Deutschlandradio Kultur - Die Reportage - 3. Oktober 2013 - 13:05 Uhr Gott sei Dank Das zweite Leben der Frisörin Franziska Dinter Eine Reportage von Ellen Häring T1 Peter Es ist eine Schande, dass es Einrichtungen wie diese gibt, die notwendig sind, dass Leute so etwas zum Überleben brauchen, det ist ne Schande, is det. A1 Kirche/unter der Treppe Spr. 1 Peter ist sauer. Er schimpft, während er sich die Treppe hochschleppt in Schuhen, die keine Schnürsenkel mehr haben, auf dem Rücken einen vollgestopften Rucksack. Er dreht sich noch einmal um, sein Blick ist hellwach, die weißen Haare raspelkurz, der Schnauzbart gestutzt. T2 Peter Die Milliardäre haben sich dumm und dämlich an der Spekulation verdient und jetzt werden also die ganzen Bankschulden sozialisiert. Det heisst, det is der Sozialismus der Banken! Spr. 2 Gerade noch saß Peter UNTER der Treppe und durfte nicht schimpfen. Jetzt muss es raus. T3 Peter Und det find ick also ne Unverschämtheit... Spr. 3 In der Ecke unter der Treppe regiert Franziska Dinter, 60, Friseurin für Obdachlose und Bedürftige. Und Franziska duldet kein Gejammer beim Haareschneiden. Auch nicht von Peter. An einem Garderobenständer hängt ein Spiegel, verziert mit Glitzersternchen. Davor sitzt der nächste Kunde, ein mageres, wettergegerbtes Gesicht, rot, gezeichnet vom Alkohol. T4 Kunde und Franziska Was machen wir? Alles runter! Radikal, ja? Ja, auch die Augenbrauen, dann sehe ich wieder aus wie ein Fußball, aber lassen Sie die Ohren dran! Spr. 4 Franziska legt ihrem Kunden einen stahlblauen Umhang mit spektakulärem Farbmuster um den Hals. Dann legt sie los. A 2 Schneidemaschine Spr. 5 Sie schneidet trocken, es gibt kein Wasser hier und auch keinen Strom. Um die Akkus der zwei Haarschneidemaschinen aufzuladen, geht sie in die Teestube der Berliner Gedächtniskirche, den Flur entlang. Dort findet immer mittwochs ein Frühstück mit Andacht statt, für Bedürftige. Heute sind 46 Menschen gekommen, einige von ihnen nehmen Franziskas Angebot an und lassen sich die Haare schneiden. So wie Oskar, der schon lange obdachlos ist, sechs Jahre in Schweden war, abgeschoben wurde und nun wieder bei Franziska auf dem Stuhl sitzt. A 1 unter der Treppe T5 Witze Soll ich ihnen mal einen Witz erzählen? Der ist gut. Dick und Doof gehen zum Bäcker... Spr. 6 Franziska Dinter, gelber Kittel, weiße Leggings, stutzt den Bart und hört sich geduldig Witze an. T6 Witze Eine Blondine geht durch die Stadt spazieren. Kommt sie an ner Straßenlaterne vorbei... Spr. 7 So wie Peter kennt sie auch Oskar schon lange, weiß um seine Geschichte. T7 Oskar Weil ich jetzt 10 Jahre auf der Straße lebe, ich nehme auch seit 10 Jahren kein Hartz IV an, nur Betteln und Musik. Und Kirche und Sozial. Wegen Umziehen, Duschen und so, Frisör zum Beispiel, ne. Spr. 8 Oskar klagt nicht, er ist nicht der Typ dafür. Und er weiß, dass Franziska sowieso keine Klagen zulässt. T8 Franziska Wenn die Leute dann jammern und sagen, ach, es geht mir so schlecht und ich krieg nur Grundsicherung. Dann sag ich immer: I.A. - wat heißt denn das? - Das heißt: Ich auch. Na und? Man kann zwar keine Bocksprünge machen, aber man kann leben davon. Spr. 9 Sie holt sich ihre Kleider in der