KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : "Ich lache nicht über die Welt, sondern mit ihr" Der peruanische Schriftsteller Alfredo Bryce Echenique Vorgestellt von AutorIn : Tobias Wenzel RedakteurIn : Jörg Plath/Dorothea Westphal Sendetermin : 23.11.2010 Regie : Rita Höhne Besetzung : Sprecher (Zitate & Voice Over); Sprecherin (Erzähltext) Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Deutschlandradio Kultur Literatur Sendetermin: 23.11.2010 "Ich lache nicht über die Welt, sondern mit ihr" Der peruanische Schriftsteller Alfredo Bryce Echenique Von Tobias Wenzel "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr." Dieses deutsche Sprichwort hat Alfredo Bryce Echenique seinem bekanntesten Roman "Eine Welt für Julius" als Motto vorangestellt. Denn einen Teil des Buches schrieb der 1939 in Lima geborene Autor während eines mehrmonatigen Aufenthaltes in Deutschland. Allerdings mussten die deutschen Leser drei Jahrzehnte auf die Übersetzung dieses Klassikers der lateinamerikanischen Literatur warten. Während man in Deutschland noch heute mit der zeitgenössischen peruanischen Literatur fast ausschließlich den Namen Mario Vargas Llosa verbindet, ist Alfredo Bryce Echenique in seiner Heimat der beliebteste Autor, geradezu ein Volksschriftsteller. Seine Landsleute duzen ihn, wenn sie ihn auf der Straße sehen, er ist einer von ihnen. Und das obwohl Alfredo Bryce Echenique in der Oberschicht aufgewachsen ist. Wie Julius, die Hauptfigur seines vor 40 Jahren erschienenen Romans, wuchs Bryce Echenique fern vom Volk in einem palastähnlichen Haus in Lima auf und verbrachte mehr Zeit mit den Hausangestellten als mit seinen Eltern. Aber mit seiner liebevollen, unprätentiösen Art hat sich Echenique in die Herzen seiner Landsleute geschrieben, mit seiner Lust am Fabulieren, mit Texten, die dem Menschen nie seine Menschlichkeit nehmen und die voll von Humor sind. Einem Humor, der trifft, aber nicht verletzt: "Ich lache nicht über die Welt, sondern mit ihr." Rollenverteilung: Sprecher = Zitate und Voice Over zu Alfredo Bryce Echenique Sprecherin = Erzähltext des Features Hinweis zu Zitaten: Einige Zitate liegen im spanischen Original, gelesen vom Autor, vor. Dort steht der Vermerk "O- Ton/Zitat". Die Töne können nach Bedarf untergelegt bzw. dann unter der Übersetzung weggeblendet werden. Wenn die Zitate ohne O-Ton sind, steht dort einfach nur "Zitat" Kürzungsoptionen / Verlängerungsoption: Kürzungsvorschläge in eckigen Klammern Musik Vorschlag: Bei den Buchzitaten und bei den Betrachtungen vom Friedhof unterlegen. Musik 1. Zitat: Roman "Eine Welt für Julius" (S. 13 - Übersetzung: Matthias Strobel) Sprecher 1 "[...] im Bad begann seine Mutter sich von ihm zu verabschieden, zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters. Immer wenn sie kam, hatte er ihr den Rücken zugewandt, stand vor der Badewanne, nackt und mit entblößtem Pillermann, was sie aber nicht sehen konnte, und betrachtete die steigende Flut in dieser Wanne voller Schwäne, Gänse und Enten, einer riesigen Wanne, wie aus Porzellan und himmelblau. Seine Mami sagte Darling zu ihm, er drehte sich nicht um, sie gab ihm einen Kuß auf den Nacken und ging zauberhaft davon, während die schöne Chola Verrenkungen vollführte, um den Ellbogen einzutauchen und die Wassertemperatur zu prüfen. Ohne dass sie in das hineingefallen wäre, was durchaus ein Swimmingpool in Beverly Hills hätte sein können." Sprecherin Julius, ein knapp vierjähriger Junge, wächst liebevoll umsorgt von seiner Mutter und den Hausangestellten in einem Palast der peruanischen Oberschicht auf. Zunehmend interessiert sich das Kind, die Hauptfigur des in der dritten Person erzählten Entwicklungsromans "Eine Welt für Julius" von