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Und deshalb wird mit dem runden Fußball nicht nur gespielt, nein, die Qualitäten des Spieles, die überraschenden Flankenwechsel, das gelungene Forechecking und der platzierte Flachschuss müssen beredet und beschrieben werden. Woche für Woche, Tag für Tag. Von Reportern, Trainern, Spielern, Funktionären, von Psychologen, Theologen, Philosophen - und natürlich von Schriftstellern, die den magischen Momenten des Spiels Ewigkeit geben. SP 2 Von Schriftstellern? Interessieren die sich denn überhaupt für so ein banales Spiel, das von Millionen konsumiert wird? Sind Literatur und Sport nicht - wie der Kritiker Marcel Reich-Ranicki vor langer Zeit schrieb - "feindliche Brüder", und können gar nicht zusammenkommen? Müssen wir mit dem Philosophen Konrad Paul Liessmann von der "Literaturunfähigkeit des runden Leders" sprechen? SP 1 Gemach, gemach - die Herren Reich-Ranicki und Liessmann sind längst widerlegt. Durch zahllose Gedichte, Romane und Theaterstücke, die den Fußball als Sinnbild des Lebens, als herrliche Freizeitbeschäftigung oder als Auslöser wunderbarer Augenblicke des Schönen beschreiben. Des interesselosen Wohlgefallens, um mit Immanuel Kant zu sprechen, der - wäre er je mit dem grünen Rasen in Kontakt getreten - den Doppelpässen und Abseitsfallen in seiner "Kritik der Urteilskraft" sicher ein hervorstechendes Kapitel eingeräumt hätte. SP 2 Aber lassen wir Kant in Frieden ruhen und brechen wir auf zu unserer Rundreise durch die Fußball-Literaturgeschichte. Vor dem Spiel ist immer vor dem Spiel - wie dieser andere Philosoph, Sepp Herberger, glaube ich, gesagt hat ... oder so ähnlich. Und vor jedem Spiel steht die professionelle Vorbereitung, daran wollen wir uns halten. So wie sie Fritz Walter, Deutschlands Ehrenspielführer, in leicht verständlichen Worten beschrieben hat. EINSPIELER 2 (Fritz Walter, Aufwärmen - 0:41) SP 1 Die Aufwärmphase für die Dichter und Denker hat freilich einige Zeit in Anspruch genommen. Fußball erschien vielen als rüpelhafter Sport, als "Fußlümmelei", wie der Stuttgarter Professor Karl Planck 1898 schimpfte. Damals galt es in bestimmten Gesellschaftskreisen als undenkbar, in aller Öffentlichkeit gegen einen Ball zu treten. Der Schriftsteller Friedrich Torberg veröffentlichte 1935 seinen Roman "Die Mannschaft". Dessen Held Harry Baumester, der sich sowohl im Fußball als auch im Wasserball auszeichnet, hat, als er um 1900 tagaus, tagein im Wiener Fürstenheimpark Fußball spielt, mit dem energischen Widerstand seiner Mutter zu rechnen. SP 2 "Aber eines Tages erschien - was sie schon seit Jahren nicht mehr gemacht hatte - Frau Doktor Baumester selbst im Fürstenheimpark. Als Harry sie vom Ende des Spielplatzes her seinen Namen rufen hörte, war er so verdattert, dass er vor ihr, die ihn mit unheilkündender Stimme zu Fräulein Lämmermann vorangehen hieß, weder eine Entschuldigung noch gar eine Ausrede hervorzubringen vermochte. Mit gesenktem Kopf und sehr langsam machte er sich auf den Weg zum Sesselplatz am zweiten Rondeau, wo das angekündigte ,Weiterreden' dann tatsächlich erfolgte, erregungslos und beklemmend, schon weil die Mutter es offenkundig nicht nur an ihn, sondern zum vielleicht noch schärferen Teil an Fräulein Lämmermann richtete: Sie habe sich selbst ein wenig mit angesehen, was da auf dem roten Spielplatz getrieben werde, und habe sich überzeugt, wie sehr sie im Recht sei mit der Ablehnung dieses Spiels, das ja gar kein Spiel genannt werden könne, sondern ein unsinniges, ja geradezu - sie müsse sich leider so ausdrücken - blödsinniges Herumgelaufe und Herumgetrete. Es sei jedoch nicht bloß widerlich und ordinär, was sie schon längst gewusst habe; vielmehr verderbe der bei solch wilder Balgerei ständig aufgewirbelte Staub die gute Luft, derentwegen man doch den Fürstenheimpark aufsuche. Dieses so genannte Spiel, von seiner abstoßen Roheit ganz zu schweigen, sei also noch dadurch höchst gefährlich, dass es die Gesundheit der Lungen bedrohe, und zwar nicht nur die Lungen der unbeaufsichtigten Bengel, die daran Gefallen fänden - nein, auch die Erwachsenen und vor allem die kleinen Kinder bekämen eine solcherart verpestete Luft zu schlucken. Eine Pest, eine Epidemie sei dieses Fußballspiel, und sie staune sehr, dass die Fürstenheimsche Gartenverwaltung nicht dagegen einschreite. Überdies ruiniere es das Schuhwerk." SP 1 Genützt hat Frau Doktor Baumesters Tirade nichts. Der Siegeszug des Fußballs war nicht aufzuhalten, und in den zwanziger Jahren beginnen die Menschenmassen zuhauf in die Stadien zu strömen, um den Endspielen beizuwohnen, oder hören zu Hause gebannt die ersten Radioübertragungen. Der Sport bringt seine frühen Helden hervor, und Namen wie Stuhlfauth, Zamora, Andrade oder Meazza werden zu modernen Idolen. Einer von ihnen war der Argentinier Nolo, dessen größte Wundertat der uruguayanische Schriftsteller Eduardo Galeano in seinem Buch "Der Ball ist rund und Tore lauern überall" für alle Ewigkeiten festgehalten hat. EINSPIELER 3 (Galeano/Nina Petri, Tor durch Nolo - 1:17) (Bitte Titelansage vorab wegnehmen) SP 1 Fußball, wohin das Auge blickt - und da blieb es nicht aus, dass sich die ersten warnenden Stimmen meldeten und vor der Besessenheit durch das Ballgeschehen warnten. Joachim Ringelnatz zum Beispiel, der in seinem Gedicht "Fußball (nebst Abart und Ausartung)" nicht nur ein frühes Zeugnis lyrischer Sportbetrachtung gibt, sondern auch die Auswüchse der immer mehr um sich greifenden Fußballbegeisterung schonungslos brandmarkt. Joachim Ringelnatz beschreibt einen Zeitgenossen, der unter "Fußballwahn und Fußballwut" leidet und von allen kugelförmigen Gegenständen, von Schwalbennestern, Lampen, Eiern, Kokosnüssen oder Krautköpfen, magisch angezogen wird. Bis ihn sein Eifer weit übers Ziel hinausschießen lässt: SP 2 "Genug! Als alles dies getan, Griff unser Held zum Größenwahn. Schon schäkernd mit der U-Bootsmine Besann er sich auf die Lawine. Doch als pompöser Fußballstößer Fand er die Erde noch viel größer. Er rang mit mancherlei Problemen. Zunächst: Wie soll man Anlauf nehmen? Dann schiffte er von dem Balkon Sich ein in einen Luftballon. Und blieb von da an in der Luft, Verschollen. Hat sich selbst verpufft. - Ich warne euch, ihr Brüder Jahns, Vor dem Gebrauch des Fußballwahns!" EINSPIELER 4 ("Fußball ist unser Leben" - kurzer Auszug) SP 1 Auch diese Warnungen blieben ungehört. Ebenso wie sich Franz Kafkas Sorge, die er 1923 in einem Brief an seinen Schwager Josef David äußerte, als unbegründet erwies: Kafkas Angst "Vielleicht hört der Fußball jetzt überhaupt auf" entpuppte sich als voreilige kulturpessimistische Einschätzung. Im Gegenteil: Schriftsteller aus allen Ecken der Welt nahmen sich bald des Fußballs an, und als 1925 die Abseitsregel entscheidend geändert wurde, schreckten auch Gelegenheitsdichter nicht davor zurück, diese verzwickte Regel in schönen Reimen darzulegen. Hans Hummel, über den die Literaturgeschichte ansonsten achtlos hinweggegangen ist, schrieb sein bleibendes Gedicht "Abseits!": SP 2 "Emil Meyer, dieser tolle Chef der Firma Schmalz & Kitt, Nahm am Sonntag seine Olle Wunschgemäß zum Fußball mit. Ach, was musste er ertragen! Annilein, sein trautes Weib, Fragte ihn mit Wohlbehagen Die Gedärme aus dem Leib! ,Was ist foul? Und was sind Ecken? Warum ist das Tor so klein? Warum müssen Läufer decken? Sag mal, Männe, muss das sein?' ,Warum heißt der Torwart Schafbaum, Warum schmeißt er sich jetzt hin? Machst Du auch mal Hand im Strafraum, Wenn ich nicht zugegen bin?' Meyer war schon gänzlich heiser. Wie ein Spatz, der Kohlen frisst, Doch sein Weibchen - nun schon leiser - Fragte noch, was ,abseits' ist. Da schrie er mit letztem Mute, Was ein jeder wohl begreift: ,Abseits ist, Du dumme Pute, Wenn der Mann da unten pfeift!'" SP 1 Fußball und Lyrik, das scheint gut zusammenzupassen. Während man im deutschsprachigen Raum bis heute noch auf den ganz großen Fußballroman wartet, mangelt es nicht an kombinationssicheren Ballgedichten. Und dies hat wiederum dazu geführt, dass sich die Aktiven des Sports - wenn Zeit zwischen den Übungseinheiten bleibt - gern an Gedichten erfreuen. Trainerurgestein Otto Rehhagel bekannte seine Liebe zu Schillers Balladen, insbesondere zur "Bürgschaft", und Berti Vogts verblüffte 1996 die ihm nicht immer wohlgesonnenen Journalisten, als er eine Pressekonferenz mit der Rezitation eines Gedichtes schloss. Die Zeilen, die Vogts als Produkt eigenen Schaffens ausgab, stammten, wie findige Literaturwissenschaftler herausfanden, vom österreichischen Volksdichter Peter Rosegger und sollten dem knallharten Profigeschäft echte Menschlichkeit entgegensetzen, ein typischer Berti Vogts eben: EINSPIELER 5 (Berti Vogts, Ein bisschen mehr Friede - 0:23) SP 1 Zurück in die dreißiger Jahre, zurück zu Roseggers Landsmann Friedrich Torberg, der nicht nur die anekdotensichere Tante Jolesch erfand, sondern auch das österreichische Fußballgeschehen mit Inbrunst verfolgte. Und damals fand Torberg besonders große Freude an dem, was die Österreicher auf dem Rasen zelebrierten. Ihr Trainer Hugo Meisl kreierte in endlosen Kaffeehaussitzungen das "Wunderteam", dessen Großtaten bis heute unvergessen sind. Held dieser famosen österreichischen Mannschaft war Matthias Sindelar, der - so Alfred Polgar - "Geist in den Füßen" hatte und den man aufgrund seiner schmächtigen Gestalt nur den "Papierenen" nannte. Widerwillig ließ sich Sindelar, nach dem Anschluss durch Hitler-Deutschland, in das großdeutsche Team integrieren, und als er 1939 auf mysteriöse Weise bei einem bis heute nicht restlos aufgeklärten Gasunfall ums Leben kam, rankten sich die Legenden um seinen Tod - verstärkt durch Friedrich Torbergs Gedicht "Auf den Tod eines Fußballspielers": SP 2 "Er war ein Kind aus Favoriten und hieß Mathias Sindelar. Er stand auf grünem Plan inmitten, weil er ein Mittelstürmer war. Er spielte Fußball, und er wusste vom Leben außerdem nicht viel. Er lebte, weil er leben musste, vom Fußballspiel fürs Fußballspiel. Er spielte Fußball wie kein zweiter, er stak voll Witz und Phantasie. Er spielte lässig, leicht und heiter. Er spielte stets. Er kämpfte nie. Er warf den blonden Schopf zur Seite, ließ seinen Herrgott gütig sein, und stürmte durch die grüne Weite und manchmal bis ins