Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 5. Juli 2010, 19.30 Uhr Wann ist man deutsch? Der schwierige Weg zum neuen Heimatland Eine Sendung von Rosemarie Bölts Spr. vom Dienst Wann ist man deutsch? Der schwierige Weg zum neuen Heimatland Eine Sendung von Rosemarie Bölts O-Ton MUSIK (unter O-Töne ziehen) (Einbürgerungsfeier Neukölln, türk. Marsch) O-Ton 1 Mamuk Ich heiße Bakhtiar Mamuk, bin dreizehn Jahre alt, werde vierzehn, und bin schon sehr aufgeregt. Ich weiß nicht, was passieren wird. Ich will meine Urkunde abholen und noch ein schönes Foto. Und ich bin hier geboren, und ich will nicht nur ein Türke sein, sondern auch ein Deutscher. Autorin Berlin-Neukölln. Alle zwei Wochen kommen hier, im Plenarsaal des Rathauses, vierzig bis fünfzig Migranten zusammen, um vom Bezirksbürgermeister persönlich ihre Einbürgerungsurkunde in Empfang zu nehmen. Eine feierliche Angelegenheit, mit Reden zur Demokratie, aufmunterndem Händedruck, Erinnerungsfoto und getragener Live-Musik: O-Ton MUSIK (Ode an die Freude) O-Ton 2 Buschkowsky Wenn Sie heute Ihre Einbürgerungsurkunde erhalten, dann haben Sie sich eine neue Heimat gesucht. Sie erhalten Sie eine neue Staatsbürgerschaft, Sie erhalten eine neue Kultur, Sie erhalten auch ein neues Erbe. Das ist jetzt auch Ihr Neukölln. Und Sie sind mitverantwortlich dafür, was hier passiert. O-Ton MUSIK (hochziehen) Autorin Und wie fühlt man sich "danach"? Wenn man endlich seine Einbürgerungsurkunde hat? Bakhtiars Papa Cemal, der als erster der Familie den Pass erhielt: O-Ton 3 Cemal Mamuk Zuhause hab ich gesagt: Ach, die Ausländer! (lacht) Ich wollte so, dass Spaß rauskommt. Meine Frau guckt mich so an und sagt, wie kommst du da drauf? Und ich sag, hier, hier steht, ab heute bin ich deutsch! (lacht) Autorin Freie Reisemöglichkeiten, Profitieren vom Sozial- und Rechtsstaat, keine Angst vor Abschiebung - das kostet 255 Euro und setzt voraus, länger als acht Jahre, ohne Vorstrafen, mit ausreichenden Deutschkenntnissen und Einbürgerungstest, aber ohne staatliche Unterstützung in Deutschland gelebt zu haben. Und seine bisherige Staatszugehörigkeit aufzugeben. Bei Kindern sind die Hürden sehr viel niedriger. Es reicht, wenn ein Elternteil schon länger in Deutschland ist. Noch nicht einmal ein Prozent der etwa 150.000 "Bürger mit Migrationshintergrund" in Neukölln beantragt pro Jahr einen deutschen Pass: O-Ton 4 Dell Ich bin deutsch, ja. (lacht) Ich bin deutsch. Seit meine Geburt stand immer, dass meine Nationalität ist deutsch. Seit Geburt bin ich auch Dell, also ich war immer deutsch, mh! Autorin Lilia Dell ist vor sechzehn Jahren mit ihrer Familie aus Kasachstan nach Südniedersachsen gekommen, mitten in die durch Massentierhaltung und Fleischfabriken gekennzeichnete, tiefkatholische Provinz. Da waren nämlich schon Onkel, Tanten, Oma und Opa. Die ganze Großfamilie mit deutschen Pässen. "Spätaussiedler": O-Ton 5 Dell Ja, mein Papa ist Abstammung Deutscher, meine Mutter ist Ukrainerin. Damals mein Großvater und Großmutter, die haben sich entschieden, wieder dann zurückzugehen. Wir wurden dann nicht gefragt. Es war so bei uns, dass Kinder, die müssen natürlich mitkommen. Wo wir sind nach Deutschland gekommen, haben sie gesagt: Russen. Nein, ich bin keine Russin, ich