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Dabei fällt auf, dass die neue Leiterin des dortigen Hesse-Museums frischen Wind in die zuletzt etwas angestaubte lokale Hesse-Verehrung gebracht hat. Sie ging dabei ihren Weg, berichtet nun Matthias Kußmann, ebenso wie ja auch Hermann Hesse und mancher andere seinen Weg ging. -folgt Script Beitrag Script Beitrag Musik (Udo Lindenberg) "Und ich mach mein Ding, egal, was die andern sagen. / Ich geh meinen Weg, ob grade, ob schräg, das is egal. / Ich mach mein Ding, egal, was die andern labern. / Was die Schwachmaten einem so raten, das is egal. / Ich mach´ mein Ding ..." Refrain frei, dann unter Autor und O-Ton weiter, langsam blenden. (35'') Autor Hermann Hesse galt schon in seiner Kindheit als Querkopf und hat sich auch später wenig darum geschert, was andre von ihm dachten. "Eigensinn macht Spaß", sagte er und lebte auch so. Das wiederum gefiel Udo Lindenberg schon mit 20, als er Hesses Bücher entdeckte. Seitdem fühlt er sich mit ihm verbunden. Lindenberg Hermann Hesse steht für Eigenwilligkeit, wie er das auch so wunderschön formuliert hat: "Lausche den Gesetzen, die dein Blut dir rauscht." Folge keinen Lehren, folge keinen Lehrern, folge dir selbst, ne? Die heilige Individualität! Autor Und weil er "Hermann", wie er Hesse vertraulich nennt, so schätzt, zieht es Udo, wie wir ihn nun vertraulich nennen, öfter nach Calw - in die Schwäbische Kleinstadt im Schwarzwald, wo Hesse geboren wurde und einen Teil seiner Kindheit verbrachte. Lindenberg Hier in Calw, in der Nähe von Hermann Hesse ... Hier fühl ich mich - bei diesem Bruder im Geiste, wenn ich mal so sagen darf zu Hermann -, hier fühl ich mich wirklich sehr zu Hause, ne? Autor Jedes Mal, wenn der Udo in Calw ist, besucht er Hesses Geburtshaus am Marktplatz, ein stattliches Fachwerkhaus aus dem 17. Jahrhundert. Es gehört heute Hermann Schaber, der im entkernten Erd- geschoss ein Modegeschäft betreibt. Doch im zweiten OG, wo die Hesses wohnten, blieben einige Räume erhalten. Auch das Zimmer, in dem Hesse geboren wurde, obwohl, eigentlich ist es nur ein Kämmerchen: Schaber In der Literatur steht das vordere Schlafzimmer als Geburtszimmer. Des isch nicht der Fall, weil: In der damaligen Zeit wurde nicht im Ehebett entbunden, sondern in einem eigenständigen Raum! Deshalb dieser etwas kleine Raum. Er hat´s aber gut überlebt, er hat ziemlich geschrien ... Autor ... nämlich Hesse, nicht der Raum. Das Kämmerchen hat Schaber seit den 80er Jahren, als er das Haus kaufte, geduldig zahllosen Hesse-Pilgern gezeigt. Sie kommen nach wie vor aus allen Ländern und Kulturen. Schaber In diesem Zimmer, in dem Hesse geboren wurde, ist heute Udo Lindenberg zuhause, wenn er hier ist. (...) Des isch sein Stuhl, auf dem er dann meditiert, des isch der Schreibtisch, wo er seine Zeichnungen macht und bestimmte wichtige Gäschte empfängt ... Autor Das Geburtszimmer gut besucht, ab und zu kommt Udo zum Meditieren vorbei - klingt ja sehr harmonisch. Doch wenn man schaut, wie es Hesse selbst in Calw ging, ist es aus mit der Harmonie. Völker Das Verhältnis von Hermann Hesse zu Calw war ein sehr schwieriges ... Autor ... sagt Susanne Völker, Leiterin