Sonntag, 29. Dezember 2013 (20:05-21:00 Uhr), KW 52 Deutschlandfunk / Abt. Musik und Information FREISTIL Die Geschichte der Zukunft Vom Nachdenken über das Morgen Von Regina Kusch und Andreas Beckmann Regie: Philippe Bruehl Redaktion: Klaus Pilger Deutschlandfunk 2013 M a n u s k r i p t Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - ggf. unkorrigiertes Exemplar - Musik 1 Also sprach Zarathustra Darauf: O-Ton 1 (Countdown Raketenstart) Ten ... Nine ... Eight ... O-Ton 2 Oskar Negt Die Menschen machen sich ihre Träume von dem, wie es sein sollte. O-Ton 3 (Countdown Raketenstart) Seven ... Six O-Ton 4 Rolf Giesen Es ist ... nichts, aber auch gar nichts realisiert worden. O-Ton 5 (Countdown Raketenstart) Five ... Four O-Ton 6 Lucian Hölscher Natürlich gab es immer schon eine Zukunft, aber für die Zeitgenossen war das keine Dimension ihres eigenen Denkens. O-Ton 7 (Countdown Raketenstart) Three O-Ton 8 Henrike Girmond Für uns war festzustellen, dass Zukunftsvorstellungen mehr mit der jeweiligen Gegenwart als mit Zukunft zu tun haben. O-Ton 9 (Countdown Raketenstart) Two O-Ton 10 Rolf Giesen Man wollte gar nicht in die Zukunft, man wollte in eine bessere Vergangenheit. O-Ton 11 (Countdown Raketenstart) One ... Ignition and Lift off! (Rakete startet) Musik, darauf Programmsprecher (Stimme beim Hauptitel computer-verfremdet) Die Geschichte der Zukunft Vom Nachdenken über das Morgen Ein Feature von Regina Kusch und Andreas Beckmann O-Ton 12 Lucian Hölscher Die Zukunft ist eine Erfindung, aber sie ist auch eine Entdeckung. Sprecherin Welche Erwartungen haben Menschen heute an die Zukunft, welche hatten sie in früheren Zeiten? Bis vor etwa 400 Jahren gar keine, lautet die verblüffende Antwort des Bochumer Historikers Lucian Hölscher. O-Ton 13 Lucian Hölscher Die Menschen haben damals nur sehr kurze Zeiträume überblickt und hatten die Vorstellung, dann wird irgendwann das Ende der Zeiten kommen, dann kommt der Jüngste Tag, das Jüngste Gericht, das stand im Grunde immer relativ nah bevor. Dass sich der Zeithorizont der Zukunft erweitert hat, ist eine Sache, die erst in der Neuzeit eingesetzt hat, im 17., 18. Jahrhundert. Sprecherin Bis dahin schien die Zeit still zu stehen. Die Kinder traten in die Fußstapfen der Eltern und durchlebten das Gleiche wie diese: die sich ewig wiederholende Abfolge der Jahreszeiten, die immer gleiche Routine von Saat und Ernte, die stets wiederkehrenden kirchlichen Feiertage. Das Gefühl, in einer nicht enden wollenden Gegenwart zu leben, ließ sich durch nichts erschüttern. O-Ton 14 Lucian Hölscher Es gab natürlich am Ende der Zeiten das Versprechen, dass das Reich Gottes kommen würde, aber das war eine andere, mythologische Zeit, die die Weltzeit des Heute umgab und die etwas vollkommen Neues bringen würde. Zitator (auf Raumfahrtklänge) Welches wird das Zeichen sein deiner Zukunft und der Welt Ende? Jesus antwortete ihnen: Seht zu, dass euch niemand verführe! Wer ausharrt bis ans Ende, der wird gerettet werden. Der Herr wird seine Engel aussenden und sie werden zusammenführen seine Auserwählten von einem Ende des Himmels bis zum anderen. Sprecher: Matthäus, Evangelist, etwa 70 nach Christus Sprecherin Dass Gott die Seinen möglichst bald erlösen möge - auf mehr konnte selbst ein rebellischer Theologe wie Martin Luther nicht hoffen. Dass sich im Diesseits die Lebensverhältnisse grundlegend ändern würden, hat der sprachgewaltige Reformator nicht erwartet. O-Ton 15 Lucian Hölscher Die Sprache ist immer ein ganz guter Indikator für Möglichkeiten, was man auch denken kann. Im Deutschen gibt es eigentlich weder eine Verbform des Futur im Mittelalter, das ist eine Erfindung der Neuzeit, dem Lateinischen nachgebildet. Im Lateinischen und Griechischen in der Tat gibt es eine Verbform des Futur schon in der Antike, aber andere Sprachen verfügen über diese Form gar nicht. Sprecherin Das Futur brauchte niemand, so lange das Zukünftige etwas Jenseitiges blieb, über das nur die Kirche Aussagen treffen durfte. Und die verkündete, Gott habe die Welt in sechs Tagen geschaffen. Da aber für ihn ein Tag wie tausend Jahre sei, werde die Schöpfung 6000 Jahre währen. 4000 davon, so glaubten die Schriftgelehrten, waren schon vor Christi Geburt vergangen, etwa im Jahr 2000 sei daher mit dem Ende der Zeit zu rechnen. Ausgangs des Mittelalters begann das kirchliche Weltbild zu wanken. Amerika wurde entdeckt, eine neue Welt, von der in der Bibel nichts stand. Und auf den Gipfeln der Hochgebirge fanden sich Muschelschalen, die darauf hindeuteten, dass es dort vor Zehntausenden von Jahren Ozeane gegeben hatte und die Erde wohl doch älter war als bisher gedacht. Da lag die Idee nahe, dass auch die Zeit der Menschen durchaus länger bemessen sein könnte. Zitator (auf Raumfahrtklänge) Warum ist's nicht gut, sein künftiges Schicksal in diesem Leben vorauszuwissen? Wenn es der Ratschluss, die Fügung, das Werk der höchsten Weisheit und Güte selbst ist, warum nicht? Diese zu wissen, so bald und ganz als möglich, sollte man glauben, kann nie schaden. Sprecher Gottfried Herder, Theologe, 1797 Sprecherin Schon Thomas Morus hatte 1516 in seinem Buch "Utopia" Grundzüge einer idealen Gesellschaft beschrieben. Aber erst mit der Aufklärung begann die große Zeit der sozialen Zukunftsentwürfe, die bessere Zeiten schon im Diesseits versprachen. Von Lessing bis Rousseau, von Adam Smith bis Karl Marx verhießen dann große Denker den Sieg der Vernunft, Freiheit in der Demokratie, Wohlstand durch offene Märkte oder Gerechtigkeit im Sozialismus. Diese Zukunftseuphorie wurde bald noch gesteigert in der Kunst. Richard Wagner nannte seine innovativen Kompositionen Zukunftsmusik, in den phantastischen Romanen von Jules Verne konnte der Mensch fliegen, und später, im 20. Jahrhundert, bei Erich Kästner sogar mobil telefonieren. Zu dieser Zeit kam für solche phantastischen Geschichten schon die Bezeichnung Science Fiction auf. Filmausschnitt 1 Raumpatrouille Orion Was heute