DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 28.09.2010 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr Dissident, also geisteskrank Die Strafpsychiatrie im russischen Kasan Von Elena Knipp und Heike Tauch Co-Produktion DLF/MDR URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - O-Ton Gorbanewskaja / Gedicht Übersetzerin: "das schicksal ihrer kinder kümmert sie nicht" - diesen satz aus der gutachterakte / sang mir silbrig die stimme einer klarinette / verblichen die farbe der drohung / lebendig die farbe an sich / es ist schön, den atem der söhne hinter der wand zu hören / statt den atem der zellengenossinnen / es ist schön, wach zu werden ohne zu stöhnen / und in die wirklichkeit zu schauen, die mit gift nicht getränkt ist / es ist schön, den eigenen kopf nicht abtasten zu müssen / in der befürchtung, es könnte darin etwas verschoben sein / prüfen zu müssen, ob man selber noch da ist / und die noch nicht abgesetzte asche dessen einzuatmen/ was in gottes hoffnung nicht zurückkehren kann. Erzählerin: Natalja Gorbanewskaja, Dichterin, Menschenrechtlerin, Gründerin und Herausgeberin von Samisdat-Literatur.1969 gehörte sie zu den acht Demonstranten, die auf dem Roten Platz in Moskau gegen den Einmarsch der Sowjets in die Tschecheslowakai protestierten. Anders als ihre Mitstreiter, vielleicht wegen ihrer zwei kleinen Kinder, wurde die damals 32-Jährige erst im Dezember 1970 verhaftet. Noch während der Untersuchungs-Haft im Moskauer Butyrki-Gefängnis diagnostizierten die Ärzte "Schleichende Schizophrenie". Im Januar 1971 wiesen sie Natalja Gorbanewskaja in die Kasaner Sonderpsychiatrie ein. Ansage: Dissident, also geisteskrank. Die Strafpsychiatrie im russischen Kasan Ein Feature von Elena Knipp und Heike Tauch Erzählerin: Die Diagnose "Schleichende Schizophrenie" war Anfang der 60er-Jahre in der Sowjetunion erfunden worden, um die von der herrschenden Partei verordnete Illusion einer glücklichen Gesellschaft aufrecht zu halten. Sie hatte Natalja Gorbanewskaja und viele ihrer reformhungrigen und mutigen Zeitgenossen in eine der 16 Strafpsychiatrien der Sowjetunion gebracht: "Übertriebene oder ausbleibende Hitzigkeit, Überheblichkeit, Neigung zur Wahrheitssuche, Reform- und Oppositionszwang", solche und ähnliche Eintragungen finden sich in den Krankenakten der mit dieser Diagnose bestraften Dissidenten. O-Ton Gorbanewskaja Übersetzerin: Meine Schizophrenie haben sie mit "emotionaler Verflachung" begründet. Und außerdem stand da: "G. spricht monoton". - Sie können sich jetzt selber ein Bild machen, ob ich monoton spreche. Als ich später dieses Gutachten zu lesen bekam, hat mich dieser Satz besonders getroffen. Wenn die schreiben, das Schicksal ihrer Kinder kümmert sie nicht, dann ist es deren Schlussfolgerung. Okay, sie wollen mich in die Enge treiben. Aber: "spricht monoton"! - Das ist doch ganz klar eine Lüge! Das ist keine Meinung. Das ist eine Lüge! Erzählerin: Kasan, die Hauptstadt von Tatarstan, liegt 800 km östlich von Moskau an der Wolga. Bereits 1869 wurde dort im Auftrag des Zaren eine Psychiatrie gebaut. Sie ist damit eine der ältesten und größten von Russland. Geisteskranke Straftäter des Landes kamen dorthin und wurden in der "gerichtsmedizinischen Abteilung" behandelt. Stalin baute dann diesen Bereich zur ersten geheimen geschlossenen Anstalt aus, und als im Jahr der KGB-Gründung, 1954, das Gesetz verabschiedet wurde, nach dem alle Arten von Dissidententum als besonders schwerwiegende Straftat zu verurteilen seien, avancierte die Klinik zum geheimen Zentrum der sowjetischen Strafpsychiatrie. Atmo Zug Erzählerin: Wir wollen dieses Zentrum der sowjetischen Strafpsychiatrie sehen - "das ewige Bett", wie es auch genannt wurde. Wir wollen wissen, was heute dort geschieht, wie man mit seiner Geschichte umgeht, und wir wollen mit Verantwortlichen von damals sprechen. Atmo: Zug mit Dewutschka Erzählerin: Zehn Stunden benötigt der moderne Zug von Moskau nach Kasan. Eine junge hübsche Dewutschka bietet Tee und Schokolade an, wir kriechen in die frisch bezogenen Betten, doch an Schlaf ist nicht zu denken: Das gewaltige Rattern der Räder und das ständige Holpern der Wagen auf den uralten Gleisen halten uns wach. Auf diesen Schienen wurden auch die sogenannten Geisteskranken nach Kasan transportiert, wo verschlossene Transportfahrzeuge auf sie am Bahnhof warteten. Wir nehmen den Bus. Atmo: Straße Kasan Erzählerin: Die Kasaner Psychiatrie trägt die offizielle Bezeichnung "Klinisches Bechterew Krankenhaus für Psychiatrie der Republik Tatarstan." Sie liegt an der befahrenen Jerschowa Straße, zwanzig Minuten vom Stadtzentrum entfernt. Ursprünglich für 200 Patienten gebaut, werden heute hier - nach etlichen Anbauten - um die 1500 Menschen stationär betreut. Atmo: Psychiatrie Kasan Erzählerin: Zwischen den einzelnen Stationen verlaufen Sandwege. An den Häusern entlang bzw. über die Wege