DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 12.04.2011 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 ? 20.00 Uhr Der Aufstand der ?Wasserbüffel? Die Opposition der Rothemden in der Militärdiktatur Thailand Von Dieter Bauer Co-Produktion: DLF/HR/SR/SWR/WDR URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - MUSIK One night in Bangkok makes a hard man humble not much between despair and ecstasy one night in Bangkok and the tough guys tumble can't be too careful with your company I can feel the devil walking next to me ? Siam's gonna be the witness to the ultimate test of cerebral fitness this grips me more than would a muddy old river or reclining Buddha ? So you better go back to your bars, your temples and your massage parlours One night in Bangkok and the world's your oyster the bars are temples but the pearls ain't free you'll find a god in every golden cloister a little flesh a little history I can feel an angel sliding up to me ÜBERSETZER 1 - leicht gekürzt: Eine Nacht in Bangkok macht den härtesten Mann bescheiden, lässt ihn verzweifeln, macht ihn ekstatisch, pass bloß auf, wer dir da Gesellschaft leistet. Ich fühle den Teufel neben mir gehen. ? Thailand ist der ultimative Test für deine Hirnfitness, da gibt?s noch mehr als liegende Buddhas. ? Also geh in deine Bars und Massagesalons, eine Nacht in Bangkok und die Welt ist deine Auster, die Bars sind Tempel, doch die Perlen nicht gratis, du findest einen Gott in jedem Kloster, ein bisschen Fleisch, ein bisschen Geschichte, ich fühle einen Engel an mir herauf gleiten. ATMO: Kreuzblende Schüsse, Tumult bei Vorfall unten O-TON ? deutsch (dt) Die haben keine Warnschüsse gegeben, sondern sie haben direkt auf die Leute geschossen. Der erste, der angeschossen worden ist, ist in den Bauch geschossen worden und in den Arm. Er ist gestorben dann auf dem Weg ins Krankenhaus. Und zwei andere: Dem einen ist in den Arm geschossen worden, der andere hat zwei Streifschüsse abbekommen in die Schulter und in das Bein. SPRECHER: Mai 2010, Bangkok: Die thailändische Armee schoss auf Tausende Menschen. An der Rajaparop-Straße, auf der heute wieder der Verkehr tobt, sind noch unzählige Einschusslöcher zu sehen. Die Soldaten, die damals geschossen haben, wurden jedoch nie ermittelt, geschweige denn bestraft. Stattdessen bangen die Überlebenden von damals weiter um ihre Gesundheit; unter ihnen der deutsche Journalist Nick Nostitz, der in Bangkok lebt und arbeitet. Auch seine Familie kann sich in Bangkok nicht mehr sicher fühlen: O-TON ? dt: Meine Frau kann nachts nicht mehr auf die Straße. Ich habe in der Schule von meinem Sohn auch darum gebeten, dass wenn Fremde irgendein Interesse haben, dass man mir das dann sofort sagt. Ich fahre meistens mit dem Motorrad herum, schaue immer in den Rückspiegel, ob mich jemand verfolgt. Es gibt bestimmte Gegenden, in die ich nachts nicht mehr kann. Wo mir gesagt wurde, dass gewisse Pläne bestehen, mich zu verprügeln. ANSAGE: Der Aufstand der ?Wasserbüffel? Die Opposition der Rothemden in der Militärdiktatur Thailand Ein Feature von Dieter Bauer SPRECHER: Offiziell ist Thailand eine konstitutionelle Monarchie, doch in Wirklichkeit steuern die Militärs das Land. ?Sicherheitskräfte? verfolgen die demokratische Opposition - vor allem die sog. Rothemden, die zuvor bei freien Wahlen historische Mehrheiten erzielten. Der damalige Regierungschef der Rothemden, Thaksin Shinawatra, setzte sich für mehr soziale Gerechtigkeit ein und half den Armen, sich zu organisieren. Die feudale Elite des Landes sah dadurch ihre Interessen bedroht. Sie putschte gegen Thaksin ? und ließ seitdem immer wieder auf dessen Anhänger schießen. Bisheriger Höhepunkt waren die Angriffe auf Zivilisten im Frühjahr 2010, bei denen über 90 Menschen starben und Tausende verletzt wurden. Doch die Rothemden sind nur angeschlagen, nicht verschwunden: Trotz vieler Verbote haben sie wieder begonnen, unter den Augen der Militärs zu demonstrieren. Mit einem Touristenvisum bin ich nach Thailand gereist und musste verdeckt arbeiten. Zwar werden internationale Berichterstatter nicht mehr umgebracht, wie im Frühjahr 2010, als auch zwei Journalisten erschossen und zehn weitere verletzt wurden. Aber Mitarbeiter deutscher Organisationen berichten, dass Anträge für Pressevisa monatelang unbearbeitet bleiben ? mit dem Ziel, unbequeme Recherchen zu verhindern. O-TON - dt: Am frühen Morgen sind wir aufgewacht, als die Armee begonnen hat, die Barrikaden mit den Panzern einzurollen. Gegen zehn oder halb elf hat der Anführer der Rothemden, der Yatuporn, dazu aufgerufen: Die, die hier draußen auf Ratchaprasong bleiben, müssen damit rechnen, dass wir gemeinsam in den Tod gehen. Das war ein Moment für uns, so unwirklich. Dass ein Anführer da steht mit 5000 Leuten live und dazu auffordert: Wir gehen gemeinsam in den Tod. Und man hört die Schüsse im Hintergrund. Das war schwer zu verkraften. (ringt um Stimme) Das war schwer. ATMO: Dutzende Soldaten schießen mit Maschinengewehren in Richtung der Demonstranten SPRECHER: Josef Meier ist nicht der richtige Name des hünenhaften Mannes, der nun mit den Tränen ringt. Der deutsche