HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Reihe : Zeitfragen/Literatur Ko T Titel der Sendung : ?Im Moment ist Lachen vor allem ein Vorwand? Über den neuen Roman von David Grossman und die Kraft eines gnadenlosen Galgenhumors Autor/in : Marie Luise Knott Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 12.02.2016 Besetzung : Sprecherin (Kommentar), 1. Sprecher (Grossman Zitate u. OV), 2. Sprecher (Zitate u.OV), 2. Sprecherin (OV) Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- 1. Sprecher, Zitat Buch Einen wunderbaren Guten Abend, Guu-ten A-abend! Caesarea-a ! Sprecherin Mit diesem Ruf stolpert der Stand-Up Comedian Dovele G. auf eine Kleinkunstbühne im israelischen Netanja. Caesarea, Netanja - die Verwechslung der Ortsnamen ist Absicht, und das Kalkül geht auf: Die Menschen im Saal empören sich, korrigieren ihn - schon hat er sie! Dovele gibt sich wie ein Underdog ? Cowboystiefel, langes fettiges Haar, zum Zopf gebunden. In ordinärem Ton bombardiert er das Publikum mit Kalauern, Witzen und Zoten. Sie wollen schließlich unterhalten werden! Dafür sind sie gekommen, dafür haben sie bezahlt. 1. Sprecher, Zitat Buch Aber nochmal zu Ihnen, mein Schnullermündchen ? er grinst der Frau an Tisch sieben ins Gesicht ?, wir sind noch nicht fertig, wir zwei, wir müssen das dringend besprechen ... denn Sie haben Niveau, das sehe ich doch. Und Geschmack erst. Wirklich originell, wenn ich Ihre Frisur richtig interpretiere, Kuppelbaudesign, würd? ich sagen ? liege ich ganz falsch, wenn ich vermute, da war derselbe Designer am Werk wie bei den Moscheen auf dem Tempelberg oder beim Reaktor in Dimona? Gelächter. Und ich meine, ich rieche da auch einen Haufen Kohle ... stimmt?s oder hab ich recht? Die Crème de la Crème der Gattung Blutsauger, ja? Ach nein? Bestimmt nicht? Sprecherin David Grossman, derzeit der wohl bedeutendste israelische Autor, hat in den letzten 30 Jahren mit wachsender Einfühlsamkeit sanfte, bewegende Figuren von großer Menschlichkeit gezeichnet und dabei Fragen und Erschütterungen seines Landes in Stimmen verwandelt. In dem Roman Kommt ein Pferd in die Bar, der 2014 in Israel erschien und jetzt auch auf Deutsch vorliegt, hat der Autor völlig neue, ja aggressive Töne angeschlagen. 1. Sprecher, Zitat Buch Einen wun-der-ba-ren Guten Abend, auch Ihnen, mei- ne Herren. Nee, is nicht schlimm, dass Sie gekommen sind. Wenn Sie brav stillsitzen, erteilen wir Ihnen einen Beobachterstatus, wenn nicht, schicken wir Sie nach nebenan, zur chemischen Kastration, okay? MUSIK (Sticker Song von David Grossman) Sprecherin In Jeans und Pullover sitzt David Grossman im Jerusalemer Kulturzentrum Mishkenot Sha?ananim, wo er einige seiner frühen Bücher geschrieben hat. Er erzählt, wie es mit seinem jüngsten Roman begann. O-Ton 1 ? Grossman (Overvoice, 1. Sprecher) Am Anfang stand eine Geschichte, die ich gehört hatte, von einem Jungen, der zu einer Beerdigung fahren muss und nicht weiß, welches der Elternteile gestorben ist. Ich hörte die Geschichte bei meinen Recherchen zu dem Buch Kindheitserfinder, so um 1990. Seither verfolgte mich die Geschichte dieses Kindes. Jedes Mal, wenn ich ein Buch beendet hatte, dachte ich, das nächste Buch geht darüber, aber es ging immer nicht. Ich hatte die Geschichte, aber kein Vehikel, wie ich sie hätte schreiben können. Aber dann dachte ich, wenn jemand das möglichst lustig erzählen