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Doctorow und Richard Ford von Johannes Kaiser MUSIK: Jimi Hendrix: Star Spangeld Banner Musik kurz stehen lassen, dann Take drüberlegen, unter Spr. ausblenden, dann wieder hochziehen TAKE 1: O-Ton Ford kurz stehen lassen, Spr. drüber legen, am Ende wieder hoch- ziehen Spr.: ?Wir interessieren uns nicht für Geschichte, arbeiten ununter- brochen, versuchen unser Erbe zu vermehren, Geld zu ma- chen, unsere Freizeit auszudehnen, unsere Kinder aufs College zu bringen, sind so mit unserem Leben beschäftigt, dass wir für Geschichte keine Zeit haben.? Erz.: Der 64jährige amerikanische Schriftsteller Richard Ford. MUSIK: kurz hochziehen, dann Take drüber legen TAKE 2: O-Ton Doctorow kurz stehen lassen, Spr. drüber legen, am Ende wieder hoch- ziehen Spr.: ?Ich wende mich immer den Zeiten zu, in denen die Geschich- te meines Landes die meisten Leidenschaften weckte. Wo im- mer die nationale Geschichte sich am deutlichsten zeigte, der Moment, der am meisten über das Leben in den Vereinigten Staaten aussagt, da bin ich hingeleitet worden.? Erz.: Der 77jährige amerikanische Schriftsteller E.L. Doctorow. MUSIK: Kurz hochziehen, dann ausblenden Erz.: Die beiden Autoren sind nicht die ersten amerikanischen Schriftsteller, die über die Geschichtsvergessenheit ihrer Landsleute klagen und mit ihren Büchern dagegen ankämpfen, weil eine solche Einstellung das Lernen aus früheren Fehlern verhindert. Überall in den USA stößt man auf das seltsame Phänomen des raschen Verdrängens, des Übersehens von Er- eignissen, die nur wenige Jahrzehnte, bisweilen sogar nur Jah- re zurückliegen. Man schaut voraus, nicht zurück. So hält man sich denn auch nicht mit alten Niederlagen auf, sondern sucht neue Siege. Für Europäer, insbesondere uns Deutsche, die wir uns leidenschaftlich über 100 Jahre zurückliegende Ereignisse streiten können, wirkt solch kollektiver Gedächtnisverlust ver- blüffend. Es ist offenkundig eine nationale Charaktereigen- schaft, über die die amerikanische Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison einmal treffend so klagte: TAKE 3: O-Ton Morrison kurz stehen lassen, Übers.in drüberlegen, am Ende wieder hochziehen Übers.in: "Zu dem Schändlichsten, was in den Vereinigten Staaten exis- tiert, gehört diese Art historischer Amnesie. Niemand erinnert sich an irgendetwas, das länger als drei Monate zurückliegt. Man redet so, als wäre das Leben vor 1o Jahren erfunden wor- den und vorher nichts geschehen, wiederholt daher ständig dieselben Fehler, reiht eine Enttäuschung an die andere, weil man die Stärken und Schwächen der Vergangenheit nicht kennt. Dabei ist das der Prozess des Lernens." MUSIKAKZENT Erz.: Der New Yorker E.L. Doctorow hat in seinen Romanen immer wieder in klassisch-epischer Form bewusst Kulminationsmo- mente der amerikanischen Geschichte aufgegriffen, Brenn- punkte, in denen sich eine ganze Nation widerspiegelt. Der im ländlichen Maine zurückgezogen lebende Richard Ford kon- zentriert sich in seinen Romanen dagegen auf das Leben der weißen Mittelschicht. Sie sind eher Studien des Denkens und Handelns seiner Zeitgenossen, der Wertvorstellungen und Mo- ral dieses Teils der Nation. Er verfolgt den allmählichen Wan- del im Verlauf des Älterwerdens. Richard Ford ist so, ohne es bewusst geplant zu haben, zum Chronisten seiner Zeit gewor- den. Beide Autoren haben jetzt mit ihren jüngsten Romanen beeindruckende Musterbeispiele ihrer jeweiligen Geschichts- schreibung vorgelegt. Zit.: ?Was ist eigentlich Heimat, fragen Sie sich vielleicht. Der Ort, wo man das Licht der Welt erblickt hat, oder der Ort, den man selber wählt? Oder ist es irgendein Ort, an dem man einfach wieder zurückkehren muss, obwohl die Luft dort schlechter geworden ist ? die Zukunft