Fabrikant muss anonym bleiben: Denn sonst würde er schnell in einem thailändischen Gefängnis landen. Meiers Vergehen: Er wurde am 19. Mai 2010 Zeuge, wie Soldaten mitten in Bangkok ein riesiges Lager der Rothemden mit Panzern und Granatwerfern angriffen. Einige Rothemden schossen zurück: mit Steinschleudern, Feuerwerkskörpern und ein paar Faustfeuerwaffen. Wie viele Menschen allein während dieses Angriffs genau starben, wird sich kaum noch klären lassen. Josef Meier wurde nur zufällig Zeuge: Weil er aus seinem Hotelzimmer auf das Epizentrum der so genannten ?Feuer frei-Zone? schaute, die die Armee für das Wohn- und Geschäftsviertel rund um die Ratchaprasong-Kreuzung ausgerufen hatte. O-TON - dt: Kurz nach eins haben dann die Führer aufgegeben und haben gesagt, sie ergeben sich der Polizei. Und der Großteil der Rothemden ist daraufhin in den Tempel geflüchtet. Deren radikalere Elemente haben dann angefangen zu randalieren. Das war ein extremer Nachmittag: Es gingen insgesamt achtunddreißig Gebäude in Flammen auf in Bangkok. Und ein Großteil hier in unserer Nachbarschaft rings um uns herum. ATMO: Original-Atmo vom Großbrand SPRECHER: Bald waren im Fernsehen brennende Wolkenkratzer zu sehen, dazwischen gewaltige Rauchschwaden. Die Bilder erinnerten an New York und das brennende World Trade Center. Die Soldaten verkündeten eine nächtliche Ausgangssperre, um ?Recht und Ordnung wiederherzustellen?. Noch in derselben Nacht ging eines der größten Kaufhäuser der Welt in Flammen auf: das Central World Plaza. Ein achtstöckiger Gebäudeblock stürzte dabei komplett ein. Der Geschäftsmann Josef Meier beobachtete den spektakulärsten Brand direkt vor Ort: Obwohl dies sehr gefährlich war, verließ er am frühen Nachmittag des 19. Mai 2010 sein Hotel und ging in Richtung des Kaufhauses ?Central World Plaza?. Er machte dabei sogar Fotos. Vor dem Kaufhaus traf Meier zuerst auf versprengte Grüppchen von Rothemden: O-TON - dt Die haben versucht, von dem Einkaufszentrum Scheiben einzuschlagen und haben es nicht einmal geschafft, ein Loch hineinzuschlagen. Sie haben dauernd ihre kleinen Molotow-Cocktails geworfen. Was ich von meiner Ingenieurausbildung und auch von meiner militärischen Ausbildung her kenne: Die Mittel, die hier angewendet wurden, konnten nicht genügend Energie in das Haus bringen, um den ganzen Shopping-Komplex in Brand zu setzen, und teilweise zum Einsturz zu bringen. SPRECHER: Als Josef Meier die Rothemden beobachtete, brannten nur kleine Feuer außerhalb des Kaufhauses. Seine Fotos beweisen, dass es zu diesem Zeitpunkt noch hell war. Im Internet zeigen viele andere Fotos und Videos ähnliche Bilder. Erst nach Anbruch der Dämmerung brannte das Kaufhaus plötzlich lichterloh, und der Brandherd lag hoch oben im achten Stock. Haben das auch die Rothemden zu verantworten? Oder haben die Militärs nachgeholfen, um von den massakrierten Zivilisten abzulenken? Bald bemerkt Josef Meier vor Ort Soldaten. O-TON - dt: Sie haben sich nicht so bewegt, wie man sich bewegen würde, wenn man mit Scharfschützen und Heckenschützen und Terroristen rechnet. Da bewegt man sich als Soldat in Deckung und nicht auf der Straße. Die sind hin und her gelaufen, haben das Feuer beobachtet und haben keinen Versuch unternommen, irgendein Lösch-Fahrzeug zu sichern. Die offizielle Version, die Lösch-Fahrzeuge konnten nicht an das Central World, weil die angeblich von Terroristen beschossen wurden - da kann ich nur sagen: Das habe ich nicht so beobachtet. Interessanterweise: Ich habe die Soldaten zwischen 5 Uhr und 5 Uhr 30 fotografiert. Und das erste Foto, das das richtig große Feuer im achten Stock zeigt, ist 5 Uhr 40. SPRECHER: Der Fabrikant Josef Meier kann nicht daran interessiert sein, seine brisanten Beobachtungen zu erfinden: Seit langem reist er mehrmals im Jahr nach Bangkok, um vor Ort ungestört seinen Geschäften nachzugehen. Doch im Mai 2010 war es mit der Ruhe vorbei: Als Meier anderen von seinen Erlebnissen erzählte und einige seiner Fotos zur Veröffentlichung freigab, wurde er von einem hochrangigen Armeeangehörigen verwarnt. Meier erinnert sich an seine geschäftlichen Gespräche mit den Thais der Oberschicht: O-TON - dt: Eine gewisse Schicht von Leuten hat die Tendenz, weniger privilegierte Landsleute praktisch wie Tiere zu behandeln und sie nicht als volle Menschen mit den gleichen Rechten anzusehen. Ich glaube, das ist eine der wichtigsten Wurzeln von diesem Konflikt. Dass die Elite sich das Recht nimmt, das Land zu beherrschen. Und der Thaksin, als der Premierminister war, war eigentlich der erste, der direkt auf die Armen zugegangen ist, auf die ärmere Bevölkerung im Isaan, und ihnen doch einige fassbare Vorteile gegeben hat. SPRECHER: In Thailand regieren traditionell die Stärksten: Symbolisch schwebt König Bhumibol über allen - als gottähnliche Figur, die Demut einfordert. Faktisch bringt das Militär die notwendigen Waffen mit, um Macht auch wirklich durchzusetzen. Die großen Geschäftsleute besitzen genügend Geld, um ihrerseits Einfluss zu erkaufen. Seit etwa acht Jahrzehnten regiert diese Allianz aus Militärs, König, Politikern und Geschäftswelt das Land. Den Nachwuchs