noch wie ein Märchen klingt, kann morgen Wirklichkeit sein. Hier ist ein Märchen von übermorgen. Es gibt keine Nationalstaaten mehr, es gibt nur noch die Menschheit und ihre Kolonien im Weltraum. Mit heute noch unvorstellbarer Geschwindigkeiten durcheilen Raumschiffe unser Milchstraßensystem. Eins dieser Raumschiffe ist die Orion. Begleiten wir die Orion bei ihrem Patrouillendienst am Rande der Unendlichkeit. (Musik weiter) O-Ton 16 Henrike Girmond (auf Musik "Orion") Wir zeigen in der Ausstellung "Science Fiction in Deutschland", dass die Zukunftsvorstellungen immer ein Spiegel der jeweiligen Zeit sind. Der jeweiligen Krisen, Hoffnungen, Ängste, die in politischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Hinsicht bestanden haben. Sprecherin Für Henrike Girmond hat Science Fiction nicht viel mit Zukunft zu tun. Beim Raumschiff Orion sah man das schon daran, dass die Kommandobrücke ein damals handelsübliches Rowenta-Bügeleisen zierte, das selbstverständlich hochkomplexe Kommunikationsfunktionen erfüllte. Aber wie sonst hätte sich die Zukunft fabrizieren lassen als aus den Versatzstücken der Gegenwart? Und warum sonst sollten Menschen über die Zukunft nachdenken, wenn nicht um die Probleme ihrer Gegenwart zu lösen? Atmo 2 Allgemeine Ausstellungsatmo Sprecherin In den Ausstellungs-Räumen im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig werden die wichtigsten Science Fiction-Produktionen vorgestellt, die das deutsche Publikum seit den 20er Jahren erlebt hat. O-Ton 17 Henrike Girmond Wir sind jetzt in den 1950er Jahren angekommen, im Atomzeitalter. Wir haben die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki zeitlich hinter uns und diese Katastrophen spiegeln sich auch ganz deutlich in den Filmen wider. Filmausschnitt 2 Das letzte Ufer (On the beach), Monolog mit leiser Musik und Geräuschen) Es begann in dem Moment, als man das idiotische Prinzip aufstellte, der Frieden könne bloß erhalten werden, indem man ihn mit Waffen verteidigte, mit Superbomben, die kein Volk einsetzen konnte, ohne Selbstmord zu begehen. So baute jeder seine Atombomben und Gegen-Bomben und Gegen-Gegen-Bomben. Und eines Tages wuchsen uns die Erfindungen über den Kopf. Und ich hab mitgeholfen, sie zu bauen. O-Ton 18 Henrike Girmond Da die Menschheit ja im Begriff war, sich selbst zu vernichten, hat man da auf Hilfe von oben gehofft, von einer höheren Macht, um dieses menschliche Nicht-Miteinander auch klären zu können. Ich sehe durchaus religiöse Anklänge. Auch mit Titeln wie "Der jüngste Tag", der hat ja auch religiöse Anklänge, oder auch bei Metropolis, das Zitat "Der Turmbau von Babel", also biblische Zitate werden ja immer wieder in der Science Fiction auch aufgegriffen. O-Ton 19 Rolf Giesen Es war ein Religionsersatz. Sprecherin Für den Filmhistoriker Rolf Giesen ist die Analyse klar. Nicht nur, weil viele Science Fiction-Autoren sich selbst als religiös geoutet haben und einer ihrer Pioniere, Ron Hubbard, bald sogar seine eigene Kirche gründete, die "Church of Scientology". Sondern auch, weil das Publikum der 1950er Jahre skeptisch gegenüber Utopien geworden war und sich wieder nach Erlösungsphantasien sehnte. Aber dasselbe Publikum wollte auch ernst genommen werden in seinem Anspruch, aufgeklärt zu sein. O-Ton 20 Rolf Giesen Der christliche Gott war ja so aus dem Mittelalter, Adam und Eva ging nicht mehr. Zweifel wurden auch an der historischen Existenz von Jesus Christus geäußert, da musste man was Neues, was Zeitgemäßeres setzen, was technologisch war, und diesen Zweck erfüllten Leute wie Ron Hubbard, und die Ufo-Bewegung. Bringen sie den Tod, hieß es, oder sind das Erleuchtete aus dem All, also Weltraum-Messiase? Der Messias kommt aus dem Weltraum mit dem Ufo und sagt, ihr macht das alles falsch, ihr Menschen, ihr müsst das besser machen. Filmausschnitt 3 Wir kommen zu Ihnen in friedlicher Absicht. Welchem Umstand verdanken wir Ihren Besuch? Wir haben durch wissenschaftliche Beobachtung festgestellt, dass man sich jetzt hier auf der Welt für die Entwicklung der Atomenergie stark einsetzt. Ja, das ist richtig. Aber bald wird die eine oder andere Nation Weltraumschiffe mit Atomenergie bauen. Die Folge wäre eine Gefährdung des Friedens und der Sicherheit anderer Planeten. Dazu werden wir es niemals kommen lassen. O-Ton 21 Rolf Giesen Der erste Film dieser Art war "Der Tag, an dem die Erde stillstand" 1951 von Robert Wise, das ist fast erzählt wie das Neue Testament, mit Landung, also auf die Erde kommen, Kreuzigung, Wiederauferstehung, alles taucht auf, all das taucht auf im Science Fiction-Gewand. Sprecherin Science Fiction griff jene Ängste auf, die das Wettrüsten hervorgerufen hatte. Trotzdem oder gerade deshalb hält Rolf Giesen das Genre für Propaganda eines militärisch-industriellen Komplexes, den seit den 1950er Jahren auch der damalige US-Präsident Eisenhower hinter den Kulissen von Politik und Gesellschaft am Werk sah. "Raumpatrouille Orion" etwa, glaubt Giesen, sei ein Werbefeldzug von Raketenbauern gewesen, die einst in Peenemünde für Hitler Wunderwaffen konzipiert hatten und nach dem Zweiten Weltkrieg im Sold der US Air Force oder der Nasa standen. O-Ton 22 Rolf Giesen Die Serie wurde hergestellt für das Fernsehen in den Studios der Bavaria in München und der Betriebsleiter der Bavaria war in Peenemünde gewesen. Er hatte immer noch Kontakte zu Wernher von Braun. Von Braun gab seinen Rat und auch ein besonderes Filmmaterial, mit dem spezielle Szenen gefilmt wurden. O-Ton 23 Mondlandung (Rauschen, dann Neil Armstrong:) That's one small step for a man, one giant leap for mankind. O-Ton 24 Rolf Giesen Und dann war es 1969 abgehandelt. Alle verfolgten am Bildschirm die Mondlandung es gab die 68er Bewegung und die reflektierten die Utopie auch als Dystopie, also die negativen Folgen, die eine falsche Politik nach sich ziehen würde. Musik 2 Zager & Evans: In the Year 2525 Now it's been 10,000 years Man has cried a billion tears For what