des Calwer Hesse-Museums. Völker Er war schon ein Einzelgänger und ein Querdenker mit allem, was dann auch dazugehört an Nicht- Verstanden-Werden. Insofern war ihm Calw immer auch ein Gegenbild zu dem, was er als innere Heimat gesucht hat. Hier ist er als Person nie so richtig angekommen, nie so richtig akzeptiert worden ... Autor Hermann Hesse wurde 1877 als Sohn eines pietistischen Missionars-Paares geboren. Man kann das durchaus eine Hypothek nennen ... Im Pietismus soll der Wille des Kinds gebrochen werden, um es zu einem bescheidenen, frommen Christen zu machen. Ora et labora, bete und arbeite! Zitator Ich brauchte nur das "Du sollst" zu hören, so wendete sich alles in mir um und ich wurde verstockt ... Autor Der Junge rebellierte, verließ Schulen, wollte schon mit 13 Dichter werden - "oder gar nichts", wie er trotzig schrieb. Mit 15, nach seiner Flucht aus der Klosterschule Maulbronn, drohte er sich zu erschießen; die Eltern steckten ihn in eine Irrenanstalt. Nur dies eine Mal zeigte er sich reuig und demütig, und diesmal war es richtig - er kam frei. Ein letzter Schulversuch scheiterte in Canstatt. Wieder in Calw machte er ein Praktikum in der Turmuhren-Fabrik Perrot, die es heute noch gibt - allerdings nicht mehr an der Nagold, dem Fluss, der Calw durchfließt und in dem Hesse oft schwamm. Dort steht heute ein monströses Parkhaus; es ist nicht das einzige in der Innenstadt ... - Hesse über sein Praktikum: Zitator In der Mechanik hab ich immerhin einiges gelernt, (...) kann Elementläutwerke einrichten, Most trinken, trocken Brot essen, Lehrlinge kommandieren, von Leitern herabfallen, Hosen zerreißen und was sonst zur Mechanik gehört. Autor Der 18jährige verließ die Eltern und Calw, machte eine Buchhändlerlehre in Tübingen, ging nach Basel und wurde endlich, was er immer wollte: freier Autor. Über Bern und den Bodensee kam er 1919 ins Tessin, wo er bis zu seinem Tod blieb und die Romane schrieb, die ihn weltbekannt machten: "Steppenwolf", "Siddharta", "Das Glasperlenspiel". - Hesses Calwer Kindheit war schwierig, aber er hat dort nicht nur gelitten. Es gab glückliche Tage beim Spielen auf den Gassen, im nahen Wald. In seinen Erzählungen heißt Calw "Gerbersau", weil der Ort damals von Gerbe- reien geprägt war. In diesen Texten lässt er die Konflikte im Elternhaus weg, Gerbersau wird zum verklärten, "besseren" Calw. Völker Dieses "Gerbersau" hat Hermann Hesse sich eigentlich bis ins hohe Alte bewahrt. Er hat in schwierigen Lebenssituationen (...), zum Beispiel um das Jahr 1916 rum, als er während des ersten Weltkriegs in die Schweiz gegangen war, viele seiner Erzählungen in Gerbersau angesiedelt. Weil ihm das die heile Welt der Jugendheimat ein Stück weit verkörpert hat. Bis ins hohe Alter hat er diese Gerbersauer Schauplätze gewählt, oft mit angenehmen, interessanten und anheimelnden Situationen (...) ausgefüllt. Autor Zum Beispiel in der Erzählung "Knulp". Sie handelt von einem Landstreicher, der Gerbersau im Zorn verlässt. Er lebt ohne Bindungen, ist frei oder meint jedenfalls, frei zu sein. Doch Jahre später, todkrank, kehrt er in die Heimat zurück: Zitator: Gewühl der Bauern und Bürger auf dem Viehmarkt, durchsonnte