rekrutiert man meist aus den gleichen alten Familiendynastien, so wie es im Mittelalter der Adel in Europa hielt. Zwar leistet sich Thailand bereits seit dem Jahr 1932 eine Verfassung, mitsamt Parlament und Parteien. Doch seitdem putschte die Armee bereits 18mal, um unerwünschte Entwicklungen und missliebige Wahlergebnisse zu unterdrücken ? zuletzt 2006. MUSIK SPRECHER: Aus Sicht der Privilegierten hätte das ewig so weitergehen können. Auch dann, als in den 90er Jahren plötzlich ein selbstgebackener Geschäftsmann auftauchte, der es mit neuen Technologien ganz schnell zum Milliardär gebracht hatte. Es wäre ganz oben noch ein Platz frei gewesen für den aggressiven Emporkömmling. Doch dann geschah Erstaunliches: Der reiche Geschäftsmann begann, sich ausgerechnet für die Benachteiligten der Gesellschaft einzusetzen - die Bauern, Arbeiter und kleinen Angestellten, die von den Herrschenden traditionell als ?Wasserbüffel? beschimpft werden. Schlimmer noch: Der neureiche Milliardär begann, sich politisch zu betätigen und forderte die ?Wasserbüffel? auf, selbst aktiv zu werden! Prompt wurde das niedere Volk aufmüpfig: zum Beispiel die unzähligen Taxifahrer, die ihre Fahrgäste auf Motorrädern durch die Städte Thailands fahren. O-TON - thai ÜBERSETZER 2: Der Herr Thaksin hat viel für uns getan. Wir müssen seither keine Angst mehr vor der Mafia und der Polizei haben. Heute sind wir gut organisiert. Obwohl Herr Thaksin Thailand verlassen musste, profitieren wir weiterhin von dem System, das er uns hinterlassen hat. Ich wünsche, Herr Thaksin würde zurückkehren. Wenn ich könnte, würde ich ihn zurückholen. SPRECHER: Herr Badinton gehört zu den 200 000 Motorrad-Taxifahrern in Bangkok, die täglich insgesamt fünf Millionen Kunden fahren. Die Taxifahrer sind typische Arbeiter in einem klassischen Schwellenland. Wie etwa drei Viertel aller Thais arbeiten sie im informellen Sektor: ohne Arbeitsverträge und soziale Absicherungen, in einem ungeschützten Arbeitsverhältnis. Doch den Motorrad-Taxifahrern geht es heute trotzdem besser als noch vor sechs, sieben Jahren: Weil Ex-Regierungschef Thaksin damals ein neues Ausgabesystem für die orangenen Sicherheits-Westen erfand, die jeder Motorradtaxi-Fahrer bei der Arbeit tragen muss. Diese Westen sind nummeriert und gelten als Arbeitserlaubnis, so wie bei uns der Taxischein. Nur wer eine Fahrprüfung bestanden hat, darf offiziell und legal seine Arbeit als Fahrer aufnehmen und die orangene Weste tragen. O-TON ? thai ÜBERSETZER 2: Früher stand an jeder Straßenecke ein Mafioso und verteilte gefälschte Westen an arbeitswillige Fahrer. Wer arbeiten wollte, musste sich von ihm eine Weste leihen und dafür täglich einen Euro Schmiergeld zahlen. Die Mafiosi waren übrigens meist Polizisten außer Dienst, die durch Schmiergeld viel mehr verdienten als mit ihrem Polizisten-Gehalt. Dann kam Herr Thaksin: Er erklärte sämtliche alten Westen für ungültig und ließ neue Westen verteilen ? gratis! Seitdem tragen wir unsere eigenen Westen und die Mafia geht leer aus. Zuerst wollten uns die Mafiosi verprügeln. Aber Herr Thaksin richtete für uns auch eine Beschwerdestelle ein. Und seitdem herrscht Ruhe, zumindest in unserem Viertel. SPRECHER: Gleich nachdem Thaksin im Jahr 2001 zum Premierminister von Thailand gewählt worden war, legte er sich mit vielen mächtigen Gruppen an, darunter auch der Taximafia. Nahezu die Hälfte der Wähler hatte in freien Wahlen für seine Partei ?Thais lieben Thais? gestimmt ? ein einsames Rekordergebnis in der thailändischen Geschichte. Dem knallharten Geschäftsmann Thaksin waren die Mafiastrukturen zuwider. Der Emporkömmling lehnte die Strukturen einer Wirtschaft ab, die Pfründe auf feudale Art verteilte: nach Herkunft, anstatt nach Leistung. Der Anthropologe Claudio Sopranzetti von der amerikanischen Harvard-Universität meint, dass Thaksin einen modernen bürgerlichen Staat hervorbringen wollte. O-TON ? engl. the idea is basically ? informal economy by formalisation. ÜBERSETZER 1: Thaksin erkannte, dass sich ein Großteil der Wirtschaft im informellen Sektor abspielte. Der Staat als solcher hat davon aber nichts: Denn von den Umsätzen, die dort getätigt werden, nimmt er keine Steuern ein. Und so kann der Staat auch nicht investieren. In der Folge weitet sich der informelle Sektor immer weiter aus. Thaksin wollte die vielen kleinen Akteure in die formelle Wirtschaft überführen, zum Beispiel die Taxifahrer. Sie sollten nach Recht und Gesetz arbeiten. Sie sollten Steuern zahlen statt Schmiergelder. SPRECHER: Bald behinderte Thaksin auch Waffenhändler, Bordellbesitzer, die Glücksspiel-Mafia, Drogendealer und illegale Abholz-Konzerne bei ihren Geschäften. Dabei wird auch Thaksin von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch scharf kritisiert: In seinem ?Krieg gegen Drogen? ließ er viele vermeintliche Dealer und Drogensüchtige einfach umbringen. Und während Thaksins Amtszeit wurden im muslimischen Süden Thailands bei der Bekämpfung eines Volksaufstands schwere Verbrechen verübt. Sein Privatvermögen verplemperte Thaksin auf dekadente Weise: So kaufte er für fast 100 Millionen Euro den englischen Fußballklub Manchester