würde, und mein nächster Gedanke war, was, wenn jemand auf einer Bühne steht, vor einem Publikum aus lauter Fremden und ihnen diese zutiefst intime Geschichte erzählt. Sprecherin Und so erzählt der Comedian Dovele G. zwischen diversen derben Späßen von den vier Stunden, die er als 14jähriger in einem Militärauto saß und zu seiner ?ersten Beerdigung? fuhr. 1. Sprecher, Buch Zitat Er schickt sein Clownslächeln mit aufgerissenem Mund von der Bühne hinab: Nun denn, Brüder und Schwestern, seid ihr bereit? Hier kommt die irrsinnig komische Geschichte über die erste Beerdigung meines Lebens, ihr werdet Tränen lachen. Sprecherin Eine Folterfahrt, so erfährt man, in der er versuchte, durch paritätisches Erinnern an Vater wie Mutter beide am Leben zu erhalten, während der Fahrer ihn mit Witzen zutextete. Eine so makabre wie aufrührende Szene: 1. Sprecher, Zitat Buch Mei-ne er-ste Be-er-di-gung!, hebt er jubelnd wieder an, als verkünde er die nächste Zirkusnummer. Sprecherin In seinen Romanen blickt Grossman immer neu in die Abgründe und Sehnsüchte der israelischen Gesellschaft. Weltweit lobte man bislang seine einfühlsame, dichte Sprache. 2. Sprecher Sein Buch ist innerlicher als unsere innerlichsten und zugleich politischer als unsere politischsten, Sprecherin hatte Andreas Isenschmid bereits über den Roman Das Lächeln des Lammes geschrieben, der in Israel 1983 erschien. Es war der erste Roman eines israelischen Schriftstellers, der im Westjordanland spielte und hinter die offiziellen Verlautbarungen der israelischen Besatzungspolitik schaute. Vier Protagonisten ergreifen darin im Wechsel das Wort. Eine Collage aus Selbstgesprächen und Erinnerungen - ein Buch der leisen Töne, doch von hoher persönlicher und politischer Dramatik. 1. Sprecher, Zitat Buch Die Besetzung der pala?stinensischen Gebiete vergiftet das Leben beider Vo?lker, Sprecherin heißt es darin, und das gilt heute wie damals. Schon damals wie in vielen seiner späteren Werke ist der Einfluss von Grossmans Redakteurstätigkeit im israelischen Rundfunk erkennbar. Während in den Werken der älteren Schriftsteller vielfach die großen Fragen und Konflikte der Religions- und Zeitgeschichte im Nahen Osten das Geschehen dominierten, ging es Grossman um die Zerrissenheit des Einzelnen in der israelischen Wirklichkeit. Er gab ihnen Stimmen. Das war etwas Neues in der israelischen Literatur. Grossman blieb ein literarischer Pionier. Der internationale Durchbruch gelang ihm Anfang der 1990er Jahre mit dem Roman Stichwort: Liebe. Darin unternahm er den Versuch, sich vorzustellen, wie es ihm ergangen wäre, hätte er die Schoah miterlebt. In dem Roman fragt er: Was hätte er als Jude dieser Verwandlung in einen Untermenschen entgegensetzen können? Und: Was hätte er getan, wenn er ein Deutscher gewesen wäre? Hätte er sich mitreißen lassen? Hätte er sogar mitgemordet? Das war damals neu und ungeheuerlich für einen israelischen Autor. O-Ton 2 -- Hannah 1 (Overvoice, 2. Sprecherin) Er war jung, frisch und kraftvoll, er sprach ein zeitgenössisches Hebräisch - ohne Pathos und doch sehr reich. Seine Sprache ist durchtränkt von sehr guter hebräischer Literatur und Sprache. Sprecherin erzählt die Künstlerin Hannah Aschheim, die in den 1980er Jahren in der Friedensbewegung aktiv war, auf dem Balkon ihres Ateliers. Nachdem einer seiner Söhne 2006 im zweiten Libanonkrieg als Soldat gefallen