sich Normen durchsetzen können, entwickeln sie eine unglaublich strukturierende Kraft und regeln, um nicht zu sagen, reglementieren dann in der Tat nicht nur Produktionsprozesse sondern auch Lebensbereiche. Sprecherin Ein Beispiel: Mit der neu entwickelten Radio-Frequenz-Identifikation, dem RFID-Verfahren, lassen sich Gegenstände und Lebewesen automatisch und ohne Berührung lokalisieren und erkennen. Die Branche boomt, wahrscheinlich wird schon bald der gute alte Strichcode durch das neue Verfahren ersetzt. In einem entsprechenden Weblog ist zu lesen. Sprecher Um RFID endgültig zum Erfolg zu bringen, muss nach der erfolgreichen Standardisierung der RFID-Technik die Standardisierung der Anwendungen selbst folgen. Damit würde sich endgültig ein erheblicher Markt innerhalb der IT-Branche eröffnen, der auf Jahre hin Auslastung und Gewinne verspricht. Sprecherin Eine komplexe Normierung wird angestrebt. Nicht nur die neue Technik, auch die damit verbundene Dienstleistung steht im Fokus der Normierer. Das entspricht einem allgemeinen Trend. In den letzten Jahren wurden auch immer mehr Dienstleistungen genormt und standardisiert. Ganze Lebensbereiche werden entindividualisiert, bestätigt Philosoph Konrad Paul Liessmann, zugunsten eines allgemein nachvollziehbaren und berechenbaren Ablaufs. Take 13 (Liessmann) Das Problem bei Dienstleistungen aller Art ist natürlich, ich kann sie nur soweit normieren, soweit sie auch eine Form haben, die vergleichbar ist, soweit es sich um Quantitäten handelt, die messbar sind. Ich kann auch bei Dienstleistungen nicht normieren dasjenige, was individuell ist, was Qualität ist, was sozusagen unberechenbar ist. Sprecher Auch Dienstleistungen brauchen feste Regeln, glaubt Holger Mühlbauer, der für die Normung in diesem Bereich beim Deutschen Institut für Normung zuständig ist. Take 14 (Mühlbauer) Zunächst funktioniert Dienstleistungsnormung ähnlich wie die traditionelle Normung, das heißt, wir versuchen die passenden Experten zusammenzuholen, wir versuchen unterschiedliche Interessenlagen zu verbinden, und wir versuchen das Ganze zu moderieren und zu einem Konsens zu führen. Sprecher Die Rahmenbedingungen sollen vergleichbar werden. Eine verbindliche Terminologie wird festgeschrieben, alle Anbieter sollen die gleiche Sprache sprechen, damit die Kunden Dienstleistungen auch vergleichen können, etwa bei Urlaubsreisen: Was zeichnet ein Doppelbett aus, was versteht man unter Continental Breakfest, gibt's da ein Ei oder nicht und darf man die laute Autobahn zwischen Hotel und Strand verkehrsgünstig nennen? Take 15 (Mühlbauer) Da ist ein gutes Beispiel, sicherlich, der Bereich des Tourismus, auch wenn es sich um ein eher problematisches, schwieriges Feld für die Normung jedenfalls handelt, wegen der völlig heterogenen Interessenlagen, die man in diesem Bereich hat und vor allem zwischen dem Auseinandergehen in einigen Bereichen, zwischen den Interessen, die Verbraucherschützer vertreten, und dem, was die Industrie, also die Hotellerie beispielsweise sich auf die Fahnen geschrieben hat. In all diesen Fällen geht es darum, zumindest die wichtigsten Begriffe zu definieren, damit in etwa ein halbwegs gleichartiges Begriffsverständnis herrscht. Sprecher Die Dienstleistungsnorm betrifft Möbelpacker, Taucherschulen und Wohnheime für Senioren. Seit ein paar Jahren wird auch nach DIN-Norm beerdigt, so will sich die Branche vor Schwarzen Schafen schützen und vielleicht auch vor der unliebsamen Billigkonkurrenz. Musik Sprecherin Nicht nur Terminologien werden genormt, auch das Verhalten von Mitarbeitern. Dabei entstehen ganz augenfällige Widersprüche, gibt Philosoph Konrad Paul Liessmann zu bedenken. Take 16 (Liessmann) Ich kann natürlich im Gesundheitswesen Basisdienstleistungen normieren, ich kann nicht normieren das Einfühlungsvermögen eines Arztes, das wäre