bin Deutsche. Ich hab deutsche Name, deutsche Vorname. Da waren wir Faschisten damals. Wir waren auch abgestempelt. Autorin Lilia war ehrgeizig, lernte deutsch, wiederholte ihre Krankenschwestern- Prüfung auf deutsch, arbeitete im Krankenhaus, machte nebenbei eine Ausbildung als Kosmetikerin, ist mit einem Kroaten verheiratet, hat zwei schulpflichtige Töchter, ein Reihenhaus mit Garten in einer ein-heimischen Siedlung und seit einem Jahr ein eigenes, ausgesprochen elegantes Kosmetik- Institut mitten in der Provinzkreisstadt Cloppenburg. Draußen braust der Verkehr, drinnen ertönen Wohlfühl-Klänge. Lilias Mann, der bei ihr angestellt ist, serviert Kaffee. Lilia Dell ist nicht nur eine emanzipierte Ausnahmeerschei- nung unter den Cloppenburger Spätaussiedlerinnen. Sie bietet auch optisch eine perfekte Integrationsleistung: O-Ton 6 Dell Wir haben Röcke getragen. Wir haben Kleider getragen. Mit Stöckelschuhe, natürlich! So mit Absatz. Jetzt: Turnschuhe! Ballerinas! FlipFlops! Auch Stöckelschuhe, aber die stehn schön im Schrank, zu besonderen Anlässen. Bloß nicht auffallen, ne! (lacht) O-Ton Atmo 1 (Kasse, laute Klimaanlage) Alles frisch immer; ich habe Problem Deutsch...kann nicht sprechen.-Was ist das für eine Wurst?...Auf russisch heißt das Tirsuat- Da ist unsre Chefin. Autorin "Willkommen im Kaufhaus Planeta". Hier gibt es alles, was den russischen Geschmack trifft und der russischen Seele gut tut. Kein Wunder, das meiste kommt aus Russland. Kittelschürzen für zehn Euro, Schuhe für acht Euro, buntbemalte Porzellanfiguren, verschnörkelte Messing-Lampen, russische Zeitschriften, Wodka in 2-Liter-Flaschen, typische Lebensmittel wie Pelmeni und getrockneter Fisch, Kekse und Schokolade bergeweise, körbeweise Kohl, Kartoffeln, Obst. Die Klimaanlage übertönt alles, auch das Gespräch mit der Chefin, Lydia Dauderich, die mit ihrem Mann Wladimir vor zwölf Jahren das "Planeta" eröffnet hat. Er stammt aus Kasachstan, sie kam mit ihren acht Ge- schwistern 1988 aus dem Kaukasus nach Deutschland. O-Ton 7 Dauderich Meine Mutter war 69 Jahre alt, wo wir rübergekommen sind. Sie hatte, man kann sagen, lebenslang geträumt von Deutschland. Wo sie jetzt rüberkam, die konnte es immer noch nicht fassen, dass sie wirklich in Deutschland ist. Sie wollte jeden umarmen, sprach jeden an, ach, wie froh, dass ich hier bin. Sie hat fast in jedem seine Verwandtschaft gesehen als Deutsche. Sie war richtig glücklich, glücklich. Meine Mutter konnte ja auch kein Russisch, obwohl sie in Russland geboren ist. Aber sie ist zur deutschen Schule gegangen, das gab es damals, sie wohnte im deutschen Dorf, zuletzt ist sie in Deutschland gestorben. Autorin Deutschland, das Paradies? Finanziell allemal. Spätaussiedler mussten ja nichts zahlen, sondern erhielten umsonst Sprachkurse, großzügige Eingliederungshilfen, Renten, alles, was einem Deutschen eben von Staats wegen zusteht. Aber diese Mentalitätsunterschiede! Lydia Dauderich würde sofort am Gesicht, an der Kleidung und an den Interessen wie Familienzusammenhalt und Kinderkriegen merken, ob jemand aus Deutschland oder aus Russland stammt. Und bekommt einen traurigen Gesichtsausdruck, als man sie fragt, wann sie sich denn in Cloppenburg heimisch fühle: O-Ton 8 Dauderich Ich muss ehrlich