Kleiderkammer, ihr muss keiner was vormachen. Auch als Oskar erzählt, dass er kein Handy hat, erntet er kein Mitleid. T9 Franziska Ick habe weder ein Handy, noch ein Computer, keen Internet, gar nischt. Aber ich lebe trotzdem. Spr. 10 Jetzt stutzt sie den Bart, dann holt sie eine Flasche aus ihrem Täschchen. After Shave. Sie streichelt mit weichen, duftenden Händen über Oskars Nacken, dann über seine Wangen, langsam und zärtlich. Der schließt für einen kurzen Moment die Augen. T10 Oskar Die Dame ist Profi. Die schneidet mich nicht zum ersten Mal. Danke. Absolut Meisterin. Spr. 11 Oskar greift tief in die Tasche seiner speckigen Jeans, holt ein paar Münzen raus und steckt sie Franziska in die Kittelschürze. Atmo 3 Musik und Gesang im Frühstücksraum Spr. 12 In der Teestube nebenan hat die Andacht begonnen. Es sind überwiegend Männer über fünfzig zum Frühstück gekommen. Manche singen aus voller Kehle mit, andere hängen mit müdem Kopf über einem gekochten Ei. Auf einem Marktstand in der Ecke bietet die Berliner Tafel kostenlos Möhren, Rettiche, Tomaten und Bananen an. Bücher zum Tausch liegen in einem Regal am Eingang. Atmo 3 kurz hoch und verblenden mit T 11 Pfarrer Der Herr segne euch und behüte euch. Der Herr wende euch sein Angesicht zu und schenke euch Frieden. Amen. (Tumult) Spr. 13 Nach der Andacht stürzen alle nach vorne zum Tresen, wo es Quarkspeise und Joghurt gibt. Atmo 4 Teestube Aufräumen Spr. 14 Pfarrer Manfred Herbrechtsmeier von den missionarischen Diensten der evangelischen Kirche lässt sich auf einen Stuhl fallen. Er kennt die meisten, die herkommen: Peter, der immer schimpft und als Akademiker von 694.- Euro Rente leben muss. Oskar, der Witzeerzähler, der so gerne einmal seine Tochter sehen würde. Sie ist gerade 32 Jahre alt geworden. Wertvolle Menschen, jeder einzelne. Es fehlt ihnen vieles. Vor allem aber Liebe. T12 Pfarrer Franziska erzählt ja auch manchmal, manche Leute wollen eigentlich nur berührt werden. Und es tut ihnen gut, wenn nochmal ein bisschen Rasierwasser um das Kinn geschmiert wird, dann fühlen die sich schon wohl. Das tut ihnen einfach gut. Und ich denke, da spürt sie etwas Richtiges raus, sie hat auch ein Gespür dafür, dass es so ist. Spr. 15 Draußen in der Ecke unter der Treppe wartet die letzte Kundin auf einen neuen Haarschnitt. Sie ist unglücklich, weil ihre Haare so grau und so dünn sind. Franziska tröstet. T13 Franziska Wenn die Leute so ganz doll leiden unter den dünnen Haaren, da sag ich immer: wo die guten Sinne walten, können sich keine Haare halten. T14 Frau Hauptsache man sieht ordentlich aus, muss man ja nicht jedem ansehen, dass er ein armes Schwein ist, wie der Berliner sagt. Spr. 16 Die Rentnerin hat kein Geld dabei, gar nichts, auch nicht die 50 Cent, die sie eigentlich spenden soll. T15 Frau Ick mach das dann nächstes Mal gut, ja, Frau Franziska? Ja, ja, schon gut... T16 Pfarrer Geld zählen (reingehen ca. bei 7) ... sieben, acht, achtfünfzig...8 Euro70, das ist eigentlich viel. Spr. 17 Pfarrer Manfred Herbrechtsmeier zählt die Münzen, die Franziska am Ende des Vormittags aus ihrer Kittelschürze holt und auf den Tisch legt. T17 Pfarrer Das, was sie Franziska als Spende geben für das