war, schrieb Grossman zwei große Bücher der Trauer. Auch in dem jüngsten Roman ist der Tod allgegenwärtig. Doch gleichzeitig hat Grossman in Kommt ein Pferd in die Bar mit der Figur des Komikers erstmals einen Protagonisten erfunden, zu dem der Erzähler, in diesem Fall der Richter, deutlich auf Abstand geht. Der einstige Junge steht auf der Bühne und erzählt die dramatische Geschichte von der Beerdigungsfahrt als einen seiner vielen derben Späße, die wie vom Fließband aus seinem Mund zu sprudeln scheinen. O-Ton 3 -- Grossman (Overvoice, 1. Sprecher) Ich wusste, die beste Art, den Schrecken dieser tragischen Geschichte zu erzählen, war, sie in Witze zu verpacken, denn nur so würde sie dem Leser und auch mir selbst ermöglichen, durchzuatmen. Sprecherin Die Sprache des Comedian ist grob, es wimmelt vor Anzüglichkeiten, und die Stimmung im Saal ist beklemmend. Der Clown hält dem Publikum den Spiegel vor. O-Ton 4 -- Grossman (Overvoice, 1. Sprecher) Die Öffentlichkeit hier ist sehr gewalttätig, weil Terror und Furcht die Leute verhärtet haben. Sie entwickeln angesichts der Wirklichkeit eine zunehmend dickere Haut. Und wenn er, Dovele, auf vulgäre Art mit ihnen flirtet, dann antworten sie ihm. Es ist ein Tanz, ein Tango, und alle wissen, wie er geht. Er wird die Zuschauer verletzen, und er wird versuchen, sie wieder zu locken. Er kann es sich nicht erlauben, sie zu verlieren. Es gibt eine Linie, die er nicht überschreiten wird. Und sie wissen es. Das ist interessant. Jede Gesellschaft kennt ihre Codes. Beide Seiten wissen, welche Vulgarität und Gewalt ihnen jeweils erlaubt ist... Sprecherin Zoten und Witze zu erzählen, ist eine hohe Kunst, denn Wort und Ton müssen in jedem Moment ?sitzen?. Da Menschen weder pausenlos weinen noch pausenlos lachen können, lebt jeder gelungene Comedy-Abend vom permanenten Registerwechsel. - Lachen hat etwas Anstiftendes, es kommt im Miteinander zustande. Es durchbricht die vorhandenen Codes und Panzerungen, lockt alle Beteiligten aus ihrer Reserve und ist ein Gnadengeschenk, denn im Witz kommt zum Ausdruck, dass der Mensch mehr ist als sein Scheitern. Grossman lässt den Clown auf der Bühne Dinge sagen, die er selbst so in der Öffentlichkeit nicht sagen könnte. O-Ton 5 -- Grossman (Overvoice, 1. Sprecher) Was er über die Siedler, die Rechten, die Linken und die Araber sagt, das könnte sich sonst niemand leisten. Wenn ich das in einem Artikel geschrieben hätte, wäre ich verhaftet worden. Aber Literatur erlaubt das. Musik Sprecherin In einem Café in Tel Aviv treffe ich Omri Herzog, Literaturkritiker der Tageszeitung Haaretz. Als Gedächtnisstütze für seine Auskünfte hat er seinen aufgeklappten Computer neben sich, schließlich ist Grossmans Roman in Israel schon vor einer Weile erschienen: O-Ton 6 -- Omri 3 (Overvoice, 2. Sprecher) Ich denke, David Grossman ist der einzige israelische Autor, der die Aufgabe eines Intellektuellen auf sich genommen hat. David Grossman hat in der Armee seinen Sohn verloren, und das legitimiert seine Äußerungen über die Furcht und die israelische Situation. Sprecherin Furcht sei heute die gemeinsame Grundlage der Gesellschaft, sagt Omri, sie halte das Land zusammen. Wer meint, Grossmans neues Buch sei unpolitisch, irre sich; tatsächlich sei es ein geheimer Sprengkörper. Hier werde vorgeführt, wie nötig es alle im Land hätten, einmal durchzuatmen. 