Auf der Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land Die Lange Nacht zum 100. Geburtstag von Heinrich Böll Autor: Terry Albrecht Regie: Sabine Fringes Redaktion: Dr. Monika Künzel Sprecher: Hartmut Stanke Valentin Stroh Sylvia Systermans Jürgen Albrecht Sendetermine: 16. Dezember 2017 Deutschlandfunk Kultur 16./17. Dezember 2017 Deutschlandfunk __________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Mögl. Zitateinsel (Sprecher/O-Ton Böll) Ich habe das Herz eines Künstlers // Eine bewohnbare Sprache in einem bewohnbaren Land // Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke // Heimat ist Sehnsucht nach Kindheit // Die Sprache kann der letzte Hort der Freiheit sein. Präludium Kriegsende 1945 Böll – Zitat KA 19, 59f. Was noch zu meiner Erinnerung gehört: der Staub und die Stille. Der Puder der Zerstörung drang durch alle Ritzen, setzte sich in Windeln, Bücher, Manuskripte, aufs Brot und in die Suppe, er war vermählt mit der Luft, sie waren ein Herz und eine Seele. (…) Das andere war schweigen wir von Schwarzmarkt und Diebstahl die Stille. Sie war so unermeßlich wie der Staub, und nur die Tatsache, daß sie nicht total war, machte sie glaubwürdig und erträglich. Irgendwo bröckelten in diesen unermeßlichen stillen Nächten lose Steine ab oder stürzte ein Giebel ein; die Zerstörung vollzog sich nach dem Gesetz umgekehrter Statik, mit der Dynamik im Kern getroffener Strukturen, und manchmal auch konnte einer am hellen Tag beobachten, wie ein Giebel sich langsam, fast feierlich senkte, Mörtelfugen sich lösten, weiteten wie ein Netz und es prasselten Steine. Die Zerstörung einer großen Stadt ist kein abgeschlossener Vorgang wie eine Operation, sie schreitet fort wie Paralyse, es bröckelt allenthalben, bricht dann zusammen. Autor Im September 1945 kehrt Heinrich Böll aus Krieg und Gefangenschaft zurück in seine Heimatstadt Köln. Sechs Jahre war er Soldat. Er befindet sich trotz Befreiung an einem Tiefpunkt, physisch und psychisch. O-Ton Böll (File 6999985975/ Zz 16.72010 (3´08-3`17) Ich hab das nicht als Stunde Null empfunden, sondern als Stunde Nichts. Es war kein schöner Zustand, ein Deutscher zu sein. Autor Heinrich Böll hat diesen Krieg als eine persönliche, aber auch als eine politische und nationale Katastrophe erfahren. Worte, gar eine neue Sprache zu finden, war sein Wunsch. Doch: O-Ton Böll (CD 5 /299, ca. 2` /KA 25, 182) Vergessen Sie nicht … daß wir einfach kaputt waren, verstehen Sie, krank, körperlich krank. Ich bin erst 1948 überhaupt in der Lage gewesen, mich mehr oder weniger körperlich zu regen. MUSIK (runter ziehen, stehen lassen) (Bernd Alois Zimmermann) 1. Kapitel „Sehnsucht nach Kindheit“ 1917 Zitat Böll ("Über mich selbst" (1959) in: Köln gibt´s schon Hg. R. Böll S.152-154) Geboren bin ich in Köln, wo der Rhein, seiner mittelrheinischen Lieblichkeit überdrüssig, breit wird, in die totale Ebene hinein auf die Nebel der Nordsee zufließt; wo weltliche Macht nie so recht ernst genommen worden ist, geistliche Macht weniger ernst, als man gemeinhin in deutschen Landen glaubt; wo man Hitler mit Blumentöpfen bewarf, Göring öffentlich verlachte, den blutrünstigen Gecken, der es fertigbrachte, sich innerhalb einer Stunde in drei verschiedenen Uniformen zu präsentieren; ich stand, zusammen mit Tausenden Kölner Schulkindern Spalier, als er in der dritten Uniform, einer weißen, durch die Stadt fuhr; ich ahnte, daß der bürgerliche Unernst der Stadt gegen die neu heraufziehende Mechanik des Unheils nichts ausrichten würde; geboren in Köln, das seines gotischen Domes wegen berühmt ist, es aber mehr seiner romanischen Kirchen wegen sein müßte; das die älteste Judengemeinde Deutschlands beherbergte und sie preisgab; Bürgersinn und Humor richteten gegen das Unheil nichts aus, jener Humor, so berühmt wie der Dom, in seiner offiziellen Erscheinungsform schreckenerregend, auf der Straße manchmal von Größe und Weisheit. Geboren in Köln, am 21. Dezember 1917, während mein Vater als Landsturmmann Brückenwache schob; im schlimmsten Hungerjahr des Weltkrieges wurde ihm das achte Kind geboren; zwei hatte er schon früh beerdigen müssen; während mein Vater den Krieg verfluchte und den kaiserlichen Narren, den er mir später als Denkmal zeigte. Meine väterlichen Vorfahren kamen vor Jahrhunderten von den Britischen Inseln, Katholiken, die der Staatsreligion Heinrichs VIII. die Emigration vorzogen. Sie waren Schiffszimmerleute, zogen von Holland herauf rheinaufwärts, lebten immer lieber in Städten als auf dem Land, wurden, so weit von der See entfernt, Tischler. Die Vorfahren mütterlicherseits waren Bauern und Bierbrauer; eine Generation war wohlhabend und tüchtig, dann brachte die nächste den Verschwender hervor, war die übernächste arm, brachte wieder den Tüchtigen hervor, bis sich im letzten Zweig, aus dem meine Mutter stammte, alle Weltverachtung sammelte und der Name erlosch. Autor Der Name des Vaters, Böll, blieb, die Wohnorte in der Stadt wechselten. Zitat Böll (Drei Tage im März (1975) in: H. Böll u. Köln S. 60f. (BW Bd. 24 S. 494f.) Mein Vater liebte Umzüge und zog sogar gern innerhalb der Wohnung um, das Schlafzimmer der Eltern wurde also woanders hin verlegt und das andere Zimmer dann dahin und das andere wieder dorthin. Zitat Böll: (Raderberg, Raderthal (1965) KA 14, 381-390) Als ich vier Jahre alt war, zogen wir aus der Vorstadt in einen noch halb ländlichen Vorort. Ich legte den Weg dorthin –er schien unendlich weit und ins Unendliche zu führen –auf der ersten Umzugsfuhre zurück, saß eingekeilt zwischen Stühlen, Kochtöpfen Kissen auf dem Handwagen (…) Das alte, dunkelblaue Kopfsteinpflaster der Raderberger Straße brachte Stühle, Kisten, Geschirr zwar ein bißchen in Bewegung, doch nichts ins Rutschen. (…) Es erforderte viel Mut, auch Vertrauen in die von Vaterhand festgezurrte Ladung – Flüche unsererseits, Zurechtweisungen seinerseits gehörten zu den Spielregeln – quer durch die enge Kölner Altstadt, zwischen Straßenbahnen, Autos, Pferdefuhrwerken hindurch, über die Kreuzungen am Platz der Republik, am Opernhaus, über Neumarkt und Heumarkt über die Deutzer Brücke zu steuern. Zitat Böll (Drei Tage im März (1975) in: H. Böll u. Köln S. 60f. (BW Bd. 24 S. 494f.) Ich habe von keinem meiner Elternteile den Eindruck, daß ich vernachlässigt worden wäre, auch von meiner Mutter nicht. (…) Wahrscheinlich war meine Beziehung zum Vater stark, aber zu meiner Mutter nicht geringer. Natürlich, die Mutter ist zu Hause, macht das Essen, kümmert sich um die praktischen Dinge; wir haben viel miteinander geredet, auch gespielt. Autor Der Vater, Viktor Böll, kam aus einer wohlhabenden Schreinerfamilie in Essen. Er zog nach Köln um, und strebte hier vor allem nach wirtschaftlichem Aufstieg und bürgerlicher Anerkennung. Das gelang zum Teil. Er konnte drei Häuser bauen, damals üblich als Altersvorsorge. Verlor aber auch Vermögen in der Weltwirtschaftskrise 1929. Zugleich spielte die Auseinandersetzung mit dem strengen katholischen Glauben, in dem noch die Eltern Heinrich Bölls erzogen wurden, eine wichtige Rolle. Heinrich Bölls erster Biograf, Heinrich Vormweg: Zitat Heinrich Vormweg: (Heinrich Böll Biografie, S.22) In Heinrich Bölls Familie hatte die in stolzer Glaubensgewißheit so skeptische Sicht auf die Kirche und viele ihrer im Zölibat lebenden Diener auch mit den Erfahrungen zu tun, die der Vater Viktor Böll als kleiner mittelständischer Unternehmer mit ihnen gemacht hatte. Die Kirche war lange der wichtigste Auftraggeber des Bildhauers und Schreiners, der viel Kirchengestühl für sie hergestellt und Kirchkunst für sie restauriert hatte. Er hatte Gelegenheiten in Menge gehabt, mitzubekommen, was das Zölibat praktisch bedeutete –es drängte eben auch zu sexuellem Mißbrauch. Zitat Böll: („Junge“ KA 21,418) Mein Vater hatte viel für Kirchen und Klöster gearbeitet, und seine Milieukenntnisse, die er uns nicht vorenthielt, waren ausreichend genug; diese hatten ihn wohl veranlaßt, uns striktestens das Ministrieren zu verbieten (wozu ich übrigens nie die geringste Neigung verspürte). Autor Heinrich Böll und seine Frau, Annemarie, die er 1942 heiratete, waren gläubig, standen der Institution Kirche aber sehr kritisch gegenüber. Bölls literarisches Werk ist in vielen Fällen auch eine Auseinandersetzung mit der Kirche als Institution. Dieser Konflikt führte in den 70er Jahren dazu, dass das Ehepaar aus der Kirche austrat. Auch ihre Kinder, Raimund, René und Vincent gingen schon früh auf Distanz zur Kirche. O-Ton René Böll (282/1`18) Wir sind alle keine Messdiener geworden, wollten wir auch nicht. Bei der Beerdigung meines Großvaters wollten die uns unbedingt zwingen, Messdiener zu werden, weil kein Messdiener da war, haben wir aber nicht gemacht. Haben uns alle geweigert. (lacht) Autor Erinnert sich René Böll. Er ist Maler und kümmert sich heute um den privaten Nachlass seines Vaters. Heinrich Bölls Erinnerungen an die Kindheit zeigen einen Familienmenschen, der immer wieder das Gedenken an seine Eltern sucht, auch, um der Selbstverständigung willen, wie er es in dem Essay „Suchanzeigen“ beschreibt. O-Ton Böll (Suchanzeigen CD 4 /2Anfang und 3 Ende/ KA 18, 91,93,94,95) Ich suche ein Mädchen, zehn Jahre alt, wahrscheinlich blaß, dunkelhaarig, mit sehr großen, zur Melancholie neigenden dunklen Augen. Ich habe Grund zu der Annahme, daß sie schön ist. Ich kenne ihr Geburtsdatum, den Geburtsort, die Orte ihrer Kindheit und Jugend: Düren, Heinsberg, wahrscheinlich Palenberg, Aachen. Ich suche das Mädchen in einem bestimmten Jahr, im Jahr 1887. Ich suche nicht ihre Erinnerung, nicht die Erinnerung an sie, ich suche sie selbst. Ich suche einen wahrscheinlich rothaarigen, mageren, sommersprossigen zehnjährigen Jungen, der im Jahre 1880 morgens von der Schwanenkampstraße in Essen aus zur Schule geht. Er heißt Victor und wird viele Jahre später mein Vater sein. Über meinen Vater weiß ich einiges, über diesen zehnjährigen Jungen weiß ich nichts. Ich suche mich selbst, zehnjährig, mit dem Fahrrad zur Schule unterwegs. Nicht meine Erinnerung, nicht, was andere zu erinnern glauben. Meine Frau suche ich, zehnjährig, meine Kinder, Freunde, Geschwister. Ich möchte die verfluchte Chronologie Zerstören. Ich will nicht das Unvergängliche, das Gegenwärtige will ich, das vergangen ist. Nicht das Erzählte, nicht einmal das Wahre und schon gar nicht das Ewige. Ich will die Gegenwart der Vergangenen. Einsteigen und aussteigen, wo ich möchte, das Sprungseil vom Leipziger Platz und die Brote, die in der Machabäerstraße auf dem Schulhof gegessen wurden; Kreidestriche auf dem Trottoir der Teutoburger Straße,…die Klicker aus der Kreuznacher Straße. Den Apfel, in den ein Mädchen 1940 biß, oder den anderen, den ein andres Mädchen 1935 pflückte. Nicht als Andenken, nicht als Anekdotenvehikel, nicht als Vitrinenfetisch, nein, weil es da war, nicht mehr ist und nie mehr sein wird. Ich will das Haar, das vom Haupt gefallen ist. MUSIK 30er Jahre Schule Autor Heinrich Böll war Schüler des staatlich humanistischen Kaiser-Wilhelm-Gymnasium. 1938 schließen die Nationalsozialisten die Schule. Allein schon, um nicht zu schnell von einer der gehassten nationalsozialistischen Parteigruppen vereinnahmt zu werden, blieb Böll auf der Schule bis zum Abitur. Doch besuchte er sie auch? Zitat Böll („Junge“ KA 21, 391/390f.) Familiengerüchten zufolge – die, wie alle Familiengerüchte, mit Vorsicht zu genießen sind – bin ich von den letzten drei dieser vier Nazischuljahre nicht die halbe Zeit »zur Schule gegangen«. (390f.) …es wäre auch unzutreffend, wenn ich sagen würde, ich wäre unter der Naziherrschaft vier Jahre lang »zur Schule gegangen«. Vier Jahre zur Schule gegangen bin ich nämlich nicht, es gab, wenn auch nicht unzählige, so doch ungezählte Tage, an denen ich – abgesehen von Ferien, Feiertagen, Krankheiten, die ohnehin abzuziehen wären – keineswegs zur Schule ging. Ich liebte die (»Buschschule« kann ich nicht sagen, die Kölner Altstadt hat und hatte wenig Gebüsch, nennen wir es also) Straßenschule. Die Straßen zwischen Waidmarkt und Dom, die Nebenstraßen des Neu- und Heumarktes, alles, was rechts und links in Richtung Dom von der Hohe Straße abging, ich trieb mich gern in der Stadt herum, nahm manchmal nicht einmal als Alibi den Ranzen mit, ließ ihn zu Hause zwischen Überschuhen und langen Kleidungsstücken in der Garderobe. Schon lange, bevor ich Anouilhs Stück »Der Reisende ohne Gepäck« kannte, war ich gern ein solcher, und es ist bis heute mein (nie erfüllter) Traum, einer zu sein. Hände in der Tasche, Augen auf, Straßenhändler, Trödler, Märkte, Kirchen, auch Museen (ja ich liebte die Museen, ich war bildungshungrig, wenn auch nicht bildungsbeflissen), Huren (an denen in Köln kaum ein Weg vorbeiführte) – Hunde und Katzen, Nonnen und Priester, Mönche – und der Rhein, der Rhein, dieser große und graue Rhein, belebt und lebhaft, an dem ich stundenlang sitzen konnte; manchmal auch im Kino, im Schummer der Frühvorstellungen, in denen ein paar Bummler und Arbeitslose saßen. Meine Mutter wußte viel, ahnte einiges, aber nicht alles. Autor Erzählt Böll in seinem autobiografischen Bericht „Was soll aus dem Jungen nur werden“. Seine Mutter, Maria, war ihm eine solidarische Stütze. Sie stellte ihm Entschuldigungsschreiben aus und Krankschreibungen. Ralf Schnell (7`04) Böll hat sich dann mit diesem freien Hintergrund, den die Familie ihm geboten hat, entwickelt zu einem Jungen, der seine Präferenzen in der Wahl seiner Freunde und seiner Spielmöglichkeiten eigentlich eher bei den -sagen wir mal mit einem heutigen Begriff- Unter- oder prekären Schichten gesucht hat. Da fand er die Abenteuer, die ihn interessierten, die Ballspiele, die Wettkämpfe, die Raufereien, die einfach dazugehörten. Das hätte er so, wie er später in einem Lebensrückblick gesagt hat, in den gehobenen Schichten, denen seine Schulkameraden entstammten, nicht gefunden, sondern er hat sich dort ein eigenes kindliches Profil geschaffen, das er auch später im Sinne seiner antiautoritären Haltung weiter gepflegt hat. Ich nehme an, man könnte bei Böll nachweisen, dass er seine späteren Prägungen in dieser Jugendzeit gefunden hat. Autor Sagt der Literaturwissenschaftler Ralf Schnell. Schnell ist Mitherausgeber der Werke Bölls, der sogenannten Kölner Ausgabe. Während der letzten Schuljahre unternahm Böll auch erste Schreibversuche. Viele dieser Texte wurden zum ersten Mal in der Kölner Werkausgabe veröffentlicht. So auch das Gedicht „Spaziergang am Rhein“ von 1937, das schon Themen der modernen Stadtentwicklung kritisch aufgreift, aber auch Bölls Hingezogensein zum Rhein. Zitat Böll „Spaziergang am Rhein“ (1937) (KA 1, 130) Fünf Minuten hinter dem höllischen Lärm gräßlichster Disharmonien, hinter den Wohnungen der Hunderttausende, die nicht mehr wissen, was sie tun, liegt die Stille, kein Stern am Himmel. Die Nacht ist nicht dunkelblau wie schwarzer Samt sie ist wie ein dünner schwärzlicher Brei über alle Dinge gegossen aber hier ist Ruhe fünf Minuten nur hinter der Hölle. . . Nur vereinzelt dringt das vorlaute Bellen eines der Götter unserer Zeit eines »Automobilisten« bis hierher. Sonst ist Stille. . . erst glaubt man, die Ohren müßten zer- bersten, so ungewohnt ist ihnen der Friede geworden Ralf Schnell (nach 8`34) Die Geschichten … zeigen, dass Böll sich auch literarisch die Jugendzeit, seine Umgebung, die Häuser, die Architektur, die Psyche der Menschen, die Farbigkeit der Stadtteile und dergleichen mehr, dass Böll sich das alles frühzeitig angeeignet und dass er es literarisch verarbeitet hat. Er hat es zu seinem …Material gemacht. Das ist bereits frühzeitig erkennbar. Es sind Arbeiten, heute immer noch lesbare Arbeiten, die seine frühe Begabung zeigen. Autor Johann Peter Hebel, Charles Dickens und vor allem Fjodor Dostojewski waren Schriftsteller, die Böll zu dieser Zeit nicht nur zu lesen begann, sondern die auch auf sein Schreiben großen Einfluss hatten. Nach der Schule bricht er eine Buchhändlerlehre ab und immatrikuliert sich an der Universtität Köln. Doch bevor Böll das Studium aufnehmen kann, erhält er den Einberufungsbescheid. Seine Mutter, die im letzten Kriegsjahr starb, weinte. Auch Bölls zwei Brüder werden Soldaten. Alle drei werden überleben. Eine ungewöhnliche Familienstatistik für den Zweiten Weltkrieg. MUSIK Zitat Böll (Kriegsbriefe, KB 1, 13) Osnabrück, 31.8.1939 Liebe Eltern und Geschwister! Eben haben wir die ersten Brocken bekommen, morgen gibt es vollständige Uniform. Hier laufen dauernd lange Züge mit Zivilisten ein. Hoffentlich können wir bald den Krieg endgültig abblasen und wieder bis auf weiteres friedliche Zivilisten werden. Euer Hein Autor Schreibt Heinrich Böll am Vorabend des Überfalls auf Polen, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Er ist seit ein paar Tagen in Osnabrück stationiert. Er wird zum Infanteristen ausgebildet und kommt zunächst nicht an die Front. Seine ersten Briefe richten sich ausschließlich an seine Familie. 1940 lernt er Annemarie Cech kennen, seine künftige Frau. Seit dieser Zeit adressiert er die meisten Briefe an sie. Sechzig Jahre später wird Annemarie Böll sie veröffentlichen. Im Vorwort notiert sie: Annemarie Böll (KB 1, 10) Obwohl wir uns während seiner Zeit beim Ersatzbataillon oft sahen, schrieb Heinrich Böll mir auch damals wie später aus Frankreich fast täglich mehrere Briefe, von der Ostfront schrieb er so oft wie möglich. Das Schreiben wurde für ihn lebenswichtig. Er war früh überzeugt, daß es sein Beruf sein würde, und da der Krieg ihn auf Jahre hinaus von dieser Lebensarbeit fernhielt, war das Schreiben von Briefen nicht nur eine Flucht aus dem bedrückenden Kriegsalltag, sondern auch die einzige Möglichkeit, Erlebnisse und Gefühle in Sprache umzusetzen. Ralf Schnell (12`15) Böll hat sechs Jahre lang während des Krieges darunter gelitten, nicht wirklich in Ruhe schreiben zu können. Er hat es versucht, es gibt Berichte in seinen Kriegsbriefen von Schreibversuchen, die aber immer wieder abgebrochen werden mussten. Das versteht sich von selbst, durch die Kriegseinwirkungen und durch die Unmöglichkeit, sich irgendwo zurückzuziehen, um in Ruhe etwas zu schreiben, zu entwerfen, zu arbeiten und zu überarbeiten. Zitat Böll (KB 1, 283) Paris, 2.1.1942 Ich habe das Herz eines Künstlers, wenn es auch tief verschüttet ist … tief, tief… Autor Obwohl die Familie Böll keine Anhänger der Nationalsozialisten war - der Spitzname von Bölls Mutter Maria lautete Clara Zetkin - und auch keinen Krieg wollte, hat Heinrich Böll den Krieg nicht von Anfang an abgelehnt, sagt Ralf Schnell. Ralf Schnell (15`50) …er ist, als er eingezogen wurde, … eigentlich doch Soldat gewesen in dem Bewusstsein, wir werden in den Krieg müssen und wir werden versuchen, diesen Krieg möglichst schnell zu beenden. (…) Die Realität sprach vollständig dagegen. So dass man sagen kann, im Laufe