he never knew Now man's reign is through But through the eternal night The twinkling of starlight So very far away Maybe it's only yesterday In the year 2525 If man is still alive If woman can survive They may find Zitator (auf Raumfahrtklänge) Manch einer erwartet noch etwas von der Zukunft, aber die Zahl derer, die sich fürchten, nimmt zu. Sprecher Ossip K. Flechtheim, Zukunftsforscher, 1987 O-Ton 25 Harald Welzer Die Verunsicherung in der Gesellschaft ist so groß, wie sie in der Nachkriegszeit noch niemals gewesen ist. Sprecherin Wie reagieren Menschen in gesellschaftlichen Umbruchphasen, wenn alte Gewissheiten plötzlich nicht mehr gelten, wenn sich in Extremsituationen moralische Maßstäbe verschieben? Mit dieser Frage hat sich der Sozialpsychologe Harald Welzer jahrelang beschäftigt. "Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden" hieß eine seiner bekanntesten Studien. Sie handelte von Männern, die sich im Zweiten Weltkrieg an Massakern beteiligten, obwohl sie vorher niemals als Gewalttäter aufgefallen waren. "Klimakriege" nannte Welzer ein anderes Buch, denn er sieht den Klimawandel nicht nur als Naturkatastrophe. Er glaubt, dass seine absehbar verheerenden ökologischen Folgen die Menschheit in neue Kriege stürzen werden. Kriege, in denen wieder viele ihre Moralstandards vergessen könnten und in denen Grundrechte verloren gehen dürften. Schuld an dieser Entwicklung sei das westliche Kulturmodell und der damit verbundene Lebensstil, der zwar fast auf dem gesamten Globus mit Begeisterung nachgeahmt werde, der aber alles andere als zukunftsfähig sei. O-Ton 26 Harald Welzer Unser komplettes Kulturmodell ist ein expansives Modell. Es stellt darauf ab und verinnerlicht in jeder Person die Vorstellung, dass Zukunft darin besteht, dass von allem immer mehr da ist und dass man tatsächlich von allem immer mehr haben kann. Sprecherin Aber wie lange noch? Harald Welzer meint, die Menschheit habe ihre Zukunft vielleicht schon hinter sich, habe sie quasi verbraucht oder mit den fossilen Energieträgern verpulvert. Und die Programme der Parteien, egal ob rechts oder links, liefen immer nur auf neues Wachstum hinaus, und könnten deshalb keine Perspektive mehr eröffnen. O-Ton 27 Harald Welzer Das gilt für die Perspektiven im Bereich von Umweltproblemen, vom Artensterben, Lage der Ozeane, das Bewusstsein ist wahnsinnig groß und das drückt sich darin aus, das können wir in Umfragen sehen, dass man bis in die 1980er Jahre hinein immer die Vorstellung hatte, Zukunft wird besser als die Gegenwart. Das hat sich mittlerweile umgekehrt, wir haben mittlerweile Umfragedaten, wo nur noch 13 Prozent der Bevölkerung der Auffassung sind, ihren Kindern wird es mal besser gehen als ihnen, das ist ganz neu, das haben wir so noch nicht gehabt. Musik 3 Sex Pistols: God save the Queen When there's no future how can there be sin We're the flowers in the dustbin We're the poison in the human machine We're the future, your future! There is no future in England's dreaming! Zitator Das Bevölkerungswachstum übersteigt unweigerlich das Wachstum der Nahrungsmittelproduktion. Das Schicksal des vorzeitigen Todes Vieler wird die Menschheit deshalb immer wieder in der einen oder anderen Form ereilen. Hier liegt nicht nur eine ewige Quelle des Elends für die Menschheit, sondern eine unüberwindliche Grenze, über die hinaus keine Verbesserung möglich wäre. Sprecher Thomas Malthus, Ökonom, 1798 Sprecherin Für Soziologen ist es nicht überraschend, dass von Zeit zu Zeit große Gruppen von Menschen oder sogar komplette Gesellschaften für ihre Zukunft schwarz sehen. Als sich im 19. Jahrhundert die Bevölkerungszahlen in Europa mehr als verdoppelten, machte sich auch unter Intellektuellen die Ansicht breit, ein Volk ohne Raum sei ein Volk ohne Zukunft und deshalb müsse man fremde Kontinente besiedeln und Kolonien gründen. Aus Angst vor der einen Katastrophe lief die Menschheit in eine andere und ließ sich zu monströsen Verbrechen und Kriegen hinreißen. Aber immerhin gab es noch jedes Mal die Gelegenheit, neu anzufangen. Dazu könnte es heute zu spät sein: die Schulden - müssen kommende Generationen zurückzahlen, den Atommüll - müssen kommende Generationen irgendwie verwahren, die Erderwärmung - müssen kommende Generation hinnehmen, weil die CO2-Gase von heute Jahrzehnte wirksam bleiben. O-Ton 28 Lucian Hölscher Das ist ein Bild, dass die Zukunft eine knappe Ressource ist. Sprecherin Wenn man in Zukunft über die Zukunft nachdenken will, sagt der Historiker Lucian Hölscher, dann muss man nicht nur davon sprechen, was man schaffen will, sondern auch davon, was man vermeiden will. O-Ton 29 Lucian Hölscher Dass man sie nicht einfach als einen offenen Raum, in dem alles möglich ist, betrachtet, sondern dass es eine Art von Ökonomie der Zukunft geben muss, indem wir dafür sorgen müssen, dass es noch Gestaltungsspielräume gibt, damit wir nicht nur präformierte Leben leben, in denen wir bei Strafe unseres Untergangs das tun müssen, was vorgezeichnet ist. Das ist etwas, was heute den Zukunftsbegriff sehr färbt und ihm eine weniger optimistische Bedeutung gibt. O-Ton 30 Oskar Negt Nur noch Utopien sind realistisch. Sprecherin Oskar Negt, der Altmeister der kritischen Soziologie in Deutschland, Jahrgang 1934, lässt sich die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht nehmen. O-Ton 31 Oskar Negt Wenn ich mal eine Kurzdefinition wagen darf: Utopie ist die Kritik des Bestehenden als das, was unerträglich ist oder erscheint mit dem bewussten Willen, die Verhältnisse zu verändern, d.h. es ist ein Prozessbegriff, die Utopie. Die Utopien sind für mich nicht gesellschaftliche Gesamtkonstruktion nur, sondern Alltagsangelegenheiten, die Traumphantasien der Menschen, wie die Welt sein soll, wie ihr Leben gestaltet sein soll. Sprecherin Nur wenn Menschen eine Vision von einer besseren Zukunft besitzen, entwickeln sie die Kraft, ihre alltäglichen Lebensverhältnisse zu verändern und zu verbessern. Davon