Alfredo Bryce Echenique, für das, was sich jenseits des goldenen Käfigs befindet. Julius liebt die zahlreichen Angestellten, und die lieben ihn, sie kämpfen gar um seine Gunst. Julius fragt sie aus, und sie erzählen ihm von der faszinierend fremden Welt da draußen, von Indianerstämmen und Lehmhäusern im Hochland ebenso wie von der ehrenamtlichen Tätigkeit eines Club-Kassenwartes. Kindermädchen, Butler, Köche und der Chauffeur werden für den Heranwachsenden zum Spiegel der Welt. 2. Atmo Haustür - Aufschließen / Begrüßung / Schritte ins Zimmer Sprecherin Eine Hausangestellte öffnet die Tür des schmucken weißen Backsteinhauses im beliebten Stadtteil Miraflores in Lima, führt den Gast ins Wohnzimmer und bittet ihn, dort zu warten. Eine Sitzgruppe, weiß mit rotem Blumenmuster. An der Wand ein großes Gemälde, das einen Mann und ein Auto zeigt, und einige Aquarelle. Auf dem Tisch ein Silbertablett mit zwei Gläsern. Durch das Terrassenfenster blickt eine weiß-grau gescheckte Katze herein. Schritte auf der Treppe. Alfredo Bryce Echenique betritt das Wohnzimmer: 3. Atmo - Treppenschritte / Begrüßung Sprecherin Der 71jährige peruanische Autor hat eine einnehmende Herzlichkeit. Er trägt eine grüne Strickweste, darunter ein weißes Hemd mit feinem Karomuster. Die grau melierten Haare sind in eleganten Wellen nach hinten gelegt. Hinter einer karamellfarbenen Hornbrille blitzen wache Augen hervor. Eigentlich ist Alfredo Bryce Echenique beschäftigt mit Kofferpacken. Denn am Tag darauf steht eine Reise nach Arequipa an. Trotzdem nimmt er sich Zeit für seinen Gast aus Deutschland. Auch, um über jenen Roman zu sprechen, der vor vierzig Jahren, 1970, im spanischen Original erschien und erst 2002 in deutscher Übersetzung. "Eine Welt für Julius" war der erste Roman von Alfredo Bryce Echenique und ist bis heute sein Opus magnum. Das Thema, ein heranwachsender Junge reicher Eltern, geborgen, aber abgeschottet vom Alltag der meisten Menschen im Peru der 40er-Jahre, kommt nicht von ungefähr: 4. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "Ich bin in einer Bankiersfamilie aufgewachsen, habe Privatschulen besucht, ein englisches Internat in Lima für Kinder privilegierter Familien. Also abseits der peruanischen Wirklichkeit. Als ich damals als Student an die Universität San Marcos kam, eine öffentliche Universität, an der junge Leute aus ganz Peru studierten - egal ob Indios, Weiße oder Schwarze -, kam ich plötzlich in Kontakt mit Studenten aus Cuzco, aus dem Süden, dem Landesinneren. Für mich war das die Entdeckung Perus im menschlichen Sinne." Sprecherin Der Roman "Eine Welt für Julius" hat unbestreitbar autobiographische Züge, doch Julius' Welt ist natürlich nicht die von Alfredo Bryce Echenique. Nicht nur, weil der Autor keinen Stiefvater hatte, dem Golfspiele und Sportwagen wichtiger waren als die Lage der Hausangestellten. Bryce Echenique wuchs in einer sozialen Atmosphäre auf. 5. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "Im Gegensatz zu anderen Häusern, in denen die Angestellten nicht gut behandelt wurden, wurden sie bei uns von denselben Ärzten behandelt, hatten dieselben Rechte wie wir und viel mehr Pausen, als man mit ihnen vereinbart hatte. Es war eine christliche Gemeinschaft, die geprägt war von Respekt und liebevollem Umgang miteinander. Wegen meines Alters war ich mit den Angestellten am Besten befreundet, spielte mit ihnen Fußball im Haus." Sprecherin Im Roman spielt Julius am liebsten Cowboy und Indianer, versteckt sich in einer alten Kutsche, die im Obstgarten des Anwesens steht, und lauert den Angestellten auf. Was anfangs wie harmlose Kindheitserinnerungen erscheinen, entpuppt sich schnell als präzises, jedoch nicht anklagendes Porträt der