sagen, also ganz heimisch würde ich mich hier nie fühlen. Wir sind hier schon seit 22 Jahren, wir haben gute Nachbarn, gute Bekannte, aber so richtig, so richtig sind wir nicht drin, kommen wir auch nicht, nie. Autorin Da taucht plötzlich zwischen den Regalen Stammkundin Lena auf. Die beiden Frauen unterhalten sich lebhaft auf Russisch, bis Lena erfährt, dass die Journalistin mit dem Mikrophon gern wüsste, wie sie die Unterschiede zu den Einheimischen empfinden: O-Ton 9 Lena Figur auf jeden Fall, und überhaupt sind sie ganz anders, ganz andere Ausstrahlung. Immer so traurig, so, wie ich seh bei uns auf der Straße und so, immer traurig, immer neidisch, immer reicht was nicht, unzufrieden, ob die Sonne scheint, ob das regnet. Immer müssen sie - ehrlich, das ist so! Das ist so! (Lachen) Autorin Jeder vierte, Tendenz steigend, der knapp 33 000 Cloppenburger ist Spätaussiedler, Russlanddeutscher oder, wie manche Einheimischen auch sagen, "Russendeutscher". Eine Statistik darüber gibt es angeblich nicht, weil, so die Stadtspitze, es ja alles "Deutsche" sind. Man betreibe keine Diskriminierung, sondern Datenschutz. Sozusagen echte "Ausländer" wie Vietnamesen, Südamerikaner oder Türken fallen dagegen überhaupt nicht ins Gewicht und deshalb auch nicht auf. Dafür schmückt man sich mit dem Titel "jüngste Stadt Deutschlands", denn die angeblich statistisch nicht erfassten Spätaussiedlerinnen gehören zu den gebärfreudigsten Frauen der Republik, besonders die der großen Gemeinde der Pfingstler. O-Ton 10 Kurz Wir haben zuhause Plattdeutsch gesprochen: "Jedes swien..." - Jedes Schwein muss bei seinem Trog bleiben. Das wurde bei uns immer gesagt; also jeder muss bei seinem bleiben. Autorin Acht, zehn oder mehr Kinder sind üblich, Verhütung ist ebenso verpönt wie es bei den Frauen Hosen sind. Lange Röcke und Hauben oder Kopftücher und viermal Gottesdienst pro Woche sollten schon sein, und die Kinder gehen erst aus dem Haus, wenn sie - kirchlich - geheiratet haben. Molbergen ist acht Kilometer von Cloppenburg entfernt. Hier gründete Ende der siebziger Jahre ein katholischer Pfarrer die örtliche "Friedland-Hilfe", die wiederum ganze Dörfer "rüber"holte ins gelobte Land, die neue Hochburg der Fundamentalreligiösen. Der Vater von Nadja Kurz gehörte als Pastor der Pfingstler auch dazu, als sie 1988 mit zwölf Geschwistern und 13 weiteren Verwandten - der größere Teil der Familie war schon da - ankamen. Aus dem "deutschen" Dorf im russischen Kasachstan ins deutsche Dorf Molbergen: O-Ton 11 Kurz Alles wunderschön, alles anders. Als erstes haben wir hier Religionsfreiheit gehabt, das hatten wir da nicht. Ja, und sonst sauber, die Fülle, das hatten wir da auch nicht unbedingt. Autorin So anders vielleicht auch nicht, nur modern, neu, richtig proper. Deutsch? Akkurate Gärten mit akkuraten Jägerzäunen umschließen akkurate Einfamilienbungalows in blitzsauberen Neubau-Siedlungen. Subventioniert von der Gemeinde und dem Land Niedersachsen. In den Garagen stehen metallic- glänzende Autos der Mittelklasse. Auf Kredit. Denn der Arbeitsmarkt besteht hauptsächlich aus Anlernjobs am Fließband in den Mast- und Fleischfabriken oder aus Stellen für Putzfrauen und Verkäuferinnen. Man bleibt unter sich, man heiratet untereinander, man hat