Schatten brauner Kastanienbäume, Trauerflug später dunkler Herbstfalter an der Stadtmauer, Klang des vierstrahligen Marktbrunnens, Weingeruch und hohles hölzernes Gehämmer aus der gewölbten Kellereinfahrt des Küfermeisters, wohlbekannte Gassennamen, jeder dicht bedrängt von einem unruhigen Schwarm von Erinnerungen. Mit allen Sinnen schlürfte der Heimatlose den vielfältigen Zauber des Zuhauseseins, des Kennens, des Wissens, des Sicherinnerns, der Kameradschaft mit jeder Straßenecke und mit jedem Prellstein. Autor Etwas von dieser Stimmung spürt man heute noch, wenn man in Calw an den schönen alten Fach- werkhäusern vorbei geht - und die Parkhäuser und andre Bausünden ignoriert, die seit den 50er Jahren kompromisslos zwischen die Altbauten gesetzt wurden. Völker Es hat sich natürlich einiges verändert in den vergangenen Jahren. Aber dennoch ist gerade hier, wo wir uns jetzt befinden, (...) auf der Badstraße, einiges doch noch so, dass es an die Zeiten erinnert und einen Eindruck davon gibt, wie diese Stadt einmal ausgesehen hat. Wir befinden uns jetzt zum Beispiel vor der Gerberei Balz, dem heutigen Gerberei-Museum. (...) Wenn man hier so durch die Straßen läuft, sieht man gerade in den verwinkelten Ecken, wie es einmal ausgesehen haben könnte und wie es ausgesehen hat. Autor 1946 wurde Hesse der Literatur-Nobelpreis zuerkannt. Das war eine Sensation. Ein deutscher Autor, kurz nach Ende der faschistischen Gewaltherrschaft. Aber eben für seinen "Humanismus" und die "hohe Kunst des Stils", also genau das Gegenteil dessen, was die Nazis praktizierten ... Der Autor war damals fast 70 und schrieb nicht mehr viel. Er lebte in Montagnola am Luganer See, in einer Villa mit Aussicht, die ihm ein Mäzen überlassen hatte. Er gärtnerte, malte und wollte vor allem in Ruhe gelassen werden. Vor das Haus stellte er ein Schild mit der Aufschrift "Bitte keine Besuche!", Ausrufezeichen. Hesse nahm den Nobelpreis - und das Geld - an, ging aber nicht zur Verleihung. Er blieb lieber zuhause. Zitator Der Teufel hole den verfluchten Kram! Autor Drei Jahre nach dem Nobelpreis entstand eine der wenigen Hörfunk-Aufnahmen des Autors, der keine Mikrofone mochte. Er las das Gedicht "Im Nebel": Hesse Seltsam, im Nebel zu wandern, einsam ist jeder Busch und Stein. / Kein Baum sieht den andern, jeder ist allein. / Voll von Freunden war mir die Welt, als noch mein Leben licht war. / Nun, da der Nebel fällt, ist keiner mehr sichtbar. / Wahrlich, keiner ist weise, der nicht das Dunkel kennt, / das unentrinnbar und leise von allem ihn trennt. / Seltsam, im Nebel zu wandern, Leben ist einsam sein. / Kein Mensch kennt den andern, jeder ist allein. (1') Autor Keine Perle der Vortrags-Kunst, aber ein klares, geradezu existentialistisches Gedicht. - Hesse starb am 9. August 1962 in Montagnola. Danach dauerte es fast 30 Jahre, bis Calw dem Nobelpreis- träger und weltweit meist gelesenen deutschen Autor ein Museum spendierte. Er war halt kein rechter Calwer, immer so aufsässig und auch noch ausgewandert - ein "Steppenwolf" eben, in dem sich nicht nur Udo Lindenberg wiederfindet: Lindenberg Ja, der Lindenwolf, der auch aus beengten Verhältnissen kam ... Ich