Tor hinein. Es jubelte die Hohe Warte, der Prater und das Stadion, wenn er den Gegner lächelnd narrte und zog ihm flinken Laufs davon - bis eines Tags ein andrer Gegner ihm jählings in die Quere trat, ein fremd und furchtbar überlegner, vor dem's nicht Regel gab noch Rat. Von einem einzigen, harten Tritte fand sich der Spieler Sindelar verstoßen aus des Planes Mitte, weil das die neue Ordnung war. Ein Weilchen stand er noch daneben, bevor er abging und nachhaus. Im Fußballspiel, ganz wie im Leben, war's mit der Wiener Schule aus. Er war gewohnt zu kombinieren, und kombinierte manchen Tag. Sein Überblick ließ ihn erspüren, dass seine Chance im Gashahn lag. Das Tor, durch das er dann geschritten, lag stumm und dunkel ganz und gar. Er war ein Kind aus Favoriten und hieß Mathias Sindelar." SP 1 Dichterische Einbildungskraft erwacht oft in der Niederlage, und dennoch sind vom Fußball affizierte Schriftsteller auch nur Menschen und laufen zu Höchstform auf, wenn ihre eigene Mannschaft Titel einheimst und den Abstiegskampf glorreich besteht. Als Konrad Adenauer und Sepp Herberger 1954 völlig überraschend das Wunder von Bern bewirkten und Deutschland dank des Weltmeistertitels wieder in die Völkergemeinschaft zurückfand, war dies ein Ereignis, von dem die Literatur unweigerlich profitierte. Dank des Saarländers Ludwig Harig zum Beispiel, der sein Sonett "Die Eckbälle von Wankdorf" dem alten Fritz, unserem Fritz Walter, widmete: SP 2 "Was einst in Bern geschah, es klingt wie eine Fabel. Geheimer Doppelsinn, die Kunst im reinen Zweckball, entschied den Spielverlauf; der einstudierte Eckball verwirrte Ungarns Elf mit kryptischer Parabel. Die Bälle flogen weich, verdeckt und variabel. Aus kurz getretnem Pass als täuschendem Versteckball ergab sich auf den Fuß der langgezogne Streckball: Buzanski, Lantos, ach, ihr Spiel: indiskutabel. Ein jeder Eckball barg teutonische Gefahr, war unberechenbar. Manch braver Magyar ließ immer wieder sich von einem überraschen. Am Ende war ihr Spiel, war jeder Schritt vertan. Denn kaum versahn sie sich, stand zwischen ihnen Rahn und setzte seinen Ball noch zweimal in die Maschen." SP 1 Der WM-Triumph fand vielfältigen literarischen Niederschlag. Die Begeisterungsfähigkeit des Reporters Herbert Zimmermann hallt bis heute in den Ohren nach, und manchem, der damals mit roten Wangen und feuchten Händen vor dem Radiogerät saß, erschienen die neunzig Minuten von Bern wie eine Befreiung. So etwa dem damals 11-jährigen Friedrich Christian Delius, der - in einem streng religiösen Elternhaus aufwachsend - mit Staunen hörte, wie Herbert Zimmermann den deutschen Torsteher Toni Turek einen "Fußballgott" nannte, und ob dieser Ungeheuerlichkeit erstarrte. Als die "Aus, aus, aus, aus"-Rufe durch die Stube dröhnten, hielt es den Jungen nicht mehr in der elterlichen Wohnung - wie er in seiner autobiographischen Erzählung "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde" berichtete: SP 2 "Unter den Linden, auf dem Kirchplatz, auf dem Mäuerchen, drei Stufen über den Straßen, die hier zusammenliefen, stand ich und schaute, während die Takte der Hymne in mir weiterschlugen, in alle Richtungen, Wege und Höfe und hoffte, dass meine Freunde nach dem Ende der Übertragung aus den Haustüren stürmten und andere Leute suchten, um sich und uns als Weltmeister zu feiern. Ich war der erste, hatte den kürzesten Weg, stand im Zentrum, hier mussten die Fußballfreunde zusammentreffen, hinter mir Kirche und Pfarrhaus, wo kein Platz war für meine Erregung, vor mir und um mich herum das Dorf, die offene Welt. Wie nackt stand ich da in meinem Siegesgefühl, allein unter den niedrigen Ästen der Linden, und wartete ungeduldig, entdeckt zu werden mit meiner blanken, springenden Freude. Ich schämte mich nicht, im Gegenteil, ich genoss den berauschenden Moment: die Reporterstimme klang im ganzen Körper nach, und der Sieg stieß mich in einen Zustand des Glücks, in dem ich Stottern, Schuppen und Nasenbluten vergaß und das Gewissen und alle Gotteszangen von mir abließen. So leicht fühlte ich mich nie ..." SP 1 Die Weltmeisterschaft von 1954 war noch das Turnier der Radiobegeisterten. Die neuartigen, teuren Fernsehapparate fanden sich meist nur in Gaststätten. Das sollte sich rasch ändern, doch so sehr das Fußballgeschehen heute von TV- Rundumberichterstattung geprägt ist, so unverzichtbar sind die Töne der Radioreporter. Deren poetische Kraft - vor allem in den Konferenzschaltungen am Ende eines Spieltags - ist unübertroffen und hat Galionsfiguren wie Ludwig Maibohm, Kurt Brumme, Jochen Hageleit, Manni Breuckmann, Werner Hansch oder Günther Koch zu Legenden des Fußballwortes gemacht. Ein früher Vertreter dieser Zunft war Josef Kirmaier vom Bayerischen Rundfunk, dem ein einmaliges Rundfunkzeugnis zu verdanken ist: der auf entsetzliche Weise gescheiterte Versuch einer Vorberichterstattung vom Länderspiel Italien gegen Deutschland, 1955. Hören wir den malträtierten Kirmaier aus einem Studio in Rom: EINSPIELER 6 (Kirmaier - 2:54) SP 1 Obwohl sich die technischen Möglichkeiten und Fertigkeiten seit dieser Zeit gewaltig verbessert haben, zählen Übertragungspannen