seine eigenen Geschäfte, Ärzte, Rechtsanwälte, Musiklehrer, Pastoren, Discothek, Kneipen, Vereine. So muss man sich auch nicht bemühen, deutsch zu lernen. Wer wissen will, was eine Parallelgesellschaft ist, der sollte sich im Landkreis Cloppenburg umschauen. Obwohl die Stadtspitze auf den Begriff "Parallelgesellschaft" geradezu allergisch reagiert - macht er doch das schöne Image der "problemlosen Stadt" zunichte - stimmt Nadja Kurz zu: O-Ton 12 Kurz Wir machen immer einmal im Jahr eine "Musik verbindet - Spiel Harmonika"- Veranstaltung, weil Aussiedler sind viele auch sehr, sehr musikalisch begabt. Und das ist immer so, wenn unsere Veranstaltung ist, da kommt vielleicht ein Einheimischer, und sonst alles Russlanddeutsche. Und wenn ich zu einer Veranstaltung gehe von Einheimischen, Kirchenveranstaltungen oder so was, da trifft man vielleicht einen Russlanddeutschen. Und deswegen, man kann doch sagen, wir leben nebeneinander. Das Wort Integration verstehen wir auch unterschiedlich. Aussiedler, die meinen, das kann man sich so vorstellen: das ist so ein Obstkorb, und da liegt jede Frucht für sich. Und die Einheimischen wollen immer alles püriert haben. Autorin Nadja Kurz hat es geschafft. Sie ist mit Leib und Seele Lobbyistin der Spätaussiedler mit, wie sie gern betont, "besten Beziehungen zur Politik, bis hinauf nach Berlin". Gerade erst hat sie das Bundesverdienstkreuz bekommen. Schon Mitte der 90er-Jahre ist sie in die CDU eingetreten - "weil wir Christen sind" - und seitdem sitzt sie auch im Molberger Gemeinderat, wo ihre Partei mit satten 17 von 20 Sitzen vertreten ist. Ihr Hauptbetätigungsfeld ist jedoch der "Heimatverein der Deutschen aus Russland", den sie selber initiiert hat und leitet. Kein Folklore-Verein, sondern offizielle Beratungsstelle für Spätaussiedler. Kahl und hallig wirkt das Büro des "Heimatvereins" an der Hauptstraße in Molbergen. Die Aussiedler haben viele Probleme mit der deutschen Bürokratie, mit den Anträgen auf Kindergeld, Rente, Sozialhilfe, Schuldenerlass, zählt Nadja Kurz auf. O-Ton 13 Nadja Kurz Bei uns ist es immer so, wenn zum Beispiel ein Kunde kommt, ich spreche sie zuerst auf Deutsch an. Und wenn ich feststelle, dass er das nicht ausreichend versteht, dann wechsle ich sofort ins Russische. Also, wir sprechen hier gemischt. Ja, man hat das Ganze in einen Topf geschmissen. Das heißt nicht mehr: Aussiedlerberatung, sondern Migrationsberatung. Autorin Zurück in Cloppenburg. Kirsten Bruns leitet den Frauen-Notruf und BISS, die "Beratungs- und Interventionsstelle nach häuslicher Gewalt", die nicht von der Stadt, sondern aus einem Modell-Fonds des Landes Niedersachsen finanziert werden. Der Frauennotruf verzeichnet bis zu 1700 Anrufe im Jahr, die BISS rund 750 Beratungsfälle. 75 Prozent betreffen Russlanddeutsche. Es geht hauptsächlich um Gewalt, Alkohol, Missbrauch, Vergewaltigung. Es geht vor allem um ein grundlegend anderes Gesellschafts- und Rollenverständnis, erklärt Kirsten Bruns: O-Ton 14 Bruns Unsere Arbeit besteht zum Großteil darin, dass wir versuchen, den Frauen klar zu machen, dass sie eine andere Sozialisation erlebt haben als die westdeutschen Frauen, und dass diese andere Sozialisation auch beinhaltet, dass sie sich eher als Kollektiv verstehen und