ist vorbei, keiner will einen wieder- haben -, ein Ort, den man einst in Windeseile verlassen hat, ohne einen Blick zurück? Heimat? Heimat ist genug Stoff zum Grübeln, wenn man wie ich an einem Ort (der Südküste mit ih- rer Sirupluft) geboren wurde, an einem anderen (der glet- schergehobelten Mitte des Kontinents) aufgewachsen und schließlich an einem dritten zum Stehen gekommen ist ? wo man seit Jahren das passende ?Heim? für andere sucht. Viel- leicht ist Heimat nur dort, wo man den Stadtplan auswendig kennt, wo man mit einem Scheck bezahlen kann, wo jemand Bekanntes einem den Blutdruck misst und die Leber abtastet ? mit anderen Worten, wo die wichtigsten Pflegekräfte schon mit übergestreiften Plastikhandschuhen auf einen warten.? Erz.: Frank Bascombe, erfolgreicher Immobilienhändler, hat sich an der Küste New Jerseys in dem kleinen fiktiven Seestädtchen Sea-Clift niedergelassen. Wie so viele Amerikaner ist er in sei- nem Leben schon mehrmals umgezogen, doch jetzt scheint er hier mit 55 Wurzeln schlagen zu wollen. Er fühlt sich wohl in der kleinstädtischen Atmosphäre, in der sich Zeiten ländlicher Beschaulichkeit mit saisonalen Urlauberwellen abwechseln. Ausführlich erzählt Richard Ford von Franks Immobilienge- schäft. Wie wir seit jüngstem wissen, ein sowohl für Amerikas Gemütszustand wie auch Amerikas Wirtschaft extrem wichti- ger Bereich. Der Besitz eines Hauses ist mehr als nur ein Stück Eigentum. Er ist ein Symbol für Erfolg oder Versagen, Wertan- lage und Spargroschen, Rückzugsort und emotionale Schutz- burg. Frank kennt die Gefühlswelt seiner Kunden gut. Das hat ihn in der Vergangenheit zu einem ziemlich erfolgreichen, al- lerdings nur bedingt zufriedenen Verkäufer gemacht. Zit.: ?Wie man sich als ausdauernder Immobilienanpreiser so fühlt, habe ich oft mit verschiedenen Bildern zu beschreiben ver- sucht, die allesamt auf die betäubende Komplexität des menschlichen Organismus abzielen. Dazu gehörte das Gefühl, ständig draußen auf dem offenen Meer zu sein, eine niedrig- tourige, etwas abgehobene, schmeichelbrisenhafte Aufgeregt- heit, die durch das Handeln für andere, so frank und frei, wie es mir als Hausverkäufer immer gelang, meistens gemildert wurde, aber nie ganz befriedigt wurde? Das Leben fühlte sich immer wie ein unvollendeter Flamenco an, dem der letzte Taktschlag? fehlte, ergänzt durch mich oder sonst wen, und erst dann könnte Ruhe einkehren.? Erz.: Frank ist in vielerlei Hinsicht ein typischer Amerikaner. Er ist ein self-made-man, überzeugt davon, dass jeder seines eige- nen Glückes Schmied ist. Begonnen hat er als Sportreporter, so heißt auch der erste Roman, in dem Richard Ford Frank Bascombe zum ersten Mal auftreten lässt. Er spielt um Ostern 1983. Sechs Jahre später, in ?Unabhängigkeitstag?, hat der Protagonist seinen Beruf aufgegeben und ist dabei, in die Im- mobilienbranche einzusteigen. Jetzt im dritten Band der Trilo- gie ?Die Lage des Landes?, ist er stolzer Besitzer einer eigenen Immobilienfirma. Eigentlich müsste er nicht mehr arbeiten, da er gut verdient hat, zwei Mietshäuser besitzt und einen Im- bissstand. Dennoch mag er seinen Beruf nicht aufgeben, auch wenn ihm sein tibetanischer Mitarbeiter die Firma gerne ab- kaufen würde. Frank ist ein gut situierter, konservativ denken- der Angehöriger der weißen Mittelschicht - mit Afroamerika- nern hat er nur sehr wenig Kontakt -, der zwar Al Gore Anhän- ger ist, aber ansonsten nicht gerade durch progressive Ansich- ten auffällt. Er ist zum zweiten Mal verheiratet, hat zwei Kin- der, geht bisweilen fremd, trinkt manchmal zu viel. Alles im Rahmen des Alltäglichen. Keine Extravaganzen. Wie Richard Ford bereits vor 12 Jahren zum Erscheinen des zweiten Bandes der Bascombe Trilogie ?Unabhängigkeitstag? klarstellte, fühlt er sich