preiswerte Frisieren, das gibt Franziska auch noch hier zurück. Das muss sie nicht, das soll sie eigentlich auch gar nicht, aber sie will es abgeben. Spr. 18 Franziska bekommt immer wieder etwas zurück in der Kirche. Einladungen, Lebensmittel, einmal einen ganzen Sack voll kleiner Schutzengel aus Gips, die sie weiterverschenkt an Menschen, um die sie sich Sorgen macht. Heute gibt es Kuchen. Eine Spende von einem Hotel gleich nebenan. Es gibt viele schicke Hotels am Kudamm neben der Gedächtniskirche. Franziska fährt von Königs Wusterhausen in Brandenburg mit dem Zug nach Berlin um denjenigen Haare zu schneiden, die sich einen Frisör nicht leisten können. Die erste Station der Woche ist die Gedächtniskirche, die zweite die Bahnhofsmission, die dritte ist die Wärmestube zuhause in Brandenburg und die vierte das Obdachlosenzentrum in Berlin-Mitte. T 18 Franziska Ich kriege nirgendwo Geld, ich habe keinen Arbeitsvertrag, was ich spüre, was ich unendlich kriege, das ist Segen. Und deshalb geht's mir so gut. Spr. 19 Eigentlich könnte Franziska heute genauso gut im Rollstuhl sitzen. Oder im Grab liegen. Sie hat einen schweren Unfall überlebt und dann ihr Leben umgekrempelt. Gläubig war sie schon zu DDR-Zeiten. Heute ist sie überzeugt, dass ihr "oberster Chef" die Geschicke lenkt. T19 Wenn 29 Ärzte in dem Krankenhaus mir nicht ein Prozent Überlebenschance gegeben haben, dann muss es doch eine Macht zwischen Himmel und Erde geben, die stärker ist als alles menschlich-medizinische. Ich sage, die Ärzte und die Schwestern waren die allerbesten Werkzeuge, aber entschieden hat ein anderer. Spr. 20 Franziska fegt in Station Nummer eins noch die Haare zusammen, ein grauer Haufen bleibt übrig. Dann geht es weiter. Station Nummer zwei: die Bahnhofsmission am Zoo. Atmo 5 Mission leise Spr. 21 Es sind nur 5 Minuten Fußweg bis dahin. Rund 150 Menschen stehen Schlange, die einen mit langen Bärten und tiefen Falten, die anderen ganz und gar unauffällig: T-Shirt-Jeans- Turnschuhe. Sie bekommen Nummern. Zum Essen und zum Haareschneiden. Nur ein paar Osteuropäer unterhalten sich. Die anderen blicken ins Nichts. Franziska installiert ihren Frisiersalon in der Toilette, die während ihrer Arbeit gesperrt bleibt. Hier hat sie Strom und kann die Haarschneidemaschinen aufladen. Im Waschbecken liegt ein Handtuch, darauf eine Mehrfachsteckdose. Atmo 6 Mission laut kurz einblenden, dann wieder zu Atmo 5 wechseln Spr. 22 Dann geht die Tür auf und die ersten dürfen zum Essen hereinkommen. Und zum Frisieren. Franziskas erster Kunde ist ein Bulgare. Er kann kein Deutsch. Macht aber nichts. T 20 radikal und minimal Das hier radikal und das hier auch radikal? So! Das hier auch radikal? Ja. Gut! Spr. 23 Radikal und minimal - das versteht jeder. Das eine ist eine Glatze, das andere sind wenige Millimeter, die noch stehen bleiben. Franziska zeigt die Länge an der Haarschneidemaschine. Der Bulgare wünscht sich die Glatze. T21 Bulgare über O-Ton Spr. 24 Dann erzählt er wortgewaltig, aber nur eines ist sicher: in Berlin ist es gut. Und Bulgarien ist am Ende. T21 hoch: Bulgaria kaputt Spr. 25 Über seinen Kopf fährt die Haarschneidemaschine, dicke, pechschwarze Büschel fallen zum