1. Sprecher, Zitat Buch Im Moment ist lachen vor allem ein Vorwand, um zu atmen, Sprecherin heißt es im Buch. O-Ton 7 -- Omri (Overvoice, 2. Sprecher) Wir können es uns nicht leisten, über uns selbst zu lachen. Und das bedeutet Unsicherheit und Furcht. Denn wenn man sich sehr fürchtet, kann man nicht über sich lachen, das geht nicht. Du kannst dann keinen Abstand zu Dir finden, keine ironische Lücke schaffen. Er verbreitet Humor, vielleicht um zu zeigen, dass die Selbstreflektion fehlt. Wenn man lacht, gibt es ein Abstand, und das heißt, man kann Luft holen. 1. Sprecher, Zitat Buch Willkommen Freunde ! Sprecherin ruft Dovele einmal in den Saal hinein. 1. Sprecher, Zitat Buch weiter ?ich sehe hier Leute aus Jerusalem und Beerscheva ...... Sprecherin Einige im Publikum ergänzen, sie kämen aus Ariel und Efrat. 1. Sprecher, Zitat Buch Er stutzt und fragt: Und wer ist dann noch in den Siedlungen und verhaut die Araber? Ach Quatsch, war?n Witz, wir lachen doch nicht über euch, sondern mit euch. Ihr kriegt auch sofort eine Entschädigung! Hier habt ihr zwanzig Millionen Dollar, davon könnt Ihr Sitzkissen und Kaugummis für Euer Baruch-Goldstein-Gemeindezentrum kaufen, benannt nach dem legendären Araber-Entsorger. Das reicht Euch nicht? Kein Problem. Dann nehmt euch eben noch ein Stück Land, eine Ziege, eine Herde ... (.....) Lasst das Land ruhig vor die Hunde gehen ? ach so, habt ihr ja schon!? Sprecherin Der Comedian redet und redet, obsessiv. Er reproduziert die Unbarmherzigkeit einer Gesellschaft, der die Kraft ausgegangen ist, das Leid anderer zu betrachten. O-Ton 8 ? Grossman (Overvoice, 1. Sprecher) Darum wird die Gesellschaft indifferent. Indifferenz gegenüber dem Elend anderer ist eine besonders ausgeklügelte Form der Grausamkeit. Zwar weniger grausam als ein direkter Angriff. Aber gerade das Ignorieren kann so grausam sein. Dabei war unsere Gesellschaft in den ersten Jahren so stolz, wie aufmerksam und sensibel wir waren gegenüber Leid, Ungerechtigkeit, Minderheiten, Behinderten. In den letzten Jahren ist unsere Gesellschaft so gleichgültig und so wenig gewillt, die Wunden der anderen zu betrachten. Die Leute hier sagen, wir haben genug Probleme. Und sie haben ja recht, denn jede Familie hat so viel durchgemacht, und wie viel Schmerz kann man ertragen? MUSIK Sprecherin Dovele, wie jeder gute Comedian, ist ein Seismograph seiner Gesellschaft. Mal schmeichelt er, mal demütigt er. Mal führt er sein Publikum an der kurzen, mal an einer waghalsig langen Leine. Er buchstabiert noch ihre niedrigsten Instinkte durch und bewegt das Publikum dazu, Dinge zu tun, die es gar nicht will. Dabei geht es ihm darum, herauszufinden, wie weit er die Leute in der Hand hat, wie er sie mit seinen Slapsticks zur Masse formen kann. Und sie lassen es lange geschehen - verführt, eingelullt, mitgerissen ? ja, sie sind nach einigem Zögern sogar bereit, ?Applaus für den Tod!? zu rufen, und sie rufen es wieder und wieder. 1. Sprecher, ZITAT BUCH Wie hat er uns zu seinen Geiseln gemacht? Sprecherin lautet eine der vielen, hoch aktuellen Fragen im Buch. Dass der Roman mehr ist als die Wiedergabe der Comedy-Show eines gealterten Stand-Up-Künstlers, der immer noch gekonnt Slang und Worthülsen zu rhetorischen Rattenfängereien zusammenbraut, liegt an der zweiten Hauptperson des Romans. Avishai ist einer der Gäste im Raum ? ein ehemaliger Richter. Minutiös beobachtet er das Geschehen, hält alle Worte und Gesten fest. Er hatte den Comedian in der Jugendzeit gekannt, doch dessen Existenz inzwischen vergessen oder besser: verdrängt. Bis dieser ihn anrief. 