hinweg führen - wie im Sozialismus üblich ? notdürftig mit Glaswolle und Folie isolierte Fernwärmerohre. Überall liegen Gerümpel und Schrott herum; streunende Hunde ziehen ihre Kreise. Hin und wieder hört man ein paar Stimmen aus den offen stehenden Fenstern. Unheimlich und verlassen wirkt der Ort. Wäre hier die Hölle einer Strafpsychiatrie gewesen - wir könnten es uns mühelos vorstellen. Doch nach Auskunft der ehemaligen Krankenschwester Nina Tokranowa lag die Sonderklinik militärisch bewacht auf der Rückseite der Anlage: O-Ton Nina Übersetzerin: Hinter dem Krankenhausgebäude, da war ein gar nicht so großer Bereich, eine Sonderstation, nur dort waren die Politischen. Ohne Zutritt von außen. Es war sehr schwierig, dorthin zu kommen, auch dort eingestellt zu werden. Da wurde alles und jeder überprüft, auch das Personal selbst, sein Durchhaltevermögen, die Ausdauer. Jeder musste sich einer komplexen Untersuchung unterziehen. Ich habe es gar nicht erst versucht, dorthin zu kommen. Es war nicht einfach dort. Nicht einfach. Atmo: vor Strafpsychiatrie Erzählerin: Der Weg zur ehemaligen Strafpsychiatrie, dem heutigen Maßregelvollzug, führt uns durch eine unauffällige Seitenstraße, immer an der Mauer zum Psychiatriegelände entlang. Am Ende biegen wir in eine Sackgasse ein und stehen kurz vor dem Haupttor. Ein junger Uniformträger, keine 20 Jahre alt, bewacht diesen imponierend neu gemauerten Eingangsbereich. Erst, als wir unmittelbar vor ihm stehen und nach rechts blicken können, sehen wir, dass sich daran das alte bröckelnde Mauerwerk anschließt. Der junge Wachhabende antwortet auf unsere Fragen mit freundlichen Njets ? nein, nein, er könne uns keine Auskunft geben, nein, er wisse nichts über die Geschichte des Ortes, nein, das Eingangsschild dürften wir nicht fotografieren, und für alles Weitere bräuchten wir die Genehmigung des ärztlichen Leiters. O-Ton: Ärztin im Klubmuseum Atmo mit Schlüssel + Stimmen, dann Ärztin Übersetzerin: Hier wurden auch gerichtspsychiatrische Gutachten erstellt ? übersetzen Sie das! ? über Personen, die der Zarenregierung nicht geheuer waren, über Personen, die Verbrechen gegen die Zarenherrschaft begangen haben wegen einer geistigen Störung oder bei denen man eine solche vermutete./ Wurden sie als psychisch gestört diagnostiziert, behielt man sie zur Zwangsbehandlung hier, wurden sie als gesund befunden, verbannte man sie in ein Arbeitslager. Erzählerin: Eine junge Ärztin in weißem Kittel und mit schwarzem Zeigestock führt uns durch das "Klubmuseum" der Kasaner Psychiatrie, einem winzigen Raum, in dem sich Fotovitrine an Fotovitrine reiht und dazwischen eine historische Zwangsjacke ausgestellt wird. Unsere Führerin hat Zahnweh und wenig Zeit, denn gleich tagt ein neuer Gutachterausschuss, dem sie angehört. Einlieferungen aus politischen Gründen habe es hier ausschließlich zur Zarenzeit gegeben, sagt sie diensteifrig. O-Ton Ärztin im Klubmuseum Übersetzerin: Ich habe bereits gesagt, dass es hier keine politischen Gefangenen gab. ? Und in der Gerichtsmedizin? - Ja, die. So. Ja, das ist nun jetzt eine föderale Klinik. Ich kann dazu nichts sagen. Darüber muss man gesondert mit dem Chefarzt reden. Erzählerin: Mag sein, dass ihre Ungeduld daher rührt, dass ihr die kalte Luft, die durch das Reden in den Mund strömt, großen Schmerz bereitet. Ab den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts erlebte der Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion eine traurige Blütezeit. Vor allem die Diagnose einer sogenannten "Schleichenden Schizophrenie" führte zur Hospitalisierung von politisch missliebigen Menschen. Der Entdecker oder besser Erfinder dieser neuen Form der Schizophrenie, der russische Psychiatrieprofessor Andrej Sneschnewski, hatte sie 1971 erst malig vor dem Weltverband der Psychiatrie in Mexiko vorgestellt. Dies geschah ? so berichtete damals ein Journalist ? zum großen Erstaunen aller übrigen Seelenärzte: paranoid-wahnhafte Reformideen, eine unkritische Einstellung zur eigenen anormalen Verfassung, Überschätzung der eigenen Person, mangelhafte Anpassung an die soziale Umwelt usw. waren laut Sneschnewski die Kennzeichen einer solchen Schizophrenie. In ihrem Krankheitsverlauf gehe es unaufhaltsam bergab und es gebe keine Hoffnung auf Genesung. Durch das perfide Zusammenspiel von politischem System, Psychiatrie und Justiz wurde der Einsatz der Medizin gegen kritische Bürger legalisiert: O-Ton SawenkoÜbersetzer: Um das zu verstehen, muss man sich folgendes vor Augen halten: Wichtig waren die im Gesetzbuch verankerten Paragraphen, die alles überhaupt erst möglich gemacht haben, wie zum Beispiel "Verleumdung der Sowjetmacht" und "antisowjetische Propaganda". Erzählerin: Prof. Juri Sawenko. Als Präsident der Unabhängigen Psychiatrie-Vereinigung, die sich 1989 gründete und der Internationalen Psychiatrischen Assoziation angehört, setzt er sich für Transparenz, Öffentlichkeit