seinen Protagonisten, normalen weißen Mittelschichtsamerikanern verbunden. TAKE 4: O-Ton Ford kurz stehen lassen, Spr. drüber legen, am Ende wieder hoch- ziehen Spr.: ?Okay. Das ist das, was ich bin. Sie sind nicht reich, es sind kein Helden, sie sind keine Schurken. Wenn sie Glück haben, finden sie Möglichkeiten, ihr Leben durch Erfahrungen, durch moralische Entscheidungen ein wenig gegenüber dem, was sie derzeit sind, zu verbessern. Sie versuchen, glücklicher zu wer- den, indem sie jemanden finden, den sie lieben, sie versuchen ihren Horizont etwas zu erweitern. Das ist meine Absicht, das ist es, was ich kenne. Ich kenne das normale Mittelschichtsle- ben, denn dort spielt sich das Leben ab. Wenn ich etwas über Reiche, über Kriegshelden wüsste, würde ich vielleicht über sie schreiben. Aber ich weiß nichts darüber. Zudem sind sie mir nicht sympathisch. Meine Sympathien liegen vielmehr bei den alltäglichen Entscheidungen, die das Leben erträglich machen und manchmal sogar besser als nur erträglich.? Erz.: So wie Richard Ford vor einem sitzt, hager, hoch aufgeschos- sen, glatt rasiert, hohe Stirn, schütter gewordenes, blond er- grautes Haar, legere Kleidung, einfarbiges Freizeithemd, Blue Jeans, wirkt er wie ein typischer Intellektueller der Ostküste, könnte durchaus Anwalt sein wie alle seine Verwandten, im- merhin hat er Jura studiert, bevor er Schriftsteller wurde. Der Erfolg freut ihn, bestätigt er ihm doch, dass er mit seinen Ro- manen den Nerv einer bestimmten Leserschicht getroffen hat. Allerdings legt Richard Ford viel Wert auf die Feststellung, dass seine Charaktere allesamt Erfindungen sind, Ausgeburten sei- ner Phantasie, keine Abbilder der Wirklichkeit. Frank ist be- wusst geplant und entworfen, keine reale Figur, wie der Schriftsteller noch einmal ausdrücklich betont: TAKE 5: O-Ton Ford kurz stehen lassen, Spr. drüber legen, am Ende wieder hoch- ziehen Spr.: ?Er ist ein fiktive Figur, und das wird er für mich auch stets bleiben. Für Sie als Leser mag er wie ein typischer Mann der Mittelklasse wirken, aber ich könnte gewiss einige Qualitäten aufzählen, die ihn keineswegs mehr so typisch aussehen las- sen wie z.B. die Tatsache, dass er Ihnen sein Leben, seine in- timsten Gedanken verrät, ehrlich und humorvoll und in gewis- ser Weise virtuos. Das unterscheidet ihn stark vom typischen Mittelklasseangehörigen. Es stimmt, er hat einen Job mit ei- nem Einkommen im mittleren Bereich, es stimmt, er hat zwei Kinder, aber ich denke, für den Leser ist er hauptsächlich als Erzähler wichtig, und das Typische an ihm trifft nur für gewis- se Teile seiner Persönlichkeit zu, gilt ansonsten nicht, ganz konkret nicht für das, was er tut.? Erz.: Das stimmt sicherlich insofern, als Amerikaner zwar ausge- sprochen freundlich im Umgang miteinander sind, sich aber kaum anderen gegenüber öffnen, ihre Gefühle für sich behal- ten. Frank ist hier die Ausnahme, doch was er zu erzählen hat, ist die Regel, der Alltag, die Normalität. Es gibt keine exoti- schen Figuren mit merkwürdigen Leidenschaften, und auch er selbst ist kein ungewöhnlicher Mensch. Ihn unterscheidet nur seine Leidenschaft, alles und jedes zu kommentieren. So füllen denn die Ereignisse der zwei Tage, in denen der Roman spielt, fast 700 Seiten. TAKE 6: O-Ton Ford kurz stehen lassen, Spr. drüber legen, am Ende wieder hoch- ziehen Spr.: ?Die Sätze sind im letzten Buch viel länger, weil sich in mir viel mehr Dinge angesammelt hatten, die ich sagen wollte, und um sie ins Buch zu bringen, brauchte ich gewissermaßen längere Sätze. Zudem gefallen mir lange Sätze. Es macht mir Spaß, sie zu formulieren.? Erz.: So schockierend es sein mag, dass bei Frank vor einem Jahr Prostatakrebs diagnostiziert wurde, angesichts der amerikani- schen Statistik ist er einer von