Boden. Franziska würde gerne mehr verstehen. T22 Vor drei Wochen oder vier Wochen waren hier mal zwei Russen gewesen, und ich kann ja nun kein Englisch, nur das Schulrussisch kann ich sehr gut. Und dann mach ich da mit After Shave oder mit Eiswasser, und da sagt ein Russe zum anderen XXXXX..... Das heißt: wie bei meiner Mama zuhause. Das hat mich zerfetzt. Spr. 26 Es muss schon heftig kommen, bis Franziska etwas zerfetzt. Eigentlich ist SIE der Fels in der Brandung, die hier tobt. Ein bekanntes Gesicht steht in der Tür: jung, höchstens 30, ordentlich gekleidet. Die schiefe Nase wird wohl von einer Schlägerei kommen. Franziska greift zu einer Rolle Klopapier. T23 Klopapier Als DDR-Bürger improvisiere ich. Anstatt Halskrausen, die ich ja laufend brauche, nehme ich Toilettenpapier. ER: Hahaha! Wieso? Ist doch ungebraucht! Er: Das hätte ich an deiner Stelle jetzt auch gesagt, Franziska! Spr. 27 Der junge Mann lässt sich das Klopapier um den Hals wickeln. Läuse oder Krätze sind von ihm nicht zu befürchten, aber von anderen schon, weshalb Franziska ihre Gerätschaften ständig desinfiziert. Auch dieser Kunde will den radikalen Schnitt. Wie immer. T24 Kennenlernen Wir kennen uns schon etliche Jahre. Ich wollt grade sagen...wann haben wir uns kennengelernt? 2007? In der City oder in der Lehrter? Nee, in der Lehrter. Spr. 28 Franziska hat ein Herz für alle, aber kein grenzenloses Mitleid. Dass der junge Mann schon so lange obdachlos ist - selbstverschuldet wie er zugibt - findet sie nicht okay und feuert eine Spitze ab. T25 Ein recht großer Teil könnten, wenn sie wollten, sich wenigstens irgendwo einbringen. Kann ich ja großkotzig sagen. Ich bin ja erwerbsunfähig und bin hochinvalidisiert und mache trotzdem. Und das unentgeltlich und ich kriege ooch bloß Grundsicherung. Nee! Spr. 29 Der Kunde hat verstanden und guckt etwas betreten. Sie hält ihm den Handspiegel hin. T26 Herr Professor, ist es recht so? Ja, ist okay. So und jetzt nochmal die Kurzwellness, muss mal grade die Tasche sehen... Spr. 30 Sie holt ihre Mentholmischung - das Eiswasser - aus der Tasche und massiert ihm mit weichen Kreisbewegungen die Glatze. T27 Der Nächste bitte! Spr. 31 Die Schlange ist noch lang heute, sechs Mal minimal, fünf Mal radikal folgen, und am Ende wird ein Berg schwarzer Haare übrigbleiben. Franziska weiß, dass sie sich schützen muss. T28 Druck Und wenn die draußen sitzen und mit mir sprechen wollen, dann sag ich, pass uff, wenn du dran kommst, red' ich mit dir. Der Kunde, der hier sitzt, ist für mich der Wichtigste. Und es wird nichts, aber auch wirklich nichts, was ich höre, wird rausgetragen, nichts. So, jetzt gehen wir erstmal. Atmo 7 Balkon Spr. 32 Sie kriegt noch was zu essen in der Mission, dann geht sie zum Zug, der Tag ist geschafft. Seit sie schwerbeschädigt ist, darf sie umsonst fahren. In Königs Wusterhausen in Brandenburg, wo sie viele Jahre einen eigenen Friseursalon betrieben hat, steht ihr Fahrrad am Bahnhof. Drei Kilometer sind es bis zu ihrer Wohnung in einem Plattenbau. Vor 15 Jahren, also vor ihrem Unfall, wohnt sie noch mit ihrem Mann im eigenen Haus. Sie fährt mit Freunden im Auto über einen Bahnübergang, ein Zug kommt und erfasst den hinteren Teil des Wagens. Dort sitzt Franziska. 