und Aufarbeitung ein. Schon vor unserem Interview in Moskau hatte er in einer seiner ersten Mails geschrieben, dass das Thema Strafpsychiatrie leider wieder hochaktuell sei, denn die Silowikis, das sind die Geheimdienstler und Armeeangehörigen, die seit der Jelzin- und Putin-Ära wichtige politische Ämter bekleiden, seien dabei, die alte Ordnung wieder herzustellen. Das mache sich unter anderem auch dadurch bemerkbar, dass sich heute viele der 600 russischen Psychiater aus Angst vor Benachteiligungen nicht mehr offiziell zu ihrer Mitgliedschaft in der Unabhängigen Psychiatrie-Vereinigung bekennen. O-Ton Sawenko Übersetzer: Es geht ja darum, die Position des Psychiaters zu begreifen und das Maß seiner Schuld. Die Psychiater haben aufrichtig diagnostiziert. Wie das? Der einfachste Weg, eine gewünschte Diagnose zu erstellen, ist ja, wenn von vornherein fest steht, wie sich ein Gutachterausschuss zusammensetzt: Vertreter der Schule des Erweiterten Schizophreniebegriffs werden zum Beispiel genau das Gegenteil von einem Gremium diagnostizieren, das sich aus dessen Gegnern zusammensetzt. Auf diese Weise ist es für die Herrschenden leicht zu manipulieren. Die Ärzte, die Psychiater handeln aufrichtig und tragen keine Schuld. Erzählerin: Das Moskauer Serbski-Institut war die gefürchtete Schlüsselinstitution, die eine Zwangseinweisung in eine psychiatrische Sonderklinik erst möglich machte. Das Prozedere einer Einweisung verlief immer ähnlich: Die politisch unangepasste Person wurde verhaftet, in U-Haft gesteckt und von dort einem gerichtsmedizinischen Gutachterausschuss des Serbski-Instituts vorgeführt. Das Psychiaterteam bescheinigte dann dem notorischen Wahrheitssucher latente, sprich im Verborgenen verlaufende Schizophrenie. Der Verhaftete war folglich unzurechnungsfähig und für seine angebliche Tat nicht verantwortlich. Die Einlieferung in eine sonderpsychiatrische Anstalt konnte erfolgen. Man spricht von über 7000 Sowjetbürgern pro Jahr. O-Ton Gorbanewskaja Übersetzerin: Auf den Gutachtertermin am Serbski-Institut bereitete ich mich vor, ich wollte meine Antworten ganz vorsichtig geben. Ich dachte, falls sie fragen: ´Halten Sie sich für eine Poetin?´ würde ein "Ja" bedeuten, dass ich größenwahnsinnig bin. Ich wollte also antworten: ´Ja, wie Sie wissen, schreibe ich Gedichte. Ich kann sie allerdings nicht beurteilen.´ - Mir wurde jedoch keine einzige Frage zu den Gedichten gestellt, da sie Vorgaben zu erfüllen hatten. Erzählerin: Auf die Frage, wann ein Mensch als geisteskrank einzustufen ist, gibt es bekanntlich die verschiedensten Antworten, die sich mit dem Zeitgeist auch wieder ändern können. So gelten in manchen Kulturen Stimmen hörende Menschen nicht als Kranke, sondern als Heilige, und einige geniale Künstler vergangener Epochen würden nach Ansicht eines heutigen Seelenarztes sicherlich medikamentös zu behandeln sein. Ein überzeugter Kommunist machte sich in seiner Selbstsicht nicht einmal schuldig, wenn er Andersdenkende als geisteskrank einstufte. Immerhin handelte er getreu seiner Weltanschauung, der herrschenden Theorie und nach den Vorgaben des Eides, den ein sowjetischer Arzt ablegen musste. Der verpflichtete den Arzt "das gesamte Tun nach den Prinzipien der kommunistischen Moral zu richten" und sich "der Verantwortung vor dem Volk und dem sowjetischen Staat bewusst zu sein." Eindeutig schuldig machte er sich jedoch mit seiner therapeutischen Empfehlung, den "Patienten" in eine Gefängnis- oder Strafpsychiatrie oder - wie es auch offiziell hieß - in ein "Krankenhaus besonderen Typus" einzuliefern. Diese Einrichtungen waren nicht dem Gesundheits-, sondern dem Innenministerium unterstellt ? auch das ein Beleg dafür, dass es nicht um medizinische, sondern um politische Behandlung ging. Atmo Straße O-Ton: Jofe/ my gotowili togda listowki... Übersetzerin: Unsere Gruppe hatte Flugblätter geschrieben, in denen stand, dass die alten Zeiten zurück kommen, die alten Stalin-Zeiten, dass es wichtig sei, darauf zu reagieren, dass wir Verantwortung tragen für das Schicksal unseres Landes usw. Diese Flugblätter haben wir nicht einmal verteilen können, denn wie sich später herausstellte, hatte einer unserer Freunde, bei dem wir sie deponiert hatten, Angst bekommen und sie einfach dem KGB gegeben. Auch hatte ein Bekannter auf uns eingeredet, es sei zu gefährlich und sinnlos, so viel zu riskieren und sich selbst zu opfern. Er überzeugte uns, aber schon am nächsten Morgen wurden wir verhaftet. Wir alle waren damals sehr jung. Erzählerin: Das war 1969. Auch der damals 19-jährigen Wirtschaftsstudentin Olga Jofe bescheinigten die Ärzte des Serbski-Instituts "Schleichende Schizophrenie", 1970 wurde sie in die Kasaner Strafpsychiatrie eingewiesen. O-Ton Olga Jofe Übersetzerin: Ich kam in eine Zelle, die sie Krankenzimmer nannten. Ich glaube, dort waren acht Frauen, die meisten Mörderinnen, die ihre Männer