vielen, die es trifft. Ob die Be- handlung mit radioaktiven Jodkernen den Tumor restlos zer- stört hat, bleibt offen. Er denkt darüber nicht besonders oft nach, sieht sich selbst als einen Mann in der Permanenzphase, d.h. er versucht alles so zu nehmen, wie es ist, positiv zu den- ken. So hofft er denn auch auf ein friedliches Familienfest zu Thanksgiving, wohl dem wichtigsten amerikanischen Feiertag, an dem ein Truthahn auf den Tisch gehört und sich die gesam- te Familie aus allen Ecken des Landes versammelt. Angekün- digt haben sich seine Tochter Clarissa, die ihm einige Kopf- schmerzen bereitet, weil sie nach einer heftigen lesbischen Be- ziehung nun einem Mann verfallen ist, den Frank für einen ziemlich widerlichen und windigen Kerl hält. Auch sein Sohn Paul will kommen. Der, im vorherigen Roman noch schwer verhaltensgestört, hat sich zwar gerappelt, steht inzwischen auf eigenen Beinen, aber Vater und Sohn haben ziemlich un- terschiedliche Vorstellungen vom Leben. Der Ärger ist vorpro- grammiert. Und auch seine Ex-Frau hat sich eingeladen. Sie lässt durchblicken, dass sie nach dem Tod ihres zweiten Ehe- manns gerne wieder zu ihm zurückkehren möchte. Dafür fehlt Franks jetzige Ehefrau, denn die hat ihn vor kurzem verlassen, als ihr vor Jahrzehnten verschollener Ehemann plötzlich wieder auftauchte. An Konfliktpotential fehlt es nicht. Aber es sind all- tägliche Konflikte, keine außergewöhnlichen, und das gilt eben auch für die beiden vorherigen Romane. In ihnen spiegelt sich amerikanischer Kleinstadtalltag wieder. Es ist wie im letzten Roman Wahlkampfzeit, damals Dukakis gegen Reagan, dies- mal Al Gore gegen George W. Bush. Frank hat auf seinem Au- to einen Aufkleber, der für den Demokraten wirbt. Das macht ihn zu einem Außenseiter, denn die meisten seiner gesell- schaftlichen Schicht wählen republikanisch, worüber er sich mehrfach mokiert. Auch wenn Richard Ford keine politischen Romane schreibt, so nimmt er doch indirekt politisch Stellung: TAKE 7: O-Ton Ford kurz stehen lassen, Spr. drüber legen, am Ende wieder hoch- ziehen Spr.: ?Literatur in der Gesellschaft ist eo ipso politisch, auch ohne sich der politischen Umgangssprache der Zeit zu bedienen. Es geht darum, wie wenig Politik zählt, wie sehr das normale Mit- telschichtsleben im Vordergrund steht, und das ist schon ein politischer Kommentar. Auf die Präsidentschaftswahlen zu deuten und zu sagen, wen kümmert?s, das spricht doch für sich. Ich glaube, in Amerika gibt es keine Tradition direkter politischer Literatur. Ein alter amerikanischer Politiker namens Tip O?Neal sagte einmal, alle Politik in Amerika ist lokal. Sie können das als Deckblatt auf jeden großen Roman in der Ge- schichte schreiben: Politik ist lokal, von Anna Karenina über Middle March bis zu Absolom, Absolom, alles ist lokale Politik.? Erz.: So kann man den Titel des dritten Romans um Frank Bascom- be ?Die Lage des Landes? durchaus wortwörtlich nehmen und als Sittengemälde Amerikas ansehen und die Trilogie als Zeit- geschichte ? immerhin umfassen die drei Romane einen Zeit- raum von rund 20 Jahren, wenn man die Rückblenden nimmt, sogar 55 Jahre, nämlich das ganze Leben Frank Bascombes - auch wenn das nicht die Absicht Richard Fords war: TAKE 8: O-Ton Ford kurz stehen lassen, Spr. drüber legen, am Ende wieder hoch- ziehen Spr.: ?Das soll nun nicht heißen, dass man diese Bücher in ein paar Jahren, wenn ich Glück habe, nicht auch als Wegweiser durch einen bestimmten Zeitabschnitt des amerikanischen Alltags le- sen kann, zum Beispiel das Ende des Jahrhunderts, eine Zeit des Wirtschaftsbooms und der Wirtschaftskrise. All diese Dinge werden in allen drei Büchern unterschwellig mit behandelt. Es stimmt sicherlich, dass sich die Amerikaner weder um Ge- schichte kümmern noch daran