1. Sprecher, Zitat Buch Du hast mich ausradiert, Sprecherin: hatte Dovele fassungslos festgesellt. Dann hatte er ihn zu dem Abend eingeladen und um sein Urteil gebeten. Widerwillig hatte Avishai sein Kommen zugesagt, obwohl ihm die Vulgarität derartiger Veranstaltungen zuwider ist. Nun sitzt er im Saal und soll urteilen. Und erweist sich aufgrund seiner Menschenkenntnis als feinsinniger Berichterstatter dieses zunehmend aus dem Ruder laufenden Abends. Einmal kommentiert er: 1. Sprecher, Zitat Buch Ich überlege: dieser Mann ist weder schön noch irgendwie anziehend, wie schafft er es, genau an die Stellen zu rühren, wo Menschen zur Masse werden, zum Pöbel? Sprecherin Die literarische Spannung des Romans liegt auch in dem lautlichen Spiel von hebräisch ?Hok?, dem Lachen, und hebräisch ?Zhok?, dem Gesetz. 1. Sprecher, Zitat Buch ?Für Euch ist doch im Grunde alles nur Stoff, aus dem man Witze machen kann?, Sprecherin hatte der Richter abschätzig kommentiert. Und Dovele hatte geantwortet: 1. Sprecher, Zitat Buch ?Du berührst die Leute und schon machen sie die Beine breit.? Sprecherin Comedy, man spürt es, hat eine fatale Nähe zum Populismus. Dort, wo nicht Sinn und Verstand, sondern Gemeinschaftszwänge gelten, wo Menschen sich bereitwillig manipulieren lassen, wo sie - Verlassene, die sie sind - aufs Reagieren reduziert werden, tut sich zwischen ihnen eine Leere auf. 1. Sprecher, Zitat Buch Stimmt! schreien sie aus heiseren Kehlen. Stimmt, stimmt! Sprecherin Die Leere füllt sich mit Apathie, Verzweiflung, Bitterkeit, Zynismus - oder mit Parolen, mittels derer sich die Verlassenen nur zu bereitwillig in Reih und Glied ordnen. 1. Sprecher, Zitat Buch Pfiffe, Gebrüll, Gelächter. Beifallsrufe, Buhrufe, ?Applaus für den Tod?. Sprecherin David Grossman hat schon viele internationale Preise bekommen, darunter den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In Israel ist er eine gewichtige Stimme, als literarischer Autor, als Kinderbuchautor, als Essayist und als engagierter Friedensaktivist. Anders als jüngere Kollegen wie Edgar Keret, deren Sprache dem um sich greifenden gesellschaftlichen Frösteln Ausdruck verleiht, beharrte Grossman in seinen bisherigen Romanen auf einem verdichteten Hebräisch, das sich aus biblischen wie profanen Schichten der Sprache speiste. Nie war er einfach zeitgenössisch, vielmehr pflegte er eine Sprachauffassung, die auch ästhetisch dagegen angeht, dass Leere und Fühllosigkeit von den Menschen Besitz ergreifen. O-Ton 9 -- Hannah (Overvoice, 2. Sprecherin) Gerade das neue Buch vermittelt solch klaustrophobische Gefühl. Die Stimmen sind dazu da, eine Leere zu füllen. Und dann ist da diese Angst vor einer akustischen Leere, und das genau konnte ich in dem neuen Buch nicht ertragen. Es störte mich, aber das ist auch eine große Qualität. Sprecherin Der Roman Kommt ein Pferd in die Bar ist in ordinärem, teils fehlerhaftem Hebräisch abgefasst. Doch vereinzelt hat Grossman Wendungen aus anderen Sprachschichten hineingeschmuggelt, erzählt die Übersetzerin Anne Birkenhauer: O-Ton 10 -- Anne Birkenhauer Das ist das, was vielen Lesern am Anfang, typischen Grossman-Lesern, sehr schwer fallen wird, sich so einen Text anzutun, der so