dieser sechs Jahre der Kriegsteilnahme hat Böll zunehmend erkennen müssen, dass das, woran er da teilnahm, eine einzige Katastrophe war. …Wenn man diese Passagen seiner Briefe an seine Frau vor allem liest, dann merkt man, dass Böll vor sich selber auch eine Rechtfertigung brauchte, warum er diesen Wahnsinn, den er hasste, doch weiterhin mitmachte. Autor In den ersten Jahren ist es zunächst der stupide Alltag eines Soldaten, von denen seine Briefe erzählen. Ein Rettungsanker war für ihn die Musik. Zitat Böll (KB 1, 125) Heinrich Böll an Annemarie Cech Mülheim, den 5. November 1940 Kannst Du dir vorstellen, was für einen Soldaten Musik sein kann. Noch niemals habe ich das Glück gehabt, so oft wie ich schon als Soldat in allen möglichen Cafés und Kneipen gewesen bin, schöne Musik zu hören. Aber heute, heute spielen sie mir Beethoven und Mozart. Es war zwar nur Radiomusik, aber es ist Musik. Es gibt wohl nichts, wovon ich so sehr abhängig bin, was meine Gefühle und Stimmungen so plötzlich und grundlegend ändern und bestimmen kann, wie Musik. Ich bin ihr gleich verfallen. Eine tiefe, aber irgendwie sehr glückliche Schwermut ergreift mich, und ich bin losgelöst von all den sonst so gräßlichen Kleinigkeiten meiner Umgebung; … von den Qualen des Kasernenlebens, die mich sonst ständig begleiten. Keine Kunst ist so sehr wie die Musik eine zugleich leise und glückliche und doch so wilde traurige Erinnerung an das Paradies; eine so zarte Hinweisung auf die Ewigkeit, so zart und doch so deutlich genug, daß wir für eine Weile über die Last dieses Lebens hinwegkommen. MUSIK (Beethoven) Autor Böll war ohne militärischen Ehrgeiz und fühlte sich den einfachen Soldaten wie er es war, als Infanterist, näher als den Offizieren, zu denen er auch hätte gehören können. René Böll (5`25) Er war Infanterist, die ganze Zeit. Er wollte auch nicht Offizier werden. (…) Es war ja sehr einfach, gab ja wenige Abiturienten. Jeder Abiturient hatte die Chance Offizier zu werden. (6`16) Den Stumpfsinn, dieses Gehorchen müssen, diesen ganzen Schwachsinn, den er da mitmachen musste. (…) Er hat sich als einfacher Soldat gefühlt, war ja sehr jung damals noch. Er hätte als Offizier natürlich Privilegien gehabt. Autor Der Glaube, seine Empathie für die Armen und Schwachen der Gesellschaft, die sein späteres Werk auszeichnen werden, aber auch seine antiautoritäre Haltung zeigte sich schon zu Kriegszeiten. In einem Brief an seine Frau bezeugt er seine Widerständigkeit gegenüber einem General anlässlich eines Truppenbesuchs. Zitat Böll (KB 1, 171) 17. Februar 1941 An Annemarie Dann kam der General, ziemlich gravitätisch, hat alles beguckt, und dann hat er so allerlei gefragt, so en passant, und weißt Du, was er mich gefragt hat, der General mich: `Bist du nicht gerne Soldat, mein Sohn?´ Ich habe, angesichts von einem halben Dutzend Offiziere, tapfer geschwiegen, obwohl ein knechtisches und automatisches Jawohl mir unbedingt entschlüpfen wollte. Stell dir nur vor, ich habe lediglich einen kleinen winzigen Stern auf dem Arm und Er, Er hatte funkelnde, rote Mantelaufschläge und viel, viel Gold an seinem Gewande; aber ich habe geschwiegen … und der Herr General hat sich abgewendet… MUSIK Autor 1941 liegen noch über vier Jahre Krieg vor Heinrich Böll, und die Fronterfahrung. Die Schreckenserlebnisse nehmen zu und zugleich die Möglichkeit zu schreiben ab, denn die Versorgungslage verschlechtert sich, auch was die Papierbeschaffung betraf. René Böll (10`38) Auf der Krim hat er oft aus den Kalendern Seiten rausgerissen und darauf geschrieben. In Frankreich war es kein Problem Papier zu bekommen, Tinte Füllfederhalter. Auf der Krim sind viele Sachen mit Bleistift geschrieben. Das hatte er immer bei sich. Autor René Böll hat jetzt das Tagebuch seines Vaters aus dem Krieg veröffentlicht. Als es an der Front immer schwieriger wurde Briefe zu schreiben und die Zensur strenger wurde, hatte Böll noch die Möglichkeit Tagebuch zu führen. Oft sind es nur kurze Anrufungen an seine Frau oder Gott. Aber im Gegensatz zu den Briefen kann er ungefiltert schreiben. René Böll (8`45) Das Tagebuch ist ja unmittelbar entstanden. Man kann wirklich sagen im Schützengraben. Sofort als er verwundet wurde, hat er das niedergeschrieben. Es hat eine Unmittelbarkeit, die die Briefe in der Form nicht haben. Und es ist sehr kurz, oft nur so Stichworte: Ekel, Angst, totale Verlassenheit. Manchmal nur so einfache Worte. Es ist fast wie eine Poesie zum Teil, ganz erstaunlich, wenn man das so liest. Als wir es zuerst sahen, dachten wir, da steht ja gar nicht viel drin. Aber darum geht es gar nicht. Es ist gar nicht die Menge des Textes, aber die Intensität ist überraschend. Zitate Böll Kriegstagebücher 13.11.43 Wir liegen auf einer Höhe, in einem von der Artillerie zermahlten Sonnenblumenfeld die Sonne scheint und die Vögel singen… Anne-Marie, mein Leben. Gott gebe, daß ich Dich wiedersehen darf. Gott lebt. Morgens Trommelfeuer durch Artillerie, Granatwerfer, Flieger -, Panzer …3 Panzer sind vor unserer Linie erledigt! Gedanken während der Feuer nie vergessen! 22.11.43 Sonntag Morgens Friede und Sonnenschein nachmittags heftiges Feuer Ich habe beide Hände verbunden, völlig hilflos und am rechten Enkel, ein daumendickes Loch. Meine Strümpfe, der Geruch von 14 Tage altem Blut. 27.11.43 Gräben gebaut. Mittags trinke ich mit Leutnant Spieß einen wunderbaren Cognac und wir träumen zusammen vom Leben. [Nachts Angst Träume von Bunker] 28.11.43 Morgens lange Posten gestanden. Leutnant Spieß löst mich ab …. [Träume von einer Hochzeit] Leutnant Spieß fällt neben mir um 12.40. Die russische dunkle Erde trinkt viel Blut von Leutnant Spieß Abends quälendes Essenholen. Leutnant Spieß liegt draußen im Regen [Seine Frau; Frau Leutnant Spieß, Köln-Nippes Auerstr.] Fürbitten für Leutnant Spieß Uff. Beyer beim Tod von Leutnant Spieß. GOTT LEBT! GOTT LEBT! Zitat Böll Kriegsbrief (KB 2, 957) Kriegsbrief an Annemarie Böll vom 30. November 43 Zuerst muß ich dir etwas sehr Trauriges schreiben: der Leutnant, mit dem ich zusammen lag, ist gestern gefallen. Es hatte so lange gutgegangen in unserer Kampftruppe, daß wir alle gestern tagsüber aus unseren Löchern kamen, um zu schauen und auch, um uns einmal im Sonnenschein zu wärmen und zu entlausen. Dabei ist der Leutnant etwas sehr weit herausgegangen, um sich einmal richtig zu strecken, und so traf ihn eine der verirrten Kugeln gleich in den Kopf. Er war gleich tot. Wir waren beide gute Freunde geworden in diesem Loch hier. … Aus unserer näheren Gemeinschaft ist es der erste, der gefallen ist. Zitat Böll Kriegsbrief (KB 2, 1061) Kriegsbrief, Ungarn 9. Juni 44 Heute morgen beim Verbinden sah ich zum erstenmal meineWunde … sie sieht doch erschreckend aus; die größte ist genauso groß wie ein Lindenblatt, dort, wo der größte Splitter hineingegangen ist … man erschrickt doch, wenn man sich so zerstört sieht; der Krieg ist doch Irrsinn! Zitat Böll (KB 2, 1063) Kriegsbrief Sepsiszentgyörgy, 10. Juni 44 an Annemarie Böll Mich ekelt der Krieg an, der ist allmählich zu einer irrsinnigen Verwirrung geworden, es gibt keinen Glauben … mehr, und das Maß der Leiden unserer Infanterie ist erfüllt. Zitat Böll Kriegstagebuch 4.August 1945 Ich unterschreibe den Entlassungsschein !!! 8. August 1945 Hunger und Hunger Tabak Hunger 11.9.45 Ich habe Angst vor dem Leben und stelle fest, daß ich die Menschen hasse! MARIA Anne Maria 15.9.45 Entlassung in Bonn MUSIK von Bernd Alois Zimmerman Ralf Schnell (23`30) „In Stahlgewittern“, das ist ganz überraschend, wenn man die Kriegstagebücher Bölls liest, ist für Heinrich Böll ein herausforderndes und an- und aufregendes Werk gewesen. Das ist ja ein Buch, das die Erlebnisse Ernst Jüngers im 1. Weltkrieg eben in „Stahlgewittern“ vorführt, erzählt, wiedergibt, auf eine Weise, in der noch heute spürbar ist die Katastrophensituation des Augenblicks, die Erfahrung der Granaten, die rechts und links zwischen einem Soldaten einschlagen, einem Soldaten, der anschließend dieses Erlebnis in Sprache zu fassen versucht und das in einer ungeheuren Dichte und Prägnanz schafft. Das hat Böll sehr imponiert, das hat Böll mitten im Granatenhagel gelesen und dazu Notizen in seinem Tagebuch gemacht, in seinem Kriegstagebuch, also das ist schon auch von heute her eine verstörende und aufregende und auch spannende Korrespondenz zwischen dem Erlebnis des 1. Weltkriegs und des 2. Weltkriegs. Autor Bölls Kriegsbriefe und das Kriegstagebuch gehören zu den eindringlichsten Dokumenten über die Sinnlosigkeit des Krieges. Sie sind ein literarisches Vermächtnis und zugleich ein Schlüssel für das Verständnis des Schriftstellers Heinrich Böll, der er nach 1945 werden sollte. Eine bleibende Lektüreerfahrung Bölls ist „Das Blut der Armen“ des französischen Philosophen und Schriftstellers Leon Bloy. Bloy hat eine theologie der Armut entwickelt. Er war selbst arm bis an die Elendsgrenze seine eigenen Kinder sind verhungert. Böll zu seiner ersten Begegnung mit den Schriften Bloys in den 30er Jahren: O-Ton Böll zu Bloy (CD 5, 313, 1`50 / KA 25, 478) Zunächst die Geschwister, Freunde, eine Gruppe von Menschen. Wir trafen uns regelmäßig, nicht mit der Absicht, irgendeinen aktiven Widerstand zu bilden oder zu organisieren, aber mit innerer Widerständigkeit ausgestattet. … Bei Bloy muß noch etwas hinzufügen: Es ist nicht nur die Kirche, die er angreift u. a. einen bestimmten spießigen Katholizismus, er