verstanden haben. Sie sind ja auch als halbe Dörfer nach Deutschland gekommen. Sie sind ja nicht als Einzelpersonen gekommen. Und dass man auch versuchen muss, diese Erinnerungen in eine andere Schublade zu legen, um sich mit dem hier auseinander zu setzen. Die kommen ja aus dem ganz Verbotenen in das ganz Freie. Und was ist Freiheit? Das muss man lernen, mit umzugehen. Und diese Umstellung ist das, was ganz langsam ist. Autorin Auch Kirsten Bruns spricht ungeniert von der "Parallelgesellschaft". Es kann nicht darum gehen, klagt sie, dass die Vertreter der Russlanddeutschen dauernd von "unseren Leuten" sprechen und nur für "unsere Leute" Klientelpolitik betreiben wollen. Und dass das noch von der Politik unterstützt wird. Sie, die von Haus aus einen noch mal ganz anderen Blick auf die deutsche Gesellschaft hat, hält die Politik des Abschottens für fatal. Für beide Seiten: O-Ton 15 Bruns Ich bin Dänin. Ich glaube, dass wir in Westeuropa uns auch manchmal ganz schwer tun mit der Kultur der Osteuropäer und der russischen Kultur. Das geht so um gewisse Tischsitten zum Beispiel. Das ist wunderschön, eingeladen zu werden in diesen russlanddeutschen Familien. Da gibt's Essen! Der Tisch, der biegt sich vor Essen! Und das ist eine Ehrerbietung, dass man ein gern gesehener Gast ist. Ich glaube, dass das etwas ist, was mit dem Begriff "deutsch" wenig zu tun hat. Autorin Eine anders orientierte Sozialisation, andere Werte, andere Vorbilder - statt voneinander miteinander zu lernen, würden die Deutschen wiederum auch auf andere mit Angst und Ausgrenzung reagieren, meint die mit einem Norddeutschen verheiratete Dänin Kirsten Bruns: O-Ton 16 Bruns Ich erlebe auch Deutschland als kaltes Land. Ich hatte irgendwann mal was gemacht, und da wurde ich gelobt: dafür, dass du Dänin bist, hast du das ganz gut gemacht! Da wurde ich so was von sauer und hab gesagt, ich hab das nicht gut gemacht, weil ich Dänin bin, sondern ich hab das gut gemacht, weil ich was davon verstehe! Der Deutsche misst auch sehr gern sein Gegenüber darin, wie korrekt man deutsch spricht. O-Ton Musik (unter O-Ton 17 ziehen) Hannes Wader: "Min Jehann" ,1.Strophe: "Ik wull, wi weern noch kleen, Jehann, do weer de Welt so grot!..."- nach Gesang Melodie unter O-Ton 18 ziehen) O-Ton 17 Kazim Innerhalb Deutschlands, würde ich sagen, ist meine Heimat in Hollern- Twielenfleth. Dort bin ich groß geworden, da habe ich meine Kindheit verbracht. Heimat ist da, wo mich die Leute kennen, wo ich die Leute kenne. Und selbst, wenn ich die Leute nicht persönlich kenne, mir dort doch die Art der Menschen vertraut ist, die ich einfach verstehe ohne viele Worte. Autorin Hasnain Kazim ist 1974 im norddeutschen Oldenburg geboren und in Hollern- Twielenfleth im Alten Land aufgewachsen. Seine Eltern, beide aus der pakistanisch-indischen Oberschicht, sind Ende der sechziger Jahre nach Deutschland eingewandert, weil der Vater, von Beruf Kapitän, sich bei einer norddeutschen Reederei beworben hatte: O-Ton 18 Hasnain Kazim Ich falle natürlich als Ausländer schon aufgrund meines Äußeren auf und dann auch aufgrund meines Namens. Und das ist mir schon aufgefallen in dem Moment, in dem Kinder im Kindergarten oder in der Schule zu mir was gesagt haben. Dass man als Kanake bezeichnet