ist Oskar Negt überzeugt und zur Begründung verweist er auf die großen Aufbrüche der Geschichte. Die parlamentarische Demokratie wurde erstritten von einem Bürgertum, das beseelt war von Ideen wie nationaler Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Der Achtstundentag, Sozialversicherungen und angemessene Löhne wurden von einer Arbeiterbewegung erkämpft, die an eine sozialistische Alternative zur Klassengesellschaft glaubte. Heute aber, so Negt, dominiere ein ebenso freudloses wie ermüdendes Krisenmanagement, das jegliche Phantasie ersticke. O-Ton 32 Oskar Negt Gegenwärtig ist ja Alternativlosigkeit die eigentliche Ideologie und das blockiert natürlich einen gesellschaftlichen Entwicklungszusammenhang in den verschiedenen Bereichen. Ich plädiere ja dafür, dass die Menschen sich empören, aber Empörung reicht nicht alleine aus, die verfliegt. Atmo 3 Gefängnisgeräusche (Schließen, Eisentüren, Kontrollgang) Sprecherin In der Haftanstalt Tegel im Norden Berlins kann einen das Gefühl beschleichen, die Erfindung der Zukunft habe noch gar nicht stattgefunden. Vor allem in Haus 5, wo die sogenannten Langstrafer sitzen, fragen sich viele Männer, ob sie überhaupt noch eine Zukunft haben. Sie leben in einem sich endlos wiederholenden Kreislauf aus morgendlichem Wecken, drei Mahlzeiten, gelegentlichem Hofgang und abendlichem Einschluss. O-Ton 33 Hauke Ich bin sogar der Meinung, ich habe hier drinnen mehr Freiheiten als draußen, weil ich muss mich um nichts kümmern, das ist einfach so und habe eine Menge Zeit über mich nachzudenken, das hat mir draußen immer gefehlt. Sprecherin Hauke beteiligt sich an einem sokratischen Gesprächskreis, den zwei Philosophen leiten, die alle 14 Tage als Besucher ins Gefängnis kommen. Die Sitzungen strukturieren sie nach einer Methode, die auf Sokrates zurückgeht: Jeder erzählt alltägliche Geschichten aus seinem Leben und gemeinsam versuchen dann alle, daraus allgemeingültige Schlussfolgerungen zu ziehen. O-Ton 34 Willy Ganz einfach: Der Sinn des Lebens ist, dem Leben einen Sinn geben. Wenn ich dem keinen Sinn gebe, dann, das ist wirklich der Sinn des Lebens, man muss dem selber einen Sinn geben. Sprecherin Nicht nur für Willy ist das eine relativ neue Einsicht, sondern - historisch gesehen - für die gesamte Menschheit. Vor der Entdeckung der Zukunft, als der Sinn des Lebens im Eintritt ins Himmelreich bestand, hatte niemand die Idee, eine eigene Biografie zu besitzen, etwas aus seinem Leben machen zu können und zu sollen. In einer geschlossenen Anstalt kann einem diese Vorstellung wieder fremd werden. Hauke hat vielleicht zehn Jahre ohne einen Gedanken an eine persönliche Zukunft verbracht. O-Ton 35 Hauke Ich möchte hier aus der Haft raus. Deshalb hat Zukunft im Moment gerade große Bedeutung für mich, weil ich quasi den Schritt in Lockerungen, der muss jetzt anstehen. Mache ich mir Gedanken darum, um meine Zukunft zu gestalten und das beansprucht einen erheblichen Anteil meiner täglichen Zeit. Der nächste Tag kann schon die ganze Geschichte umdrehen, das musste ich auch leidvoll erfahren, so einige Mal. Sprecherin Der Moment, in dem sich seine Geschichte drehte, war jenes Gewaltverbrechen, für das er zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Weil aber nach etwa 15 Jahren eine Strafvollstreckungskammer eine vorzeitige Entlassung prüfen wird, hat Hauke als Mittfünfziger eine kleine Chance auf eine Zukunft, über die nachzudenken es sich für ihn lohnt, weil er sie selbst bestimmen könnte. Willy, der vor kurzem 80 geworden ist und für den das Gericht nach Haftende Sicherungsverwahrung angeordnet hat, hat diese Hoffnung fast völlig verloren. O-Ton 38 Willy Ich habe ein gutes Leben gehabt und bin sehr zufrieden mit meinem Leben. Ich bin aus einer guten Familie und habe immer gut gelebt und musiziert und Freunde gehabt. Ich betrachte das praktisch schon fast als Lebensende, egal was mir jetzt noch passiert. Sprecherin Ohne jede Aussicht auf eine Zukunftsperspektive kann aber niemand leben, fügt Willy noch hinzu. O-Ton 39 Willy Man hofft immer, aus den letzten Jahren noch etwas zu machen, das Beste draus zu machen. So einfach ist das (lacht). Zitator (auf Raumfahrtklänge) Sie wird gewiss kommen, die Zeit der Vollendung, da dem Menschen sein Verstand genügt, da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist. Der Schwärmer wünscht diese Zukunft beschleuniget; und wünscht, dass sie durch ihn beschleunigt werde. Sprecher Gottfried Ephraim Lessing, Dichter, 1780 Musik 4 Bob Dylan: The Times they are a changing Come mothers and fathers Throughout the land And don't criticize What you can't understand Your sons and your daughters Are beyond your command Your old road is Rapidly agin'. Please get out of the new one If you can't lend your hand For the times they are a-changin'. Sprecherin Die großen Zukunftsentwürfe entstanden oft dann, wenn nicht nur Einzelne, sondern ganze soziale Gruppen etwas Besseres aus ihrem Leben machen wollten. Meist waren es Vertreter einer jungen Generation. Meist glaubten sie, ihr Zukunftsentwurf bedeute einen epochalen Fortschritt für die gesamte Menschheit. Meist ging ihnen bei der Umsetzung der Ideen die Luft aus. O-Ton 40 Lucian Hölscher Das setzt ein mit diesen großen philosophischen Zukunftsentwürfen des ausgehenden 18. Jahrhunderts und dann gibt es ab 1830 einen neuen politischen Aufbruch, der v.a. in Verfassungen in Europa einen großen Nachklang hat, weil damals die Demokratie als die Verfassungsform der Zukunft entwickelt wird. In Zukunft werden alle Gesellschaften nur noch Demokratien sein. Sprecherin Doch schon zwei Dekaden später konstatiert der Historiker Lucian Hölscher dann einen allgemeinen Katzenjammer. Nach der gescheiterten 48er Revolution scheint die Idee der Demokratie nicht nur in Deutschland erledigt. Weil sich zudem die soziale Frage in ganz Europa immer mehr zuspitzt, rechnen nicht wenige mit einem baldigen Zusammenbruch der Gesellschaft. Utopien entwickeln jetzt allenfalls noch die Sozialisten. Aber gegen Ende des Jahrhunderts hellt sich die Stimmung dann allgemein wieder auf. O-Ton 41 Lucian Hölscher 1890, da kommt dann vielleicht die stärkste Zukunftseuphorie, die sich in alle Bereiche der Gesellschaft verbreitet. Überall werden alle Lebensbereiche auf Zukunft hin organisiert. Sprecherin Zwischenzeitlich steigert sich die Begeisterung geradezu in Zukunftsbesoffenheit. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts glauben Bürgerliche wie Sozialisten, der heraufziehende Weltkrieg werde zur Entscheidungsschlacht um die Zukunft. Die einen erwarten den endgültigen Zusammenbruch von Adel und Feudalherrschaft, die anderen wollen bei der Gelegenheit gleich das Bürgertum und den Kapitalismus mit beseitigen. De facto bringt der Krieg dann vor allem bis dahin unvorstellbares Grauen. Aber beide Lager wähnen sich als Gewinner, die einen, weil tatsächlich große Monarchien stürzen, die anderen, weil die Gründung der Sowjetunion ihnen wie der Auftakt zur Weltrevolution erscheint. So werden die 1920er Jahre zum vielleicht zukunftsfreudigsten Jahrzehnt der jüngeren Geschichte. O-Ton 42 Lucian Hölscher In der Kunst können wir beobachten, wie ganz neue ästhetische Mittel entdeckt wurden, um der Zukunft ein Gesicht zu geben. Beispiel: In der Architektur, bis dahin kannte man im Grunde genommen im Historismus drei Stile, das war der klassische, der romanische und der gotische Stil. Die hat man gemischt und das war's im Grunde genommen. Und jetzt beginnt, zuerst mit dem Jugendstil und dann mit dem Bauhaus eine Art von neuer ästhetischer Sprache, die war dezidiert dafür da, der zukünftigen Architektur ein neues Gesicht zu geben. Ein zweites Beispiel, die Erfindung des modernen Designs. Es werden eine bestimmte Ästhetik, ein bestimmtes Design entwickelt, das nur dafür da ist, um dieses Produkt als modern und zukünftig gewissermaßen darzustellen. Dazu gehört z.B. die Stromlinienform. Sprecherin Spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg werden auch diese Träume zerstört. Nach dessen Ende schreibt George Orwell mit "1984" die wohl berühmteste negative Utopie. Aber kaum sind die Trümmer weggeräumt, nimmt ein neuer Aufbruch in den 1960er Jahren die Vorkriegs-Themen wieder auf: von Politik und Gesellschaft über die Mode bis hin zum Geschlechterverhältnis sollen alle Lebensbereiche umgestaltet werden. Seit den 1970er Jahren verdüstern dann Massenarbeitslosigkeit, Umweltzerstörung und der Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums die Perspektive. O-Ton 43 Lucian Hölscher Die Zyklen der Zukunftseuphorie und Zukunftsdepression, das ist eine zyklische Bewegung, die etwa im Ablauf von zwei Generationen, also 60, 70 Jahren seit dem 18. Jahrhundert sich vollzieht. Warum ist das so? Es gibt vielleicht einen Grund: Wenn eine Generation einmal große Horizonte aufgemacht hat, dann kann es kaum ausbleiben, dass die nächste Generation wenigstens entdeckt, dass das z.T. alles nicht realisierbar ist, oder dass das, was so positiv geschildert worden ist, doch so viele Nachteile in sich einschließt, dass man eher aufpassen muss, zu viel Zukunftseuphorie walten zu lassen. Sprecherin Ließe sich dieses Zyklenmodell fortschreiben, dann wäre schon in wenigen Jahren mit einer neuen Euphoriewelle zu rechnen. Aber so weit will Lucian Hölscher nicht gehen, nicht nur, weil er meint, Historiker sollten die Finger von Prognosen lassen. Sondern auch, weil vieles darauf hindeutet, dass sich die großen Zukunftsentwürfe verbraucht haben könnten. Musik 5 Hymne der DDR Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lasst uns Dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, und wir zwingen sie vereint, denn es muss uns doch gelingen, dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint, über Deutschland scheint. Sprecherin Die DDR hat sich selbst als Staat gewordener Zukunftsentwurf der deutschen Kommunisten verstanden. Dass sie in den Anfangsjahren alles andere als ein Paradies für Arbeiter und Bauern war, hat nicht einmal ihre Führung abgestritten. Umso mehr war sie bemüht, ihre Bevölkerung auf ein kommendes goldenes Zeitalter zu vertrösten, wenn wichtige Fortschritte auf dem Weg zum Sozialismus geschafft sein würden. Und dass es solche Fortschritte tatsächlich gab, das versuchten die Genossen damit zu belegen, dass das sozialistische Lager beim Wettlauf im All gegenüber dem Westen lange die Nase vorn hatte. O-Ton 44 Henrike Girmond Wer das Weltall beherrscht, der beherrscht auch die Erde. So war das Credo der damaligen Zeit. Wir haben eine Losung zum 1.Mai 1961 im SED-Parteiorgan "Neues Deutschland" gefunden, diese Losung hieß "Im Kosmos rote Fahnen wehen, derweil die Amis baden gehen". Sprecherin Henrike Girmond hat im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zahlreiche Belege dafür gesammelt, dass diese Propaganda eine Zeit lang durchaus verfing. O-Ton 45 Henrike Girmond Die Weltraumbegeisterung war in der DDR allgegenwärtig und wurde von der SED auch gefördert. Wir haben eine Küchenmaschine mit dem schönen Namen "Komet", aus einem damals futuristischen Material gebaut, nämlich Plaste. Plastik oder Plaste, wie es im Osten hieß, war ja das zukunftsweisende Material der 60er Jahre, leicht, bruchfest, geschmacksneutral und wurde im Haushalt mehr und mehr eingesetzt und hat nicht umsonst diesen zukunftsweisenden, zukunftsoptimistischen Namen "Komet" bekommen. Sprecherin Am Ende waren die Amerikaner zwar vor den Sowjets auf dem Mond, aber der Begeisterung für Science Fiction tat das keinen Abbruch, auch wenn man diesen Anglizismus selbstverständlich nicht benutzen wollte. In der DDR sprach man offiziell lieber von wissenschaftlich-utopischer Phantastik. Und die wurde auch dann noch weiter betrieben, als alle ahnten, dass ein Sieg über den Westen nicht einmal mehr in den Sternen stand. O-Ton 46 Henrike Girmond 1971 hat die Filmgesellschaft Defa noch eine Arbeitsgruppe "Defa futrum" gegründet, um