City. Und schließlich wirtschaftete auch Thaksin in die eigene Tasche: Er ließ Steuergesetze rechtzeitig so einrichten, dass er ein gewaltiges Aktienpaket seines Telekom-Konzerns steuerfrei nach Singapur verkaufen konnte. Aber dann wurde er 2006 nach fünf Regierungsjahren von der Armee weggeputscht und ins Ausland vertrieben. Seitdem wittert das alte Establishment wieder Morgenluft, zum Beispiel die Taxi-Mafia: O-TON - thai: ÜBERSETZER 2: In unserem Viertel können wir unsere Arbeit zwar weiter alleine organisieren - ohne Schmiergelder. Aber ein paar Ecken weiter sind neue Taxifahrer aufgetaucht, mit gefälschten Westen. Diese Gruppen sind von der Mafia neu gegründet worden, um wieder ins Geschäft zu kommen. Wir wissen, dass die Mafia diesen Fahrern schon allein 125 Euro abknöpft, bevor sie überhaupt das erste Mal auf ihr Motorrad steigen dürfen. SPRECHER: Seit dem Militärputsch von 2006 nimmt auch die Korruption wieder zu: Auf dem Internationalen Korruptionsindex fiel Thailand seither zehn Plätze zurück, hinter Staaten wie Peru und Kolumbien. Dabei hatten die Militärs ihren Putsch gegen Thaksin ausgerechnet mit dem ?Kampf gegen Korruption? begründet. Die Militärs lösten auch den Staatsgerichtshof auf und ersetzten ihn durch ein eigenes Gericht. Gleich zu Anfang verboten die gefügigen Richter die von Thaksin gegründete Partei ?Thais lieben Thais?. Deren Anhänger gründeten daraufhin die Protestbewegung ?Vereinigte Front für Demokratie und gegen Diktatur?, kurz: die Rothemden. Ein Jahr später, 2007, setzten die Militärs dann Neuwahlen an, um ihren Putsch nachträglich zu legitimieren. Gefolgsleute des vertriebenen Ex-Premiers Thaksin gründeten kurz vor den Wahlen eine neue, thaksin-orientierte Partei, die PPP oder ?Partei der Volksmacht?. Schon der Name musste der feudalen Elite in den Ohren schmerzen. Aus dem Stand und unter den Augen der Militärs gewann auch die neue PPP fast die Hälfte aller Parlamentssitze! Schnell konnte sie mit kleineren Partnern eine Regierung bilden. Ihr Spitzenpolitiker Samak wurde zum Premier gewählt, um Thaksins Politik fortzusetzen. MUSIK SPRECHER: Viele Militärs, rechte Politiker und Geschäftsleute unterstützen jetzt lieber die Bewegung der ?Gelbhemden?, die bei den Protesten gegen die Thaksin-Politik entstanden war. Deren Fußtruppen stammen überwiegend aus der städtischen Mittelschicht, die ihre kleinen Privilegien gegen die Unterschichten absichern möchte. Gelb ist die Farbe des Königshauses, das ebenfalls gegen die Zumutungen der Demokratie geschützt werden soll. Deshalb fordern die Gelbhemden, bei künftigen Wahlen nur noch 30 Prozent der Abgeordneten vom Volk wählen zu lassen. Die Mehrheit der Parlamentarier solle zukünftig besser ?ernannt? werden, und zwar ?gute Leute von guten Leuten?. Mit solchen reaktionären Parolen setzen die Gelbhemden sogar die Militärs noch von rechts unter Druck ? und Premier Abhisit, der in den letzten Jahren immer wieder vage Neuwahlen ankündigte, zuletzt für den Sommer 2011. ATMO: Yellow Shirts-Krawalle am Bangkok Airport SPRECHER: Gleich nach dem erneuten Wahlerfolg der Thaksin-Anhänger griffen die Gelbhemden im Jahr 2007 den Sitz der gewählten Regierung an, außerdem Ministerien und Fernsehstationen. Sie blockierten Fernstraßen und Eisenbahnschienen, dann auch die internationalen Flughäfen Thailands. Dann waren wieder die willigen Richter des obersten ?Gerichtshofs? an der Reihe: Sie setzten den gewählten Thaksin-Nachfolger Samak ab, wegen ?Vorteilsannahme im Amt?. Sein Vergehen: Er war spaßeshalber als Koch im Fernsehen aufgetreten und hatte dafür eine kleine Aufwandsentschädigung erhalten. Auf die Gelbhemden reagierte dasselbe Gericht bisher ungleich großzügiger: Bis heute wurde niemand bestraft für deren Flughafen-Blockaden, obwohl die einen öffentlichen Schaden von rund zwölf Milliarden Dollar angerichtet hatten. Das Gericht löste auch die Nachfolge-Partei der Thaksin-Anhänger auf, die PPP. Zwei Koalitions-Parteien der PPP wurden ebenfalls aufgelöst. Nachdem die demokratisch legitimierten Mehrheitsparteien aus dem Weg geräumt worden waren, hatte der Militärgünstling Abhisit seinen großen Auftritt: Nach dem Militärputsch von 2006, dem Verbot von insgesamt vier Parteien und dem Straßenterror der Gelbhemden wählten ihn die übrig gebliebenen Parlamentarier noch 2008 zum Regierungschef. Auch Abhisits ?Demokratische Partei? wurde zwar zwischenzeitlich des Missbrauchs von Parteigeldern angeklagt, jedoch freigesprochen. Eine abgekartete Sache: Schon vor dem Urteil hatte es ein Geheimtreffen zwischen Richtern und Angeklagten außerhalb des Gerichts gegeben, wie versteckt aufgenommene Videos beweisen, die heute im Internet zu sehen sind. ATMO: Autos, Großstadt SPRECHER: Die Metropole Bangkok hat ungefähr neun Millionen Einwohner. Über 40 Millionen der etwa 64 Millionen Thais leben weiterhin auf dem Land, davon etwa die Hälfte im Nordosten des Landes in der Region Isaan. Isaan gilt als eine Hochburg der Rothemden: Von hier reisten im Frühling 2010 viele Tausend Menschen zu den Protesten nach Bangkok. Sie handelten aus politischer Überzeugung, meinen die Rothemden. Weil sie dafür bezahlt wurden, sagen