unsinnig. Ich kann im Bildungsbereich natürlich Bildungsstandards definieren, ich kann nicht normieren die Fähigkeit eines Lehrers, Schüler für außergewöhnliche Bereiche zu motivieren. Ich kann versuchen, so Bedingungen zu schaffen, dass solche Lehrer gute Chancen haben, aber ich kann's nicht standardisieren. Sprecherin Vor allem im Gesundheitswesen wird die Normierung ständig weiter vorangetrieben. Operationsverläufe werden normiert, und Mitarbeiter der Pflegedienste kommen zu ihrer hilfsbedürftigen Klientel mit einem Scanner, der sekundengenau die erbrachte Dienstleistung protokolliert, und sie dann später den Kassen elektronisch in Rechnung stellt. Sprecher Bei der Normierung im Gesundheitswesen sind die DIN-Leute in der Regel außen vor, bedauert Holger Mühlbauer. Take 17 (Mühlbauer) Inwieweit das Thema Behandlung oder ambulante Hauskrankenpflege für Demenzkranke auch mal ein Normungsvorhaben werden könnte, ist im Moment schwer zu prognostizieren. Es würde zumindest gut in die Zeit passen, und ich glaube schon, dass allgemein das Thema Pflege, insbesondere Seniorenpflege, möglicherweise in naher Zukunft eines ist, das die Normung beschäftigen wird, also die Normung in unserem Verständnis. Natürlich nicht mehr dann, wenn der Gesetzgeber das bereits durch Rechtsvorschriften geregelt hat, möglicherweise auch dann nicht so bald, wenn es den Pflegeverbänden, die es in Deutschland zu Dutzenden gibt, wenn die untereinander zu einem Konsens kommen, also einem Quasi- Standard, und wenn das funktioniert, dann ist natürlich für uns wenig zu tun. Sprecherin Im Bildungsbereich geht es ähnlich zu. Auch hier wird versucht, die Probleme durch immer mehr Normen und Standards zu lösen, kritisiert Konrad Paul Liessmann. Take 18 (Liessmann) Ich denke, dass wir gegenwärtig etwas erleben, was wir als Industrialisierung, als Normierung, als Standardisierung des Wissens insgesamt beobachten können und erfahren können, das heißt also auch, das was in der Öffentlichkeit von diesem Debatten sichtbar wird, die Diskussionen um Eliteuniversitäten, die Diskussionen um die Rankings, die Diskussionen um die Messbarkeit von Wissensprozessen, die Diskussionen darüber, wie kann man Kreativität herstellen. Das alles deutet darauf hin, dass wir den Erwerb von Wissen, den Erwerb von Informationen gegenwärtig eher unter der Perspektive sehen, wie kann ich das Ganze steuern, wie kann ich es normieren, wie kann ich es messen, wie kann ich es bewerten, wie kann ich es optimieren. Musik Sprecherin Schulische Leistungen werden standardisiert, dabei treten Fragen nach einem optimalen Lernumfeld in den Hintergrund. Sprecher Historisch war unser heutiges Schulsystem maßgeschneidert auf die Bedürfnisse der Industrialisierung, dabei ging es um Standardisierung und um frühzeitige Selektion in einem dualen oder dreigliedrigen Schulsystem. Jetzt, sagt Konrad Paul Liessmann, gewinnt die Industrialisierung des Wissens eine völlig neue Qualität. Etwa bei den vielbeachteten PISA-Studien. Dort werden vor allem Standards gemessen und verglichen, das Wissen wird schematisch wie ein Stabil-Baukasten angesehen. Take 19 (Liessmann) Gegenwärtig stellen wir uns diese Fähigkeiten als ein Ensemble von Kompetenzen vor, die man gleichsam produzieren kann, die man normieren kann, die man verbessern kann und die man gleichsam auf Bedürfnisse anpassen und auch vervielfältigen kann. Das Wesen der industriellen Produktionsweise - jetzt mal von den ganzen politischen und ökonomischen und technischen Umständen einmal abgesehen - das Wesen der industriellen Produktionsweise bestand doch darin, dass man es durch die Maschinisierung und Automatisierung gelernt hatte, Dinge in einer identischen Art und Weise in einer großen, praktisch unabschließbaren Zahl zu produzieren. Sprecher Zwischen Lernfabrik und Bildungsanstalt schwanken die Schulen hin