enorm gewalttätig ist, und so - nicht emotionslos, aber so ohne Mitgefühl. Sprecherin Auch wenn einige Grossman-Leser in Israel bei Erscheinen des Buches vielleicht enttäuscht waren, hat Grossman mit diesem Buch auch neue Leser gewonnen. Endlich tue seine Sprache nicht mehr so, als gäbe es eine intakte Welt, sagen diese. Endlich spiegele sie die bedrohliche Vulgarität der allgegenwärtigen Gewalt. O-Ton 11 -- Anne Birkenhauer Das ist auch etwas, das das Dauerthema bei Grossman ist, wie die Sprache uns abstumpft und wie wir mit der abgestumpften Sprache stillgehalten werden. Ich kenne viele Leute, die mit dem ?gefühligeren Grossman? nicht konnten. Und die jetzt hier den Eindruck hatten, jetzt ist er wirklich in Bestform ? in dieser Distanz gerade, die einen als Grossman Leser so enorm überrascht, erst mal dass man denkt, warum tut er mir das an?keiner der Grossman-Leser würde zu so einem Abend gehen, also warum zwingt er mich hier rein? MUSIK (Sticker Song) Sprecherin Der Literaturkritiker Motty Fogel hat viel israelische Geschichte im Lebensgepäck. Vor einigen Jahren ist sein Bruder mit Frau und Kindern von einem Palästinenser in einer Siedlung ermordet worden. Deshalb hat er Grossmans beide Bücher über den Verlust des Sohnes nicht lesen können, wie er erzählt. Das war ihm zu nahe. Das jüngste Buch hat er gelesen und rezensiert. Aber auch er tat sich schwer mit dem Anfang des Buches. O-Ton 12 ? Motty (Overvoice, 2. Sprecher) Vielleicht, wenn ich jetzt darüber nachdenke, waren die ersten 40 Seiten vielleicht kein Fehler von Grossman, sondern genau das, was er wollte. Ich möchte, dass Ihr Euch ungemütlich fühlt. Du willst eine Grossman-Story, willst berührt und mitgerissen werden? Aber ich will dir keine angenehme Lektüre bereiten. Sprecherin Schmerzhafte menschliche oder politische Prozesse werden in diesem Roman den Lesern als schmerzliche Leseprozesse zugemutet. Der Abend ist ein Wechselbad, mal verschlägt es den Menschen die Lust, mal den Atem. Dass man auf den Dovele-Trip gerät, also anfängt, den Menschen hinter der Comedy-Fassade zu suchen, ist Teil der von Grossman grandios erzeugten untergründigen Spannung. O-Ton 13 ? Grossman (Overvoice, 1. Sprecher) Ich denke, so sehr wir uns auch beim Schreiben bemühen, zu wissen, was wir tun, wenn wir hinterher zurückschauen, was wir geschrieben haben, stellen wir fest, dass es immer einen blinden Fleck gegeben hat. Man mag noch so viele Erkundigungen einholen, noch so tief in der eigenen Seele oder in den Seelen fremder Menschen herumsuchen, das Zentrum des Buches liegt immer in diesem blinden Fleck, und so muss es auch sein. O-Ton 14 -- Motty (Overvoice, 2. Sprecher) Als ich ihn das erste Mal las, war ich in der Armee. Sprecherin so berichtet Motty Fogel, O-Ton 15 -- Motty (Overvoice, 2. Sprecher) Und ich las Stichwort: Liebe, und ich war schockiert, und der Hauptgrund, war, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl hatte, meinen Vater zu verstehen. Sprecherin Sicher ist es vielen im Land so gegangen. O-Ton 16 -- Motty (Overvoice, 2. Sprecher) Es ist ja eine Frage, warum er so populär ist in Israel, denn er ist nicht angenehm zu lesen. Es ist sehr hart, nicht grausam, aber es berührt dunkle Punkte. Vielleicht ist es, weil er viel über Kinder schreibt. O-Ton 17 -- Hannah Aschheim (Overvoice, 2. Sprecherin) Und ich denke, Grossman gelingt es wunderbar, den Standpunkt