8 Wochen liegt sie im Koma, dann im künstlichen Koma, dann im Wachkoma. Alle Organe sind verletzt und gequetscht, sie hat schwerste Hirnverletzungen. Aber Franziska wacht wieder auf, lernt wieder sprechen und laufen. Ihr zweites Leben beginnt. T29 Zweites Leben Ich lebe das ganz bewusst. Und zwar sehe ich jetzt Sachen, die ich ganz selbstverständlich gesehen habe. Zum Beispiel, wenn ich irgendwo Treppen steigen muss und ich kann die alleine runtergehen und ohne Geländer. Das ist für mich ein Wunder. Ich bin ja zuerst Rollstuhl gefahren, Fahrstuhl gefahren, dann bin ich auf dem Po die Treppen runtergerutscht, dann bin ich rückwärts runtergerutscht. Das habe ich alles lernen müssen. Spr. 33 Es folgen Gerichtsprozesse um den Unterhalt, bis heute. Ihre Ehe geht in die Brüche, sie zieht in den Plattenbau. Der Anwalt rät ihr die Schuldigen anzuzeigen, jetzt, wo sie wieder klar denken kann. Aber Franziska winkt ab. Für sie ist anderes wichtig. T30 Gott sei Dank Ich sehe das alles so bewusst und kann einfach nur sagen, meine Lieblingsworte: Gott sei Dank. Gott sei Dank. Spr. 34 Franziska schiebt sich die Sonnenbrille über den Kopf, lehnt sich entspannt auf dem Stuhl zurück und erzählt. Ihr kleiner Balkon ist ein Sammelsurium winziger Andenken, die Wände ihrer Wohnung sind vollgepinnt mit Sprüchen, die sie wichtig findet und die ihr helfen. T31 Rose Ärgere dich nicht, dass an der Rose Dornen sind, sondern freue dich, dass an den Dornen eine Rose blüht. Spr. 35 Sie geht zum Bücherregal. T32 Menschenwürde So, ich zeige ihnen jetzt mal zwei von meinen vier Fotoalben, wo ich Leute fotografiert habe vor und nach dem Haareschneiden. Das Erste, was den Leuten verloren geht, egal aus welchen Gründen sie sozial schwach oder obdachlos sind, denen geht die Menschenwürde verloren. Und dann legen sie keinen Wert mehr auf Haare, auf Zähne und auf Schuhe. Und schon werden sie als Assi abgestempelt. Spr. 36 Sie öffnet ein weißes Album, es zeigt Fotos von Männern mit langer, verfilzter Mähne, mit roten Gesichtern und tiefen Falten. T33 Das war mein erstes Album gewesen hier... Spr. 36 weiter Blümchen, Herzen und Sternchen kleben auf den Seiten. Dann dieselben Männer mit kurzem Haarschnitt, sie haben etwas Akkurates, Ordentliches, obwohl alles dagegen spricht. T34 Gucken Sie mal, so sieht ein Mann vorher aus und hinterher sieht der doch ganz anders aus. Spr. 37 Unter manche Bilder hat sie mit Kugelschreiber den Geburtstag notiert. T33 wieder hoch Manche sind auch schon gestorben...ah, das ist der Jimmy. Das ist der Jimmy. Wo ich ihm draußen vor der Bahnhofsmission die Haare geschnitten habe. Spr. 38 An Jimmy erinnert sich Franziska als sei es gestern gewesen. T35 Da kam einer rein. Er. Lauter große Beulen im Gesicht. Hab ich gedacht: na gut, Leberzirrhose im letzten Stadium. Beine auf den Tisch gelegt. Dann hat er gesagt: ich heiße Jimmy. Und wie heißt du? Ich heiße Franziska, sag ich. Jimmy, sag mal wie soll ich dir denn die Haare machen? Ach, sagt er, mach mal, dass ich für's Grab schön bin. Spr. 39 Jimmy lebt nicht mehr, so wie viele andere auch. Manchmal, wenn einer stirbt, stellt Franziska eine Kerze auf und legt