ihre politischen Gegner. ATMO: Zug fährt an, Funkgerät, ?Show ticket please? SPRECHER: Seit der blutigen Niederschlagung des Volksaufstandes patrouillieren Polizisten und Soldaten in den Zügen, die Bangkok mit dem Isaan verbinden. Auch Busse und Flugzeuge werden überwacht. Die Diktatoren suchen nach Rothemden, die nach dem Volksaufstand in den Untergrund geflohen sind. Die Organisatoren der damaligen Demonstrationen gelten als Aufrührer, die obersten Anführer sind sogar des Terrorismus angeklagt. Viele der damals Festgenommen sitzen bis heute in Untersuchungshaft. Das Militär, Premierminister Abhisit und König Bhumibol wollen einen neuen Rothemden-Aufstand verhindern. Ich will herausfinden, wie die Rothemden selbst ihre Rolle sehen. O-TON ? thai: ÜBERSETZER 2: Herr Thaksin wurde uns geraubt und mit ihm eine große Chance für unser Land. Wir hatten es nicht für möglich gehalten, dass so etwas passieren könnte: Wir verlangen freie Wahlen, und die schießen auf uns! Das hätten wir keinem Herrscher zugetraut. Wenn bei einer fairen Wahl die Mehrheit der Thais die momentane Regierung wählen sollte, würden wir dies akzeptieren. Aber dieses Pseudo-Parlament gehört aufgelöst. Und dann brauchen wir demokratische Neuwahlen. ATMO 7: Geplauder mit Farmer SPRECHER: Herr Pokphet, wie ich ihn hier nennen will, ist Bauer. Er sitzt auf einer Bank vor seinem Haus, mitten in einem Dorf im Isaan. Herr Pokphet lächelt zwar, wirkt aber auch nervös: Das Interview kam auf Vermittlung einer lokalen Führerin der Rothemden zustande, die sich gerade in Bangkok vor den Behörden verstecken muss. Herr Pokphet sympathisiert mit den Rothemden. O-TON - thai: ÜBERSETZER 2: Herr Thaksin hat uns einfachen Leuten zugehört und geholfen. Er war auch nicht allein, er hatte gute Mitarbeiter. Aber wenn der neue Premier Abhisit und seine Leute in unsere Gegend kommen sollten, werden wir alles tun, um sie zu vertreiben. Herr Thaksin wurde zum Schweigen gebracht und vom Militär verjagt. Jetzt werden wir unser Möglichstes tun, die Obrigkeit zu verjagen. SPRECHER: Herr Pokphet trägt Arbeitskleidung: Stiefel, eine Hose in Tarnfarben, ein blaues Hemd und einen gelben Sonnenhut. Welten trennen ihn von den armen, militanten Bauern, die in Indien, Nepal und auf den Philippinen revoltieren. Denn Herr Pokphet sitzt vor einem schmucken Eigenheim: Durch die geöffnete Haustür sind ein Kühlschrank, ein Fernseher und ein DVD-Player zu erkennen. Neben Herrn Pokphet steht ein Moped und in seiner Brusttasche steckt ein Handy. Mit dieser Ausstattung könnte er in einem Werbefilm der Weltbank mitmachen: als erfolgreicher Bauer in einem Entwicklungsland. In Thailand arbeiten seit einigen Jahren viele kleine Landwirte ähnlich erfolgreich. Experten und Betroffene nennen vor allem einen Erfolgsfaktor, den auch Herr Pokphet sogleich erwähnt: die Dorfkredit-Kassen, die von Thaksin eingeführt wurden. O-TON - thai: ÜBERSETZER 2: Früher bekamen nur die großen Landbesitzer Kredite zu akzeptablen Konditionen, und zwar von privaten Banken. Uns kleinen Bauern blieben nur die Kredithaie mit ihren Wucherzinsen. Deshalb mussten wir damals unsere Früchte gleich nach der Ernte verkaufen, obwohl die Verkaufspreise zu dieser Zeit besonders niedrig sind. Dann kam Herr Thaksin: Er bot den Dörfern eine eigene Kreditkasse an, inklusive einem Anfangskapital von 25 000 Euro. Seitdem können wir aus unserer eigenen Kasse Kredite nehmen und tilgen, und das zu günstigen Konditionen. Oder wir kaufen mit dem Geld aus unserer Kasse gemeinsam als Dorfgemeinschaft Düngemittel beim Großhändler ein. Das ist billiger. Und danach zahlt jeder so viel zurück, wie er Dünger bekommen hat. Davon profitieren wir alle. Wir wissen selbst, was für unser Dorf am besten ist. ATMO: moped an, abfahren, radio läuft SPRECHER: Herrn Pokphet ist der Stolz auf seinen Wohlstand anzumerken. Er schwingt sich aufs Moped, schaltet sein umgehängtes Radio ein und möchte dem Reporter seine Felder zeigen. Zuerst das größte Feld: Dort baut er Reis an, damit seine Familie immer genug zu essen hat. Das war schon immer so, und dafür braucht Herr Pokphet keine Kredite. Aber zusätzlich hat er nun ein paar kleinere Felder gepachtet, auf denen er Nutzpflanzen anbaut: vor allem Pilze, Zuckerrohr und Gurken. Die verkauft er auf dem Markt. Mit den Erlösen kann er sich die Konsumgüter anschaffen. Die arbeitsintensiven nur für den Markt bestimmten sog. Cash Crops kann Herr Pokphet allerdings nur anbauen, weil er Zugriff auf die Kreditkasse hat: Mit den Kleinkrediten bezahlt er Hilfskräfte. Ohne diese Kredite könnte er dagegen nur seinen Reis anbauen, als Selbstversorger. Dann wäre er als Konsument ein Ausfall ? wie viele Bauern in anderen Entwicklungsländern. Stattdessen ist Herr Pokphet ein typischer Erfolgsfall für die Wirtschaftspolitik des Ex-Premiers, die viele Ökonomen inzwischen als ?Thaksinomics? bezeichnen. Thaksin selbst definiert seine Wirtschaftspolitik als ?dual track?, also als zweigleisig: Der Exportsektor Thailands soll durchaus weiter florieren, aber parallel soll ein Binnenmarkt der Normalverbraucher heranwachsen. Hilfsprogramme sollen den Armen zu einem Einkommen verhelfen, mit