peruanischen Oberschicht, immer subtil gebrochen durch Julius' Kinderblick. Der Leser verfolgt die Entwicklung des stillen, aber aufgeweckten Jungen bis in die Schulzeit hinein. Das Kind liebt die Mutter, die durchaus liebevoll ist, jedoch fern bleibt - sie führt ein mondänes Leben. Julius erkundet daher durch die Hausangestellten und später allein die Welt. Und das ohne Vorurteile, sein Interesse kennt keine Standesgrenzen: Julius setzt durch, dass zu seinem Geburtstag auch der schwarze Busfahrer kommen darf. "Eine Welt für Julius" ist, hat der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez einmal einer der besten Romane, "die je von einem lateinamerikanischen Autor geschrieben wurden". In Peru ist das Buch seit Jahren Schullektüre. Der Peruaner Hernán Aguilar, der bis vor kurzem am Berliner Lateinamerika-Institut geforscht und gelehrt hat, erinnert sich noch heute, wie wichtig Echeniques Roman für ihn war: 6. O-Ton Hernán Aguilar Sprecher 2/Overvoice "Der Roman 'Eine Welt für Julius' von Alfredo Bryce Echenique war für mich eine Offenbarung. Von diesem Moment an wurde ich zum Leser von Romanen im Allgemeinen. Ich habe so den Boom der lateinamerikanischen Literatur entdeckt, Autoren wie García Márquez, Cortázar, Borges, Fuentes. Und auch Proust habe ich letztlich wegen Bryce Echenique gelesen. Mir wurde klar, dass mir diese Welt gefiel." Sprecherin Um so merkwürdiger, dass "Eine Welt für Julius" erst mit drei Jahrzehnten Verspätung auf Deutsch erschien. 7. O-Ton: Michi Strausfeld "Die Erklärung ist eigentlich relativ einfach: In Deutschland hatte man die lateinamerikanische Literatur als solche nicht zur Kenntnis genommen, im Gegensatz zu Frankreich oder Spanien. Die Versuche, lateinamerikanische Literatur in Deutschland einzuführen, sind entweder misslungen, was manchmal auch an den Übersetzungen hing, oder es war alles so fremd, dass die deutschen Verlage da einfach die ganze lateinamerikanische Literatur irgendwie als problematisch, als überschwänglich beiseite gelegt haben." Sprecherin Michi Strausfeld erinnert sich, wie sie in den 70er-Jahren damit begann, für den Suhrkamp Verlag ein Lateinamerika-Programm aufzubauen. Moderne Klassiker aus den 60er-Jahren wie "Rayuela" von Julio Cortázar, "Drei traurige Tiger" von Guillermo Cabrera Infante und "Paradiso" von José Lezama Lima warteten nur darauf, endlich ins Deutsche übersetzt zu werden. Diese Hauptwerke der lateinamerikanischen Literatur erschienen natürlich zuerst. 8. O-Ton: Michi Strausfeld "Und in dieses Loch ist eben Bryce Echenique gefallen. Sein Roman war da, er war wunderbar, aber er war umfangreich. Und dann hat man immer gesagt: 'Na ja, er ist ja noch ein junger Autor, warten wir auf das nächste Buch - und das nächste Buch.' Nun waren die nächsten Bücher alle nicht so überzeugend wie 'Eine Welt für Julius'. Und so hat man immerzu gewartet. Und in der Zwischenzeit erschienen all die anderen großartigen Bücher." Sprecherin Und sie hatten Erfolg. Der "magische Realismus" begeisterte die Leser. Doch Echenique ist dem "magischen Realismus" nicht zuzurechnen, sagt Hernán Aguilar. 9. O-Ton: Hernán Aguilar "Das Buch interpretiert das Leben der Oligarchie in den 50er und 60er-Jahren, einer Oligarchie, gegen die die Militärregierung angegangen ist, um sie zu zerstören. Bryce Echenique hat einmal eine sehr lustige Anekdote erzählt - ich weiß nicht, ob sie stimmt oder nicht. Demnach waren bei der Präsentation seines Romans viele Regierungsvertreter anwesend, aber auch Freunde von Bryce Echenique, die noch nicht den Inhalt des Romans kannten. Einer der Regierungsvertreter, vermutlich einer der intellektuelleren, hielt eine Rede und schloss mit den Worten: 'Verehrte Damen und Herren, der