hat sehr viel über Geld geschrieben; das Geld hat ihn ungeheuer beschäftigt – die rein materialistische Interpretation und Bedeutung des Geldes, wie sie etwa Marx analysiert und ausgesprochen hat, bei ihm ergänzt wird durch eine fast Metaphysik des Geldes. Ich habe immer gedacht, ich habe es damals nicht so bewußt empfinden können, daß das eine Ergänzung ist wäre, gegenüber der rein materialistischen Interpretation von Geld, Geld verdienen, Arbeit usw. Es geht ja bei ihm bis in die wirklich tiefe metaphysische Beschäftigung etwa mit der Prostitution im Zusammenhang mit Geldverdienen usw. Da sehe ich etwas, was Bloy ergänzt hat. Die Polemiken innerkatholischer Art waren auch sehr bedeutend, haben auch ihre Wirkung gehabt und haben fortgewirkt in Generationen von Schriftstellern, aber das war nur eine Seite. Die andere war für mich genauso wichtig. Autor Neben der Kriegserfahrung sollten die soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung der Menschen und die unrühmliche Rolle der katholischen Kirche im Zweiten Weltkrieg für den Schriftsteller Böll in der neu entstehenden Bundesrepublik die Themen werden. René Böll (24`) Der Reichtum der Kirche war ihm auch sehr fremd. Er war eher Franziskusartig, das war ein Vorbild für ihn, nicht der jetzige Papst, sondern der heilige Franziskus: einfach, volksnah bescheiden. MUSIK Autor Doch zunächst ist Böll einer von tausenden Kriegsheimkehrern, der am existentiellen Minimum lebt. Mehrfach ausgebombt bezieht die junge Familie Böll, gemeinsam mit anderen Familienangehörigen eine Wohnung in der Kölner Schillerstraße. Zeitweise hilft Heinrich Böll seinem Bruder Alois in der Schreinerei, arbeitet als Hilfsarbeiter bei der Stadt Köln und betreibt das von Kardinal Frings sanktionierte „Fringsen“, den Kohle- und Holzklau von Güterzügen. Annemarie Böll nimmt ihre Tätigkeit als Lehrerin wieder auf und schafft damit eine finanzielle Grundlage für die um die drei Söhne Raimund, René und Vincent anwachsene Familie. Ein Prozess des sich Durchschlagens, der sich bis Anfang der 50er Jahre hinzieht und dem Schreiben entgegensteht. In einem Brief vom 4.3. 1949 an seinen ersten Lektor schreibt Böll: Zitat Böll (zitiert nach Gespräch Ruinen, Niedecken, 6312149101 / 40` -44`55) Es ist so, dass ich monatlich durchschnittlich 150 Mark durch Stunden geben verdienen kann. (40`33) Meine Kraft ist wirklich begrenzt und auch erschöpft. Eine Zeitlang habe ich nebenbei arbeiten können, auch ziemlich brauchbare Dinge. Das ist nun aber, nach vier Jahren vorbei. Das entweder oder ist sehr wichtig und ich bin sehr bemüht Beschäftigung zu finden, die mich nicht an bestimmten Stunden und Wegen hindert, so dass ich mir meine Arbeit einteilen und bis zu einem gewissen Grade meine Pläne verfolgen kann. Meine wesentlichste Hilfe ist hierin meine Frau, die auch Stunden gibt. Sie war bis Ostern 48 noch voll amtliche Realschullehrerin. Auch werde ich von meinen Verwandten unterstützt, die mir irgendetwas zu verdienen geben, in dem ich Besorgungen mache oder ähnliches. Aber all dieses hängt mir ehrlich gesagt zum Halse heraus und ich werde jetzt noch einige Gesuche, die ich eingereicht habe, Lektoratsstellen und ähnliches, abwarten, dann kapituliere ich. (41`32) Meiner Familie gegenüber kann ich meine Lebensweise nicht länger verantworten. Und, obwohl ich manchmal für einen Augenblick glaube, eine Aufgabe zu haben, so ist mir im Grunde genommen die Literatur keine unglückliche Stunde meiner Frau oder meiner Kinder wert. Meine Frau beharrt zwar darauf, dass ich weiter arbeite, aber es deprimiert mich zu sehr, dass ich in den Flauten, wo ich nicht weiterarbeiten kann, nichts zu tun habe, während ich gleichzeitig zusehen muß, dass es an allem fehlt. (42`28) Eine Zeitlang habe ich es als Arbeiter versucht, aber dazu bin ich körperlich nicht mehr in der Lage. Ich war sieben Jahre Soldat, war vier Mal verwundet und nervlich erledigt. Aber, ich bin zu jeder Arbeit bereit, tippen, Korrekturen lesen und ich erkläre mich bereit, mein Leben lang den schwach intelligenten Sprösslingen gut situierter Leute, Latein, Mathematik und ähnliche Scherze beizubringen. Es wäre sehr sehr schmerzlich für mich, wenn ich meine Arbeit aufgeben müsste, aber ich werde es ohne Weiteres tun (43`) Musik Mögl. Zitateinsel (Sprecher/O-Ton Böll) Ich habe das Herz eines Künstlers // Eine bewohnbare Sprache in einem bewohnbaren Land // Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke // Heimat ist Sehnsucht nach Kindheit // Die Sprache kann der letzte Hort der Freiheit sein. Musik 2. Stunde „Die Freiheit des Künstlers“ Autor Direkt nach seiner Rückkehr aus dem Krieg hat Heinrich Böll angefangen zu schreiben. Es war die Suche nach einem Neuanfang, auch sprachlich. Zugleich galt es das Erlebte zu verarbeiten. Und das hieß, über den Krieg und die Erfahrungen, die er dort gemacht hat, zu schreiben. Sein erster Roman entsteht, „Der Engel schwieg“ - erscheinen wird er erst postum, im Jahre 1992. Das Buch beschreibt die Situation eines Kriegsheimkehrers in seine zerstörte Stadt, wo die Aufgabe auf ihn wartet, der Frau seines Kameraden von dessen Tod zu berichten. Zitat Böll „Der Engel schwieg“ (KA 5, 22f.) Der Feuerschein aus dem Norden der Stadt war stark genug, ihn die Buchstaben über dem Portal erkennen zu lassen: ». . . cent-Haus« las er und stieg vorsichtig die Stufen hinauf; aus einem der Kellerfenster rechts von der Treppe kam Licht, er zögerte einen Augenblick und versuchte, etwas hinter den schmutzigen Scheiben zu erkennen, dann ging er langsam weiter, seinem eigenen Schatten entgegen, der oben an einer unversehrten Wand höher stieg und wuchs und breiter wurde, ein schwaches Gespenst mit schlackernden Armen, das sich aufblähte und dessen Kopf schon über den Rand der Mauer hinweg ins Nichts gekippt war. Er trat über Glassplitter nach rechts und erschrak: sein Herz klopfte heftiger, und er fühlte, daß er zitterte: rechts in der dunklen Nische stand jemand, jemand, der sich nicht bewegte; er versuchte, etwas zu rufen, das wie »Hallo« klang, aber seine Stimme war klein vor Angst, und das heftige Herzklopfen behinderte ihn. Die Gestalt im Dunkeln rührte sich nicht; sie hielt etwas in den Händen, das wie ein Stock aussah er ging zögernd näher, und auch, als er erkannte, daß es eine Plastik war, ließ das Klopfen seines Herzens nicht nach: er ging noch näher und erkannte im schwachen Licht einen steinernen Engel mit wallenden Locken, der eine Lilie in der Hand hielt; er beugte sich vor, bis sein Kinn fast die Brust der Figur berührte, und blickte lange mit einer seltsamen Freude in dieses Gesicht, das erste Gesicht, das ihm in der Stadt begegnete: das steinerne Antlitz eines Engels, milde und schmerzlich lächelnd; Gesicht und Haar waren mit dichtem dunklem Staub bedeckt, und auch in den blinden Augenhöhlen hingen dunkle Flocken; er blies sie vorsichtig weg, fast liebevoll, nun selbst lächelnd, befreite das ganze milde Oval von Staub, und plötzlich sah er, daß das Lächeln aus Gips war. Der Schmutz hatte den Zügen die Hoheit des Originals verliehen, nachdem der Abdruck gegossen war – aber er blies weiter, reinigte die Lockenpracht, die Brust, das wallende Gewand und säuberte mit vorsichtigen spitzen Atemstößen die gipserne Lilie – die Freude, die ihn beim Anblick des lächelnden steinernen Gesichtes erfüllt hatte, erlosch, je mehr die grellen Farben sichtbar wurden, der grausame Lack der Frömmigkeitsindustrie, die goldenen Borden am Gewand – und 10 das Lächeln des Gesichts erschien ihm plötzlich so tot wie das allzu wallende Haar. Er wandte sich langsam ab in den Flur hinein, um den Eingang zum Keller zu suchen. Das Klopfen seines Herzens hatte aufgehört. MUSIK Bernd Alois Zimmermann (Stille und Umkehr) Schnell (40´07) Er zeigt anhand von Einzelschicksalen den Rückkehrer aus dem Krieg oder die Rückkehr aus dem Krieg in die zerstörte Stadt und es ist nicht nur eine Stadt zerstört, es ist nicht nur ein Land zerstört, es ist auch die Psyche zerstört, Kulturen zerstört, Formen des Glaubens. Und der Titel ist ja ein programmatischer Titel „Der Engel schwieg“, das heißt der Engel sagt nichts mehr. Böll hat diesen Roman und auch (…) die Substanz dessen was er erzählen wollte, in einem großartigen Schlussbild zusammengefasst, in dem ein Engel auf einem Friedhof im Schlamm versinkt, vom Schlamm überdeckt wird, am Ende, der Engel schwieg eben, das ist der Titel und das ist die Substanz dieses Romans. Er zeigt, man könnte fast sagen, in einer Weise eindringlich wie sie Wolfgang Borchardt mit „Draußen vor der Tür“ gezeigt hat, er zeigt eindringlich die Zerstörung von Lebenszusammenhängen , den Versuch, den Glauben zu erhalten, zurückzugewinnen und die Antwortlosigkeit, die sich in dieser Konstellation nach 1945 bei der Rückkehr in die Stadt, in der zerstörten Umgebung ergeben hat. Autor Bölls späterer Lektor Dieter Wellershoff hält später fest: Dieter Wellershoff (5/350) „Der Engel schwieg“ liefert am meisten von der Atmosphäre der Trümmerzeit. Autor Doch als der Middelhauve Verlag das Roman Manuskript ablehnt und auch andere Veröffentlichungen, in denen Böll seine Kriegserfahrungen mit einfließen lässt, nicht erscheinen können, konstatiert er: Zitat Böll (Zeit/Magazin/Gespräch Kunz) Keine Sau will etwas vom Krieg lesen oder hören, und ohne jedes Echo arbeiten, das macht dich verrückt. Autor Niemand wollte sich mit den Fragen und Problemen, die der Weltkrieg