des Kindes einzufangen, von allen bürgerlichen Nettigkeiten freizumachen. Er berührt das Innerste, die ursprünglichen Gefühle und Ansichten eines Kindes. O-Ton 18 Motty (Overvoice, 2. Sprecher) Viele seiner Charaktere sind Kinder. Das empört mich manchmal, denn es ermöglicht den Leuten vielleicht, die Bücher wie Kinder zu lesen, statt das, was sie lesen, in ihr Leben mitzunehmen. Sprecherin Kindheit, das ist jene Zeit im Leben, als der Zugang zu den eigenen Gefühlen noch nicht gestört war. Nur zu gerne sehnen sich die Leser aus ihrem Erwachsenenleben dorthin zurück. Doch diese Sehnsucht hat eine problematische Seite, sagt Motty: O-Ton 19 ? Motty (Overvoice, 2. Sprecher) Ich denke, die israelische Gesellschaft ist in vieler Hinsicht wie ein Kind. Sie fühlt sich nicht verantwortlich für ihre Taten und sagt sich: Wir haben so viel gelitten, wir sind so jung, wir haben so viele Schwierigkeiten ? und ich würde gerne sagen: Ja, ihr habt gelitten, aber das ist keine Entschuldigung für böse Taten. Sprecherin Tatsächlich spiegeln Doveles Tiraden die Fragilität solcher Art von gesellschaftlichen Übereinkünften. Und tatsächlich sind viele von Grossmans Helden Heranwachsende oder kehren im Laufe der Roman-Handlung in die Kindheit zurück. In der Kindheit ist man noch nicht abgebrüht, sondern schaut mit freien Sinnen auf sich und die Welt. Etwas von dieser Freiheit möchte Grossman in seinen Roman wiederbeleben. O-Ton 20 -- Grossman (Overvoice, 1. Sprecher) Ich glaube, manchmal gibt es ein Ereignis in unserem Leben, für das wir uns schuldig fühlen, weil wir jemandem etwas getan oder gesagt haben oder etwas nicht zur richtigen Zeit taten. Und über die Jahre hat sich dieses Schuldgefühl gewandelt, ist eine ?Lippenbekenntnis? geworden, das wir entrichten für das, was wir getan haben. Und dann brauchen wir das Geschehene nicht mehr zu hinterfragen oder wirklich zu verstehen. Sprecherin Lebenslügen und Lippenbekenntnisse sind Ersatzhandlungen. Mitunter verschanzen sich die Menschen über Jahre dahinter. Manchmal panzern sich auch ganze Gesellschaften auf diese Weise. Die Frage, wie man sich aus den unseligen Fortwirkungen unseliger Taten lösen kann, hat in den letzten Jahren in Israel an Dringlichkeit zugenommen. O-Ton 21 ? Grossman (Overvoice, 1. Sprecher) Es gibt da diese kleinwüchsige Frau, Pitz. Dovele spürt irgendwann, dass da jemand in der Menge sitzt, der nicht lacht. Performer auf der Bühne reagieren offensichtlich sehr empfindlich auf solche ?Enklaven des Widerstands? gegen ihren Humor, und darum guckt er sie an. Warum lachst du nicht? Sind meine Witze schlecht? Und als sie ihm sagt ? aber du warst doch ein guter Junge -- öffnet er sich, wie ein Fels sich öffnet, wenn man ihn an einem bestimmten Punkt trifft. Sprecherin Dovele ist eine verkrachte Existenz. Der Richter Avishai ist verbittert. Das war nicht immer so. Beide leben ein ?Parallelleben?, sagt Grossman. Sie sind vor sich selbst weggerannt und haben den Zugang zu ihrer inneren Wahrheit und zu ihren Möglichkeiten ausgeschaltet. O-Ton 22 ? Grossman (Overvoice, 1. Sprecher) Als ich das Buch schrieb, merkte ich plötzlich, wie viele Menschen, die ich kenne, in einem Parallelleben leben. Ich meine nicht, dass sie ihr ganzes Leben parallel leben. In einigen Aspekten sind sie tatsächlich bei sich. Sprecherin Im Schatten der Shoah aufgewachsen zu sein, prägt Grossmans ganzes