interessiert sind oder auf sie neugierig. Wir wiederholen die Schrecken Vietnams heute im Irak, und niemand traut sich, das zu sagen, niemand möchte zugeben, dass wir genau dasselbe unter zunehmend desaströ- sen Bedingungen im Irak und dem mittleren Osten, und viel- leicht auch im Iran machen. Der Präsident hat seine Achse des Bösen. Wir haben an Geschichte kein Interesse, weil wir stän- dig arbeiten. Wir haben keine Zeit für Geschichte, - ja, es ist sogar so, dass sich Frank quasi von der eigenen Geschichte abgelöst hat, - damit wir intensiver die Gegenwart erleben können.? Erz.: Richard Ford hat bewusst darauf verzichtet, seinen letztes Jahr veröffentlichten Roman ?Die Lage des Landes? nach dem 11. September 2002 spielen zu lassen. Das war ihm noch zu nah. So hat er die Geschichte zwei Jahre früher in die Jahrtausend- wende verlegt. Allerdings tauchen all die großen Themen, die die nächsten Jahre bestimmen werden, bereits im Kleinen auf: Terrorismus ? ein Bombenanschlag auf das Ortskrankenhaus, polizeiliche Überwachungsparanoia, bei der auch Frank ins Vi- sier der Fahnder gerät. Und es geht wieder einmal um Gewalt. Der Roman, so wie auch schon seine Vorgänger, beginnt und endet mit Gewalt ? ein uramerikanisches Thema: TAKE 9: O-Ton Ford kurz stehen lassen, Spr. drüber legen, am Ende wieder hoch- ziehen Spr.: ?Ich bin an Gewalt interessiert und daran, wie sie plötzlich in das Leben einbricht und alles ändert. Man kann nicht in Ameri- ka leben, ohne die absolute Willkür von Gewalt zu erfahren. Gewalt hat in den USA epidemische Ausmaße angenommen, aber die Vereinigten Staaten haben mit Gewalt begonnen, und sie existieren in Gewalt fort. Es geht um die Gemeinheiten der Starken gegenüber den Schwachen, der Reichen gegenüber den Armen, des Kapitalismus gegenüber den Sorgen der Ar- men. Unsere Vergangenheit steckt voller Gewalt, Eroberung, Gemeinheiten, aber wenn man sich die Unabhängigkeitserklä- rung anschaut, gewissermaßen das Paradigma des amerikani- schen Charakters, dann geht es darum, dass wir alle glücklich sind. Um aber glücklich zu werden, einen Zustand der Glück- seligkeit, des sich Beherbergt-Fühlens, gegenseitiger Hilfe zu erreichen, müssen wir dir zuerst einmal all diese Gewalt an- tun.? MUSIKAKZENT Erz.: Genau hier treffen sich die beiden Autoren Richard Ford und E. L.Doctorow, denn eben diese Gewalt prägt den Alltag der ame- rikanischen Nation, wie der New Yorker Schriftsteller mehrfach in seinen Romanen vorgeführt hat. Entscheidende Momente der amerikanischen Geschichte waren immer von Gewalt durchzogen. So der Anbruch der Moderne, Immigration, Ras- sismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts in E.L.Doctorows Ro- man ?Ragtime? oder Mafia, Mob und Korruption in ?Billy Bath- gate?, um nur zwei seiner bekanntesten Romane zu nennen. Jetzt hat er sich dem Trauma der USA zugewandt, dem Bür- gerkrieg. Der sollte der Befreiung der Sklaven dienen und da- mit das Postulat der amerikanischen Verfassung durchsetzen, dass alle Menschen frei und gleichberechtigt sind. Doch Docto- rows großes Epos ?Der Marsch? zeigt, wie alle Ideale in Blut er- tränkt werden. Indem er die Schrecken und Grausamkeit des amerikanischen Bürgerkriegs beschreibt, stellt er dessen Be- rechtigung in Frage: TAKE 10: engl. O-Ton Doctorow kurz stehen lassen, Sprecher drüberlegen, darunter stehen lassen, am Ende wieder hochziehen Spr. 2: "Die Bewaffnung damals war technisch ziemlich fortgeschrit- ten. Es war ein sehr mechanischer Krieg. Sie besaßen Geweh- re, die einen Mann auf 300 Meter töten konnten. Sie hatten Repetiergewehre mit mehreren Schuss, Minen und Geschütze. Es war möglicherweise der erste Krieg, in dem individueller Heroismus und Mut nichts zählten. Die entschieden keine Schlacht mehr, da die Waffen so