aufwarf, beschäftigen. So wurde die 1992 von Werner Bellmann besorgte Ausgabe von der „Engel schwieg“, eine der bedeutendsten Buchveröffentlichungen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, erst sieben Jahre nach Bölls Tod veröffentlicht. Auch der Roman „Kreuz ohne Liebe“, der ebenfalls den Krieg zum Thema hat, konnte seinerzeit nicht veröffentlicht werden und blieb Fragment. Böll hat darauf hin die Romankonvolute zerschnitten in kleine Erzählungen und diese einzeln an Zeitschriften versandt, in der Hoffnung, dass sie veröffentlicht werden. Das gelang, und Böll machte aus der Not eine Tugend. Die kurze Form im Stil der amerikanischen Short Story führen Autoren wie Wolfgang Borchard, Wolf-Dietrich Schnurre und Heinrich Böll in die in westdeutsche Literatur ein. Die Kurzgeschichte wird zur populären Prosaform, wie Bölls Erzählungsband „Wanderer kommst du nach Spa“ (1950) zeigt. Und thematisch erzählen auch diese Texte vom Krieg, zugleich entfernen sie sich aber von der unmittelbaren Schilderung der Kriegsereignisse und wenden sich dem Leben danach, in den Trümmern zu. In dem Essay „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“ hat Böll diese neue Erzählform und ihre Inhalte zusammengefasst. O-Ton Böll Bekenntnis zur Trümmerliteratur 1952 (CD 1, 14-16 / KA 6, 58f u. 62) Die ersten schriftstellerischen Versuche unserer Generation nach 1945 hat man als Trümmerliteratur bezeichnet, man hat sie damit abzutun versucht. Wir haben uns gegen diese Bezeich- nung nicht gewehrt, weil sie zu Recht bestand: tatsächlich, die Menschen, von denen wir schrieben, lebten in Trümmern, sie kamen aus dem Kriege, Männer und Frauen in gleichem Maße verletzt, auch Kinder. Und sie waren scharfäugig: sie sahen. Sie lebten keineswegs in völligem Frieden, ihre Umgebung, ihr Befinden, nichts an ihnen und um sie herum war idyllisch, und wir als Schreibende fühlten uns ihnen so nahe, daß wir uns mit ihnen identifizierten. Mit Schwarzhändlern und den Opfern der Schwarzhändler, mit Flüchtlingen und allen denen, die auf andere Weise heimatlos geworden waren, vor allem natürlich mit der Generation, der wir angehörten und die sich zu einem großen Teil in einer merk- und denkwürdigen Situation befand: sie kehrte heim. Es war die Heimkehr aus einem Krieg, an dessen Ende kaum noch jemand hatte glauben können. Wir schrieben also vom Krieg, von der Heimkehr und dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr vorfanden: von Trümmern; das ergab drei Schlagwörter, die der jungen Literatur angehängt wurden: Kriegs-, Heimkehrer- und Trümmerliteratur. Die Bezeichnungen als solche sind berechtigt: es war Krieg gewesen, sechs Jahre lang, wir kehrten heim aus diesem Krieg, wir fanden Trümmer und schrieben darüber. Merkwürdig, fast verdächtig war nur der vorwurfsvolle, fast gekränkte Ton, mit dem man sich dieser Bezeichnung bediente: man schien uns zwar nicht verantwortlich zu machen dafür, daß Krieg gewesen, daß alles in Trümmern lag, nur nahm man uns offenbar übel, dass wir es gesehen hatten und sahen, aber wir hatten keine Binde vor den Augen und sahen es: ein gutes Auge gehört zum Handwerkszeug des Schriftstellers. Die Zeitgenossen in die Idylle zu entführen würde uns allzu grausam erscheinen, das Erwachen daraus wäre schrecklich, oder sollen wir wirklich Blindekuh miteinander spielen? S.62: Es ist unsere Aufgabe, daran zu erinnern, daß der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden – und daß die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äußerer Art sind und nicht so geringfügiger Natur, daß man sich anmaßen kann, sie in wenigen Jahren zu heilen. Der Name Homer ist der gesamten abendländischen Bildungswelt unverdächtig: Homer ist der Stammvater europäischer Epik, aber Homer erzählt vom Trojanischen Krieg, von der Zerstörung Trojas und von der Heimkehr des Odysseus – Kriegs-, Trümmer- und Heimkehrerliteratur-, wir haben keinen Grund, uns dieser Bezeichnung zu schämen. Schnell (42`47) Angemessen ist dieser Wirklichkeit als literarische Form eigentlich nicht das große Opus des Romans, sondern die Erzählung. Es ist eine Epoche der Atemlosigkeit, hat Böll auch mal gesagt, und ihr entsprach eben die Kurzgeschichte. O-Ton Böll (Entfernung Box CD 1 /13/1`25 s. Feat. S.11) Und diese Form der Kurzgeschichte ist mir die liebste. Ich glaube, dass sie im eigentlichen Sinne des Wortes modern, dass heißt gegenwärtig ist, intensiv, straff, sie duldet nicht die geringste Nachlässigkeit und sie bleibt für mich die reizvollste der Prosaformen, weil sie auch am wenigsten schablonierbar ist. Vielleicht auch, weil mich das Problem Zeit sehr beschäftigt und eine Kurzgeschichte alle Elemente der Zeit enthält: Ewigkeit, Augenblick, Jahrhundert. Autor In Kurzgeschichten wie „Über die Brücke“ von 1950 oder „Die Dachrinne“ von 1951, gelingt es Böll in erzählerischen Momentaufnahmen die Stimmung der Nachkriegszeit festzuhalten. In „Über die Brücke“, beobachtet ein Zugreisender täglich eine Fenster putzende Frau in den Trümmern der Häuser zu exakt der selben Zeit. Einige Jahre später ist es die Tochter, die in genau demselben Rhythmus die Fenster putzt. In „Die Dachrinne“ findet sich ein Liebespaar in den Trümmern einer Wohnung. Neben sich eine schief hängende Dachrinne, die das Regenwasser in die Reste der morschen Hauswand leitet. Es ist das Festhalten an den Lebensgewohnheiten und die Suche nach Stabilität im Leben, von denen Böll in seinen Kurzgeschichten erzählt. Zugleich gelingt es ihm aber im Kurzroman „Wo warst du Adam?“ 1951 aber doch Kriegserfahrungen zu thematisieren. Eine der erschütterndsten Szenen handelt vom Kriegsende. Ein Soldat kehrt am Tag der Kapitulation zu seinem Elternhaus zurück. Zitat Böll „Wo warst du Adam?“ (KA 5, 328f.) Jetzt war es nicht mehr weit bis zu Hause –links lag Heusers Haus, rechts Hoppenraths, und er brauchte nur noch durch diese schmale Gasse zu gehen, dann links ein Stück die Hauptstraße hinunter. Heusers hatten das weiße Zeug an ihren Bäumen. Er lächelte. Er hörte drüben den Abschuß genau und warf sich hin – sofort –, und er versuchte weiterzulächeln, erschrak aber doch, als die Granate in Hoppenraths Garten schlug. Sie krepierte in einer Baumkrone, und ein milder, dichter Regen von weißen Blüten fiel auf die Wiese. Die zweite Granate schien weiter vorn zu liegen, mehr auf Bäumers Haus zu, dem Haus seines Vaters fast gegenüber, die dritte und vierte lagen in gleicher Höhe, aber mehr links, es schien mittleres Kaliber zu sein. Er stand langsam auf, als auch die fünfte dorthin schlug – und dann nichts mehr kam. Er horchte eine Zeitlang, hörte keinen Abschuß mehr und ging schnell weiter – im ganzen Dorf bellten die Hunde, und er hörte das wilde Flügelschlagen der Hühner und Enten in Heusers Stall – auch die Kühe brüllten dumpf in manchen Ställen, und er dachte: sinnlos, wie sinnlos. Aber vielleicht schossen sie auf den amerikanischen Wagen, den er nicht hatte zurückfahren hören, doch als er um die Ecke der Hauptstraße bog, sah er, daß der Wagen schon weg war – die Straße war ganz leer –, und das dumpfe Gebrüll der Kühe und das Bellen der Hunde begleiteten ihn die wenigen Schritte, die er noch zu gehen hatte. Die weiße Fahne am Haus seines Vaters war die einzige in der ganzen Straße, und er sah jetzt, daß sie sehr groß war – es schien eins von Mutters riesigen Tischtüchern zu sein, die sie bei Festlichkeiten aus dem Schrank holte. Er lächelte wieder, warf sich aber plötzlich hin und wußte, daß es zu spät war. Sinnlos, dachte er, wie vollkommen sinnlos. Die sechste Granate schlug in den Giebel seines Elternhauses – Steine fielen herunter, Putz brökkelte auf die Straße, und er hörte unten im Keller seine Mutter schreien. Er kroch schnell ans Haus heran, hörte den Abschuß der siebenten Granate und schrie schon, bevor sie einschlug, er schrie sehr laut, einige Sekunden lang, und er wußte plötzlich, daß Sterben nicht das einfachste war – er schrie laut, bis die Granate ihn traf, und er rollte im Tod auf die Schwelle des Hauses. Die Fahnenstange war zerbrochen, und das weiße Tuch fiel über ihn. MUSIK Autor Neben „Der Zug war pünktlich (1949), und „Haus ohne Hüter“ (1954), gehört auch „Wo warst du Adam“ zu den Texten, in denen Heinrich Böll auch sein Verhältnis zum Judentum thematisiert. An einer anderen Stelle des Romans „Wo warst du Adam“ zeichnet er das Psychogramm eines Täters, eines SS-Obersturmführers, und seines Opfers, einer 23-jährigen Jüdin, deren Ermordung durch den deutschen Offizier den Genozid an den Juden auf exemplarische Weise zeigt. In der frühen Erzählung „Todesursache Hakennase“ von 1947 beschreibt Böll einen Massenmord an den Juden und anderen Minderheiten in der Nähe von Kiew. Tötungsverbände und Sonderkommandos erfüllen ihren Auftrag: Ein Massenmord an Greisen, Säuglingen, Roma, Sinti und Juden, den ein Leutnant miterlebt. Zitat Böll „Todesursache Hakennase“ (KA 3, 146) Immer weiter ging dieses beißende, bohrende, geifernde, rasende Sägen der Maschinenpistolen. Dann kamen einige Minuten einer gräßlichen Stille, von der die Vögel in ihren Schlupfwinkeln erzittern mußten, und dann eine Detonation; eine Ladung Sprengstoff, eingebohrt in die Wand der Schlucht, ersetzte die ungeheure Arbeit des Totengräbers; und wieder Schüsse, Schüsse, aneinandergereiht wie eine unendliche, häßliche Kette, und jeder dieser Schüsse traf den Leutnant Hegemüller mitten ins Herz. Autor Die Erzählung wurde