wurde, das kam öfter vor. Es gab mal einen Jungen, der hat mir gesagt, du bist braun wie Scheiße! Autorin "Ausländer"? Natürlich wollte der kleine Hasnain immer weiß, blond und blauäugig sein, eben: wie alle andern. Sie waren ja auch die einzigen Pakistaner im 3.300-Seelen-Dorf. Aber so akzentfrei, so geliebt und akzeptiert, sofort als "Hansi" in der Nachbarschaft und im Kindergarten eingemeindet, so wunderbar war die Kindheit für den schwarzäugigen Hasnain, dass er solche kindischen Braun-wie-Scheiße-Anwürfe souverän mit "Fettkloß" und ähnlichem gekontert hat, ohne Schaden zu leiden. Überhaupt, schikanös haben sich nur die Beamten verhalten. Sechzehn Jahre hat es gedauert, x Prozesse, Bittgänge, Eingaben, bis Vater, Mutter, Sohn und Tochter Kazim ihre deutschen Pässe erhielten. Und das Leben normal weitergehen konnte: Abitur, Bundeswehr, Studium, Journalismus. Seit einem dreiviertel Jahr lebt der heutige "Spiegel"-Korrespondent mit seiner blonden, blauäugigen, norddeutschen Frau in Islamabad. Hollern-Twielenfleth ist meine Heimat, in Islamabad fühle ich mich zuhause, stellt der Urdu sprechende Weltbürger fest: O-Ton 19 Hasnain Kazim Wenn man in einem anderen Land ist, ich lebe ja jetzt in Pakistan, und da zieht ein Deutscher ein, da reden die Pakistaner auch: was ist das für einer, bringt der schon wieder seinen Alkohol mit, wer weiß, ob's da nicht Schweinefleisch gibt und so. Dann ist eben die Frage, ob man es schafft, diese Vorbehalte abzubauen. Das ist meinen Eltern gelungen. Das Wichtigste meiner Meinung nach ist zum Beispiel, dass sie die Sprache gelernt haben. In Hollern- Twielenfleth spricht man eigentlich sogar Plattdeutsch. Das haben sie nun nicht gelernt, aber sie haben deutsch gelernt. Und mein Vater kocht sehr gerne, schon immer, und er hat dann pakistanisch oder indisch gekocht. Curry ist sehr scharf und gewürzt. Und das war für die Leute wiederum toll. Dann kamen sie zu ihren Nachbarn innerhalb Hollern-Twielenfleths und kriegten dann so eine fremde Welt serviert. Und so entstand einfach eine Beziehung, die bis heute halt anhält. Autorin Hasnain Kazim ist auf Lesetour durch Deutschland. Er hat, mit 36 Jahren, die biographischen Migrationserfahrungen seiner Familie herausgebracht: "Grünkohl und Curry - Die Geschichte einer Einwanderung". Eine unerwartete Rolle spielte in der Familie dabei auch die Religion. Eigentlich muslimisch, veranlasst die in Deutschland verliebte Mutter, dass sie konvertieren und die Kinder evangelisch getauft werden. Was eine Tante aus Pakistan nicht davon abhielt, bei einem Besuch in Hollern-Twielenfleth entsetzt festzustellen, dass der Junge mit acht Jahren immer noch nicht beschnitten war - und das an Ort und Stelle kraft ihrer Autorität als ältere Schwester des Vaters nachholen ließ. Und wie hält der lutherische Muslim es heute mit der Religion? O-Ton 20 Hasnain Kazim Wenn ich sagen würde, ich bin muslimisch, würde ich das als Verrat empfinden an meine deutschen Wurzeln und an meiner Erziehung. Wenn ich sagen würde, ich bin christlich, würde ich das als Verrat an meinen viel weitreichenderen Wurzeln an Pakistan und an meiner Familie. Sodass ich eigentlich sage, ich mach's mir natürlich auch leicht damit, ich bin eben nichts. O-Ton Atmo 2 "...Also, Freitag ist o.k.? - Ist o.k....dankeschön ...tschüss...