zerstörerisch waren. Die Ein- heiten rannten über das Schlachtfeld und wurden einfach nie- dergemäht von Leuten, die ihnen noch nicht einmal nahe ka- men. Das war sehr grausam. Außerdem starben sehr viele Menschen an Krankheiten. Tatsächlich starben mehr Soldaten an Krankheiten als an Wunden, und die medizinischen und chi- rurgischen Methoden waren sehr primitiv. Sie hatten keine Ahnung von Sterilität, besaßen nur einen begrenzten Vorrat an Betäubungsmitteln. Die sicherste Methode, jemandem, der an Armen oder Beinen verwundet war, das Leben zu retten, war, die Gliedmaßen zu amputieren, um zu verhindern, dass es zu Wundbrand kam. Sie kannten es nicht anders. Das war in vie- lerlei Hinsicht grausam.? Erz.: Der Bürgerkrieg ist zweifelsohne ein besonders dramatisches Symbol für die Gewalt, mit der man, wie Richard Ford meint, andere zum Glück zwingen will, für die Verrohung der inner- staatlichen Auseinandersetzung, für die bis heute vorherr- schende Überzeugung der amerikanischen Politik, dass Gewalt ein moralisch gerechtfertigtes und sinnvolles Mittel zur Durch- setzung politisch legitimer Ziele sei. So wie der schlanke, hoch gewachsene 77jährige Schriftsteller nachdenklich vor einem sitzt, die Augen hinter einer großen schwarzen Gleitsichtbrille, grauer gepflegter Vollbart, viele Al- tersflecken auf der blanken Kopfhaut vor dem weit auf den Hinterkopf zurückgewichenen grau-weißen Haaransatz wirkt er wie ein Mann, der alle Illusionen verloren hat. Natürlich ist ihm klar, dass sein Roman ?Der Marsch? auffällige Parallelen zur Invasion im Irak aufweist, auch wenn er das nicht geplant hat- te, als er ihn 2003 begann: TAKE 11: engl. O-Ton Doctorow kurz stehen lassen, Sprecher drüberlegen, darunter stehen lassen, am Ende wieder hochziehen Spr. 2: "Ich habe dabei nicht bewusst an den Krieg gedacht. Es ist ganz gewiss keine Allegorie, aber ich überlasse es dem Leser, sich zu überlegen, ob es etwas damit zu tun hat, warum das Buch jetzt geschrieben worden ist und ob es irgendein unbe- wusster unterschwelliger Widerhall des Irak-Kriegs in meinem Kopf war, als ich beschloss, dieses Buch zu schreiben. Der Bürgerkrieg, was auch immer er erreicht hat, war ein großer Akt nationaler Selbstzerstörung. 600.000 Amerikaner starben in diesem Krieg. Im Verhältnis zur Bevölkerung damals wäre das so, als wenn heute 6 oder 8 Millionen amerikanische Sol- daten sterben würden. Das, was wir im Irak machen, ist mei- ner Ansicht nach ein Akt nationaler Selbstzerstörung, ganz zu schweigen von der Zerstörung des Irak. Aber nichts davon ist bewusst in den Roman eingeflossen. Wenn Sie ein Buch schreiben, dann leben Sie in dem Buch, dann leben Sie in den Sätzen. Sie denken nicht darüber nach, was es bedeuten könnte oder wie man es interpretieren könnte. Man hört den Leuten zu, man beobachtet sie und schreibt auf, was ge- schieht. Das ist alles.? Erz.: Während ein Autor wie Richard Ford keine Sekunde vergisst, dass er der Schöpfer seiner Figuren ist, lässt E.L. Doctorow sein Unterbewusstsein die Protagonisten gestalten, folgt des- sen Eingebungen ? natürlich nicht ohne vorher gründlich re- cherchiert zu haben. Sein großes Bürgerkriegsepos ?Der Marsch? stimmt in allen Details, zeichnet getreulich alle Trup- penbewegungen nach. Der Autor ließ sich zudem von Fotogra- phien inspirieren, war doch der Bürgerkrieg überhaupt der ers- te Krieg, der auf Fotoplatten abgelichtet wurde. Dass man trotz der historischen Kulisse ein déjà vu-Erlebnis hat, ist kein Zufall, denn der Roman ist eine Kriegserklärung an den Krieg, wo auch immer er stattfindet, denn jeder Krieg verhöhnt die Ideale, in deren Namen er geführt wird. E.L.Doctorow lässt daran keinerlei Zweifel aufkommen: Die Befreiung der unter- drückten Sklaven, die Gleichberechtigung, die Demokratie ? die großen Ziele des amerikanischen Bürgerkriegs blieben alle auf den blutigen Schlachtfeldern zurück. Der Krieg folgte der Logik des Militärs. Die Menschlichkeit geriet dabei unter die Räder. Selbst General Sherman, der den siegreichen Feldzug gegen die Südstaaten-Rebellen anführt, ist sich dessen be- wusst: Zit.: ?Dass der Tod nicht wahrhaft das Ende des Bewusstseins und aller Empfindungen bringt, ist der einzige Grund, ihn zu fürch- ten. Nur aus diesem Grund fürchte ich den Tod. Tatsächlich wissen wir nicht, ob der Tod mehr ist als eine tiefe Demüti- gung. Ihn zu schätzen ist uns nicht gegeben. Als Befehlshaber betrachte ich den Tod eines meiner Soldaten zunächst und vornehmlich als einen numerischen Nachteil, als Passivposten in der Bilanz. Damit ist er für mich ausreichend definiert. Das ist eine utilitaristische Vorstellung vom Tod ? mein Vermögen, einen Krieg zu führen, um einen Punkt vermindert. Als wir in den ersten Kriegsjahren so viele Männer verloren haben, rief der Präsident schlicht dazu auf, dreihunderttausend weitere zu rekrutieren. Wie kann er, der Präsident, da wirklich verstanden haben, was der Tod ist? Jeder Mann besitzt ein Leben, einen Geist, die Denkgewohn- heiten und persönlichen Eigenarten, die ihn kennzeichnen, doch en masse wird er vereinheitlicht. Und was immer er in sich sehen mag, ich sehe in ihm eine Waffe. Nichts von dem, was er in seinen eigenen Augen darstellt, ist für den General von Nutzen.? Erz.: E. L. Doctorow erspart dem Leser keine der Scheußlichkeiten des Feldzugs, auch wenn er sie nicht dramatisch ausmalt, denn eine seiner Hauptfiguren im Roman ist der deutsch- stämmige Oberst der Unionsarmee, der Arzt Wrede Sartorius, ein brillanter Chirurg, der seine Aufgabe nüchtern-sachlich, aber durchaus engagiert wahrnimmt, keine Unterschiede zwi- schen den kriegerischen Parteien macht, jeden zu retten ver- sucht, der in seinen provisorischen Operationssaal geschleppt wird. Er wirkt kühl, denn ihn interessiert nicht der einzelne Pa- tient an sich, sondern nur seine besondere Verwundung. Er sucht stets nach neuen Heilmethoden und geht dabei bis an die Grenzen des Erlaubten. TAKE 12: engl. O-Ton Doctorow kurz stehen lassen, Sprecher drüberlegen, darunter stehen lassen, am Ende wieder hochziehen Spr. 2: "Er führt gewissermaßen ein wissenschaftliches Leben. Ich hal- te ihn für einen sehr sensiblen Menschen, und ich sehe in ihm jemanden, der die Hoffnungslosigkeit des Krieges sieht und die Unzulänglichkeit der menschlichen Rasse, die sich immer wie- der so verhält. Im Verlaufe des Buches sagt jemand: Dies ist bloß ein Krieg nach einem Krieg und vor einem Krieg. Es ist nicht der Krieg, der alle Kriege beendet. Es gab niemals einen Krieg, der den Krieg beendet hat. Er ist ein philosophischer Charakter und sieht das Wissen sozusagen als das einzig Posi- tive der Situation. Sich so viel Wissen wie möglich anzueignen, ist für ihn die einzige Möglichkeit, seine Verzweiflung darüber zu bekämpfen, was man im Leben vorfindet.? Erz.: Die Bemühungen des Feldchirurgen Wrede Sartorius sind von wenig Erfolg gekrönt. Die konservative Militärmedizin ver- weigert sich seinen Erkenntnissen. Doch die merkwürdigen Zu- fälle des Krieges haben ihm Emily Thompson zur Seite gestellt, die Tochter eines Südstaatenrichters. Sie wird nicht nur seine Krankenschwester, der Engel der Soldaten, sondern auch sei- ne Geliebte. Ihre Beziehung scheitert schließlich an der Unfä- higkeit des Arztes, ihr seine Gefühle zu offenbaren. Dass sie sich nach dem Tod des Vaters dem Marsch der feind- lichen Truppen aus den Nordstaaten angeschlossen hat, ist ein Ergebnis der besonderen Kriegsführung General Shermans. Dessen Armee fiel in dieser letzten Phase des Bürgerkrieges wie ein Heuschreckenschwarm über die Südstaaten