dem sie erstmals regelmäßig konsumieren können. Dass damit gleichzeitig die einheimische Wirtschaft gefördert wird, ist dem Geschäftsmann Thaksin nur recht. Viele Bauern sind heute ähnlich solvent wie Herr Pokphet: Die Dorfkredite werden überall in Thailand intensiv genutzt. Kein Wunder, meint der Anthropologe Claudio Sopranzetti: O-TON - engl: before running elections ? to enlarge even more. ÜBERSETZER 1: Thaksin hat damals vor jeder Wahl Marketing-Fachleute in alle Landesregionen geschickt: Sie sollten herausfinden, was die Menschen selber wollen. Für Thailand eine erstaunliche Idee: Denn hier fragen Politiker sehr selten nach den Wünschen der Bevölkerung. ATMO: Radiomusik/Reisernte, gelegentl. Stimmen SPRECHER: Die aktuellen Machthaber hassen selbstbewusste Bürger, bevorzugen Untertanen. Deshalb haben sie auch Herrn Pokphets liebste Radiostation verboten: den lokalen Rothemden-Sender. Der sendet illegal von einem geheimen Standort aus weiter. Die Dorfkredit-Kassen haben die neuen Herrscher zwar bisher nicht angetastet. Herr Pokphet ist dennoch misstrauisch. Denn eine andere Errungenschaft der Thaksin-Ära hat seiner Meinung nach bereits sehr gelitten: die öffentliche Krankenversicherung. Sie sollte erstmals auch armen Thais eine Mindestversorgung garantieren. Die Versicherung gibt es zwar noch, aber für Herrn Pokphet nur noch auf dem Papier: O-TON - thai: ÜBERSETZER 2: Die Regierung will zwar einige Thaksin-Projekte weiterlaufen lassen, um Unruhe zu vermeiden. Aber ihr ist der Sinn dieser Projekte gar nicht klar. Für die Krankenversicherung mussten wir zwar früher einen kleinen Monatsbeitrag in Höhe von 60 Cents zahlen. Aber dafür wurde auch jedem Beitragszahler eine volle Kranken-Versorgung garantiert. Die neuen Machthaber haben den Monatsbeitrag abgeschafft, aber mit ihm auch die Garantie, behandelt zu werden! Jetzt müssen wir im Hospital um eine Behandlung bitten. Prompt ist die Versorgung wieder unzuverlässig geworden, und definitiv schlechter. Tja: Man kann jetzt im Hospital gratis sterben. Wir trauen dieser Regierung nicht. Denen ist doch egal, wie es um uns steht. ATMO: Motor SPRECHER: Das internationale Image des Landes ist der thailändischen Regierung wichtig. Denn hiervon lebt auch die gewaltige Tourismus-Industrie: Obwohl die Armee im vergangenen Jahr wiederholt auf Einheimische wie Ausländer schoss, reisten mehr als 14 Millionen Touristen nach Thailand. Die Website der staatlichen Tourismus-Agentur ziert ein Foto, auf dem König Bhumibol lächelnd auf seine Schäfchen hinunter blickt. Das Image vom buddhistischen ?Land des Lächelns? ist Gold wert. Auch deshalb bieten die Militärs und Premier Abhisit vor Kameras den Rothemden Verhandlungen an. Doch wie steht es wirklich um den ?Prozess der nationalen Aussöhnung?, den Premier Abhisit der Europäischen Kommission versprochen hat? Wie geht das Regime mit der politischen Opposition fern der Hauptstadt um: in den ländlichen Gegenden? O-TON - thai ÜBERSETZER 1: Eigentlich leite ich hier die Stadtverwaltung. Außerdem wurde ich als Abgeordneter ins Stadtparlament gewählt. Doch im Frühjahr 2010 wurde alles anders: Damals übernahm das CRES die gesamte Macht in Thailand, das ?Zentrum für die Auflösung der Notstandssituation?. Dieses Zentrum wurde von den Sicherheitskräften in Bangkok geleitet. Es herrschte über ganz Thailand, auch über unsere lokalen Behörden und Parlamente. Die konnten einfach so Menschen festnehmen. Und Medien schließen, wenn die kritisch berichten. Die finden immer einen Weg, Leute loszuwerden, die ihnen nicht passen. Und offiziell dürfen wir die Machthaber nicht mal kritisieren. SPRECHER: Herr Nattapong, wie ich ihn getauft habe, ist ein mutiger Mann: Er hat von dem europäischen Reporter gehört und signalisiert, dass er etwas zu sagen hat. Herr Nattapong ist eine vertrauenswürdige Quelle: Nach vielen Jahren öffentlicher Arbeit ist er bestens bekannt in der ganzen Stadt, die ich deshalb auch nicht nenne und die mitten in der Isaan-Region liegt. Herr Nattapong gehört zu den Rothemden. Das von ihm angesprochene Komitee CRES wurde zwar mittlerweile offiziell aufgelöst und einige Notstandsverordnungen wurden aufgehoben. Doch hat sich praktisch wenig geändert: Statt des festen Komitees werden nun überall dort ?Kommandos für Operationen der inneren Sicherheit? gebildet, wo es den Machthabern gerade nützt. Wird irgendwo ein Rothemden-Treffen erwartet, errichtet ein Kommando eigens einen ?war room?, einen ?Kriegsraum?. Verschiedene Kommandos arbeiten auf nationaler, regionaler und Bezirksebene. Deren operative Arbeit wird meist von Soldaten geleitet. Die ?Kriegsräume? werden deshalb praktischerweise meist auf Militärgelände eingerichtet. Als jüngst Rothemden in Bangkok eine Demonstration ankündigten, trafen sich dort in einem Kriegsraum der Verteidigungsminister, die Chefs der Armee, der Marine, der Luftwaffe, der Polizei und der Geheimdienste, um ?Sicherheitsmaßnahmen? vorzubereiten. Nach den ?Maßnahmen? vom Frühjahr 2010 sitzen bis heute Menschen im Gefängnis ? auch in Herrn Nattapongs Stadt. O-TON - thai ÜBERSETZER 1: Genaueres wissen wir nur von vier Menschen, die aus unserer Stadt