getötet hatten, aber auch solche, die Stimmen hörten. Eigentlich war das alles halb so schlimm. Ich meine, die Psychiatrie selbst war nicht so schlimm, wie meine Phantasie darüber. Die Kranken waren in den Zeiten, wo sie keinen Schub hatten, ganz normal. Man konnte mit ihnen reden. Ich bekam dort ein Medikament, das heißt, Sie kennen es vielleicht, "Haloperidol". Gott sei Dank erhielt ich es nicht als Injektion, sondern nur in Tablettenform. Die Wirkung war dennoch sehr stark. Sie kommen in einen Zustand, in dem Sie sich überhaupt nicht mehr konzentrieren können: Sie sitzen, haben den Wunsch aufzustehen, stehen auf, können nicht stehen, wollen sich hinlegen, legen sich hin, können nicht liegen, stehen auf. Erzählerin: Das Antipsychotikum Haloperidol bekamen alle Politischen verabreicht. Das Medikament kann zu Sprachstörungen, Schluckkrämpfen, zu erhöhtem oder vermindertem Spannungszustand der Muskeln, zu Müdigkeit oder zur Bewegungsunruhe führen. Die gesamte Dauer ihres Kasaner Aufenthaltes hindurch musste Olga Jofe Medikamente nehmen. O-Ton Jofe Übersetzerin: Ich habe Gewalt gesehen, aber ich blieb davon verschont. Es werden Aminasin-Spritzen gegeben, man wird in nasse Bettlacken eingewickelt, ans Bett gefesselt - Gott sei Dank, ich musste das alles nicht am eigenen Leibe erfahren. Das einzig wirklich Schlimme war mein durch die Behandlung sehr, sehr schweres Gemüt. Erzählerin: Olge Jofe erzählt von ihrem politischen Elternhaus, in dem sie schon früh über Straflager, Strafprozesse, psychiatrische Behandlungen erfahren hatte. Kam daher ihr starkes Schuldgefühl für Taten, die sie und ihre Generation nicht selbst zu verantworten hatte? ? Olga Jofe schweigt. Dann beginnt sie, ihr Gedicht "An die ältere Generation? zu rezitieren. Sie schrieb es, als sie 14 war: O-Ton: Jofe / Wam otschnj trudno... Übersetzerin: Für euch war das verdammte 37er jahr die härte selbst / von angst geplagt die jahre strichen / die angst, sie formte in der kehle einen kloß/ das lagerleben winkte jedem/ unzählig die verluste und die opfer/ versunken seid ihr dann im sumpf des schweigens/ ist unser los nun leichter jetzt dadurch? / gemeine niederträchtigkeit thront wieder hier/ und dreht das rad zurück/ uns aber hüllt das schweigen immer noch/ verantwortung, wer übernimmt sie nun?/ das auge ist scharf/ und an fehler glauben wir nicht/ und uns´re schuld ist jetzt so tief/ so tief wie ihre niemals/ sie raubt uns unseren schlaf/ die schuld, die uns bewusst jetzt wird. // So, so ungefähr war das. Ich weiß, das sind keine guten Verse. Atmo Verkehr Erzählerin: Olga Jofe versucht nicht, ihre Tränen zu verbergen. Hier, auf einer Parkbank in Paris, inmitten eines tosenden Kreisverkehrs kehrt der Schmerz zurück und auch das Gefühl von Vergeblichkeit: O-Ton Jofe /jesli presidentom strany wybirajut tscheloweka... Übersetzerin: Wenn eine Person zum Präsidenten eines Landes gewählt wird, die dem Geheimdienst angehört hat, dann ja - Wie würden die Deutschen reagieren, wenn ihr Präsident ein ehemaliger Gestapo-Mann wäre? (schweigt) Hierzulande scheint das normal. Ich habe viele Menschen über die alten Zeiten erzählen hören. Ich habe sogar mal ein Interview mit einem Arzt vom Serbski-Institut gehört, der ganz ruhig sagte: "Ja, es gab tatsächlich Fälle, wo Menschen ohne ernsthafte Störungen für geistig gestört erklärt wurden. So war damals die Praxis, so ging man eben damit um, so waren die Gesetze. Heute gibt es eben eine andere Praxis". - Das ist schrecklich. O-Ton Podrabinek Übersetzer: Sowjetische Psychiater, die Dissidenten in die Psychiatrie gebracht haben, diagnostizierten ihnen "Schizophrenie". Das war eine absolute Lüge. Allerdings heißt es nicht, dass es keine Schizophrenie gibt. Es gibt sie. Sie kann aber für so etwas missbraucht werden. Sie werden keine abgeschlossene logische Kette in deren Handlungen finden. Erzählerin: Der Journalist Alexander Podrabinek war 1978 wegen seines Buches "Die Strafmedizin" zu fünf Jahren Verbannung ins sibirische Jakutien verurteilt worden. Als 1980 das Buch in englischer Übersetzung bei Karoma Publishers in den USA erschien, verurteilte man Podrabinek während seiner Verbannung ein zweites Mal, diesmal zu dreieinhalb Jahren Straflager. Die saß er dann in Einzelhaft in Jakutsk, in Nordostsibirien ab. Den Menschenrechtler, Samisdat-Autor und Mitbegründer der Moskauer Helsinki-Gruppe, die sich um Aufklärung des Psychiatrie-Missbrauchs bemühte, in eine Sonderklinik zu stecken, wäre dann doch nicht allzu klug gewesen, sagt der kleine vitale Mann, während er schmunzelnd in einem Sessel seiner Parterre-Wohnung sitzt. O-Ton: Filmkassette Erzählerin: Podrabinek hat den Dokumentarfilm über die bei Kasan gelegenen Straflager-Insel Svijazhsk herausgeholt, ein Film, der in den 90er-Jahren im russischen Fernsehen gezeigt wurde. Heute sei das undenkbar. Dass der Wind wieder schärfer wehe, merke er daran, dass er