Georgia, Süd- und Nordcarolina her, ernährte sich von dem, was sie im Land vorfand und hinterließ wortwörtlich verbrannte Erde. Plantagen, Dörfer, Städte wurden mit Abzug der Truppen dem Erdboden gleich gemacht. TAKE 13: engl. O-Ton Doctorow kurz stehen lassen, Sprecher drüberlegen, darunter stehen lassen, am Ende wieder hochziehen Spr. 2: "Die Sklaven, die befreit worden waren, ließ man ohne jegliche Unterstützung gestrandet zurück. So mussten sie sich dem Marsch anschließen. Beim Schreiben des Buches habe ich be- griffen, dass da nicht nur eine Armee durch das Land zog, sondern eine ganze Zivilisation, denn General Sherman etab- lierte keine zivile Verwaltung, bevor er weiter zog. Er zog ein- fach weiter, und die befreiten Sklaven waren ihres Lebens nicht sicher, wenn sie zurückblieben. Die Plantagen waren nie- dergebrannt. Die föderierten Guerillakämpfer kamen hinterher. Sie konnten sich also nur dem Marsch anschließen. Und die enteigneten Weißen ebenfalls. Schon bald befand sich eine ge- samte Zivilisation auf dem Marsch. Es war eine fließende Welt. Die Bevölkerung dieses Teils Amerikas war zu Nomaden ge- worden, eine Nomaden-Zivilisation. Jemand, der den Hurrican Katrina erlebt hat, hat nach der Lektüre des Buches gesagt, dass das genau der Erfahrung entspricht, die er gemacht hat, als er aus New Orleans gerissen wurde.? Erz.: Entwurzelt, aus dem bisherigen Leben gerissen wird auch die zweite Figur, die den Leser durch den ganzen Roman beglei- tet: das weißhäutige Sklavenmädchen Pearl, illegitime Tochter des Gutsbesitzers. Sie verlässt ihre schwarze Mutter, schlüpft in der Nordstaatenarmee als Trommlerjunge unter. Das Buch beginnt mit ihr und endet mit ihr. Auch wenn Doctorow zwi- schendurch eine Menge anderer Figuren einführt, so kehrt er doch immer wieder zu Pearl zurück: TAKE 14: engl. O-Ton Doctorow kurz stehen lassen, Sprecher drüberlegen, darunter stehen lassen, am Ende wieder hochziehen Spr. 2: "Wenn man ein Buch schreibt, entdeckt man Dinge. Man erfin- det nichts. Ich habe dabei entdeckt, dass sich Menschen der Situation anpassen und ihre Identitäten ändern, weil sich ihr Leben unter diesen Umständen vollständig ändert. Sie werden zu jemand anderem. Eben das geschieht mit Pearl, die anfangs eine weißhäutige Sklavin ist. Sie durchläuft verschiedene Ver- wandlungen, bildet sich selbst weiter und arbeitet schließlich als eine Art von Hilfspflegerin für Sartorius und erregt die Aufmerksamkeit des jungen Soldaten Stephen Walsh, eines I- ren, eines Soldaten aus New York. Sie werden ein Paar und am Ende des Buches hat sie Pläne, nach New York zu ziehen. Sie will dort mit Stephen ein neues Leben aufbauen, auch wenn sie die Art von Paar sein werden, die die Gesellschaft missbil- ligt. Sie findet ihren Mut in sich selbst und ändert sogar ihre Art zu sprechen, gibt die rückständige schwarze Sprechweise des Südens auf. Ihre Ausdrucksweise ändert sich, so wie sie sich ändert. Sie wird im Verlaufe des Marsches erwachsen.? Erz.: E.L. Doctorow sieht seinen Roman in der Tradition der russi- schen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts: breit angelegte Landschaftsbeschreibungen, eine Vielzahl von Figuren und ein allwissender Erzähler, der weiß, was die Protagonisten denken und fühlen. Geschichtsschreibung im Spiegel von Einzelschick- salen, die verschiedenen Charaktere als Abbild der Gesell- schaft in all ihren Facetten. Und dennoch ist E.L. Doctorows Roman kein Zeitdokument, sondern ein Produkt unserer Zeit: TAKE 15: engl. O-Ton Doctorow kurz stehen lassen, Sprecher drüberlegen, darunter stehen lassen, am Ende wieder hochziehen Spr. 2: ?Ich sehe meine Romane nicht als historische Romane. Wann immer Sie über die Vergangenheit schreiben, schreiben Sie natürlich über die Gegenwart.? 24