ein Foto dazu. Das hilft ihr und den anderen. Und dann verschenkt sie ein paar von ihren Schutzengeln an die, die welche brauchen. Atmo 8 Wärmestube Spr. 40 Die Woche geht weiter: Station 3. In der Wärmestube der Diakonie in Königs Wusterhausen, geht es nicht um minimal und radikal. Die Hälfte der rund 20 Besucher sind Frauen. Franziska ist hier zuhause, sie arbeitet zum Teil mit dem Handwerkszeug aus ihrem ehemaligen Salon. Es gibt Fenster, außerdem einen Wasseranschluss, also kann sie auch Dauerwellen machen und Haare färben. Sofern die Frauen die Farbe mitbringen. Die Wärmestube war ihre erste Arbeitsstelle im zweiten Leben. T36 erste Stelle Also kurz nachdem die aufgemacht haben vor 12 Jahren, da ging's mir so einigermaßen, da hab ich gedacht, wenn ich jetzt bloß zuhause sitze, da kommen die blöden Gedanken ganz von alleine. Und da bin ich selber hierher gegangen und hab gefragt, ob sie nicht einen Frisör brauchen. Spr. 41 Eine Frau nimmt Platz, blond gefärbtes Haar, geschminkt. Franziska schneidet die Spitzen und bietet an, einen französischen Zopf zu flechten. T37 Jetzt zeig ich ihnen erstmal den Spiegel. Oh schön, herrlich. Sehen Se, und wenn sie die Haare nass machen und lassen wieder trocknen und dann machen sie auf, dann hamse richtig schöne Locken. ....auch das noch T38 Och Fritze, Mensch hallo, das ist schön. Spr. 42 In der Tür steht ein Mann mit einem Obstkorb. Ein alter Freund, der den Salon noch kannte, der den Unfall und die Folgen miterlebt hat, der immer noch zu ihr steht. T39 Da bringt er mir immer wieder Eier, frische Eier, oder Gurken und Tomaten. Er: Zurzeit Gurken und Tomaten im Angebot, alles ökologischer Anbau, ohne Chemie. Spr. 43 Franziska strahlt, sie wird das Geschenk in Ruhe zuhause genießen. Spr. 45 Armut auf dem Land sieht anders aus als Armut in der Stadt. Sie drängt sich nicht auf. Sie ist nur da, wo sie hingebeten wird. Ansonsten versteckt sie sich. Heike Kötter sitzt in ihrem Büro, sie kann, wenn sie will, durch die offene Tür Franziska und ihre Kunden beobachten. Die Sozialpädagogin leitet die Wärmestube der Diakonie, sie ist froh, dass es Franziska gibt. Die Besucher hier, sagt sie, leben prekär, z.B. in Lauben. T41 Kötter Über Jahre schon haben wir Besucher, die auf solchen Datschen leben, die holen sich kanisterweise Frischwasser, weil sie von ihrem Brunnenwasser keinen Kaffee kochen können. Also da gibt es schon Menschen, die auf die Einrichtung angewiesen sind und auf die Hilfsangebote. Es ist anders als in der Stadt, aber auf dem Land ist es so, dass es eben diese Mitwohnmöglichkeiten gibt, dieses irgendwo unterschlupfen, vor 10 Jahren gab es auch noch Abrissgebäude, wo man sich ne Weile aufhalten konnte und solche Sachen. T42 Kranke So alles Gute...och, da mach ich noch ein Kreuzchen druff, alles Gute, ne...na, wir sehen uns doch... Spr. 46 Franziska verabschiedet ihre letzte Kundin, die wollte nochmal zum Haareschneiden kommen, bevor sie im Krankenhaus unters Messer muss. Franziska fegt zusammen, blond, braun, rot, es waren fast nur Frauen da. Atmo 9 Obdachlosenzentrum Spr. 47 Station Nummer 4, es ist wie immer, radikal und minimal. Warteschlangen. Ein Backsteinhaus in Berlin Mitte mit