wollte klar das Abenteuer, ich wollte ausbrechen, Outlaw, mich in den Grenzbereichen des Lebens umschauen, die großen Städte kennen lernen ... Autor Einen Leiter hatte das Museum zunächst nicht, es wurde nebenbei vom Kulturamt mit "betreut" und begann dementsprechend einzustauben ... Erst 2010 entschloss man sich, eine Leiter-Stelle auszuschreiben. Die Wahl fiel auf Susanne Völker, die seitdem freilich alle andren Museen der Stadt "mitbetreuen" muss ... Eine junge Frau, eine Frau!, damals erst 30, und auch noch eine Ossi! In einer schwäbischen Kleinstadt! Auch sie hatte es, wie Hesse, in Calw nicht immer leicht. Allein mit neuen Ideen gegen "Des hamma scho emmer so gmaacht" ... Doch es ging gut: Von der Inven- tarisierung des Bestands - derlei gab es vorher nicht - über die Vernetzung mit andren Literatur- häusern bis zur teilweisen Neugestaltung des Museums. Musik Lindenberg, "Du machst dein Ding, egal, was die andern sagen. / Du gehst deinen Weg, ob grade, ob schräg, das is egal. / Du machst dein Ding, egal, was die andern labern. / Was die Schwachmaten einem so raten, das is egal ..." Zitator Seit Jahren bin ich auch mit Zeichnen und Malen beschäftigt. Mein Ausweg, um in bittersten Zeiten das Leben ertragen zu können und um Distanz von der Literatur zu gewinnen ... Autor ... schrieb Hesse 1924. Die Ergebnisse seiner Beschäftigung mit Pinsel und Farben sieht man jetzt im Hesse-Museum in der Ausstellung "Licht und Farbe". Keine überfüllten Vitrinen mehr, sondern luftig gehängte Aquarelle in hellen Räumen, dazu wenige, aber prägnante Texte des Autors. Völker Als Hesse im Tessin lebte, hat er sich sehr viel mit Malerei beschäftigt. Seine Aquarelle waren für ihn ab 1916, mit Beginn seiner psychoanalytischen Behandlung, ein ganz wichtiger Ausgleich. Er steckte zu der Zeit in einer schweren Lebenskrise. In Deutschland tobte der erste Weltkrieg, seine erste Ehe war auseinander gegangen, er hat seine Familie verlassen, sein Vater war gestorben. Und Hermann Hesse hat einen völligen Neubeginn gewagt. Wenn man sich die Bilder anschaut: Die sind sehr farbenfroh, wirken sehr leicht, völlig unbeschwert, da sieht man eigentlich nichts von diesen Lebenskrisen ... Autor: Hesse muss ein manischer Maler gewesen sein. In seinem Nachlass fanden sich über 3000 Aqua- relle. Völker Die Malerei wurde immer so ein bisschen als Hobby abgetan: Neben dem Gärtnern und dem Wandern hat er halt auch noch gemalt ... Die psychologische oder sogar therapeutische Komponente ist eigentlich erst in der jüngeren Forschung in den Fokus gerückt (...), zunehmend auch in der Kunstgeschichte. Autor Kritiker sind schnell mit dem Vorwurf des Dilettantismus bei der Hand, die Aquarelle sähen ja aus wie "naive Malerei". Völker Hermann Hesse hat sich durchaus in der Malerei zum Dilettantismus bekannt, hat nicht den Anspruch formuliert, ein großer Künstler oder Maler zu sein - ein Anspruch, den er in seinem literarischen Werk sehr wohl hatte ... Autor ... wobei viele Bilder gar nicht dilettantisch sind. Es gibt fein ziseliere Blätter, die zeigen, dass er ein guter Zeichner war - und es gibt Bilder, in denen er Häuser und Landschaften in fast schon kubistische Flächen