bis heute zu den unterhaltsamsten und schweißtreibendsten Momenten des Rundfunk- und Fernsehlebens. Der Schriftsteller Ror Wolf hat sich einen literarischen Spaß daraus gemacht, Originaltöne rund ums Stadion einzusammeln und diesen in Collagen zu höherem und tieferem Sinn zu verhelfen. Am 23. November 1968 zum Beispiel wurde Ror Wolf Ohrenzeuge eines Telefongesprächs im Fernsehen, als sich ein wackerer ARD-Moderator mühte, das Ergebnis des WM- Qualifikationsspiels Zypern gegen Deutschland in Erfahrung zu bringen. Vom Studio aus begann er ein denkwürdiges, von Ror Wolf festgehaltenes Telefonat mit dem Reporter vor Ort zu führen, in Zyperns ferner Hauptstadt Nikosia: SP 1 + SP 2 ((verteilt auf die beiden Stimmen; eventuell müsste eine weitere Stimme die kursiven "Regieanweisungen" sprechen)) SP 1 Erster Fernsehreporter (auf dem Bildschirm) SP 2 Zweiter Fernsehreporter (in Zypern) SP 1: So. Nun wollen wir einmal versuchen, eine Verbindung mit Nikosia herzustellen. (SP 1 hebt den Hörer ab.) Hallo! SP 2: Ja. SP 1: Ah, da sind Sie ja. Wie war das Spiel? SP 2: Ich habe Ihre Frage nicht verstanden. SP 1: Meine Frage war, wie war das Spiel? SP 2: Das Spiel? SP 1: Jawohl. SP 2: Welches Spiel? SP 1: Na, ich denke, das Spiel, über das Sie uns berichten wollten, das Länderspiel in Nikosia. SP 2: Was? SP 1: Das Länderspiel. SP 2: Das Länderspiel? SP 1: Ja. Wissen Sie, wie es ausgegangen ist? SP 2: Ich kann es nicht beurteilen, weil ich das Spiel nicht gesehen habe. SP 1: Was, Sie haben das Spiel nicht gesehen? SP 2: Was? SP 1: Sie haben das Spiel nicht gesehen? SP 2: Was? SP 1: Die Verbindung ist schlecht. Die Verbindung ist heute wirklich nicht gut. (SP hat jetzt einen Zettel in der Hand und wendet sich, den Hörer noch am Ohr, an die Zuschauer. SP 1 lächelt nicht.) Wir haben hier ein Resultat nach vielem Hin und Her. Ein Ergebnis, das durchaus sein kann, das durchaus im Bereich des Möglichen ist. (SP 1 beugt sich, den Hörer noch am Ohr, über den Zettel. Offenbar kann er den Zettel nicht lesen. SP 1 wendet sich wieder an die Zuschauer.) Aber wir wollen hören, ob wir nicht doch eine bessere Verbindung bekommen. Hallo! SP 2: Ja. SP 1: Ah, da sind Sie ja. SP 2: Ja, ich bin hier. SP 1: Ich freue mich, dass wir uns jetzt endlich verstehen. SP 2: Was? SP 1: Ich freue mich, dass wir uns jetzt verstehen! SP 2: Was meinen Sie? Ich kann Sie nicht verstehen. SP 1: Sie können mich nicht verstehen? SP 2: Doch, ich verstehe Sie gut. SP 1: Ah, das ist gut. Können Sie uns jetzt etwas über das Spiel sagen, vielleicht das Ergebnis? SP 2: - (Es kratzt stark in der Hörmuschel, es knistert eine Weile. SP 1 hat den Hörer ein Stück weit vom Ohr entfernt, jetzt hält er ihn wieder ans Ohr.) SP 1: Hallo! Ich höre Sie nicht. (An die Zuschauer gerichtet:) Das war ja zu erwarten. (In die Muschel:) Hallo! Was? SP 2: Wimmer im Mittelfeld! SP 1: Wer? SP 2: Wimmer! SP 1: Wimmer? SP 2: Ja. SP 1: Jawohl. Also Wimmer im Mittelfeld. Und wie ist das Resultat? SP 2: Ich habe Ihre Frage nicht verstanden. SP 1: Ich habe Sie gefragt, wie das Spiel ausgegangen ist. Unsere Zuschauer hier sind gespannt auf das Resultat. SP 2: Haben Sie eine Frage? SP 1: Ja, ich habe Sie nach dem Resultat gefragt! SP 2: Hallo? SP 1: Das Resultat, verstehen Sie mich? Das Ergebnis? Wie es ausgegangen ist? SP 2: Das ist mein Eindruck, wie gesagt, soweit ich das sehen konnte, soweit es sich um das Spiel handelt, auf das Sie anspielen. SP 1: Von wem sprechen Sie? Bitte, von wem sprechen Sie? SP 2: Ja. Soweit ich das beurteilen kann. SP 1: Können Sie mich denn nicht verstehen? SP 2: Ja, aber ich kann es nicht so genau sagen, ich muss mich auf das verlassen, was ich gehört habe. SP 1: Und wissen Sie, wie es ausgegangen ist? SP 2: Was? SP 1: Das Spiel, wie ist das Resultat? SP 2: Ich glaube ja. SP 1: Gab es sonst noch was Besonderes? SP 2: Ich kann Sie plötzlich nicht verstehen, die Verbindung ist schlecht. SP1: (Legt den Hörer auf.) Es tut mir leid, liebe Zuschauer, aber das Resultat ist nicht mit Gewissheit zu erfahren." SP 1 Anders als bei diesem eigentümlichen Spiel in Nikosia, das die deutsche Elf übrigens durch einen glücklichen Treffer von Gerd Müller in der allerletzten Spielminute gewann, gab es keine Debatten darüber, wie - zwei Jahre zuvor - das Weltmeisterschaftsfinale im Londoner Wembley-Stadion ausging: 4:2 für Gastgeber England. Doch auch dieses spannende Finale war von Kommunikationsproblemen überschattet, vor allem in der 102. Spielminute, als der englische Stürmer Geoff Hurst das so genannte Wembley-Tor erzielte. Ausschlaggebend für diese nie eindeutig geklärte Torentscheidung war der lettische Linienrichter Tofik Bachramow, der sich - obgleich ungünstig positioniert - recht sicher war, dass der Ball die Torlinie in vollem Umfang überschritten hatte. Doch wie teilte der Mann aus Riga seine Gewissheit dem Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst mit? Welcher Dialog entspann sich zwischen den beiden Herren in Schwarz? Gerhard Henschel und Günther Willen haben in ihrem aufschlussreichen Werk "Drin oder Linie? Alles übers dritte Tor" versucht, die Gesprächsführung der beiden fremdsprachlich