kommen und hier im Gefängnis festgehalten werden. Dabei bin doch eigentlich ich selbst zuständig für unser Stadt-Gefängnis. Aber ich komme nicht mehr heran, die Sicherheitskräfte halten mich fern. Deshalb wissen wir nicht genau, wie viele Bürger insgesamt eingesperrt sind; oder wie viele verschwunden sind. Manche fuhren mit dem Bus nach Bangkok und fehlten später auf der Rückfahrt. Immer mehr Menschen erzählen mir, dass aus ihrer Familie jemand fehlt. Meine Kollegen und ich erfahren solche Dinge aber nur zufällig. Was wirklich passiert ist, wissen nur die Kommandos. SPRECHER: Die Kommandos kann ich ebenso wenig ansprechen wie die Gelbhemden ? wegen meines Touristenvisums und weil Westreporter bekannt dafür sind, kritisch über Unterdrückungsmaßnahmen zu berichten. Auch gelb orientierte Regierungsstellen muss ich deshalb meiden. Nur weit draußen im Isaan kann ich Beamte und Politiker ansprechen, die als Rothemden selbst von Verfolgung bedroht sind. Herr Nattapong schaut während des Interviews nervös umher. O-TON - thai ÜBERSETZER 1: Ich weiß, dass ich beobachtet werde, wie viele andere auch. Die Führer der Rothemden werden sogar lückenlos überwacht, sofern sie nicht ohnehin bereits im Gefängnis sitzen. Wir müssen den richtigen Moment finden, um unseren Kampf wieder aufzunehmen. SPRECHER: Als wir das Gespräch gerade beenden, schaut ein Freund von Herrn Nattapong vorbei. Er hat gerade mit einer Frau gesprochen, deren Sohn damals in Bangkok erschossen wurde. Frau Abhasra, wie ich sie nennen will, erklärt sich zu einem Interview bereit. Um Frau Abhasra zu besuchen, steige ich erstmal in einen uralten Bus. Ich habe ihn am Straßenrand angehalten, denn in dieser Gegend gibt es weder feste Haltestellen noch Fahrpläne. Die Piste ist übersät mit Schlaglöchern. ATMO: Bus SPRECHER: Ihr Dorf liegt draußen auf dem Land, ich nenne es Rong Ho. Der Isaan ist nicht ohne Grund eine Hochburg der Rothemden: Die Region gilt als die ärmste des Landes. Landwirtschaft spielt hier immer noch die herausragende Rolle. Thailand gilt zwar als leistungsfähige Tigerwirtschaft mit einem starken, exportorientierten Industrie- und Dienstleistungssektor. Doch davon ist im Isaan nichts zu sehen. Zwar gibt es auch hier wenig bittere Armut, im Gegensatz zu vielen Regionen in den Nachbarländern Kambodscha und Burma. In Thailand sind auch abgelegene Dörfer wie Rong Ho elektrifiziert und ans Telefonnetz angeschlossen. Aber die schillernden Bilder aus Bangkok zeigen den Dorfbewohnern, dass sich die reiche Metropole sehr viel schneller entwickelt hat als ihre eigene Region. ATMO: Mopedfahrt mit Farmer SPRECHER: Auf den letzten Kilometern fahren nur noch Motorräder: Für ein Trinkgeld nehmen mich Jugendliche das letzte Stück mit. ATMO: Hahn schreit, Dorfleben, Hühner, Hähne, Hund SPRECHER: Das Haus von Frau Abhasra steht über 400 Kilometer entfernt von der Hauptstadt. Bangkok ist Frau Abhasra in Erinnerung geblieben, seitdem sie zum ersten Mal dorthin fuhr: im Frühjahr 2010, zu der großen Demonstration. O-TON - thai: ÜBERSETZERIN 1: Die riesigen Gebäude waren schon sehr beeindruckend. Diese vielen Menschen, diese vielen Autos. Alles sehr spannend. Am schönsten war es für mich natürlich, meinen Sohn wiederzusehen. Ich hatte ihm noch zu Hause sein Lieblingsgericht vorgekocht ? Fisch mit Chili-Paste ? und es nach Bangkok mitgenommen. Ich war glücklich, ihn da unter all den Rothemden zu sehen. Allerdings ermahnte ich ihn auch, er solle vorsichtig sein. ATMO: Hammer auf Blech, Bohrer SPRECHER: Neben Frau Abhasras altem Haus entsteht ein neues, noch stattlicheres Haus mit zwei Stockwerken, in dem sie später auch einen großen Laden eröffnen will. Den Neubau finanziert die Frau mit insgesamt mehr als 10 000 Euro. Sie erzählt mir, dass sie das Geld von staatlichen Einrichtungen und staatsnahen Stiftungen erhalten habe ? zusammen mit einer allgemein gehaltenen Beileidsbekundung wegen ihres getöteten Sohns. Zur Todesursache sowie den Mördern wurde nichts gesagt oder geschrieben: Ihr Sohn wurde am 19. Mai 2010 bei dem Massaker im Rothemden-Lager erschossen, wie ihr erst Zeugen berichtet haben. Das Regime hat ihr anscheinend Blutgeld gezahlt. Mit dem angeblichen ?Prozess der nationalen Aussöhnung?, mit dem Premier Abhisit die Europäische Kommission beschwichtigte, hat das nichts zu tun. Nichts weist darauf hin, dass die Mörder von Frau Abhasras Sohn gesucht würden. Als sie sich damals in Bangkok von ihrem Sohn verabschiedete, ahnte sie nicht, dass sie ihn nie mehr sehen würde. O-TON - thai: ÜBERSETZERIN 1: Nach drei Tagen hatte ich kein Geld mehr, um länger in Bangkok zu bleiben. Beim Abschied gab ich meinem Sohn noch fünf Euro. Er wollte sich davon eine Steinschleuder kaufen. Er sagte, dass er die noch brauchen würde: Irgendwann würde die Armee mit Gewehren angreifen. Und dann wollte er mit der Schleuder zurückschießen. SPRECHER: Am 19. Mai 2010 waren dann landesweit die Fernsehbilder zu sehen: von Panzern und Soldaten, die mit Maschinengewehren angreifen. Einige der fliehenden Rothemden schossen mit Steinschleudern und einigen wenigen Pistolen zurück. Am Ende starben nach Auskunft der lokalen Hospitäler