Science Fiction-Filme zu produzieren. Eindeutig kann man Parallelen ausmachen, dass auch in der Filmindustrie die Hoffnung verbunden war, mit dem neuen Mann an der Spitze, mit Erich Honecker, bricht ein Frühling an, findet eine Öffnung statt. Sehr interessant ist der Film "Eolomea" von 1972. "Eolomea" heißt übersetzt der ewige Frühling und man findet in diesem Film den Aufbruch einer jungen Mannschaft in eine bessere Welt. Das war ja versteckte Kritik am DDR-System. Filmausschnitt 4 Eolomea (Raumschiff schwebt durchs All) Weißt du, dieses ganze kosmische Abenteuer der Menschheit ist ein Schwachsinn! Was haben wir eigentlich davon? Ein paar tote Asteoride, die einen aus dem Schlaf hochschrecken lassen vor Langeweile. Und zu welchem Preis das alles? - Nach dem Preis der Erkenntnis hat bisher noch niemand gefragt. - Und die geopferten Menschen? - Niemand hat sie geopfert. Sie sind freiwillig losgezogen, zum Glück ohne dich zu fragen. (Raumschiff schwebt weiter durchs All) Sprecherin Geübt in der Kunst, zwischen den Zeilen zu lesen, konnten ostdeutsche Zuschauer da durchaus Kritik an einer Parteiführung heraushören, die immer wieder hehre Ziele verkündete, die Lebensverhältnisse aber kaum zu verbessern vermochte. Mehr Kritik wollte die SED-Führung aber nicht hören. Als in den folgenden Jahren immer mehr düstere Zukunftsvisionen aus dem Westen, die vom Untergang des Planeten erzählten, auch in der DDR kursierten, argwöhnten viele Genossen, das ganze Genre sei wohl doch eine konterrevolutionäre Masche des Klassenfeinds. O-Ton 47 Henrike Girmond Die Staatssicherheit hat immer einen sehr wachsamen Blick auf die Science Fiction-Literatur und -Fangemeinden geworfen. Auch Fangemeinden gab es im Osten, der wohl bekannteste war der Stanislaw-Lem-Club in Dresden, der 1969 gegründet wurde, von Anfang an von der Staatssicherheit überwacht wurde, im Hinblick auf West-Kontakte und dann 1973 auch mit dem Vorwurf anti-sozialistischer Tendenzen und Machenschaften wurde der Club auch eingestellt. Sprecherin Die Arbeit der Gruppe "Defa futurum" schlief in den frühen 1980er Jahren einfach ein. Zufall oder nicht: als seine kreativen Köpfe aufhörten, Bilder von der Zukunft zu entwerfen, hatte auch der Staat DDR bald keine Zukunft mehr. Musik 6 Die Internationale Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht. Zitator (auf Raumfahrtklänge) Nun ist auf der ganzen Erde nur noch die freiheitliche Demokratie als politisches Ideal übrig. Deshalb spreche ich vom Ende der Geschichte. Tausende von Jahren haben Gesellschaftsformen untereinander konkurriert. Ein Verlierer nach dem andern musste ausscheiden, weil er an inneren Widersprüchen zerbrach. Das letzte Beispiel dafür ist der Sozialismus mit seiner Planwirtschaft gewesen. Sprecher Francis Fukuyama, Politikwissenschaftler, 1992 Sprecherin Wenn die Utopien reihenweise gescheitert sind, waren sie dann überhaupt geeignet, Menschen in eine bessere Zukunft zu führen? Oder waren sie nicht von Anfang an rückwärts gewandt? O-Ton 48 Lucian Hölscher In der Tat kann man sagen, dass überall in der Gesellschaft man beobachten kann, wie sich gerade gesellschaftspolitische Zukunftsvorstellungen dadurch legitimieren, dass sie sie als eine Wiederherstellung der alten, der vormodernen Gesellschaft beschreiben. Also etwa der Sozialismus, der nicht nur den Kommunismus in die Zukunft verlegte, sondern sagte, damit wird eine Welt einer urkommunistischen Gesellschaft wiederhergestellt. Sprecherin Zurück in die Zukunft, diese Vorstellung hatten Kommunisten, bei allen sonstigen Unterschieden, mit Nationalsozialisten gemein. Auch die wollten Dinge, die es noch nie gegeben hatte: Zum Beispiel die Züchtung eines neuen arischen Übermenschen, der dann aber glücklich werden sollte in einer Volksgemeinschaft, wie sie angeblich die alten Germanen gepflegt hatten. Und selbst die Zukunftsentwürfe des Bürgertums waren nach einem ähnlichen Muster gestrickt: die französischen Revolutionäre knüpften an die demokratischen Modelle des antiken Griechenlands an und die USA bauten für ihr Parlament nicht von ungefähr ein Kapitol, das an die republikanischen Traditionen des alten Rom erinnern soll. O-Ton 49 Lucian Hölscher In der Tat kann man feststellen, dass Altes und Neues eigentlich immer zusammenkommen. Vielleicht, wenn es nur neu wäre, würden es die Menschen nicht akzeptieren. Die Figur, dass der gute alte Zustand wiederhergestellt wird, ist sozialpsychologisch wahrscheinlich nicht unwichtig, damit Zukunftsvorstellungen ihre Überzeugungskraft gewinnen. Sprecherin Wenn es an die Umsetzung geht, bleiben die neuen Entwürfe oft im Alten stecken. Frauen besaßen in der Ersten Republik in Frankreich ebenso wenig politische Rechte wie im alten Griechenland und in den jungen USA hielt man sogar Sklaven. Dabei hatten doch die großen Denker der Aufklärung, in Frankreich wie in Amerika, in England wie in Deutschland, gerade erst die Menschen- und Bürgerrechte erklärt. Jedenfalls theoretisch. O-Ton 50 Oskar Negt Nehmen Sie einmal die Utopie Würde. Das ist ja eine Vorstellung von der menschlichen Autonomiefähigkeit, wie sie bei Kant zu finden ist. Würde ist eigentlich das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Würde bedeutet einen Persönlichkeitswert, der keinen Preis hat, wie er sagt. Das ist in der Zeit von Kant noch eine Utopie. Das ist eine Vorstellung, wie die Welt sein soll, aber wie sie nicht ist. Sprecherin Wenn Oskar Negt für die Wiederbelebung des utopischen Denkens streitet, kommt es ihm nicht darauf an, möglichst hochtrabende Zukunftsszenarien zu konzipieren. Für ihn ist vielmehr entscheidend, die alten, uneingelösten Utopien einfach wieder aufzugreifen. O-Ton 51 Oskar Negt Wir haben die Würde noch nicht in der Weimarer Verfassung, da gibt es überhaupt den Begriff des Menschen noch nicht, sondern nur den des Staatsbürgers. Und wir haben Würde jetzt als eine rechtsverbindliche Figur, die jetzt zur Realität und bindenden Kraft