nur bedingt kompatiblen Unparteiischen in mehreren Versionen nachzuzeichnen: SP 1 + SP 2 ((im Wechsel, die kursiven "Regieanweisungen" sind eventuell von weiterem Sprecher zu lesen)) Offizielle Version SP 1/Dienst: Hello, Mr. Linesman. Was the ball in? SP 2/Bachramow: Is Goal, Goal, Goal! SP 1: Excuse me? SP 2: Is Goal, Goal, Goal! SP 1: Aha. (Er entscheidet auf Goal.) Kleines Missverständnis SP 1: Was fuchteln Sie denn hier so aufgeregt mit der Fahne rum, Mann? Ist ja furchtbar! SP 2: (Zeigt mit der Fahne zur Ehrentribüne.) Da vorne ist de Gaulle, de Gaulle. SP 1: Was? SP 2: De Gaulle, de Gaulle, de Gaulle! SP 1 : Goal ? Na, von mir aus ... (Er entscheidet auf Goal.) Einsilbig SP 1: Du! SP 2: Wer? SP 1: Du!! SP 2 : Ich ?? SP 1: Ja! SP 2: Was? SP 1: Tor? SP 2: Wo? SP 1: Da! SP 2: Hm ... SP 1: Nun? SP 2: Tja ... SP 1: Drin? SP 2: Ja. SP 1: Echt? SP 2: Echt. SP 1: Tor? SP 2: Klar! SP 1: (Pfeift.) SP 2: Manchen Leuten muss man aber auch alles dreimal sagen. SP 1 Bei der Weltmeisterschaft 1966 in England debütierte Franz Beckenbauer auf internationalem Terrain. In seine Glanzzeit fiel eine besondere Form der Popularisierung von Fußball-Lyrik: Torhüter, Liberos und Mittelstürmer entdeckten mit einem Mal ganz neue Talente in sich und zogen ins Plattenstudio, um sich als Schlagersänger ein Zubrot zu verdienen. Der Hamburger Dörfel, die Schalker Kremers-Zwillinge, die Torhüter Radenkovic und Nigbur - kaum einer konnte dem Drang widerstehen, sich auch gesanglich hervorzutun. Und nicht zuletzt Franz Beckenbauer und Gerd Müller, die ungeachtet ihrer Mühe, den richtigen Ton zu treffen, unerschrocken die Leidensfähigkeit ihrer Hörerschaft austesteten. Franz Beckenbauer zum Beispiel mit "Eins zu null für die Liebe" und Gerd Müller mit der einfachen Goalgetterweisheit "Dann macht es bumm": EINSPIELER 7 + 8 (Beckenbauer "Eins zu null für die Liebe", 2:35, und Gerd Müller "Dann macht es bumm", 2:12 -in Auszügen) (bitte mischen) SP 1 Die mit der Einführung der Bundesliga 1963 gestiegenen Vermarktungsmöglichkeiten führten dazu, dass die Heroen der Ligen rasch erkannten, dass sie nicht nur als Sänger oder Werbeträger für Tütensuppen oder Rasierwasser einzusetzen waren, sondern auch gut zwischen zwei Buchdeckeln Platz finden konnten. Das Genre der Fußballer-Autobiografie begann zu blühen, und kaum einer der Großen wollte diesem Sog widerstehen. Franz Beckenbauer bewies auch auf diesem Gebiet Führerqualitäten und brachte es bis zum heutigen Tag auf knapp ein Dutzend Bücher mit autobiografischem Charakter - eine Quote, von der Rousseau, Goethe, Thomas Bernhard oder Elias Canetti nur träumen konnten. Sein Kollege Gerd Müller hingegen hielt sich zurück und ließ sich nur einmal eine Autobiografie schreiben: Das 1967 erschienene Opus magnum "Tore entscheiden" zählt freilich in seinem authentischen Tonfall zu den anrührendsten Beispielen selbstbezüglichen Schreibens und erzählt anschaulich aus dem Familienleben eines jungen Profifußballers: SP 2 "Ursula, meine Frau, die ja erst 18 Jahre alt ist, macht sich als Hausfrau recht gut. Sie findet allerdings, ich könnte ruhig etwas mehr Ordnung halten, und damit hat se wohl den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich sehe ein, dass ich ihr unnötige Arbeit mache, wenn ich einfach alles mögliche auf einen Stoß Oberhemden werfe, den sie gerade ganz prima glatt gebügelt und zusammengelegt hat. Ich habe ihr bei ihrem ersten empörten Aufschrei auch sofort Besserung gelobt ... Wir verstehen uns prima, und sie sorgt wunderbar für mich. Sogar im Essen stimmen wir überein. Vor allem essen wir beide furchtbar gerne Kartoffeln, was viele Bayern bestimmt nicht verstehen können. Hier zieht man ja Knödel oder Semmelknödel vor. Marmorkuchen, den ich sehr gern esse, bäckt meine Frau, so oft ich Appetit darauf habe. Beim erstenmal ging es allerdings schief, und als ich heimkam, hatte sie einen normalen Rührkuchen gebacken. "Du wolltest doch Marmorkuchen backen", beschwerte ich mich. "Ohne Kakao?", fragte sie. "Wie sollte ich das machen?" Sie hatte am Abend vorher die Butter auf den Kühlschrank gestellt, damit sie zum Rühren weich wurde. Die Butter war dann aber so weich geworden, dass sie davongeflossen war, und meine Oma, die gerade zu Besuch gekommen war, hatte nicht nur aufgeräumt, sonder auch das butterdurchtränkte Kakaopaket, das auf dem Kühlschrank gestanden hatte, weggenommen. Es war am Samstagnachmittag, und ab mittags hatten die Geschäfte geschlossen. Nix Kakao - nix Marmorkuchen ..." SP 1 Unbekümmert und herzerfrischend gab sich der "Bomber der Nation" seinerzeit - so wie die hoch bezahlten Profis in ihren Anfängen meistens sind. Auch Lothar Matthäus war, ehe er zum Rekordnationalspieler und erfolglosen Trainer wurde, ein bescheidener Bub' aus dem fränkischen Herzogenaurach. Den Schallarchiven des Bayerischen Rundfunks ist es zu verdanken, dass Matthäus' erstes Interview - aus dem Jahr 1979 - der Nachwelt erhalten blieb. Im Gespräch mit Günther Koch erzählte Klein-Loddar von daheim: EINSPIELER 9 (Interview Koch/Matthäus - 1:37) (Musik im Vorspann ca. 40/50 sec. bitte wegnehmen) SP 1 Viel schwerer als die