nur noch für ausländische Medien arbeiten könne; niemand stelle ihn hier ein: Die Heftigkeit, mit der auf seine Kritik mittlerweile reagiert wird, zeigte sich auch am Skandal um den Namen des neuen Moskauer Restaurants "Antisowjetskaja". Zu Sowjetzeiten war dort ein beliebter Imbiss diesen Namens, der gegenüber dem Hotel Sowjetskij lag, einem Gästehaus der Kommunistischen Partei. Mit der Neueröffnung des "Antisowjetskaja" fanden die Weltkriegsveteranen und die Putinnahe Jugendorganisation "Naschi" ? "Die Unseren", dass der Name die Gefühle durch unangebrachtes politisches Wortspiel verletze und erwirkten ein Namensverbot. Podrabinek hatte dagegen laut Kritik geäußert, woraufhin die Organisation "Naschi" wochenlang eine Abordnung in roten Jacken vor seiner Wohnung postierte, es gab Morddrohungen, einer der "Naschi"-Führer erstellte ein psychologisches Gutachten, man legte Podrabinek die Ausreise nahe. Dieser Forderung war er allerdings bereits 1978 nicht nachgekommen, als er nach dem Erscheinen seines Buches in die Fänge des KGB geraten war. O-Ton Podrabinek Übersetzer: Ja, was kann man sagen, dass die Ärzte legal gehandelt haben? In Wirklichkeit handelten sie gegen das Gesetz, auch gegen die sowjetischen Gesetze, die es damals gab. Sie wurden von den Menschen verletzt, die die Psychiatrie für politische Zwecke missbrauchten. Es waren politische Verbrecher. Auch nach sowjetischem Recht. Das betraf gleichermaßen die nationale wie die internationale Gesetzgebung, denn die Sowjetunion war Mitglied des Internationales Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Das internationale Recht hat ja bekanntlich Vorrang vor dem nationalen. Erzählerin: Der Pakt, kurz auch UN-Zivilpakt genannt, garantiert die grundlegenden Menschenrechte: das Recht auf Leben, das Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit, das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie das Recht auf die Teilnahme an allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen. O-Ton Podrabinek Übersetzer: Ich denke nicht, dass diese Verbrechen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten könnten. Dies würde dem Status des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals entsprechen. Aber sie befürchten wahrscheinlich genau das. Sie befürchten, dass die Verjährungsklausel nicht greift. Apropos, ich glaube, dies betrifft nicht nur Psychiater. Deshalb haben viele ein Interesse daran, unseren heutigen Zustand einzufrieren. Viele haben Angst vor der Verantwortung, für ihre Taten in der Vergangenheit. Und viele von ihnen leben noch. Erzählerin: Und sind oder waren noch immer als Psychiater an ihrem alten Arbeitsplatz tätig. So auch die Professorin Maja Malzewa - sie war am Serbski-Institut u.a. für die Gutachten über Natalja Gorbanewskaja und Walerija Nowodworskaja verantwortlich ? ebenso wie ihr Kollege und Ehemann Wjatscheslaw Kotow. Beide lehnten ein Interview mit dem Hinweis ab, dass das Serbski-Institut dem Gesundheitsministerium unterstellt sei und dass wir uns doch an die dortige Pressestelle wenden sollten, das sei die richtige Adresse. O-Ton Sawenko Übersetzer: Die Kasaner Strafpsychiatrie war de facto das Zentrum der Sonderkliniken. Als Vertreter der Unabhängigen Psychiatrie-Vereinigung haben wir mittlerweile alle anderen Strafpsychiatrien besucht und das mehrfach, aber in Kasan werden wir bis heute nicht rein gelassen. Im Januar 2010 haben wir uns erneut an die Kasaner Psychiatrie gewandt, mit der Bitte, die Anstalt zu besuchen. In ihrer Antwort hieß es, sie seien noch nicht bereit dafür. Wir sollten uns bitte noch ein wenig gedulden. Man bat uns um eine Verschiebung des Termins zum Jahresende. Erzählerin: Der Absender dieser abschlägigen Antwort war der ärztliche Leiter Prof. Foat Gatin, dem seit elf Jahren sämtliche psychiatrischen Kliniken und Behandlungsstätten der Republik Tatarstan unterstehen. Allein in Kasan zeichnet er für 185 Ärzte, 550 Krankenschwestern und zirka 2000 stationär behandelte Patienten verantwortlich. Der große "Natschalnik", wie er oft genannt wird, gibt keine Interviews, denn die Presse verdrehe eh alles. Nachdem wir allerdings sämtliche Verwandten auf einen sei es noch so entfernten Verwandtschaftsgrad zu Gatin hin geprüft hatten und fündig geworden waren, empfängt er uns dank dieser Vermittlung doch noch. Trotz seiner herausragenden Position ist das Russisch des Tataren äußerst mangelhaft. Den wunderlichen Eindruck, den dieser Mann auf uns machte, illustriert die wörtliche Übersetzung. Wir fragten Gatin nach der Kasaner Strafpsychiatrie zu Sowjetzeiten: O-Ton Gatin Übersetzer: So, ich arbeite elf Jahre hier. 60 Jahre - , vor 71 Jahren war das alles hier eins. Ein gemeinsames Krankenhaus. Und sie sind nun 71 Jahre eine eigenständige Einrichtung. Dort wird kein gerichtsmedizinisches Gutachten erstellt, dort läuft nur die Zwangsbehandlung. Per Gerichtsbeschluss. Und