ausschließlich Zivilisten, aber kein einziger Soldat. Frau Abhasra konnte an diesem Tag nicht fernsehen; sie musste arbeiten. Erst am Abend erreichte sie ein anonymer Anruf. O-TON - thai: ÜBERSETZERIN 1: Ein Mann sagte, dass mein Sohn tot in einem Krankenhaus läge. Da wurde ich ohnmächtig. Als ich wieder zurückrufen konnte, hob eine Krankenschwester ab und erklärte, dass ein Sicherheitsmann des Hospitals bei mir angerufen habe. Sie sagte, dass ich mich beeilen müsse, um die Leiche meines Sohns zu bergen. Sonst könnten andere sie mitnehmen und beiseite schaffen. Ich eilte nach Bangkok und fand seine Leiche im Hospital. Er hatte Schusswunden. Alle seine Habseligkeiten waren bereits verbrannt worden. ATMO: singende Mönche in Tempel SPRECHER: Ein paar Dörfer weiter wurde ein Führer der Rothemden ermordet. Unbekannte Täter schossen ihm in den Kopf. Während hinter den Kulissen die ?Kommandos? regieren, reorganisieren sich die Rothemden nur langsam. Ich folge einem Hinweis und besuche den Tempel einer Kleinstadt mitten im Isaan. Etwa einhundert Männer haben sich dort versammelt, um Mönche zu werden: Als ich ankomme, hat das Aufnahmeritual gerade begonnen. Allerdings wirken die frischgebackenen Mönche bereits auf den ersten Blick nicht ganz echt: Immer wieder verlassen ganze Grüppchen den Tempel, um ihr Handy zu zücken. Einige der in orangene Kutten gekleideten Männer stecken sich draußen sogar Zigaretten an. Das gilt normalerweise hier als Frevel. Doch selbst den Zeremonienleiter scheint das nicht zu stören. Einer der Mönche bemerkt meine Blicke und nimmt mich beiseite. O-TON - thai: ÜBERSETZER 1: Ich habe mich nie besonders für Politik interessiert. Aber jetzt engagiere ich mich bei den Rothemden. Ich fordere Demokratie. Mir ist klar geworden, dass es in Thailand keine echte Demokratie gibt. Stattdessen thronen über der angeblichen Regierung im Geheimen unrechtmäßige Mächte: der König und das Militär. ATMO: Mönchsritual in Halle: einer spricht vor, andere nach SPRECHER: Der Tipp stimmt: Das Ritual ist nur ein Vorwand. In Wirklichkeit findet hier eine geheime Strategieberatung der angeschlagenen Rothemden statt. O-TON - thai: ÜBERSETZER 1: Die wichtigsten Machthaber in Thailand sitzen beim Militär. Deren Chefs werden von der Königsfamilie geschützt. Ich denke, dass inzwischen die Hälfte aller Thais das genauso sieht. Allerdings nur heimlich, wegen der harten Strafen. Wir warten auf den Tag, an dem auch die andere Hälfte der Thais versteht, wie es hier wirklich zugeht. Dann wird das System zerfallen. Alle wissen, dass der König sehr krank ist. An dem Tag, an dem er sterben wird, werden wir keinen solchen König mehr haben. Kein anderer König wird jemals wieder so lange regieren. Niemand wird jemals so mächtig werden wie er. SPRECHER: Ich stehe ein wenig abseits von den anderen ?Mönchen?. Die Dolmetscherin ist ganz blass geworden. In Europa diskutieren nur noch Klatschblätter über Königshäuser, das Thema ist belanglos. Doch in Thailand sind kritische Kommentare über das Königshaus streng verboten. Kritik am König wird als ?Majestätsbeleidigung? bewertet und meistens mit 15 Jahren Haft bestraft. Und zwar pro ?Beleidigung?! O-TON - thai: ÜBERSETZER 1: Wegen dieses Gesetzes zur Majestätsbeleidigung können wir unsere Gedanken nicht frei äußern. Wir haben bisher keinen Weg gefunden, dieses Gesetz loszuwerden. Stattdessen werden Menschen wie Herr Thaksin, die viel Gutes getan haben, aus dem Land gejagt und als Kriminelle bezeichnet. Aber ich glaube immer noch an das Karma: Was wir im Leben tun, Gutes oder Schlechtes, fällt am Ende auf uns zurück. ATMO: Mönchs-Palaver in halliger Halle SPRECHER: Die Rothemden-Mönche verschwinden in einen großen Raum, um zu beraten, wie es im Kampf für Demokratie weitergehen soll. In den nächsten Tagen wollen sie von Tür zu Tür ziehen: Wieder als Mönche getarnt, wollen sie die Menschen fragen, ob sie noch einmal bereit sind, zu demonstrieren. Der Wille ist bei vielen da, aber sie haben auch Angst: O-TON - thai: ÜBERSETZER 1: Sicher wäre Thailand heute besser dran ohne das Königshaus und die Militärs. Aber bitte seien Sie vorsichtig mit dem, was ich ihnen sage: Ich bin nur ein normaler Bürger Thailands, und damit schutzlos. MUSIK One night in Bangkok makes a hard man humble not much between despair and ecstasy one night in Bangkok and the tough guys tumble can't be too careful with your company I can feel the devil walking next to me ? ÜBERSETZER 1: Eine Nacht in Bangkok macht den härtesten Mann bescheiden, lässt ihn verzweifeln, macht ihn ekstatisch, pass bloß auf, wer dir da Gesellschaft leistet. Ich fühle den Teufel neben mir gehen. ABSAGE Der Aufstand der ?Wasserbüffel? Die Opposition der Rothemden in der Militärdiktatur Thailand Ein Feature von Dieter Bauer Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Hessischen Rundfunk, dem Saarländischen Rundfunk, dem Südwestrundfunk und dem Westdeutschen Rundfunk 2011. Es sprachen: Axel Wandtke, Bruno Winzen, Ruth Schiefenbusch und Volker Niederfahrenhorst Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Anne Bartel Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Karin Beindorff 2