erst 1983 veröffentlicht. MUSIK BAP „Kristallnaach“ (1982) Kristallnaach Songtext Es kommt vor, daß ich meine, daß etwas klirrt, daß sich irgendetwas in mich verirrt. Ein Geräusch, nicht einmal laut, manchmal klirrt es vertraut, selten so, daß man es direkt durchschaut. Man wird wach, reibt die Augen und sieht in einem Bild zwischen Brueghel und Bosch, keinen Menschen, der um Sirenen etwas gibt, weil Entwarnung nur halb soviel kostet. Es riecht nach Kristallnacht. In der Ruhe vor dem Sturm, was ist das? Ganz klammheimlich verlässt wer die Stadt. Honoratioren inkognito hasten vorbei, offiziell sind die nicht gerne dabei, wenn die Volksseele – allzeit bereit Richtung Siedepunkt wütet und schreit: "Heil – Halali" und grenzenlos geil nach Vergeltung brüllt, zitternd vor Neid in der Kristallnacht. O-Ton Böll (File Archiv 6155228101 „Ein Symbol der Menschlichkeit“ von Viktor Böll u. Heribert Hoven) (2`05) Als Lyrik vorgetragen, bin ich erstaunt über die Ausdruckskraft und die gedanklich Tiefe, die das hat. (2`55) In dem Gedicht entdecke ich auch Angst vor der Plötzlichkeit, mit der so etwas passieren kann, vor dem Unvorhersehbaren, das plötzlich ausbrechen kann, in die Gegenwart, auf Ausländer, auf Schwule und welche Minderheit immer bezogen. MUSIK Kristallnaach weiter… Doch die alles, was anders ist, stört, die mit dem Strom schwimmen, wie es sich gehört, für die Schwule Verbrecher sind, Ausländer Aussatz sind, brauchen wer, der sie verführt. Und dann rettet keine Kavallerie, kein Zorro kümmert sich darum. Der pisst höchsten ein "Z" in den Schnee und fällt lallend vor Lässigkeit um: "Na und? – Kristallnacht!" In der Kirche mit der Franz Kafka-Uhr, ohne Zeiger, mit Strichen darauf nur, liest ein Blinder einem Tauben Struwwelpeter vor hinter dreifach verriegelter Tür. Und der Wächter mit dem Schlüsselbund hält sich im Ernst für so etwas wie ein Genie, weil er Auswege pulverisiert und verkauft gegen Klaustrophobie in der Kristallnacht. Währenddessen, am Marktplatz vielleicht, unmaskiert, heute mit einem wahren Gesicht, sammelt Steine, schleift das Messer, auf die, die schon verpetzt, probt der Lynch-Mob für das jüngste Gericht. Und zum Laden nur flüchtig vertäut – die Galeeren stehen längst unter Dampf wird im Hafen auf Sklaven gewartet, auf den Schrott aus dem ungleichen Kampf aus der Kristallnacht. Da, wo Darwin für alles herhält, ob man Menschen vertreibt oder quält, da, wo hinter Macht Geld ist, wo stark sein die Welt ist, von Kuschen und Strammstehen entstellt. Wo man Hymnen auf dem Kamm sogar bläst, in barbarischer Gier nach Profit, "Hosianna" und "Kreuzigt ihn!" ruft, wenn man irgendeinen Vorteil darin sieht, ist täglich Kristallnacht Autor Drei Jahre vor Heinrich Bölls Tod veröffentlichte die Band BAP um den Kölner Musiker Wolfgang Niedecken den Song „Kristallnaach“. Der Antisemitismus, seine Ursache und Wirkung wird von Böll nicht nur literarisch problematisiert, die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten und ihre Tabuisierung brachte Annemarie und Heinrich Böll auf die Idee der Gründung einer jüdischen Bibliothek. Sie soll das spärlich erhaltene, auch geistesgeschichtliche Erbe der Juden in Deutschland wach halten. Gemeinsam mit dem Kölner Schriftsteller Paul Schallück und seiner Frau Ilse, dem Buchhändler Karl Keller und dem Publizisten Wilhelm Unger gründen sie 1959 die „Bibliothek Germania Judaica“. Eine öffentliche Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums. Sie existiert noch heute. MUSIK 1951 Autor Als Schriftsteller hat Böll 1951 seinen Durchbruch. Ihm wird der 1. Preis beim ersten Treffen der „Gruppe 47“ zugesprochen. Ein Preis von Autoren und Kritikern gleichermaßen und auch finanziell interessant: die Preissumme von 1000 Mark waren damals viel Geld. Böll erhielt die Auszeichnung für die Erzählung „Die Schwarzen Schafe“ (1951), eine Nachkriegssatire, die um das Verhältnis von Armut und Reichtum kreist und Illusionen und die Kunst des Lebens. Der Onkel, das schwarze Schaf der Familie, stirbt. Er hat sich bei allen Anlässen ständig Geld geliehen und es fast nie zurückgegeben. Nach seinem Tod findet sich eine Liste mit allen Gläubigern und der Verfügung, dass sein Neffe, der Ich-Erzähler, sein Nachfolger werden soll. O-Ton Böll (CD 1 / 1-3 ; KA 5, 158ff.) Offenbar bin ich ausersehen, dafür zu sorgen, daß die Kette der schwarzen Schafe in meiner Generation nicht unterbrochen wird. Einer muß es sein, und ich bin es. Niemand hätte es je von mir gedacht, aber es ist nichts daran zu ändern: ich bin es. Weise Leute in unserer Familie behaupten, daß der Einfluß, den Onkel Otto auf mich ausgeübt hat, nicht gut gewesen ist. Onkel Otto war das schwarze Schaf der vorigen Generation und mein Patenonkel. Irgendeiner muß es ja sein, und er war es. (…) Meine Freundschaft mit Onkel Otto fing früh an. Er kam oft zu uns, brachte mehr Süßigkeiten mit, als mein Vater für richtig hielt, redete, redete und landete zuletzt einen Pumpversuch. (…) Die Summen, die er forderte, schwankten zwischen einer und fünfzig Mark. Fünfzig war das allerhöchste, im Laufe der Jahrzehnte hatte sich ein ungeschriebenes Gesetz gebildet, daß er mehr niemals verlangen dürfe. »Kurzfristig!« fügte er hinzu. Kurzfristig war sein Lieblingswort. Jedenfalls eins steht fest: wenn ich ein schwarzes Schaf bin – und ich selbst bin keineswegs davon überzeugt, eines zu sein –,wenn ich es aber bin, so vertrete ich eine andere Sorte als Onkel (…) Onkel Otto: ich habe nicht seine Leichtigkeit, nicht seinen Charme, und außerdem, meine Schulden drücken mich, während sie ihn offenbar wenig beschwerten. Und ich tat etwas Entsetzliches: ich kapitulierte – ich bat um eine Stelle. Ich beschwor die Familie, mir zu helfen, mich unterzubringen, ihre Beziehungen spielen zu lassen, um mir einmal, wenigstens einmal eine feste Bezahlung gegen eine bestimmte Leistung zu sichern. Und es gelang ihnen. Nachdem ich die Bitten losgelassen, die Beschwörungen schriftlich und mündlich formuliert hatte, dringend, flehend, war ich entsetzt, als sie ernst genommen und realisiert wurden, und tat etwas, was bisher noch kein schwarzes Schaf getan hat: ich wich nicht zurück, setzte sie nicht drauf, sondern nahm die Stelle an, die sie für mich ausfindig gemacht hatten. Ich opferte etwas, was ich nie hätte opfern sollen: meine Freiheit! Autor Zwar reichte dieser erste Erfolg als Schriftsteller noch nicht aus, um die Familie zu ernähren, aber Böll fand im Hörfunk einen wichtigen Arbeitgeber. Schnell (46`56) (46`56) Der Rundfunk war für diese Autorengeneration, der Heinrich Böll und auch viele andere, deren Namen wir heute gut kennen, Martin Walser wäre hier etwa zu nennen, Alfred Andersch ist hier zu nennen. Für diese Autoren war der Rundfunk der eigentliche Mäzen, der Rundfunk hat den Autoren, den jungen aufstrebenden Autoren, die noch keinen Namen hatten, buchstäblich zu überleben geholfen, und zwar dadurch, dass er ihnen Aufträge gab oder aber ihre Erzählungen, ihre literarischen Arbeiten sendete. Autor Erläutert der Medienwissenschaftler Ralf Schnell. Böll hat vor allem Hörspiele und Features für den Hörfunk geschrieben, aber später auch im Rahmen von Schulfunkprogrammen mit Schülern Radio gemacht. Zitat Böll (KA 25, 442) (Der) Hörfunk wurde zum Mäzen der jungen deutschen Literatur Autor Stellte Böll rückblickend fest. Das Einkommen aus diesen Rundfunkaufträgen gab eine finanzielle Sicherheit und eine relative Unabhängigkeit, die es ihm ermöglichte nicht nur seine literarischen Arbeiten voran zu treiben, sondern auch, sich zu einem starken Intellektuellen und Kritiker einer zunehmend restaurative Züge tragenden Bundesrepublik zu entwickeln. Repräsentant dieser Bundesrepublik und damit Bölls Widersacher ist ein anderer Kölner Katholik: Konrad Adenauer. Schnell (nach 52`26) Die Adenauer-Ära steht hier exemplarisch, Adenauer ist die politische Gestalt, an der sich Böll immer wieder gerieben hat. Der Begriff Restauration steht ja immer wieder in der Diskussion, er wird zum Teil abgelehnt, auch aus der Wissenschaft, weil man sagt, es hat ja in dem Sinne gar keine Restauration gegeben. Wohl aber kann man sagen, haben Autoren wie Heinrich Böll, übrigens auch Wolfgang Koeppen oder Arno Schmidt ihre Zeit als eine Restaurationsphase empfunden, nicht im Sinne, dass der Nationalsozialismus wieder restauriert werde, das war nicht der Punkt. Für Böll war aber deutlich, dass die alten Bürgerlichkeitsmuster wieder auflebten, die bürgerliche Behäbigkeit und die Ignoranz gegenüber den vergangenen Entwicklungsphasen der jungen Bundesrepublik Deutschland, der Vorgeschichte also. Autor Ein Satz, den Heinrich Böll im Rahmen der Frankfurter Poetik Vorlesungen 1964 ausgesprochen hat, wurde zu einem geflügelten Wort. O-Ton Böll (KA 14, 159 – CD 3, 149, 1`35) Die Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land. Autor In einer der Vorlesungen formuliert Böll seine Aufforderung, sich von der Sprache der Nationalsozialisten abzuwenden und den auf reine Zweckmäßigkeit ausgerichteten sogenannten Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg zu stoppen. Böll skizziert die Vision einer bewohnbaren Sprache in einer lebenswerteren Gesellschaft. O-Ton Böll (KA 14, 159 – CD 3, 149, 0`45) Ein Autor, ein Urheber, ein Poet also – er würde nicht nur gern wohnen (wohnen ist ein Verb, ein Tätigkeitswort), sondern auch die Sprache, in der er schreibt, bewohnbar machen, es ist ja nicht gut, daß der Mensch allein sei, und er kann sich nicht selbst Heimat und Nachbarschaft, Freundschaft und Vertrauen aus den Rippen bilden, die ihm geblieben sind. Er kann auch nicht wie Abraham sein eigenes Volk zeugen; er muß auf es zu, es muß ihm zuwachsen. Er braucht nicht nur Freunde, Leser, Publikum, er braucht Verbündete, öffentliche Verbündete, die sich nicht nur ärgern oder nicht nur triumphieren, die erkennen. Eitelkeit, Eifersucht, Gekränktheit, Triumph, Ärger sollten Privatsache sein. Erkannt werden sollte, was wichtiger ist: die Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land. Autor Im Roman „Und sagte kein einziges Wort“ von 1953 und stärker noch in „Billard um halb zehn“ von 1959 zeigt Böll die Verdrängungsmechanismen des jungen Staates auf, in dem immer noch alte Seilschafften aus der Zeit des Nationalsozialismus großen Einfluss haben. Drei Generationen einer Architektenfamilie mit dem Namen Fähmel zeigen, wie das Verhältnis zur Geschichte in Aufbau, Zerstörung und Wiederaufbau sich entwickelte. Es geht um den Bau einer Abtei namens St. Anton, entworfen vom Großvater, zerstört durch den Sohn und wieder aufgebaut durch den Enkel. Zitat Böll (KA 11, 68-70) Kennen Sie den Krieg?