früher, so Gerüchte, dort gab es - das, was Ihr wissen wollt - das ist, das ist ja das, und politische, und andere, wohl unterschiedliche. Nun, und heute, solche gibt es auch. Ich bin der Meinung - heute nicht, haben sie nicht. Heutzutage, nun irgendwo irgendwelche Verstöße könnte es geben, aber ich meine, heute gibt es auch Beauftragte für Menschenrechte, auch die Staatsanwaltschaft hat ein Wort mitzureden. Sogar wenn man sich mal einen Spaziergang auf dem Hof ausspart, mit den Patienten, die wegen eines Gutachtenverfahrens hier sind, schon schreiben sie einen Beschwerdebrief. Die sind mir schon lästig! Musik Erzählerin:So intensiv wir uns auch bemühen, das Gelände der ehemaligen Strafpsychiatrie zu besichtigen, eine Erlaubnis erhalten wir ebenso wenig wie die Vertreter der Unabhängigen Psychiatrie-Assoziation. Das sei zu gefährlich, selbst der erste Direktor der Klinik, Alexander Frese, sei 1884 durch die zupackende Hand eines Geisteskranken getötet worden, außerdem bedürfe es des Einverständnisses jedes einzelnen Patienten, und Einsicht in die Archivunterlagen ginge auch nicht, sie unterlägen der ärztlichen Schweigepflicht. O-Ton Natascha Übersetzerin: Über das Thema Psychiatrie-Missbrauch wird heutzutage nicht mehr gesprochen. Auch unsere alten Archive sind leider alle verbrannt worden. Die Räumlichkeiten sollten leer geräumt werden, deshalb mussten wir die Archive loswerden. Was die bekannten Persönlichkeiten angeht - vielleicht waren hier mal welche - aber heute wird darüber wirklich nicht mehr gesprochen. Erzählerin: Die junge Ärztin Natascha Jerofejewa meint damit Persönlichkeiten wie den Breschnew-Attentäter Viktor Iljin, den schwedischen Diplomaten und Judenretter Raoul Wallenberg, den Flugzeugkonstrukteur Andrej Tupolew, den Gründer der Sozialistischen Akademie der Gesellschaftswissenschaften Alexander Geuchbarg und Nadezhda Ivanova-Wassiljewa, die sich als Großherzogin Anastasia Romanowa ausgab. Sie alle sollen in der Kasaner Strafpsychiatrie eingesperrt gewesen sein. O-Ton Natascha Übersetzerin: Das ist doch ein Gefängnis, eine geschlossene Anstalt. Dort kommt man nur mit einem Ausweis rein. Nur die eigenen Mitarbeiter. Ansonsten muss man mit dem ärztlichen Leiter darüber sprechen und erst dann darf man das Gelände betreten. Wir gehen da nie hin. Sie haben ihre eigenen Wissenschaftler, auch der Chefarzt ist ein Dr. habil med., sie brauchen uns nicht. Nur hin und wieder kommen die Ärzte von dort zu uns in die Fortbildung. Erzählerin: Wir lernen Natascha als diensthabende Ärztin kennen, als wir an einem Montag zum verabredeten Interview mit ihrem Chef Prof. Anton Karpow kommen. Sie wundert sich über diesen Termin, schließlich sei Feiertag und niemand da. Feiertag deshalb, weil vorgestern, am Samstag, russischer Nationalfeiertag war. Und da es, so die Regierung, nicht zumutbar sei, wegen des Nationalfeiertages ein Wochenende zu zerstören, hatte sie angeordnet, das Wochenende zu verschieben: So wurde aus dem Sonntag ein Samstag und aus dem Montag ein Sonntag. Wir machen also einen neuen Termin, diesmal einfach für den nächsten Tag. Und das funktioniert. Atmo: Foyer PK Erzählerin: Prof. Karpow empfängt uns in seinem Büro, in dem sich auch die anderen Mitarbeiter des Lehrstuhls aufhalten. Er ist um die 50, asketisch, mit schütterem grauen Haar und schmalen Lippen. Er leitet den Lehrstuhl für Psychiatrie, Narkologie und Psychotherapie, ist für die Weiterbildung der Ärzte zuständig und arbeitet für Interpol im Bereich der Drogenbekämpfung. Als wir das Zimmer betreten, winkt er uns zu sich, nimmt hastig seine eingerahmten Diplome und den Interpol-Ausweis von der Wand, breitet sie vor uns auf dem Besprechungstisch aus und beginnt zu erzählen: In seinen Weiterbildungskursen unterrichte er nach einem selbst entwickelten Weltmodell, das der Maslowschen Bedürfnispyramide, einem Modell der humanistischen Psychologie aus den 40er-Jahren des US-Amerikaners Maslow nahe stehe und in dem es vereinfacht um die Harmonie von Körper, Geist und Seele gehe. Nach einigen Minuten dürfen wir dann das Mikrofon aufstellen, doch schnell wird klar, dass es so gut wie unmöglich ist, ein Interview mit ihm zu führen, denn egal, welche Fragen wir ihm stellen, Prof. Karpow doziert unbeirrt und ungebrochen an seinen vorbereiteten Anschauungsblättern, Grafiken oder Computerbildern entlang: O-Ton: Karpow Übersetzer: Warum entstehen bei uns Konflikte? Warum? Sagen wir mal, zu Sowjetzeiten waren alle gleich arm, das heißt alle waren bescheiden, alle waren arm. Und alle konnten kostenfrei Bildung, medizinische Versorgung genießen, Urlaub machen, nicht wahr? Das alles war kostenfrei. Die sozialen Bedürfnisse konnten also befriedigt werden. Geistige Bedürfnisse gab es damals auch: Wir haben am Kommunismus gebaut, an unserer hellen Zukunft, das heißt diese Priorität, das Verhältnis zwischen dem biologischen, seelischen und geistigen