erzählfreudigen Gerd Müller und Lothar Matthäus taten sich hingegen die Dichter, wenn es darum ging, sich auf die Details eines Fußballspiels einzulassen. Über Fallrückzieher und Sturmläufe zu schreiben, adelte einen Autorenlebenslauf nicht, ja, galt bis in die 80er Jahre als Unfähigkeit, sich würdigen literarischen Gegenständen zuzuwenden. So zogen es die ballaffinen Schriftsteller lange Zeit vor, sich dem Ball metaphorisch und symbolisch zu nähern. Die Rasenaktivitäten mussten mehr hergeben als simple Methoden, sich an die Spitze der Tabelle zu schießen. Selbst ein Nobelpreisträger wie Günter Grass war in jungen Jahren nicht davor gefeit, das Fußballgeschehen mit bedeutungsschwangeren Versen zu überhöhen, etwa in seinem 1955 erschienenen Gedicht "Nächtliches Stadion": SP 2 "Langsam ging der Fußball am Himmel auf. Nun sah man, dass die Tribüne besetzt war. Einsam stand der Dichter im Tor, doch der Schiedsrichter pfiff: Abseits." SP 1 Und auch Peter Handke fuhr schweres Geschütz auf, um 1970 der Geschichte des Monteurs Bloch eine fußballerische Aura zu geben. Seine Erzählung "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" wird von Unkundigen als Text über realen Fußball angesehen - ein Missverständnis, das mit Händen zu greifen ist, wenn man einen Blick auf das Ende der hoch symbolischen Handlung wirft: SP 2 "Ein Elfmeter wurde gegeben. Alle Zuschauer liefen hinter das Tor. ,Der Tormann überlegt, in welche Ecke der andere schießen wird', sagte Bloch. ,Wenn er den Schützen kennt, weiß er, welche Ecke er sich in der Regel aussucht. Möglicherweise rechnet aber auch der Elfmeterschütze damit, dass der Tormann sich das überlegt. Also überlegt sich der Tormann weiter, dass der Ball heute einmal in die andere Ecke kommt. Wie aber, wenn der Schütze noch immer mit dem Tormann mitdenkt und noch in die übliche Ecke schießen will? Und so weiter, und so weiter.' Bloch sah, wie nach und nach alle Spieler aus dem Strafraum gingen. Der Elfmeterschütze legte sich den Ball zurecht. Dann ging er auch rückwärts aus dem Strafraum heraus. ,Wenn der Schütze anläuft, deutet unwillkürlich der Tormann, kurz bevor der Ball abgeschossen wird, schon mit dem Körper die Richtung an, in die er sich werfen wird, und der Schütze kann ruhig in die andere Richtung schießen', sagte Bloch. ,Ebensogut könnte der Tormann versuchen, mit einem Strohhalm eine Tür aufzusperren.' Der Schütze lief plötzlich an. Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoss ihm in den Ball in die Hände." SP 1 So - jeder weiß es - geht es im wirklichen Leben nicht zu. Zum Glück war der Elfmeter, diese oft spielentscheidende Szene, nicht allein auf Peter Handke angewiesen. Eine Vielzahl von Autoren kreiste diesen erregenden Moment ein, darunter Robert Gernhardt in seinem "Monolog des Torwarts, der einen Elfmeter passieren ließ": SP 2 "TORWART. Ball, sei verflucht! Verflucht sei, der dich schlug! Verflucht das Weib, das in dem Leib dich trug! Verflucht der Mann, der dich gezeugt! Verflucht das Kind, das dich gesäugt! Verflucht der Greis, der dich gebar! Verflucht die Greisin, die sich zwar aus allem immer schön raushielt, jedoch aus Gründen der Fairness nicht unerwähnt bleiben soll - Fluch jeder Pfeife, die dir pfiff! Fluch jeder Hand, die nach dir griff! Fluch dir und allen deinesgleichen! Fluch - doch das sollte erst mal reichen. Noch jemand ohne Flüche bitte? Nein? Dann geb ich den Ball zur Mitte. Obacht!" SP 1 Ein ganz konkreter Elfmeter - der katastrophale Fehlschuss des Uli Hoeneß im Europameisterschaftsendspiel 1976 - wiederum inspirierte die berühmte Orientalistikprofessorin Annemarie Schimmel. Diese zögerte keine Sekunde, das historische Ereignis in einer beliebten englischen Strophenform, dem Limerick, festzuhalten. Und alle Achtung, das ist Frau Schimmel, der Friedenpreisträgerin des Deutschen Buchhandels, auch reimtechnisch ziemlich gut gelungen: SP 2 "Inmitten gewalt'gen Gestöhnes verschoss den Elfmeter der Hoeneß. Das Spiel ist verloren ... Mit hängenden Ohren betrachtet der Trainer, Herr Schön, es!" SP 1 Je weiter das 20. Jahrhundert voranschritt, je mehr sich der Fußball zur Ersatzreligion entwickelte, desto unverblümter traten die Dichter auf den Plan und machten sich von ihrer intellektuellen Scheu frei. Keine Mühe schien zu groß, den Idolen der Stadien gerecht zu werden, und so wurden selbst antike Strophenformen aufgegriffen. Eckhard Henscheid wählte die Hymne, um den Koreaner Bum Kun Cha zu preisen, Martin Halter die Elegie, um seinen Favoriten Rodolfo Esteban Cardoso angemessen zu präsentieren, und der Münchner Albert Ostermaier griff gar zur Ode, um Oliver Kahn gerecht zu werden: SP 2 "ode an kahn wenn er beim eckball wie eine blonde katze aus dem tor stürmt auf einer welle der begeisterung durch die blauen lüfte fliegt - jetzt müsste man eigentlich die beach boys einspielen - & im sprung er hört gar nicht mehr auf zu fliegen seinen teleskoparm über den rotierenen rasurköpfen & dauerwellen ausfährt dann ist es für einen moment ach könnte er doch verweilen als wollte er die sonne aus ihrer laufbahn fausten & die flügel stürmer in einem schwarzen loch zurücklassen