geworden ist. Sprecherin Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist verankert in Artikel 1 des Grundgesetzes. Aber Oskar Negt braucht nur den Katalog der Grundrechte weiter durchzugehen, um andere Versprechen zu finden, die nach seiner Auffassung nicht verwirklicht sind. Artikel 3, Absatz 2 zum Beispiel: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Oder Artikel 14, Absatz 2: Eigentum verpflichtet. Auf jeden dieser Punkte immer wieder zu pochen, so wie Kant auf das Ideal der Menschenwürde, damit beginnt für Oskar Negt utopisches Denken. O-Ton 52 Oskar Negt Wir müssen den großen Begriff der Krise auflösen in Krisenherde, es sind sehr verschiedene Krisenherde und aus Krisenherden Handlungsfelder zu machen, das wäre für mich sinnvolle gesellschaftliche Verwendung des überschreitenden, des utopischen Denkens. Ich bin da optimistisch, dass die gesellschaftliche Kraft der Menschen eigentlich nicht erlahmt. Es gibt genug Felder, in denen es notwendig ist, sich zu empören. Zitator (auf Raumfahrtklänge) Utopie ist die Wahrheit von morgen und die Wirklichkeit von übermorgen. Sprecher Victor Hugo, Schriftsteller, 1862 Musik 7 Philip Glass: Koyaanisqatsi O-Ton 53 Harald Welzer Wir sind in einer Situation, dass wir mittlerweile seit 40 Jahren eine apokalyptische Kommunikation haben über den Zustand des Planeten, des Klimas usw., aber um Perspektiven für das gute Leben aufzuzeigen, brauche ich keine negative Kommunikation, sondern ganz im Gegenteil eine, die sagt, gutes Leben sieht so und so aus. Sprecherin Mit Büchern wie dem über Klimakriege hat Harald Welzer lange selbst mitgewirkt an einer apokalyptischen Kommunikation über die Zukunft. Lange genug, fand er 2011 und gab seinen Beamtenposten als Professor in Essen auf, um in Berlin die gemeinnützige Stiftung "Futurzwei" zu gründen. Mit der will er Menschen Mut machen, sich eine Zukunft ohne Wirtschaftswachstum wenigstens einmal vorzustellen und sich zu verabschieden von der Jagd nach immer mehr von allem. Er will zeigen, dass es viele Möglichkeiten gibt, bescheidener zu leben, um mit den vorhandenen Ressourcen auch langfristig auszukommen und trotzdem oder gerade deshalb zufrieden zu sein. O-Ton 54 Harald Welzer Der zweite Gedanke, der "Futurzwei" trägt, ist, dass das keine Konjunktivansagen sein dürfen, man müsste, man könnte, man sollte, sondern dass man einfach nur schauen muss: Wer macht denn eigentlich schon in der Gegenwart das, was in Zukunft gemacht werden sollte. Also, Unternehmen, die nicht wachsen, Unternehmen, die nachhaltig produzieren, Initiativen, die dafür sorgen, dass es Nachbarschaftsgärten gibt, andere Arten Energie zu produzieren, etc., etc. Und da kommt man ja aus dem Staunen nicht raus, wenn man einmal guckt, was gibt es denn in einem Land wie der Bundesrepublik für real existierende Gegenprojekte zum Bestehenden. Futur Zwei macht eigentlich nichts anderes, als solche Projekte zu recherchieren und darüber Geschichten zu erzählen. Sprecherin Wenn die modernen Gesellschaften noch eine Zukunft haben, dann wird es nach Überzeugung von Harald Welzer eine sein, die von unten wächst. In einem "Zukunftsalmanach" stellt "Futurzwei" jedes Jahr Initiativen für nachhaltiges Wirtschaften und Leben vor. Da wird von regionalen Wirtschaftskreisläufen erzählt, von Dörfern, die sich mit erneuerbaren Energien selbst versorgen und keine fossilen Rohstoffe mehr brauchen oder von einer Hausfrau, die aus Rote Beete ein Öko-Reinigungsmittel entwickelt hat. O-Ton 55 Harald Welzer Ein unendliches Spektrum von Ideen, wo man, wenn man sie liest, denkt, verflucht noch mal, warum bin ich da nicht selber draufgekommen, oder, warum machen das nicht alle? O-Ton 56 Gus Hunt I'm Gus Hunt, I'm the CTO at the CIA. Sprecherin Als Technischer Direktor des US-Geheimdienstes CIA ist Gus Hunt vielleicht nicht gerade der Mann, von dem sich viele gern die Zukunft entwerfen ließen. Aber gerade er will natürlich schon von Berufs wegen wissen, was demnächst passiert. O-Ton 57 Gus Hunt That's the really big challenge to our future. Sprecherin Auf einer Computer-Messe im März 2013 in New York verkündete Gus Hunt, dass Amerikas Sicherheitsbehörden diese Herausforderung schon ziemlich gut meistern könnten. Lokale Polizei-Dienststellen könnten heute schon Verbrechen vorhersagen. Sie bräuchten nur den digitalen Spuren zu folgen, die Verdächtige mit ihren Handys und Tablets im Netz hinterlassen. Wenn sie die so gewonnenen Daten mit ihren Kriminalitätsstatistiken verglichen, wüssten die Beamten schon, wo es demnächst Alarm geben werde. Mag sein, dass Gus Hunt ein wenig prahlte. Er hielt seinen launigen Vortrag schließlich zwei Monate vor den Snowden-Enthüllungen über die Überwachungsmethoden der NSA. Aber er konnte viele offen zugängliche Technologien vorstellen, die längst Vorhersagen für eine nahe Zukunft ermöglichen. O-Ton 58 Gus Hunt Google has their self-driving car ... because you would totally go get the milk (Gelächter). Übersetzer: Google hat doch ein selbstfahrendes Auto entwickelt. Und es gibt diesen Kühlschrank, der registriert, wann ich die letzte Tüte Milch austrinke. Wenn die beiden Geräte vernetzt sind und ich komme abends aus meinem Büro und sage meinem selbstfahrenden Auto: Bring mich nach Hause! Wo fährt es hin? Zum Supermarkt, denn es weiß, ich brauche Milch. Sprecherin Vernetzte Maschinen wissen schon jetzt ziemlich genau über die Zukunft ihrer Nutzer Bescheid, nicht nur, wenn sie sie selbst steuern. Google etwa behauptet, Grippe-Epidemien besser als jede Gesundheitsbehörde vorhersehen zu können, weil Erkrankte die Suchmaschine befragen, bevor sie den Arzt konsultieren. O-Ton 59 Gus Hunt Right now you can buy plug-ins for a pacemaker ... then to be able to do things like a remote tune-up. Übersetzer: Sie können heute schon eine App aufs Smartphone laden, die Ihren Blutdruck, Ihren Blutzucker oder Ihren Herzschrittmacher kontrolliert. Und die Gesundheitsindustrie arbeitet daran, Ihren Herzschrittmacher