General Velasco Alvarado und der Schriftsteller Alfredo Bryce Echenique haben die peruanische Oligarchie endgültig begraben.' In diesem Augenblick, so Bryce Echenique, sei einer seiner Freunde ohnmächtig geworden, sodass sie ihn in die Notaufnahme eines Krankenhauses bringen mussten." Sprecherin Erst 2002, mehr als 30 Jahre nach dem Original, erschien "Eine Welt für Julius" in deutscher Übersetzung. Der Boom der lateinamerikanischen Literatur hierzulande war längst vorbei. Was aber hat diesen Roman zu einem großen Erfolg bei Lesern und Kritikern zahlreicher Länder werden lassen? 10. O-Ton: Michi Strausfeld "Weil Bryce Echenique ein wunderbarer Erzähler ist. Man kann das Buch eigentlich überall aufschlagen und man liest sich gleich fest, weil er so wunderbar erzählen kann." Musik 11. Zitat: Roman "Eine Welt für Julius" (S. 12 - Übersetzung: Matthias Strobel) Sprecher 1 ... so - in einem Seidenpyjama gehüllt, den Rücken der Krankenschwester zugewandt, die vor sich hinschlummerte - sah er zu, wie sein Vater starb, wie ein eleganter, reicher und gutaussehender Mann starb. Und Julius hat diese Nacht nie vergessen, drei Uhr morgens, eine Kerze zu Ehren der heiligen Rosa, die Krankenschwester, die strickte, um nicht einzunicken, als sein Vater ein Auge aufschlug und armer Kleiner zu ihm sagte und die Krankenschwester aus dem Zimmer stürzte, um seine Mami zu rufen, die bezaubernd war und jede Nacht weinte, in ihrem eigenen Schlafzimmer, um wenigstens etwas Ruhe zu finden, da war auch schon alles vorbei." Sprecherin Als 1966 der Vater von Alfredo Bryce Echenique in Lima starb, war der 27jährige Sohn gerade in Paris, hatte eine Doktorarbeit über Hemingway begonnen und erste literarische Texte geschrieben. Seine Mutter verschwieg ihm längere Zeit den Tod des Vaters. Sie wollte nicht, dass ihr Sohn aus dem glücklichen Leben in Paris gerissen würde und aus Pflichtgefühl zurück nach Lima käme. Deshalb und auch, weil Mutter und Sohn das Leben lieben und wenig mit den Toten anfangen können, hat Alfredo Bryce Echenique nie das Grab seines Vaters gesehen. Das gleiche gilt für das Grab seiner Mutter, die 2004 starb, als der Sohn erneut in Europa war. Nun aber sitzt Alfredo Bryce Echenique im Taxi, um zum Friedhof Presbítero Maestro im Zentrum Limas zu fahren und das Familiengrab zu besuchen. 12. Atmo Fahrt zum Friedhof Sprecherin Auf der Fahrt zum Friedhof legt Alfredo Bryce Echenique immer wieder den Zeigefinger auf den Knopf der Türverriegelung, um sich zu vergewissern, dass das Auto beim Halten an einer Ampel nicht so leicht überfallen werden kann. Die Kriminalitätsrate ist hoch. Aber seinen Humor lässt sich der Schriftsteller nicht nehmen. Zum Beispiel wenn er über seinen Vater spricht: 13. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "[ATMO AUTO]. Er wollte, dass ich Karriere mache. Schriftsteller sein war für ihn gleichbedeutend mit betrunken sein. Und so ganz unrecht hatte er damals damit nicht. [LACHT]. - Ah, hier ist der Universitätspark und hier war die Universität San Marcos. Hier habe ich meine beiden Studiengänge absolviert: Literaturwissenschaften und, meinem Vater zuliebe, Jura. Bin dann nach Europa gegangen, und dann starb mein Vater." Sprecherin Ein Jahr zuvor, 1965, hatte Alfredo Bryce Echenique während eines Aufenthaltes in Italien Erzählungen geschrieben, die sein literarisches Debüt werden sollten. Danach sah es zunächst nicht aus. Denn als er mit dem Manuskript nach Paris zurückgekehrt sei, habe man ihm das Manuskript gestohlen, erzählt er mit betroffenem Blick und holt weit aus: 14. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, habe ich damals in Paris Mario Vargas Llosa getroffen, der mein Lehrer an der Universität San Marcos in Lima gewesen war. [ ... ] Ich erzählte ihm, dass man mir mein Buchmanuskript gestohlen hatte. Da ging es ihm so schlecht, dass ich ihn beruhigen musste. [LACHT] Daraufhin konnte er mir - seinem brillanten Gedächtnis sei Dank - die Namen jener Schriftsteller nennen, die irgendwann einmal ein Manuskript verloren hatten. Außerdem wusste er noch wo: zum Beispiel im Victoria Station in London, wo Hemingway sein Manuskript abhanden kam, worauf der sich von seiner Frau scheiden ließ, weil sie den Koffer hatte, in dem sich das Manuskript befunden hatte. Also habe ich Mario Vargas Llosa gesagt: 'Es gibt Schlimmeres. Beruhige dich!' Ich musste ihm versichern, dass ich weiter schreiben würde. Als ich dann den Erzählband noch mal geschrieben hatte, fühlte ich mich irgendwie nicht erfüllt. Also begann ich damit, eine weitere Erzählung zu schreiben und hörte drei Jahre nicht mehr mit dem Schreiben auf. So entstand 'Eine Welt für Julius'. 15. O-Ton: Michi Strausfeld "Na ja, ob die Geschichte ganz stimmt oder ob das schon wieder ein bisschen dazu fabuliert ist, ist etwas, was ich in Frage stellen würde. Aber in jedem Fall ist es eine gute Geschichte. Und es passt absolut zu ihm." Sprecherin Michi Strausfeld ist nicht nur Kennerin der lateinamerikanische Literatur und der Werke von Alfredo Bryce Echenique. Sie ist auch mit dem Autor befreundet, hat einige Jahre zur selben Zeit wie er in Barcelona und Madrid gelebt und kennt seine Neigung, die Wirklichkeit kreativ fortzuschreiben. Macht Alfredo Bryce Echenique das oft? 16. O-Ton: Michi Strausfeld "Ich würde sagen: kontinuierlich. Nach wenigen Minuten - zack - ist er in irgendeiner Geschichte drin. Und die erzählt er dann weiter, und die schmückt er dann aus. Dann hat man das Gefühl, jetzt hört man schon wieder einen Teil von einem neuen Roman oder was auch immer. Und das wissen alle. Und alle freuen sich immer darauf." 17. Atmo Friedhof/ Straße Musik Sprecherin Alfredo Bryce Echenique steht auf dem Friedhof Presbítero Maestro. Zuletzt war er hier vor 46 Jahren, als seine Großmutter beigesetzt wurde. Schweigend und in sich gekehrt blickt er auf die Marmorgräber, die einst prunkvoll glänzten und nun zum Großteil beschädigt und verdreckt sind. Vergessen ist der Leibwächter neben ihm, der verhindern soll, dass der Friedhofsbesuch mit einem Überfall endet, ist der Journalist, der nun aber doch eine Frage stellt. Erinnert er, Alfredo Bryce Echenique, sich hier noch an etwas? 18. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "[ATMO STRASSE] [SAGT ETWAS ABWESEND:]. Ja, ja, ja. Ich erinnere mich an etwas. [MACHT EINE SEHR LANGE PAUSE] Ich erinnere mich aber zum Beispiel nicht daran, wo unser Familiengrab ist." 19. Atmo Schritte Friedhof Sprecherin Der Weg dorthin ist nicht weit. Aber man verläuft sich leicht. Zu sehr gleichen sich die Nischengräber, die fünf Meter hohen Steinwände, in der über- und nebeneinander die Särge in Fächern ruhen, die mit quadratischen Marmorplatten verschlossen sind. Musik 20. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "[ATMO SCHRITTE.] Ah, das ist meine Familie!" Sprecherin Die ursprünglich britische Familie Bryce, die peruanische Familie Echenique, deren Mitglieder untereinander immer wieder geheiratet haben, die Urgroßeltern, Großeltern, Onkel, Tanten, ferne Verwandte und eine Hausangestellte der einen Großmutter - hier ruhen sie alle. Und natürlich auch die Eltern von Alfredo Bryce Echenique. Ihre Gräber sieht er nun zum ersten Mal: 21. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "Das ist meine Mama. Und das ist mein Vater, natürlich: 1966. Und da vorne der Präsident José Rufino Echenique. Er war Präsident von 1851 bis 1855. Ein katastrophaler Präsident. Wirklich, eine Katastrophe! Er wollte nie Präsident werden. Er war Landwirt. Sein Schwager war in der Regierung, konnte selbst nicht Präsident werden, war aber sehr mächtig. Er hat dann dafür aus diesem armen Mann den schlechtesten Präsidenten der Welt gemacht, denn den interessierte dieses Amt ja gar nicht." Sprecherin Die Grabnischenwand auf dem Friedhof Presbítero Maestro liest Alfredo Bryce Echenique wie einen Adventskalender: Hinter jeder Marmortür sind nicht nur die Gebeine der Toten verborgen, auch unzählige ihrer Geschichten. Der peruanische Schriftsteller ruft sie mit beeindruckender Leichtigkeit hervor. Da ist der Onkel, der den jungen Alfredo, ohne es dem Vater zu sagen, mit ins Cabaret nahm und danach ein Autorennen veranstaltete, das mit einem Unfall endete. Und da ist ein weiterer Onkel, der bei Beerdigungen den Clown gab und gern die Trauerreden der Priester unterbrach, um einen Scherz zu machen. 22. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "Einmal haben wir einen Onkel beerdigt, den Ehemann der Schwester meiner Mutter. Aber der Sarg passte nicht in die Grabnische. Die war nicht gut gemacht. Deshalb brauchten wir eine andere, noch freie Nische eines Familienmitglieds. Die Wahl fiel auf meine Grabnische. Darin haben sie dann den Onkel provisorisch beigesetzt. Da haben mir alle gesagt: 'Jetzt warst du also bei deiner eigenen Beerdigung!'" [LACHT] Musiktrenner 23. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "Der Humor in meinen Büchern ist nie einer gewesen, der sich über jemanden lustig macht, der Schmerz empfindet oder unglücklich ist. Mein Humor ist vielmehr ironisch, aber gerade nicht verletzend. Wenn ich nicht selbst so oft über mich selbst gelacht hätte, hätte ich doch gar nicht überlebt. Auch hätte ich dann nicht mit der Welt lachen können. Ich lache nicht über die Welt, sondern mit ihr." Sprecherin Wenn Echenique im peruanischen Fernsehen live interviewt wird und währenddessen eifrig Whisky trinkt, darf schon mal um eine Stunde überzogen werden und die folgende Sendung ausfallen. Dass Bryce Echenique gern zu viel trinkt und diese Schwäche nicht verbirgt, kommt gut an bei den Peruanern. Eine Buchhandelskette des Landes hat Plastiktüten gedruckt, auf der Alfredo Bryce Echenique karikiert wird, wie er sich gerade einen Drink mixt. 24. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "[ATMO PLASTIKTÜTE] Ah, ja! Das amüsiert mich. Das gefällt mir. [IRONISCH/LACHEND:] Sie müssten mir eigentlich Geld dafür zahlen, dass sie mit mir Werbung machen. Nein, ich kann so etwas nur mit Humor nehmen. Das ist doch ein liebevoller, liebenswürdiger Umgang mit meiner Person. Und für die Buchhandlung ist es ein Mittel, den Menschen Bücher näherzubringen. Wenn ich in einer Buchhandlung in Lima stehe und Bücher von mir entdecke, nicht nur eins, sondern alle meine Bücher, dann freut mich das doch." Sprecherin Wenn Alfredo Bryce Echenique seinen morgendlichen Spaziergang durch das Viertel Miraflores macht, sprechen ihn Fremde an, um sich mit ihm zu unterhalten. Sie duzen ihn einfach. Andere Schriftsteller des Landes wie der stets distinguiert wirkende Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa, der einst als Präsidentschaftskandidat antrat, jedoch gegen Alberto Fujimori verlor, werden gesiezt. Nicht Vargas Llosa, sondern Bryce Echenique ist der beliebteste Autor des Landes. 25. O-Ton: Michi Strausfeld "Ja, er wird geliebt, weil er eben natürlich nicht sich in die Politik eingemischt hat, nicht dezidiert gesagt hat 'Das finde ich furchtbar'. Obwohl er auch in seinen Zeitungsartikeln Stellung bezieht manchmal. Aber er ist zuerst einmal Schriftsteller. Und Mario Vargas Llosa ist Schriftsteller, ist Politiker, ist engagierter Intellektueller." Sprecherin Nachdem Alfredo Bryce Echenique 35 Jahre lang in Europa als Schriftsteller und Dozent der Literaturwissenschaften gelebt hatte, kehrte er wieder nach Peru zurück. Da war Alberto Fujimori noch Präsident des Landes. 26. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "Ich habe mich sehr unwohl gefühlt, als ich 1999 wieder nach Peru kam. Man spürte die Macht des Regimes. Das waren die schlimmsten Jahre. Ich hatte 1995 einen Orden abgelehnt, den mir Fujimori verleihen wollte. Daraufhin bin ich bedroht worden. Aber ich war frei genug, um das Land wieder verlassen zu können. Ich hielt dieses Regime einfach nicht aus." Sprecherin Alfredo Bryce Echenique lehnte die Auszeichnung mit dem Verweis auf seine demokratische Gesinnung ab und verließ schon 2002 wieder sein Geburtsland. Sechs weitere Jahre lebte er als Schriftsteller und Kolumnist in Spanien, bevor er dann endgültig nach Lima zog. 27. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "Immer, wenn man mich fragt, ob ich nach vierzig, fünfundvierzig Jahren nach Peru zurückgekehrt sei, um hier zu sterben, antworte ich: 'Nein, ich bin nach Peru gekommen, um hier nun die beste Zeit meines Lebens zu verbringen.' [LACHT]" Sprecherin Allerdings brachten die Jahre nach der Rückkehr auch negative Schlagzeilen. So musste Bryce Echenique 2009 umgerechnet 40.000 Euro Strafe zahlen. Ein peruanisches Gericht hatte ihn für schuldig befunden, 16 journalistische Texte plagiiert zu haben. Aber das tat seiner Beliebtheit in Peru keinen Abbruch. kurze Musikzäsur Sprecherin Die feine Ironie, die über den Sätzen des Romans "Eine Welt für Julius" schwebt, trifft man in fast allen der über zwanzig Bücher von Alfredo Bryce Echenique an: in seiner mehr als tausend Seiten umfassenden AutoBiografie ebenso wie in seinem Roman El huerto de mi amada,"'Der Garten meiner Geliebten", für den der Autor 2002 den hochdotierten Planeta-Preis erhielt. Die Ironie dieses galanten Autors und Bonvivant zeigt sich selbst dort, wo anderen das Lachen vergeht: auf dem Friedhof in Lima, den man nur mit einem Leibwächter betreten sollte. 28. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "Eine Grabnische hier ist für mich reserviert. Ich weiß aber nicht, welche." Sprecherin Irgendwie ist es ihm auch egal. Wenn das Wissen zählt, ist er ja tot. Und für seinen eigenen Tod hat der Agnostiker Bryce Echenique nur ein Achselzucken übrig: 29. O-Ton: Alfredo Bryce Echenique Sprecher 1 "Der ist wie das Leben: etwas Absolutes, das aus dem Nichts entsteht. Und wenn dann das Nichts eines Tages unser Leben wieder zurückfordert, müssen wir es nun mal wieder hergeben." [LACHT] Sprecherin Nur einmal noch werde er auf diesen Friedhof zurückkehren, fügt er dann noch schmunzelnd hinzu: allerdings tot. Und schon jetzt dürfte feststehen, dass nach dem Tod dieses peruanischen Schriftstellers und feinsinnigen Schlitzohrs ein Buch lange in Erinnerung bleibt: der Roman "Eine Welt für Julius". Musik 30. Zitat: Roman "Eine Welt für Julius" (S. 12/13 - Übersetzung: Matthias Strobel) Sprecher 1 "Niemand hielt Julius davon ab, dass er sein Leben praktisch in die Kutsche des Präsidenten-Urgroßvaters verlegte. Dort verbrachte er den ganzen Tag, saß auf dem verschlissenen Sitz aus blauem Samt mit ehemals goldenem Saum, schoß auf Diener und Kindermädchen, die abends immer tot zu Füßen der Kutsche niederfielen und sich die Kittel schmutzig machten, die zu kaufen die Señora ihnen aufgetragen hatte, jeweils zwei, damit sie ihre Uniform nicht ramponierten und damit sie immer, wenn Julius plötzlich Lust bekam, sie von der Kutsche aus mit Kugeln zu durchlöchern, tot umfallen konnten." Musikschluss ENDE MANUSKRIPT Der peruanische Schriftsteller Alfredo Bryce Echenique Seite 16