Werk, das Gros der Witze, die Dovele im Roman erzählt, ebenso wie das Leben in Israel. Auch Doveles Marotte aus der Kindheit, auf Händen zu laufen, um sich die Gesellschaft und ihre Gewalt vom Halse zu halten, gehört hierher. Es gibt im Roman ein Spiel im Spiel, das in seiner Bildmacht Shakespearesche Qualitäten hat. Es ist die Geschichte von Dovele und seiner Mutter, die, als KZ-Überlebende nach Israel entkommen, trotz Mann und Kind nicht wirklich ins Leben zurückgefunden hat. 1. Sprecher, Zitat Buch Ihr müsst euch das vorstellen, sie war ja fast ein halbes Jahr eingeschlossen in einem kleinen Kabuff in einer Eisenbahn, wo sie eigentlich Farben und Öl lagern und wo man weder stehen noch sitzen konnte, also, die hat Sachen erlebt, und auf dem Arm, auf beiden Armen ? er dreht uns seine dünnen Unterarme zu ? hatte sie so feine Narben, eine ganz aparte Art Venenstickerei, -- Kunsthandwerk vom Feinsten, hatten sie im Krankenhaus Bikkur Cholim gemacht. Sprecherin Tagsüber arbeitet die Mutter in der Munitionsfabrik, aber jeden Nachmittag, nach Feierabend, muss Dovele sie am Bus abholen und unversehrt nach Hause begleiten. Um zu verhindern, dass die Leute seine depressive Mutter schief ansehen, läuft er auf Händen neben ihr her und, zu Hause angekommen, spielt er für sie ganz privat den Clown. O-Ton 23 ? Grossman (Overvoice, 1. Sprecher) Er fühlte diese verzweifelte Notwendigkeit, sie zum Lachen zu bringen, sie durch Lachen ins Leben zu bringen, und jeden Abend gab es diesen Moment, wo er das Gefühl hatte, er hätte sie verloren. Dann sprach er immer schneller und wollte immer noch witziger sein, das war der verzweifelte Akt eines Stand-up-Comedian. Und in gewisser Weise wiederholt der erwachsene Dovele vor dem Publikum diese Erfahrung, als wollte er, dass die Leute sich abwenden. Sprecherin Was als Rettungsaktion der selbstmordgefährdeten Mutter begann, ist zur Obsession seines Erwachsenenlebens geworden. Man fragt sich, ob es Parallelen gibt zwischen der Mutter, dem Publikum und der gesamten israelischen Gesellschaft. O-Ton 24 -- Grossman (Overvoice, 1. Sprecher) Ja, ich denke, dass wir eine selbstmörderische Gesellschaft sind. Vor allem in den letzten Jahrzehnten. Ich spüre, wie sehr wir gegen unsere existenziellen Instinkte und unsere existenziellen Interessen handeln. Und das Israel, das wir uns auf diese Weise schaffen ? indem wir tun, was wir tun, und ignorieren, was wir tun müssten - ist ein völlig anderes, als das Israel, das ich früher kannte und mir so erhofft hatte. Und die Aggression der Leute im Saal von Netanja und der Leute, die man hier tagtäglich auf der Straße sieht, rührt zu Teilen daher, dass alle spüren, dass wir in eine falsche, eine zerstörerische Richtung gehen und uns vielleicht nicht mehr retten können. Das ist das Gefühl. Sprecherin Anne Birkenhauers Übersetzung spielt großartig auf der Klaviatur der Grossmannschen Sprache. So sehr man sich anfangs als Leser herausstehlen und das Buch weglegen möchte, so sehr wird man hineingezogen in die Gemengelage, die der Israelischen Gesellschaft einen Spiegel vorhält. Der Roman ist bei aller Zartheit, die durchscheint, finster und explosiv und auf diese Weise vollständig auf der Höhe nicht nur der israelischen Wirklichkeit. Dieses Buch dürfte nach Eine Frau flieht vor einer Nachricht Grossmans Ruf als bedeutendste literarische Stimme Israels weiter festigen. 2