war richtig, war harmonisch, war natürlich. Auch die psychische Gesundheit des Einzelnen und der Gesellschaft - sie war, nun ja, sie war besser. Die Gesundheit des Menschen und der Gesellschaft war besser als jetzt. Erzählerin: Professor Karpow fährt fort, dass sich, als Russland kapitalistisch wurde, die körperlichen und die Konsumbedürfnisse erweiterten und sich zu Lasten der sozialen Kompetenzen ausdehnten. Unermüdlich präsentiert er uns Grafiken, die diese Veränderungen veranschaulichen sollen. Die Verengung bzw. das Verschwinden der geistigen Ebene, also der hohen Ziele des Kommunismus, sowie der sozialen Ebene, haben bewirkt, dass es keine Kontrolle der körperlichen Ebene mehr gebe. Und so sei die soziale Ungerechtigkeit entstanden. Eine Mitarbeiterin fragt, wie lange der Professor denn noch den Computer benötige, sie müsse arbeiten. O-Ton: Karpow Übersetzer: Deshalb besteht unsere Aufgabe darin, zu meinem Modell zurück zu finden. So hat uns Gott erschaffen, nur so können wir sein und nicht anders. Alle Varianten, dieses Modell zu verlassen, führen zur Zerstörung. Erzählerin: Mit seinem Modell ? Harmonie zwischen den Ebenen - könne man sogar die Völker im Frieden vereinigen, denn es gebe genug für alle, selbst für die Amerikaner, die aus irgend einem Grunde mehr Besitztümer bzw. Nahrung als die anderen bräuchten. Um seine Thesen zu untermauern, hat Karpow seit seiner Anstellung vor 27 Jahren das nationale Liedgut analysiert und kam dabei zu der erstaunlichen Feststellung, dass sozialistische Lieder den Menschen innerlich harmonisierten, während demokratische Gesänge niedere Gelüste und Chaos schürten. Das allen DDR-Kindern bekannte russische Kinderlied "Immer lebe die Sonne, immer lebe der Himmel, immer lebe die Mama und auch ich immerdar", sei ein gelungenes Beispiel, es sei harmoniefördernd und auch die Hierarchien stimmten: Ganz oben sei die Sonne, dann komme der Himmel, dann die Mama, dann ich. Im Gegensatz dazu stehe das Lied, das derzeit - von einem dunkelhäutigen Franzosen - auf allen russischen Kanälen rauf und runter gespielt werde: "Ich bin dein Schokohäschen, dein zärtlicher Schurke." 1200 Lieder hat Professor Karpow im Laufe seiner Karriere analysiert. Atmo: Fähre-Anlegestelle Erzählerin: Nach diesem Gespräch und unseren vergeblichen Versuchen, die eigentliche Strafpsychiatrie zu besuchen, machen wir uns auf den Weg zu der ehemaligen Dependence der Kasaner Psychiatrie, zur Klosterinsel Swijazhsk. Sie liegt 40 Kilometer stromabwärts mitten in der Wolga. Auch über ihre Geschichte ist nur wenig bekannt - Atmo: Fähre- Karambolage Erzählerin: - und wenn die Reise in diese traurige Vergangenheit richtig beginnt, erlebt man noch im Hafenbecken eine erste Bootskollision, die zustande kommt, weil die Kapitäne gerade trinken oder schlafen. Atmo: Fähre- Anlegen Erzählerin: Nach geschlagenen drei Stunden taucht die Klosterinsel Svijazhsk in der Mitte der Wolga auf, und die golden und silbern in der Sonne leuchtenden Zwiebeltürme der auf einer Anhöhe nebeneinander gelegenen Kathedrale und Kirche kommen langsam näher. Atmo: Klosterhof Erzählerin: Wir machen uns auf den Weg zum Männerkloster. Dort war mit der Oktoberrevolution und nach Liquidierung aller Geistlichen ein Gefängnis für Konterrevolutionäre eingerichtet worden. Stalin diente es später als ein Straflager. Auch von einem Straflager für Kinder ist immer wieder die Rede, bis es ab 1953 der Kasaner Psychiatrie als Außenstelle diente. Wir sprechen eine ältere Dame an, die mit uns die Fähre verlassen hat. O-Ton: Alte Dame Übersetzerin: 500 Menschen wurden in den beiden Klosterhäusern untergebracht. Schaut euch das an. Sie werden jetzt renoviert. Stellt euch vor, unter welchen Bedingungen sie da alle gehaust haben. Erzählerin: Die 80-jährige Dame arbeitete 36 Jahre in der Psychiatrie, nicht als Krankenschwester, wofür sie eigentlich ausgebildet war, sondern in der Statistik. O-Ton: Alte Dame Übersetzerin: Ich konnte den Anblick der psychisch kranken Menschen mit ihren unterschiedlich starken Symptomen einfach nicht ertragen. Zunächst hatte ich als Krankenschwester angefangen, aber ich schaffte es nicht. Ich konnte nicht. Ich habe so einen Charakter - alle taten mir leid. Sprechgesang - Russisch-Orthodoxer Gottesdienst Erzählerin: Die Patienten und Gefangenen kamen mit dem Kutter. In Svijazhsk war Endstation. Die vielen Toten, die es zu allen Zeiten dort gab, vergrub man auf dem Klostergelände, in angelegten Massengräbern, in der Mülldeponie, am Ufer oder auf dem Tatarenberg. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die idyllische Insel in ein Massengrab verwandelt, auf dem man heute spazieren geht. Sprechgesang - Russisch-Orthodoxer Gottesdienst Erzählerin: Die Spuren dieser Vergangenheit, die sich noch lange an den Gemäuern abzeichneten, sind endgültig zur 450-Jahrfeier 2001 einem neuen Anstrich gewichen. Heute lebt wieder ein Mönch auf der Insel, ein Hotel und ein Museum sind in Planung. In der Nähe des Frauenklosters treffen wir zwei alte Frauen, die ebenfalls ihr Leben lang für die Kasaner Psychiatrie gearbeitet haben - die eine als Krankenschwester, die andere als Hauswirtschafterin. Ob es möglich wäre, uns ein Interview zu geben? O-Ton: Alte Frauen Übersetzerin: Frau 1: Nein, Mädels (lachen), was soll man da schreiben? Über die alten Weiber? Was soll´s. Über Junge muss man heute schreiben. Wir sind ja schon - wir sind ja von Gestern. Wir sind gelebte Leute. (lachen) Erzählerin: Ihre Erzählungen über die Zeit von damals wirken unbeschwert und völlig unreflektiert: So war eben das Leben, ja, vor der Psychiatrie war hier eine Strafkolonie, es gab auch eine Kinderstation, ja, und auch ein Gefängnis für Frauen, wo sie ihre Babys zur Welt brachten; nein, wir hatten hier nur echte Kranke, keine Politischen, die mussten auf den Kolchosen arbeiten, es gab immer wieder Ausbrüche, aber man wurde ja müde hinterher zu rennen, heute gebe es nur noch Drogensüchtige, deshalb suche niemand nach ihnen... Wovon sie träumen, fragen wir. ? Von einem normalen Leben: O-Ton: Alte Frauen Übersetzerin: Frau 1: So wie wir früher gelebt haben, eben besser als jetzt. Was haben wir davon, wenn wir träumen? Wenn es einen Traum gibt, dann geht es ums Geld, damit du einkaufen kannst. Dann isst du was und trinkst. Das sind unsere Träume. Kleidung brauchen wir nicht mehr. Mode brauchen wir nicht. Wenn ich mir etwas anziehe, dann trage ich es bis zum Wochenende. (lachen).Frau 2: Keiner guckt uns mehr an. Was du anhast, wenn du kommst, hast du auch an, wenn du gehst. Frau 1: So etwas brauchen die jungen Leute. Was sollen wir damit? Auch dieses Wasser brauchen wir nicht, und das Gas. Wir werden es sicher gar nicht bedienen können. Wir werden uns immer wieder angucken müssen, wie man es ein- und ausschaltet. Atmo: Swijazhsk vor den drei Kirchen (viele Vögel) Erzählerin: 1988 wurden die 16 Strafpsychiatrien der UdSSR wieder dem Gesundheitsministerium unterstellt und 776 000 sogenannte "Patienten" von der Erfassungskartei gelöscht. Die Krankheit "Schleichende Schizophrenie" gibt es nicht mehr. Die Ärzte und Pfleger, die in Sowjettagen für die Strafpsychiatrie tätig waren, durften allerdings nach der Perestroika einfach weitermachen und sind zum Teil bis heute in Amt und Würden. 1993 trat das Gesetz über "Psychiatrische Hilfestellung" in Kraft, wonach eine unfreiwillige Einweisung nur noch in gesetzlich festgelegten Fällen möglich ist. Auf Zwangseinweisung einer offenkundig gesunden Person steht seitdem ein Freiheitsentzug von bis zu 7 Jahren. Allerdings wird dieser Paragraph praktisch nicht angewendet, da dem Arzt Vorsatz nachgewiesen werden muss. Im Zweifelsfall können die Psychiater ihre Vorgehensweise immer irgendwie rechtfertigen. Anfang der 90er-Jahre wurden auch in Russland die Krankheiten nach dem ICD, der internationalen Klassifikation von Krankheiten, eingestuft. O-Ton Sawenko Übersetzer: 1995 begann der Tschetschenienkrieg, und das war die Niederlage der demokratischen Kräfte in unserem Land, denn dieser Krieg ermöglichte den Aufstieg der Silowiki in die Machtstrukturen. Mit ihnen setzte sich der autoritäre Führungsstil durch. Anfang der 90er-Jahre hatte das Serbski-Institut noch öffentlich bereut, aber seit den letzten zehn, fünfzehn Jahren wird dieser Missbrauch wieder geleugnet, jetzt wird gesagt: Es gab keinen Missbrauch. Erzählerin: In der Duma wurde im Juli 2010 ein Gesetz über die Erweiterung der Befugnisse des Geheimdienstes FSB verabschiedet. Es gibt den Sicherheitskräften wie damals das Recht auf sogenannte "vorbeugende Maßnahmen" im "Kampf gegen Terrorismus und Extremismus", das heißt, der FSB kann künftig Personen zum Gespräch vorladen und verwarnen, falls er die Vorbereitung einer Straftat vermutet, und er kann Personen bis zu 15 Tagen festhalten oder eine Geldstrafe verhängen, falls sie seiner Ansicht nach die Arbeit des FSB behindert haben. Musik O-Ton: Gorbanewskaja Übersetzerin:im fernen, der vergangenheit, so fern / doch sinn-entleert noch nicht / in jener stadt, an jenem fluss / und feucht fließt mir die hände ab / herunter wie herab / mein schicksal stürzt mir ab / die träne geht über die wangen / die schulter krummt sich unterm joch / die sprache ätzt / der laut löst sich / kein sinn, kein ton / ein ultraschall, ein nichts / das mir die wange bohrt. Absage: Dissident, also geisteskrank. Die Strafpsychiatrie im russischen Kasan Ein Feature von Elena Knipp und Heike Tauch Übersetzung aus dem Russischen: Elena Knipp Es sprachen: Valery Tscheplanowa und Michael Weber Die Erzählerin war: Anja Herden Ton und Technik: Ernst Hartmann und Beate Braun Regie: Heike Tauch Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem MDR 2010 Die Sendung wurde gefördert durch das Bosch-Stipendium "Grenzgänger" 2010. Redaktion: Hermann Theißen 26