gepflegtem Garten und einem Schuppen. Im Obdachlosenzentrum wird ärztliche Hilfe angeboten, Sozialberatung, Essen und Körperpflege. Zum Beispiel das Haareschneiden. Jenny de la Torre, in Berlin bekannt als Obdachlosenärztin, sitzt mit weißem Kittel in ihrem Sprechzimmer, sie ist täglich hier. Der Orthopäde, der Zahnarzt, die Hautärztin haben feste Tage, genauso wie die Frisörin. Jenny de la Torre weiß, was sie an Franziska hat. T43 Jenny de la Torre Ich gehe zum Frisör. Das ist was Schönes, was am Tag passiert. Zum Arzt gehen, da muss man teilweise leiden, weil es weh tut und so. Aber zum Frisör gehen, das ist was Angenehmes, da sieht man besser aus, hat man ein gutes Gefühl, das sind so ein paar Minuten am Tag, wo man was Normales erleben darf. Manche waren ja bestimmt jahrelang nicht beim Frisör. Und plötzlich kommen sie raus: der Bart ist ab, die Haare sind ab, oh Gott, ich erkenne mich nicht wieder. Ich seh doch gut aus! Spr. 48 Die Ärztin achtet streng auf Hygiene, nur wer vorher auf Läuse und Krätze untersucht wurde, darf zu Franziska. Die steht in einem Badezimmer, hat OP-Handschuhe an und gerade einen Polen rasiert, der um seinen Lohn betrogen wurde. Jetzt steht Maurice vor ihr: T44 Begrüßung Hallo wie geht's denn? Danke, gut, wie geht's denn selber? Na, geht so. Ham se was erreichen können seit dem letzten Mal? Nicht wirklich, ich gammle nur rum... Spr. 49 Maurice ist 23 Jahre alt, war bis vor wenigen Wochen im Knast, jetzt ist er obdachlos. Sein Bruder auch. Franziska mag sie beide und sorgt sich um sie. Deshalb haben sie einen Schutzengel von ihr bekommen, irgendwann. Was sie nicht weiß: beide sind drogenabhängig. T45 Kiffen Ich hab zu früh mit dem Kiffen angefangen. Hab den falschen Weg eingeschlagen als Kind. F: Aber dann können sie auch mal sagen, was Sie für familiäre Probleme hatten. Ja, meine Mutter war alleinerziehend mit vier Kindern, zwei hat sie davon in ein Heim gesteckt, mit dem Stiefvater gab es immer Probleme. Dann hat sie uns vor die Tür gesetzt, als ich 16 war. Spr. 50 Franziska ist geschockt wegen der Drogen, aber auch neugierig. T 46 Drogen Ich bin ja aus der ehemaligen DDR, ich hab ja keine Ahnung, aber sagen Sie mal, Drogen kosten doch, wo kriegen Sie denn das Geld her? Kriegen Sie Hartz IV? Hartz IV krieg ich nicht. Na, und wie teuer sind denn die Drogen? Spr. 51 Der junge Mann bleibt lange, obwohl er eigentlich nur die Seiten rasieren lassen möchte. Franziska gibt Ratschläge. T47 Altenheim Machen Sie ehrenamtlich irgendwo. Können sie lesen und schreiben? Können Sie lesen und schreiben? Ja. Dann gehen Sie gerade in Altenheime. Spr. 52 Maurice hört zu, entspannt sich für einen Moment. T48 Ratschlag Sie haben so ein wunderschönes Leben, so schöne Haare und so ne gute Einstellung. Lassen Sie mal, wenn die Zeit reif ist, dann werden Sie das auch schaffen. Er: Ich werde das auch schaffen, ich will das vor dem Winter schaffen! Spr. 53 Bevor er geht, greift er in seinen vollgestopften Rucksack und holt mit gezieltem Griff etwas heraus. T49 Schutzengel Und hier ist halt der Schutzengel. Der begleitet mich jetzt. F: Der soll immer schön aufpassen, auch wenn er gebrochene Flügel hat, die helfen trotzdem, oder? Ja. 1