(arabisch...)...(türkisch)... Autorin Ein großes Schild weist mitten im Kreuzberger Kiez auf die "Änderungsschneiderei, Moda Stil" hin, darunter steht: "Terzi Cem". "Terzi" heißt auf Deutsch "Schneider", und "Cem" ist der Geschäftsinhaber und Schneider Cemal Mamuk persönlich. O-Ton 21 Mamuk Ich bin ein bisschen Multi-Kulti, also, ich kann mit Araber und Franzosen umgehen - Grüß Sie! - Hallo! - Du nähst mir zwei Knöpfe an...Früher waren 70/75 Prozent türkische Mitbürger, aber jetzt die Amerikaner, die Spanier, die Belgier, die Franzosen. Wir haben eine ganz große Mischung hier. Autorin Cemal Mamuk ist vor 32 Jahren als politischer Flüchtling aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Der Kurde war dort Lehrer. Schneidern, womit er seine Frau und die vier Kinder ernährt, hat er erst auf dem langen Weg nach Berlin gelernt. Sein Leben sei aufregend wie ein Roman, ob man das wirklich alles hören wolle? Das Leben im Untergrund in Kurdistan? Die Flucht? Die Ankunft in Hannover? Vergebliches Warten auf Asyl, währenddessen engagierte Studenten den Flüchtlingen Deutsch beibrachten? Weiter nach Frankreich, zurück in die Türkei? Wieder Flucht, diesmal mit Frau und Kind, direkt nach Ost-Berlin? Abschiebung nach West-Berlin? Und seit zehn Jahren endlich den deutschen Pass! Cemal Mamuk ist dem deutschen Staat dankbar: O-Ton 22 Mamuk Ehrlich gesagt, alles Menschlichkeit. Die deutsche Republik ist ein Traumstaat für mich. Ich finde Deutschland wie eine Schule. Wenn man die Grundschule hat, geht man zum Real- oder Gymnasialoberschule. Und dann nachher ist eine Uni. Und wenn man das alles geschafft hat, kann man als ein Deutscher hier leben, weil die Deutschen haben eine hochkulturelle Stufe, ne. Die Deutschen können alle sprechen, lesen und schreiben. Es gibt kein Deutsche - haben Sie schon mal erfahren, dass ein Deutscher nicht lesen kann? Haben Sie schon? Gibt es? Ich weiß nicht, aber bei uns in Kurdistan zum Beispiel 35/40 Prozent von dem Volk können nicht schreiben und nicht lesen. Autorin Was ist für Cemal Mamuk, den gebürtigen Kurden, zwangsaufgewachsenen Türken, jetzt Deutschen "deutsch"? O-Ton 23 Mamuk "Eine freie Mensch. - Ei-ne frei-e Mensch. Autorin Und was ist "anders"? O-Ton 24 Mamuk Familie funktioniert bei uns ganz anders. Wir hängen zusammen sehr. Auch wenn unsere Kinder verheiratet sind, jeden Tag können die uns besuchen. Jederzeit. So, wie es kommt. Bei Deutschen gibt es nur Termine! Ohne Termine, anzurufen, ohne zu wissen, gibt es keinen Besuch, gibt's keinen nix, ne (Lachen) Autorin Berlin-Neukölln, wo die Familie Mamuk lebt, ist eigentlich das bundesdeutsche Synonym für vollendete Segregation. Parallelgesellschaften, die sich ohne ein Wort Deutsch in ihren speziellen Sitten und Bräuchen durchs Leben lavieren. In den Schulklassen haben heute schon teilweise 85 Prozent der Kinder Migrationshintergrund. Da ist ein Schulsystem, das auf die bürgerliche, im deutschen Bildungskanon etablierte Familie mit Sinn für die Hausaufgabenüberwachung daheim und den Flöten- und Ballettunterricht abstellt, völlig fehl am Platz, meint der Bezirksbürgermeister. Ein Drittel der Bevölkerung bezieht Hartz IV oder andere Sozialleistungen, viele kennen nichts