und her. Ein Phänomen, das dem Londoner Soziologen Richard Sennett auch aufgefallen ist. Take 20 (Sennett) It's almost all modern schools test children ... ... to treat skill as an attribute of individuality. darüber: Spr v. Dienst Fast alle modernen Schulen prüfen die Kinder zu Tode. Und bei den Prüfungen geht es darum: Wie viel weißt Du als Individuum, und wie viel mehr weißt Du als jemand anders? Es gibt daher einen enormen Druck in der modernen Wirtschaft und in modernen Bildungseinrichtungen, nämlich Fertigkeit als ein Attribut der Individualität zu behandeln. Sprecher Konrad Paul Liessmann hält die viel beschworene Wissensgesellschaft für einen Euphemismus. Er glaubt nicht an die Transformation von der Industriegesellschaft hin zu einem neuen Gesellschaftstyp, er beobachtet stattdessen eine verstärkte Zunahme der Industrialisierung des Wissens. Das sei einer der Gründe für die Normierung von immer mehr Lebensbereichen. Sprecherin Was steckt hinter dem Normierungsverlangen? Sind es rationale Gründe? Geht es nur um Wirtschaftsinteressen oder steckt am Ende doch mehr dahinter? Take 21 (Liessmann) Es gibt die These, dass der Prozess der Industrialisierung ja sich nicht nur auf die Produkte, auf die Güter, auf die Gebrauchsgegenstände des alltäglichen Lebens bezieht, sondern auf den Menschen selbst. Ja das heißt, wir verstehen uns selber auch zunehmend als Produkte eines industriellen Vorganges, und Günter Anders sprach mal davon, dass fortgeschrittene technische Zivilisation alles daran setzen wird, wie er es nannte, die "Malaise der Einzigartigkeit des Menschen" zurückzudrängen, beziehungsweise zum Verschwinden zu bringen. Das heißt, gerade das, was Individualität, Subjektivität, Einzigartigkeit ausmacht, ist eigentlich für jede Industrialisierungs- und Normierungsstrategie ein Übel. Sprecher Die ungebremste Normierung wird am Ende zu einem Angriff auf jeden Einzelnen. Hier liegt ein Grund, weshalb der Soziologe Richard Sennett wieder das Handwerk lobt. Für ihn ist das keine romantische Rückbesinnung auf vorindustrielle Zeiten, sondern eine notwendige Kurskorrektur, damit nicht alles und jedes über einen Kamm geschert wird. Take 22 (Sennett) "Handwerk" has for me the connotation of ... ... for its own sake." darüber: Spr v. Dienst "Handwerk" hat für mich den Beiklang von künstlerisch raffinierter Arbeit, der Tischler in seiner Werkstatt, der Schuster, der Schuhe flickt. Es geht um Handarbeit mit einer bestimmten Fertigkeit. Im Englischen hat das Word noch eine andere Bedeutung. Wir denken und reden zum Beispiel bei einem ausgebildeten Autor von einem Handwerker. Für uns beherrscht jemand in der Politik, der in der Lage ist, das zu erreichen, was er sich vorgenommen hat, das Staatshandwerk. Das Wort im Englischen suggeriert die Vorstellung, etwas gut zu machen, ganz egal was die Aufgabe ist. Und es hat eine weitere Konnotation, nämlich etwas um seiner selbst willen gut zu machen. Musik Sprecher Richard Sennett lobt das Handwerk, weil er das Individuum stärken will, das im reproduzierbaren Mittelmaß zu verschwinden droht. Ähnlich sieht es auch Konrad Paul Liessmann, wenn er darüber spricht, dass eine völlig normierte Gesellschaft keiner will. Eine ernsthafte Diskussion, welche Normen eine Gesellschaft wirklich braucht und will, könnte hier beginnen. Take 23 (Liessmann) Wer möchte denn tatsächlich im Norm-Auto auf der Norm-Autobahn in die Norm-Wohnung fahren, um dort seiner Norm-Frau zu begegnen? Also irgendwann einmal, spüren wir, muss es Grenzen dieser Normierungen geben. Die Frage ist, wo setzen wir sie an? Musik Spr. vom Dienst Gut genormt und streng geregelt Sinn und Unsinn von Normierung und Standardisierung Von Adolf Stock Es sprachen: Marina Behnke und Thomas Holländer Ton: Ralf Perz Regie: Roswitha Graf Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2008 1