wenn nötig mit einer Mail auch neu einstellen zu können. Sprecherin Bei wem das nicht funktioniert, dem sagt dieselbe App demnächst vielleicht den Zeitpunkt für einen Schlaganfall oder Herzinfarkt voraus. Das alte Bonmot "Die Zukunft hat schon begonnen" könnte eine ganz neue Bedeutung bekommen: Im virtuellen Raum ließe sich die Zukunft schon in der Gegenwart vorwegnehmen. O-Ton 60 Rolf Giesen Die Virtuelle Welt ist doch fortschrittlicher als die reale. Sprecherin Der Filmhistoriker Rolf Giesen kann gut verstehen, dass sich Millionen Menschen gern im Internet tummeln. Denn im Netz kann man, etwa bei Computerspielen, Science Fiction in einer Intensität erleben, die das Kino nie zu bieten vermochte. Oder man baut sich im Web 2.0 gleich eine ganz eigene Welt. O-Ton 61 Rolf Giesen Ich habe Raumschiffe dort, ich kann alles haben, alles ist denkbar. Ich kann mich erheben, ich kann fliegen, ich kann tauchen, ich kann die Welt sogar retten, ich habe keine Umweltverschmutzung. Alle Probleme sind lösbar. Natürlich ist die virtuelle Welt dadurch viel besser als die reale, in der ich arbeitslos bin, Hartz IV beziehe, keine Rentenansprüche habe und wenn ich in die U-Bahn steige vielleicht noch etwas auf die Mütze bekomme von irgendwelchen betrunkenen Jugendlichen, die auch keine Hoffnung auf Zukunft haben. Sprecherin Rolf Giesen wundert sich manchmal ein bisschen, dass sich Science Fiction-Filme noch kaum mit dem Leben in virtuellen Welten befasst haben. Aber dann erscheint ihm das doch ganz logisch: Es gelte einfach die alte Weisheit der Kommunikationswissenschaft: The Medium is the Message. Zum Internet brauche es keine Visionen und Geschichten. Denn dieses Medium sei selbst ein Zukunftsversprechen. Es befriedige allein durch seine Existenz tiefste Sehnsüchte, die noch aus Zeiten stammen, als die Menschen die Zukunft gar nicht kannten und einfach auf das Jenseits warteten. O-Ton 62 Rolf Giesen Das Virtualisieren ist ja so gut wie das ewige Leben. Disembodyment, also Entkörperlichung und dann ist mein Geist frei und ich schwebe in dieser virtuellen Welt, so lange es Strom gibt und ich bin nicht tot und mir geht es gut und ich brauche kein Geld, das ist doch eigentlich wunderbar. Der Glaube, der ist da, dass ich digital mich überall zeitlos, raumlos, unbegrenzt bewegen kann. Dieser Gedanke ist sogar realistisch, es ist ja eigentlich nichts Falsches dran. Es ist ja eher an den christlichen Theorien was falsches dran, ewiges Leben, ich komme in den Himmel, wenn ich gut bin, wer glaubt denn daran? Aber die Idee der alten Religionen, diese Idee ist ja weiter existent und sie ist, das ist das Erstaunliche, virtuell ansatzweise zu verwirklichen. Vielleicht kommen hier jetzt zwei Strömungen zusammen, vielleicht wird eine Symbiose daraus, deren Ausmaß wir uns gar nicht vorstellen können. Sprecherin Wer physisch stirbt, kann im virtuellen Raum weiter existieren und so ewig leben. Aber wenn sich die Ewigkeit in die Gegenwart holen lässt, gibt es dann überhaupt noch eine Zukunft? Auch Lucian Hölscher faszinieren solche Gedankenspiele, aber er rechnet trotzdem damit, dass die Zukunft noch eine Zukunft hat. Allerdings eine, die ganz anders aussehen dürfte als früher. Keine große Utopie werde mehr kommen, die nach Demokratie, Marktwirtschaft oder Sozialismus ein neues goldenes Zeitalter verkünde. Der Fortschritt werde sein Tempo verlangsamen müssen und eine Richtung einschlagen, die wieder mehr an die Zeiten erinnere, in denen das Leben noch wie ein endloser Kreislauf erschien und die Geschichte der Zukunft gerade erst begann. O-Ton 63 Lucian Hölscher Ich glaube, dass wir uns erinnert fühlen können an frühere Sozialformen, die durchaus eine kreislaufförmige Struktur hatten, aber das ist nicht eine wirkliche Wiederherstellung des Alten. Sondern es ist eine Form, in der wir das Neue neu begreifen lernen, indem wir es anschlussfähig machen an etwas, was wir schon kennen. Der Kreislauf ist eine der Formen, die dem linearen Fortschrittsdenken entgegen gesetzt sind, und wenn man diese Philosophie des stetigen Fortschreiten aufbrechen will, dann ist diese Figur der Rückkehr zu etwas Bekanntem vielleicht hilfreich, das ist aber nicht wirklich das Gleiche, das ist dann ein neues Gleichgewicht in einer vollkommen neuen Konstellation. Wo hört dort eine Wiederherstellung des Alten auf und setzten die neuen Ideen ein? Man braucht beides. Musik Also sprach Zarathustra darauf Zitator Wir glauben jetzt, mit unserer Arbeit der Welt und dem Vaterland ein wenig nützlich zu sein, und gewiss wird unser Vaterland in der Weltgeschichte noch eine Zeit lang seine Rolle spielen, aber dann? Dann kommen andere Völker an die Reihe, Amerikaner, Russen. Und dann? Dann, wenn wieder Jahrhunderte oder Jahrtausende vergangen sind, wachen vielleicht die schwarzen Völker Afrikas auf und lenken eine Weile die Weltgeschichte. Und dann? Dann mögen wieder Jahrtausende vergehen, wo die Menschen sich's durch immer neue Entdeckungen und Erfindungen auf der Erde recht bequem gemacht haben. Und dann? Dann fängt die Erde allmählich an zu erkalten, die Menschheit wird müder und müder, schwächer und schwächer, und allmählich stirbt alles Leben auf der Erde. Und dann? Dann ist von allen Herrlichkeiten der Erde nichts übrig geblieben als eine große Wüste, ein großes Grab. Die Erde stürzt wieder in die Sonne, und auf einem andern Gestirn mag der Tanz aufs Neue beginnen. Sprecher Friedrich Rittelmeyer, Religionswissenschaftler, 1905 Musik weiter, darauf Programmsprecher Die Geschichte der Zukunft Vom Nachdenken über das Morgen Von Regina Kusch und Andreas Beckmann Es sprachen: Tatja Seibt, Viktor Neumann, Friedhelm Ptok und Eckehard Hoffmann. Ton: Bernd Friebel Regie: Philippe Brühl Redaktion: Klaus Pilger Musik noch mal hochziehen, darauf: Filmausschnitt 5 Raumpatrouille Orion Das ganze war doch wohl nur ein böser Traum. - Viel schlimmer: Es war Science Fiction. (Lachen) Produktion: Deutschlandfunk 2013. ENDE 35