anderes als staatliche Alimentation. Also: Untergangsstimmung, was die Deutschen, deutsche Werte, das Deutschsein an sich betrifft? O-Ton 25 Buschkowsky Ich weiß gar nicht, was typisch deutsch ist. Das Hessische? Das Bayerische? Das Fränkische? Also, ich hasse Weißwurst zum Frühstück! Oder sind es unsere Pommern? Was ist denn typisch deutsch? Autorin Heinz Buschkowsky ist der Bezirksbürgermeister von Neukölln. Der SPD-Mann ist in Sachen Integration unter Parteifreunden wie unter Parteifeinden der umstrittenste Politiker der Republik. Nicht nur weil er ständig das offizielle Tabu bricht, die Probleme der Einwanderung ja nicht als Probleme zu benennen. Er geht diese Probleme auch noch offensiv, komplex und pragmatisch an, mit einem Wort lösungsorientiert, und das obendrein mit messbaren Erfolgen. Tatsächlich, dem Bürgermeister geht es darum, die unterschiedlichen Sozialisationsformen auf eine demokratische Grundlage zu stellen. O-Ton 26 Buschkowsky Ich weiß nicht, ob es unbedingt die Aufgabe ist, Migranten die deutsche Identität beizubringen. Ich könnte noch nicht einmal sagen, was das ist. Deswegen rede ich auch lieber vom mitteleuropäischen Wertekanon. Das Thema ist, ob Menschen bereit sind, eine Form des Zusammenlebens zu akzeptieren, die eben nicht aus archaischen Riten bestehen, die bei uns seit der Aufklärung verpönt sind. Und es ist Aufgabe der Politik, deutlich zu machen, welche Grundvoraussetzungen eines pluralistischen, demokratischen Landes müssen von jedem akzeptiert werden, um hier zu leben. Autorin Und das heißt zum Beispiel: Die Menschenwürde ist unantastbar, jeder Mensch ist vor dem Gesetz gleich, Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Ist man also "deutsch" mit dem Bekenntnis zum deutschen Staat, wenn man den deutschen Pass hat? Ja, sagt Heinz Buschkowsky, und zwar nur dann, wenn man sich entschieden hat. Also kein Bekenntnis zur Wir-sind-ja-so-liberal-und- tolerant-egal-doppelten-Staatsbürgerschaft: O-Ton 27 Buschkowsky Ich bin in der Tat in dieser Frage sehr konservativ, weil ich glaube, dass die Staatsbürgerschaft das höchste Gut ist, das ein Mensch haben kann. Die Zugehörigkeit zu einem Staatsvolk, zu einem Staatsgebiet und damit verbunden auch die Zugehörigkeit zum Solidarpakt aller Menschen auf einem Staatsgebiet. Autorin Bis dahin ist es ein schwieriger Weg, gepflastert mit Stolpersteinen, gekennzeichnet durch Hürden, Irr- und Umwege, begleitet von vielen Missverständnissen. Und am Ende stellt man fest, dass es gar nicht um die Frage geht, wann man "deutsch" ist: O-Ton 28 Dauderich Das Volk, das russische, ist sehr gastfreundlich und hat auch sehr gerne das deutsche Volk. Die Russen haben auch eine sehr, sehr gute Vorstellung von Deutschland, von die Sauberkeit, von die Ordnung, von die Pünktlichkeit. Sie stellen sich das Deutschland vor wie so'n Paradies, wie so'n bisschen Himmel. Haben wir auch gehabt. Aber denn, wo wir rüberkamen, haben wir gemerkt, wir sind ja gar nicht im Paradies (Lachen) Zum Paradies dauert es noch ein bisschen. Spr. vom Dienst Wann ist man deutsch? Der schwierige Weg zum neuen Heimatland Eine Sendung von Rosemarie Bölts Es sprach: die Autorin Ton: Barbara Zwirner Regie: Beate Ziegs Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 1