als wäre die welt nur zwischen seinen zwei handschuhen zu fassen & kein planet der halbaffen der auf der gegengeraden hinter seinem schon wieder zum sprung gekrümmten rücken durchdrehte & sich die brust haare raufte wenn der der flash gordon der strafräume in die neue angriffslust hechtet abtaucht in ein meer von strudelnden schienbeinen & sich mit bloßen händen die kugel fischt niemand schifft sie an ihm vorbei ohne in das haupt der medusa zu schauen seine arme sind wie skylla & charybdis & wer könnte diese enge passieren ohne um sein leben zu fürchten selbst seine mannen macht er rund & schreit sie an als hätten sie wachs in den ohren & könnten ihn nicht hören den rauen aufbrausenden sirenengesang ihres felsen in der brandung" SP 1 Die Umarmungsversuche der Intellektuellen aus allen Himmelsrichtungen führten zwangsläufig dazu, dass über Fußball allerhand Unsinn zu Papier gebracht wurde. Philosophen erinnerten sich an Jean-Paul Sartre, der in seiner "Kritik der dialektischen Vernunft" die tiefschürfende Erkenntnis formulierte, dass sich beim Fußball alles durch die Anwesenheit der gegnerischen Mannschaft verkompliziere; Theologen versuchen ihre ins Wald- oder Weserstadion entlaufenen Schäflein mit Ballexegesen zurückzuholen, und Psychologen holen weit aus, um en détail zu erläutern, warum frustrierte Fußballer so gern vor laufender Kamera rotzen und spucken. Manche dieser Hervorbringungen verlangen nach parodistischer Bearbeitung, und 1991 nahm sich der Soziologe Professor Hartmut Esser dieser Aufgabe an und veröffentlichte in der angesehenen "Zeitschrift für Soziologie" seinen bahnbrechenden Aufsatz "Der Doppelpass als soziales System". Erst durch diese Analyse sah man das, was Beckenbauer und Müller, was Netzer und Heynckes jahrelang getrieben hatte, mit aufgeklärten Augen: SP 2 "In der - heute überholten - alteuropäischen Sicht war man noch davon ausgegangen, dass konkrete Menschen einen Doppelpass ,spielten': Netzer kommt aus der Tiefe des Raumes, spielt einen langen Ball auf Overath, der in der ihm eigenen barocken Art (die sog. Overath-Schleife) zu dem aufgerückten Beckenbauer gibt, der seinerseits den - wie üblich - nur äußerlich statischen, tatsächlich aber in einem dynamisch Fließgleichgewicht befindlichen Gerd Müller kurz mit dem Außenrist bedient, der sofort auf Beckenbauer zurückpasst, unvermittelt am Gegner vorbeiläuft, den Ball wieder erhält und mit einem (hinreichend erfolgreichen) Schlenzer aufs (ins) Tor die Sequenz abschließt. (...) Dies alles ist nicht falsch beobachtet, greift aber theoretisch entschieden zu kurz: Der Doppelpass ist ein genuin emergentes Phänomen mit eigenen Imperativen, eigenen Gesetzen, eigenem Sinn - Eigen-Sinn - und eigener Irreversabilität. Er konstituiert seine Elemente (...) immer selbst und immer systemrelativ: es gibt keine ,Spieler' eines Doppelpasses ohne deren Doppelpass. Der Doppelpass lässt als eigenständiges System in allen Beziehungen eine Selbstbeobachtung mitlaufen und reproduziert sich erst auf diese Weise selbstreferentiell. Dies lässt sich mit herkömmlichen Denkmitteln nicht mehr begreifen." SP 1 Bei all diesen Ab- und Irrwegen der Fußballbetrachtung konnte es nicht ausbleiben, dass das Spielgeschehen auch als Abbild erotisch-sexueller Begehrlichkeiten interpretiert wurde. Stürmer wie Jürgen Klinsmann oder Giovane Elber verglichen das Gefühl beim geglückten Torschuss mit den Sensationen eines Orgasmus, und von der Libido des Libero zu reden verbot sich nicht länger wie zu Sepp Herbergers Zeiten. Und in der Tat: Was Woche für Woche in den neunzig Minuten eines Matches abläuft, birgt viel Triebhaftes in sich. Der Bremer Original-Töne-Sammler Arnd Zeigler hat nicht wenig Lebenszeit darauf verwendet, die Sprache der Fußballreporter auf ihre geheimen sexuellen Botschaften abzutasten. Seine Collage legt den Kern der Sache unverhüllt bloß: EINSPIELER 10 (Arnd Zeigler - 2:49 - kann gut gekürzt werden) SP 1 Nichts - man hört es -, was sich nicht mit dem Fußball in Verbindung bringen ließe. Politisches, Philosophisches, Erotisches ... und doch gelingt es keiner noch so klugen Betrachtung, die tiefste Faszination dieses Sports ganz zu ergründen, den ungewissen Ausgang der neunzig Minuten. Der österreichische Germanist Wendelin Schmidt-Dengler hat diesen Vorzug mit klaren Worten herausgearbeitet: SP 2 "Wie Shakespeares ,Hamlet' oder Lessings ,Minna von Barnhelm' ausgeht, weiß ich; wie aber das nächste Derby zwischen Rapid und Austria weiß ich nicht. Der ästhetische wie dramaturgische Vorsprung des Hanappi-Stadions vor dem Burgtheater ist kategorial." SP 1 Keiner hat diese Beseeltheit durch den Fußball, keiner hat das Innenleben eines Fans so eindringlich seziert wie der Engländer Nick Hornby in seinem autobiografischen Roman "Fever Pitch", der auch den Weg in die Kinos fand. Arsenal-London-Fan Hornby zeigt, dass Fußball Leben ist - oder wenigstens beinahe: EINSPIELER 11 (Ausschnitt aus "Fever Pitch" - 1:36) (ggf. Ansage bitte wegnehmen) SP 1 Irgendwann freilich ist Schluss, irgendwann pfeift der Schiedsrichter das Spiel ab, geht die Saison zu Ende, läuft eine Karriere aus, schlägt