zerlegt. Man hat oft an Hesses Malerei herumgemäkelt, aber auch seine Bücher standen unter einem seltsamen Bann - schon zu seinen Lebzeiten und bis heute. Autorenkollegen und Kritiker schmähten sie wegen ihrer einfachen Sprache und guten Verständlichkeit als "schlecht geschrieben" - ein typisch deutscher Vorwurf. Andre nannten sie "Pubertätsliteratur", was dazu führte, dass mancher seinen Hesse nur im stillen Kämmerchen liest ... Kleeberg Also selbstverständlich muss man das überhaupt nicht, im Gegenteil, es ist einer der ganz großen Autoren des 20. Jahrhunderts! Autor ... meint der Berliner Schriftsteller Michael Kleeberg. Kleeberg Ein Teil seiner Zeitgenossen mochte ihn nicht leiden und hat sich abfällig über ihn geäußert, so jemand wie Robert Musil ... Autor Ah, der Musil! Der schrieb den über tausendseitigen "Mann ohne Eigenschaften": ein von zähen Essays durchzogenes, ziemlich unsinnliches Roman-Ungetüm, das unvollendet blieb. Kleeberg Dann muss man aber auch wieder sehen, dass es überhaupt keinen Kollegen gibt, über den sich Robert Musil nicht abfällig geäußert hätte. Was bei Musil hauptsächlich an einem gewissen Neidgefühl gegenüber denjenigen Kollegen lag, die bei ihren Lesern wirkliche Lesehingabe erzeugt haben ... Autor "Lesehingabe" - ein schönes Wort; von Thomas Mann übrigens, der Hesse mochte, und der ihn auch. Kleeberg Das heißt, die Fähigkeit (...) eines Textes - wobei der vollkommen unterschiedlich gebaut sein kann -, die magische Fähigkeit eines Textes, den Leser zu fesseln, zu verwandeln, Identifikation zu stiften. Das ist etwas, was Hesse in den unterschiedlichsten Büchern kann. Autor Michael Kleeberg hat kürzlich in der Sonntags-FAZ einen großen Essay publiziert, eine Hymne auf Hesse und eine Breitseite gegen seine Verächter. Bald darauf zog FAZ-Redakteur Volker Weidermann mit einer zweiten Hesse-Hommage nach. Ausgerechnet und wohl nicht zufällig in der Zeitung, deren Literaturteil lange Marcel Reich-Ranicki prägte. Der sorgte 20 Jahre dafür, dass kein gutes Haar an Hesse blieb. Er habe den "Steppenwolf" als Jugendlicher gern gelesen, sagte er einmal, doch erst später erkannt, was für ein schlechter, ja "schrecklicher" Roman das sei. So ging und geht es offenbar auch andern Lesern. Als sie jung waren, mochten sie Hesses anarchischen Protest gegen vermeintlich "gute" Normen. Doch dann, in der bürgerlichen Mitte angekommen, wollen sie nichts mehr davon wissen. Kleeberg Weswegen Hesse ja auch immer in dem Ruch steht, ein Schriftsteller für Jugendliche zu sein. Nicht etwa, weil seine Themen irgendetwas jugendbuchartiges hätten, sondern weil er immer wieder von Menschen erzählt, die diesen Bewegungs-Impuls, diesen Veränderungs-Impuls in sich nicht abgetötet haben. (...) Wer abgeschlossen hat in sich und für sich mit den großen Veränderungen im Leben, für den ist es natürlich ein fürchterlich störendes und ärgerliches Phänomen, wenn da einer kommt und sagt: (...) Das Ziel, was du (...) glaubst erreicht zu haben, das ist es noch nicht. Von hier aus geht es immer weiter! (...) Das Angekommensein oder der Glaube, angekommen zu sein, nun sei alles gut und vorbei und geregelt - dass das eine Illusion ist. Autor: Das Hesse-Museum neu gestaltet, ihn als Maler präsentiert, das Feuilleton endlich auf seiner Seite - es sieht gut aus für Hermann Hesse. Und Udo? Der gründete vor sechs Jahren in Calw, wo sonst, die Udo Lindenberg-Stiftung. Sie fördert soziale Einrichtungen in Deutschland, aber auch jenseits der Grenzen, zum Beispiel in Afrika. Auch dabei ist Hesses Denken präsent. Lindenberg Ich hab wieder festgestellt eine große Verwandtschaft in den Haltungen: gegen Militär, gegen Nationalgedröhn, für Offenheit, Sensibilität, höchste Toleranz. Autor Zudem vergibt die Stiftung alle zwei Jahre den "Panik-Preis" an junge Musiker, benannt nach Lindenbergs Band, dem "Panik-Orchester". Die Bewerber werden ermutigt, anspruchsvolle, auch kritische Texte zu schreiben und sich nicht vom Markt vereinnahmen zu lassen. Lindenberg Auch wenn die andern alle sagen, "Du bist bekloppt, du musst in die Klapse" oder so, ne? Gerade dann soll man sein eigenes Ding machen, sich nicht anpassen an die Sender, an die Radios, die spielen ja meistens die seichten Dinger, ne? Gerade junge Bands, die noch provokante Texte machen, die wollen wir unterstützen. Autor Kürzlich traten die sechs nominierten Bands und Songwriter bei einem Open Air auf dem Calwer Marktplatz auf. Die Jury vergab den Hauptpreis an den jungen Frankfurter Nicolas Sturm - seltsamerweise für sein Lied "Schiffbruch", das gerade keinen kritischen Text hat, aber ein nettes Liebeslied ist. Musik (Nicolas Sturm) "Schiffbruch, erlitten auf die schönste Art und Weise, / ein Kuss brennt auf den Lippen und der Westwind weht in fort. / Ein Wort von Dir, und ich bleibe hier - / komm verschwende deine Zeit mit mir, mit mir, mit mir ..." Autor Nicolas Sturm erhielt 3000 Euro und eine Beratung von kritischen Branchen-Insidern für den Umgang mit Plattenfirmen, Medien usw. Nach der Preisverleihung durfte er mit Udo auf die Bühne, denn der und sein Panik-Orchester gaben zum Schluss ein zweistündiges Konzert, vor 4000 Leuten, direkt neben Hesses Geburtshaus. - Ende gut, alles gut in Calw? Naja, fast. Denn ein Verlust ist zu beklagen: Die "Hesse-Linde" ist weg! Völker Vor der Stadtkirche stand die berühmte Hesse-Linde, die in zahlreichen seiner Erzählungen vorkommt. Allerdings musste diese Linde im letzten Jahr gefällt werden. Der Splintkäfer hatte sich ihrer bemächtigt. Nachdem dieser offensichtlich doch sehr literatur-affine Käfer bereits die Uhland-Ulme auf dem Gewissen hatte, hat er sich jetzt auch die Hesse-Linde geholt. Aber für Nachwuchs ist gesorgt. Es steht jetzt eine junge Linde wieder vor der Kirche und hat die nächsten Jahrzehnte Zeit, sich auszubreiten. Autor Nur: Vor der neuen Linde steht ein Schild: "Wohlfühlen und sich entspannen beim Baumeln über dem Marktplatz". Jessas. Werden da Hesse-Verächter aufgehängt? Völker Ich hoffe nicht, zumindest nicht an der Linde. Das bezieht sich auf die Bänke hier, die sind ein Stückchen höher als normale Bänke. Da kann man die Beine baumeln lassen - und die Seele, wenn man möchte ... Musik ( Schluss von Lindenberg, "Mein Ding". Liegt schon unter O-Ton Völker, bei 3'30 hochziehen: Udo pfeift Thema vor sich hin, singt 3. (= 1.) Refrain, dann blenden.) -ENDE Beitrag-