das Todesglöcklein für den größten Fan. Nur echte Kerle verstehen es, diesem Moment nüchtern zu begegnen, ihn dichterisch oder musikalisch einzufangen. So wie Toni Polster, Österreichs Meister des Schmähs, der Schlitzohrigkeit und der geringen Laufwege. Der wusste, wie er seinen Abschied vom internationalen Rasen zu begehen hatte, in einem schönen Lied: EINSPIELER 12 (Toni Polster, Irgendwann sagt jeder einmal Servus - 4:10, gut geeignet zum Ausblenden) CD mit Einspielern - Anmerkungen und Rechtenachweise 1 = Deutsche Fußball-Nationalmannschaft 1974, Fußball ist unser Leben (kann gut gekürzt werden) Musik und Text: Jack White ? Polydor GmbH 1973 Das Lied ist auf vielen CDs erschienen, z.B. auf "Kult-Fußball Royal", Sony Music Entertainment 2003, ASIN: B000084HXV 2 = Fritz Walter, Aufwärmen entnommen der CD "Kult Fußball", Nova Tekk GmbH 1998. LC 7467. Aufnahme ist sicher rechtefrei. 3 = Eduardo Galeano, Tor durch Nolo (gelesen von Nina Petri) Titelansage auf dem Track muss entfernt werden Entnommen der CD "Wahre Leidenschaft Fußball", Tonkombinat 2002. ISBN 3- 936173-05-2 - Aufnahme wurde wohl für diese CD gemacht. Textrechte: Eduardo Galeano: Der Ball ist rund und Tore lauern überall. Aus dem uruguayischen Spanisch von Lutz Kliche. Wuppertal: Hammer, 1997 4 = 1 5 = Berti Vogts/Peter Rosegger, Ein bisschen mehr Friede Entnommen der CD "Kult-Fußball 2" (von Arnd Zeigler, Nova Tekk GmbH 2000 - ? für die Aufbereitung Arnd Zeigler (Radio-Bremen-Redakteur) 6 = Josef Kirmaier aus Rom Entnommen der CD "Kult-Fußball 2" (von Arnd Zeigler, Nova Tekk GmbH 2000, LC 10740 - ? Bayerische Rundfunkwerbung GmbH 1955 7 = Franz Beckenbauer, Eins zu null für die Liebe (zu kürzen und zu vermischen mit 8, Müller) Musik: Rolf Arland, Text: Kurt Hertha ? Polydor - a division of Universal Musik GmbH. Die Schlager 7 + 8 sind auf vielen CDs erschienen, z.B. "Glanzparade. Die Fußball- Klassiker". BMG Ariola 2002. LC 00116 8 = Gerd Müller, Dann macht es bumm Musik: Walter Geiger, Text: Claus Ritter ? Sony Music Entertainment GmbH & Co. KG. Siehe 7. 9 = Interview Günther Koch/Lothar Matthäus (die Vorspannmusik aus der Sportschau muss herausgenommen werden) Entnommen der CD "Kult Fußball", Nova Tekk GmbH 1998. LC 7467 ? Günther Koch, BR, und Rough Trade Records GmbH 10 = Arnd Zeigler, Sex! Entnommen der CD "Kult-Fußball 2" (von Arnd Zeigler, Nova Tekk GmbH 2000, LC 10740) - ? Arnd Zeigler, Bremen 11 = Nick Hornby, Fever Pitch (gelesen von Peter Lohmeier) - ? Random House Audio, ISBN 3898306267 Titelansage auf dem Track muss entfernt werden 12 = Toni Polster, Irgendwann sagt jeder einmal Servus Musik und Text: Micky Brühl/Hans Knipp ? KOCH Universal - A Division of Universal Music Music GmbH, 2000. Erschienen z.B. auf "Kult-Fußball Royal", Sony Music Entertainment 2003, ASIN: B000084HXV Rechtenachweise für die Textauszüge Friedrich Torberg: Die Mannschaft. Roman eines Sport-Lebens (1935). Wien [u.a.]: Molden, 1968, S. 36-38 - ? Langen Müller München, 25 Zeilen Joachim Ringelnatz: Fußball (nebst Abart und Ausartung) Rechtefrei Hans Hummel: Abseits! In: Präsidium des Hamburger Fußball-Verbandes (Hg.): 100 Jahre Fußball in Hamburg.. Hamburg: Kruck, 1994, S. 31 Keine Rechteinhaber zu ermitteln Friedrich Torberg: Auf den Tod eines Fußballspielers. In: F.T.: Lebenslied. Gedichte aus 25 Jahren. Wien/Berlin: Medusa, 1983, S.47f. - ? Langen Müller München, 40 Verszeilen Ludwig Harig, Die Eckbälle von Wankdorf. In: L.H., Hundert Gedichte. München: Hanser, 1988, S. 82 - ? Carl Hanser Verlag München, 14 Verszeilen Ror Wolf, Telefongespräch ... In: Ror Wolf: Das nächste Spiel ist immer das schwerste. Alte und neue Fußballspiele. Zürich: Haffmans, 1990 - ? vermutlich Frankfurter Verlagsanstalt Frankfurt/Main, 64 Dialogzeilen Gerhard Henschel / Günther Willen: Drin oder Linie? Alles übers dritte Tor. Leipzig: Reclam, 1996, S. 77f. - ? bei den Autoren, 28 Dialogzeilen (z.T. nur aus einem Wort bestehend) Gerd Müller, Tore entscheiden. München: Copress, 1967 - wohl rechtefrei Günter Grass, Nächtliches Stadion ? Steidl Verlag Göttingen, 1994, 4 Verszeilen Peter Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Erzählung. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1970, S. 111f. - ? Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main, 19 Zeilen Annemarie Schimmel: [Limerick]. In: Rainer Moritz: Immer auf Ballhöhe. Ein ABC der Befreiungsschläge. München: Beck, 1997, S. 79 - ? wohl bei den Erben der Autorin, 5 Verszeilen Robert Gernhardt, Monolog ... In: R.G., Wörtersee. Zürich: Haffmanns, 1989, S. 1989 - ? bei S. Fischer Frankfurt/Main oder beim Autor, 25 Verszeilen Albert Ostermaier: ode an kahn. In: Süddeutsche Zeitung, 25.5.1999 - ? beim Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main oder beim Autor bitte anfragen, 44 Verszeilen Hartmut Esser: Der Doppelpaß als soziales System. In: Zeitschrift für Soziologie 20 (1991), S. 155f. - ? beim Verlag der Zeitschrift oder beim Autor bitte anfragen (Prof. im Mannheim), 17 Verszeilen Wendelin Schmidt-Dengler, Polster gegen Hamlet 2:1. In: Der Standard, 13./14.6.1998. Copyright bei Schmidt-Dengler direkt, 4 Zeilen 32