« »Ja.« »Haben Sie ihn mitgemacht?« »Ja.« »Was haben Sie getan?« »Ich war Spezialist für Sprengungen, Hugo. Kannst du dir darunter etwas vorstellen?« »Ja, ich habe gesehen, wie sie im Steinbruch hinter Denklingen sprengten.« »Genau das hab ich gemacht, Hugo, nur habe ich nicht Felsen gesprengt, sondern Häuser und Kirchen. Das hab ich noch nie jemandem erzählt, außer meiner Frau, aber die ist schon lange tot, und so weiß es niemand außer dir, nicht einmal meine Eltern und meine Kinder wissen es. Du weißt, daß ich Architekt bin und eigentlich Häuser bauen sollte, aber ich habe nie welche gebaut, immer nur welche gesprengt, und auch die Kirchen, die ich als Junge auf zartes Zeichenpapier zeichnete, weil ich davon träumte, sie zu bauen; die hab ich nie gebaut. Als ich zur Armee kam, fanden sie in meinen Papieren einen Hinweis, daß ich eine Doktorarbeit über ein statisches Problem geschrieben hatte. Statik, Hugo, das ist die Lehre vom Gleichgewicht der Kräfte, die Lehre vom Spannungs- und Verschiebungszustand von Tragwerken; ohne Statik kannst du nicht einmal eine Negerhütte bauen, und das Gegenteil von Statik ist die Dynamik, das klingt nach Dynamit, wie man es beim Sprengen braucht, und hängt auch mit Dynamit zusammen. Den ganzen Krieg über hatte ich nur mit Dynamit zu tun. Ich verstand was von Statik, Hugo, verstand auch was von Dynamik, verstand eine ganze Menge von Dynamit, hab alle Bücher verschlungen, die es darüber gab. Man muß, wenn man sprengen will, nur wissen, wo man die Ladung anbringt und wie stark sie sein muß. Das konnte ich, Junge, und ich sprengte also, ich sprengte Brücken und Wohnblocks, Kirchen und Bahnüberführungen, Villen und Straßenkreuzungen, ich bekam Orden dafür und wurde befördert: vom Leutnant zum Oberleutnant, vom Oberleutnant zum Hauptmann, und ich bekam Sonderurlaub und Belobigungen, weil ich so gut wußte, wie man sprengen muß. Und am Schluß des Krieges war ich einem General unterstellt, der hatte nur ein Wort im Kopf: Schußfeld. Weißt du, was Schußfeld ist? Nein?« Fähmel hob den Billardstock wie ein Schießgewehr an die Schulter, zielte mit der Spitze nach draußen, auf den Turm von Sankt Severin. – »Siehst du«, sagte er, »wenn ich jetzt auf die Brücke schießen wollte, die hinter Sankt Severin liegt, würde die Kirche im Schußfeld liegen, also müßte Sankt Severin gesprengt werden, ganz rasch, sofort und schnell, damit ich auf die Brücke schießen könnte, und ich sag dir, Hugo, ich hätte Sankt Severin in die Luft gesprengt, obwohl ich wußte, daß mein General verrückt war, und obwohl ich wußte, daß Schußfeld ein leerer Wahn ist, denn von oben, verstehst du, brauchst du kein Schußfeld, und schließlich konnte es auch dem einfältigsten aller Generale nicht verborgen bleiben, daß inzwischen die Flugzeuge erfunden worden waren, aber meiner war verrückt und hatte seine Lektion gelernt: Schußfeld, und ich besorgte es ihm. Schnell (nach 56`05) Böll zeigt in diesem Roman, der sehr anspruchsvoll ist, mit bestimmten symbolischen Bildern arbeitet, mit dem Sakrament des Büffels, mit dem Sakrament der Lämmer, er zeigt in diesem Roman, ähnlich wie es Wolfgang Koeppen mit „Tod in Rom“ gemacht hat, wie in Deutschland Geschichte verdrängt, verarbeitet, wiederaufgenommen wird, er zeigt dies in einer Weise, die, denke ich , mit zum anspruchsvollsten literarischen gehört, was Böll veröffentlicht hat. MUSIK Autor Der 1963 erschienene Roman „Ansichten eines Clowns“ steht dem von Ralf Schnell getroffenen Urteil in seiner Qualität kaum nach. Hier steht ein Künstler und Außenseiter im Mittelpunkt des Buches, der Clown Hans Schnier. Böll zeigt einen an der eigenen bigotten Familie und der Heuchelei der katholischen Kirche und an einer unglücklichen Liebe verzweifelnden Menschen. Schnier sucht sich selbst, seine Rolle in einer ihn ausgrenzenden Gesellschaft. O-Ton Böll (KA 13,11-13; CD 2 63-76) Ich bin ein Clown, offizielle Berufsbezeichnung: Komiker, keiner Kirche steuerpflichtig, siebenundzwanzig Jahre alt, und eine meiner Nummern heißt: Ankunft und Abfahrt, eine (fast zu) lange Pantomime, bei der der Zuschauer bis zuletzt Ankunft und Abfahrt verwechselt; da ich diese Nummer meistens im Zug noch einmal durchgehe (sie besteht aus mehr als sechshundert Abläufen, deren Choreographie ich natürlich im Kopf haben muß), liegt es nahe, daß ich hin und wieder meiner eigenen Phantasie erliege: in ein Hotel stürze, nach der Abfahrtstafel ausschaue, diese auch entdecke, eine Treppe hinauf- oder hinunterrenne, um meinen Zug nicht zu versäumen, während ich doch nur auf mein Zimmer zu gehen und mich auf die Vorstellung vorzubereiten brauche. (S. 231 / CD 2, 115 / 4`50) »Was bist du eigentlich für ein Mensch?« fragte er. »Ich bin ein Clown«, sagte ich, »und sammle Augenblicke. Tschüs.« Ich legte auf. (S. 237f. / CD 119 - Schluss) Es war kühl draußen, Märzabend, ich schlug den Rockkragen hoch, setzte den Hut auf, tastete nach meiner letzten Zigarette in der Tasche. Mir fiel die Kognakflasche ein, sie hätte sehr dekorativ gewirkt, aber doch die Mildtätigkeit behindert, es war eine teure Marke, am Korken erkennbar. Das Kissen unter den linken, die Guitarre unter den rechten Arm geklemmt, ging ich zum Bahnhof zurück. Auf dem Weg erst bemerkte ich Spuren der Zeit, die man hier die »närrische« nennt. Ein als Fidel Castro maskierter betrunkener Jugendlicher versuchte mich anzurempeln, ich wich ihm aus. Auf der Bahnhofstreppe wartete eine Gruppe von Matadoren und spanischen Donnas auf ein Taxi. Ich hatte vergessen, es war Karneval. Das paßte gut. Nirgendwo ist ein Professioneller besser versteckt als unter Amateuren. Ich legte mein Kissen auf die dritte Stufe von unten, setzte mich hin, nahm den Hut ab und legte die Zigarette hinein, nicht genau in die Mitte, nicht an den Rand, so, als wäre sie von oben geworfen worden, und fing an zu singen: »Der arme Papst Johannes«, niemand achtete auf mich, das wäre auch nicht gut gewesen: nach einer, nach zwei, drei Stunden würden sie schon anfangen, aufmerksam zu werden. Ich unterbrach mein Spiel, als ich drinnen die Stimme des Ansagers hörte. Er meldete einen Zug aus Hamburg – und ich spielte weiter. Ich erschrak, als die erste Münze in meinen Hut fiel: es war ein Groschen, er traf die Zigarette, verschob sie zu sehr an den Rand. Ich legte sie wieder richtig hin und sang weiter. Schnell (nach 1:1`45) Das durchzieht den Roman eigentlich leitmotivisch, dieses in Momentaufnahmen, in kleinsten Augenblicken zu sammeln und zu zeigen, was diese junge Bundesrepublik Deutschland an Problematik enthält, auch an liebenswertem alltäglichem, so ist es nicht, es ist keine Schwarzzeichnung des Landes, aber es ist eben ein gebrochenes Verhältnis, das die Hauptfigur zu diesem Land entwickelt. Es ist eigentlich eine Art von Labyrinth, was Heinrich Böll hier zeigt und zeichnet, ein Labyrinth, aus dem es einen Ausweg gibt und auch hier ist … ein Schlussbild gefunden, in dem der ganze Roman noch einmal fassbar wird. Da setzt sich dieser Clown Hans Schnier am Ende an einen U-Bahn-Eingang, lässt sich dort nieder, legt seinen Hut hin, seine Gitarre neben sich, die letzte Zigarette raucht er und plötzlich wirft ihm jemand eine Münze in diesen Hut. Der Clown ist also zum Bettler geworden und das ist ein sehr sprechendes Bild, nun könnte man sagen, Böll zeichnet schwarz, schwarz, schwarz, aber man muss das auch verstehen in dem eigentlichen Impuls, der dahinter zu erkennen ist. Denn dieses schwärzeste Schwarz ist ja eigentlich … der Ruf nach einer helleren und anderen und heileren Welt. MUSIK Autor Der von Ralf Schnell beschriebene Ruf nach einer helleren anderen Welt des zum Bettler werdenden Clowns Hans Schnier ist sehr nah dran am Ruf des Autors Böll nach einer offeneren Gesellschaft, in der auch die damals stark wirkenden religiösen Zwänge gelockert werden sollen. Zwänge, von denen auch Böll sich nicht frei machen konnte, hebt der Kölner Publizist Martin Stankowski hervor. Martin Stankowski (nach 32`55) Er hat den Widerspruch, der darin bestand, dass er in den 50er Jahren, in dem geschlossenen katholischen Milieu, nicht katholisch sein konnte und gleichzeitig gegen Adenauer. Und da gibt es einen für mich prägenden Brief, der berühmte „Brief an einen jungen Katholiken“, 1957. In dem er genau diesen Widerspruch beschreibt. Hinzu kommt ja in seinen Romanen und auch in den Briefen, die er an seine Frau geschrieben hat, ja ein sehr verklemmtes Verhältnis zur Sexualität. Die Frauenfiguren und immer wenns um Sex geht, ist das immer eine sehr schräge Geschichte. Zum Beispiel der Clown da in Bonn, mit seiner Marie zusammenlebt und sich gegenseitig vormachen, ist es nun Liebe oder ist es die reine Körperlichkeit. Es gibt eine negative Konnotation, die mit dem Soldatentum zusammenhängt. Er hat so schlechte widerwärtige Erfahrungen gemacht, weil die ständig in Bordelle gegangen sind. Das wird so oft thematisiert, dass die Prägung durch das katholische Milieu geradezu körperfeindlich war. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Sexualität und Körperlichkeit war tabuisiert. Und in diesem Essay spielt das eine ganz große Rolle, weil er gesagt hat, sie sind in der Militärzeit immer gewarnt worden von der Kirche, in den Puff zu gehen aber nie gewarnt worden, auf andere Menschen zu schießen. Autor Humanisierung der Gesellschaft, Kirche –Kriegserfahrung und Verklemmtheit. In den 60er Jahren wird der öffentlich auftretende Intellektuelle Heinrich Böll zu einem Streiter für die „Freiheit der Kunst“, die sich im Clown nicht behaupten kann. O-Ton Böll „Rede zur Freiheit der Kunst“ anlässlich der Eröffnung des Wuppertaler Schauspielhauses 1966 (CD 3 192-194 (KA Bd. 15, 210 /192/0`40) Was sie braucht, einzig und allein braucht, ist Material – Freiheit braucht sie nicht, sie ist Freiheit; es kann ihr einer die Freiheit nehmen, sich zu zeigen – Freiheit geben kann ihr keiner; kein Staat, keine Stadt, keine Gesellschaft kann sich etwas darauf einbilden, ihr das zu geben oder gegeben zu haben, was sie von Natur ist: frei. Gegebene Freiheit ist für sie keine, nur die, die sie hat, ist oder sich nimmt. Wenn sie Grenzen überschreitet – nach wessen Meinung ist ganz und gar gleichgültig –, wenn sie zu weit geht, dann merkt sie’s schon: es wird auf sie geschossen. Wie weit sie gehen darf oder hätte gehen dürfen, kann ihr ohnehin vorher niemand sagen; sie muß also zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf, wie weit die ihr gelassene Freiheitsleine reicht. (CD 3/ KA Bd. 15, 215) Das Ziel ist nie erreicht, und nie kann die Literatur Ruhe geben, da sie funktionierende oder gar funktionalisierte Freiheiten nie als solche anerkennt, und mit der religiösen Freiheit ist es ebenso wie mit der sogenannten sexuellen; sie, die immer über Grenzen gehen muß, sie kennt keine Ruhe und gibt keine. MUSIK Stankowski (nach 6`28) Ich hab mit ihm einmal persönlich zu tun gehabt, es gab in den 70er Jahren die erste Alternativzeitung in Köln, das Kölner Volksblatt, die ich mit organisiert habe. Wir haben damals eine Kampagne gegen einen ungemein rassistischen, problematischen Wagen im Rosenmontagszug polemisiert. Da wurden Arbeitslose und Gastarbeiter beleidigt. Und wir haben eine Kampagne dagegen gemacht und da hat Böll uns einen Brief geschrieben und gesagt, er unterstützt uns da vollständig. Das ist auch ein durchgängiges Motiv in Bölls Leben und Werk mit den Herausgefallenen, den Herausgestoßenen zu beschäftigen und denen gegenüber solidarisch zu sein.(7`45) Und es gab ein Zweites, eine sehr aktive politische Gruppe, SSK heißen die, Sozialistische Selbsthilfe Köln, seit über 50 Jahren, seit der APO-Zeit eigentlich. Und diese Gruppe hatte lange Schwierigkeiten mit der Stadt natürlich, weil die sich um Obdachlose, Trebegänger und weggelaufene Jugendliche gekümmert haben, haben die in Häuser geholt, haben Häuser besetzt und haben das Leben wieder etwas erträglicher gemacht und als die ganz am Ende waren, hat Böll ein altes Haus in Ehrenfeld gekauft (das hieß übrigens Böll Haus), damit sie eine sichere Bliebe haben. Ein Haus des SSK, damit sie eine sichere Bleibe haben, hat der Böll damals dieses Haus gekauft. Ich glaube 60.000 Mark und da sind die heute noch drin. Autor Heinrich Böll gewinnt zunehmend an Bedeutung für die nachfolgende Generation und wird zu der öffentlich-intellektuellen Stimme der Bundesrepublik. Manche bezeichnen ihn als das Gewissen der Republik. Das lehnt er nicht nur ab, weil er ein bescheidener Mensch war, sondern auch, weil dadurch mancher versuchte, Verantwortung auf ihn abzuschieben. Dieter Wellershoff (1`45) Das erste Buch war „Ansichten eines Clowns“, das ich lektoriert habe. Dann „Gruppenbild mit Dame“, „Fürsorgliche Belagerung“, diese Dinge habe ich gemacht. (nach 3`28) Mein Besuch bei ihm, da merkte ich, dass er sehr vorsichtig war, dass er sehr viel geraucht hat und etliche Schnäpse angeboten hat, um irgendwie über die Fremdheit hinweg zu kommen, die zunächst mal da war. Er war sicher sehr verletzlich und ich war für ihn ein Fremder, absolut ein Fremder. Autor 1959 besuchte Dieter Wellershoff Heinrich Böll das erste Mal. Wellershoff war damals Lektor des Kiepenheuer und Witsch Verlags, später wurde der Germanist selbst ein erfolgreicher Schriftsteller. Bei seinem Antrittsbesuch zeigte sich der junge Lektor beeindruckt. Wellershoff (nach 1`45) Na ja, ich wusste natürlich, das ist ein gestandener Autor, der hat seine Sicht der Dinge, ist elaboriert (…) Das ist was anderes, wenn ich einen jungen Autor vor mir habe oder einen gestandenen Autor, beim jungen Autor, da ist alles noch in Frage gestellt, da kann man noch diskutieren über grundsätzliche Fragen. Das war bei Böll nicht so. Zitat Böll „Köln III“ (KA 18, 96f.) Köln III Spaziergang am Nachmittag des Pfingstsonntags 30. Mai 1971 (1972) die Stadt in freudloser Sonne verödet wieder mal aufgewühlt im dreißigjährigen Krieg der Bauplaner maschinen firmen ausschüsse bagger krane (…) in Aufriß und Abbau unaufhaltsamer Vormarsch (…) stetig steigender Mietpreis höhnische Stille vertriebener Ruhe Vollzugsmeldung Ohrenbetäubung durchgeführt wunderbar den verwalteten Staub vermehrt in Abriß und Aufbau leukämische Fassaden der Wucherer o heiliger Geist erbarme dich unser nur noch zwanzig vom Hundert beträgt unser Profit Autor Köln, das war Bölls Stadt, die Stadt an der er sich rieb und deren Veränderung er genau beobachtete. Da war das erste Köln, das seiner Kindheit, das Köln vor dem Krieg. Dann das zweite Köln, die zerstörte Stadt, der er noch in ihrer Stille und Ruhe in den Trümmern etwas abgewinnen konnte. Doch dem folgenden Prozess der Entwicklung hin zu einer autogerechten Stadt lehnte Böll ab. O-Ton Böll (KA, Gespräch mit Niedecken, Sendung WDR1 Brummkreisel. File: 6312149101/1:03`02) Schlimm waren so Entwicklungen wie Nord-Süd-Fahrt, weil praktisch ganze Viertel zu Friedhöfen gemacht wurden. Perlengraben, große Spitzgasse, einfach weg. Das ist natürlich eine interbundesrepublikanische Sache gewesen, die einfach nur auf funktionierenden Verkehr aus war, nicht mehr auf Leben. Städte sind ja tot. Ich konnte auch nicht mehr in Köln wohnen wegen dem Krach. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen in Köln spazieren zu gehen. Deshalb bin ich da weg gezogen. Mein Köln ist natürlich das unzerstörte Köln von vor dem Krieg. Das ist für mich eine verschwundene, versunkene Stadt, in der ich einige Punkte noch erkenne, hauptsächlich die Kirchen, die romanischen. Vielleicht zehn Häuser noch und im Übrigen ist das so wie Frankfurt, Stuttgart. Das zweite Köln, wo ich mich auch zuhause gefühlt hab`, war das zerstörte Köln, weil diese Stadt endlich ernst war. Ist ja ein ernster Vorgang, die Zerstörung einer Stadt. Das war eine ernste Stadt. Da hab ich mich auch noch wohl gefühlt, trotz der Trümmer, trotz der Schwierigkeiten ökonomischer Art, Schwarzmarkt kleiner Kinder. Aber das wieder aufgebaute dynamische Köln, nennen wir es dynamisch, das passt nun überhaupt nicht. Köln zu dynamisieren ist schrecklich, ist keine dynamische Stadt! Und da kommt der internationale und nationale Dynamismus rein, mit Riesenklamotten, die Leute werden aus der Stadt vertrieben in diese elenden Vororte. Und ich hab die Zerstörung der Zerstörung systematisch miterlebt, der Wiederaufbau, der sogenannte (1:07`35) Ich hätte vorgeschlagen, dass man ein Viertel von Köln ruinös gelassen hätte, nicht nur aus romantischen Gründen, auch zur Erinnerung an eine zerstörte Stadt. (1:10`25) Köln ist für mich ein Museum. Das was noch da ist, was ich sehen will, ist Museum, wie die Kirchen zu Museen geworden sind, weil die Leute kaum noch da wohnen. Stankowski (13`15) Er hat die romanischen Kirchen geliebt, Maria im Kapitol, die Severins Kirche, die auch literarisch vorkommt. Er hat einen Weg beschrieben, eine kleine Gasse um die Kirche herum. Eine charmante Ecke. Es gibt ja wenig charmante Ecken in Köln. Köln ist ja eigentlich eine hässliche Stadt, aber hat charmante Ecken. Die hat Böll sehr genau gekannt. (14`15) Er hat gesagt, Köln ist die südlichste Stadt der Niederlande, und dieses Niederländische, dieses Düstere, das hat er gemocht. Dann gibt es für ihn das zweite Köln. Das ist das Köln der Zerstörung. (…) Aber, es hatte etwas von Erhabenheit, von Würde. Dann gibt es das dritte Köln, das durch die autogerechte zerstörte, kommunikative, die Wege kaum benutzbare, die Nord-Süd-Fahrt, die die Stadt zerschneidet. Nicht zufällig heißt sie NS-Fahrt. Das ist eben von den Nazis angerichtet, nicht gebaut, aber dieselben Planer, die im Dritten Reich gesagt haben, wir werden so eine Tangente quer durch die Stadt schlagen, waren ja nach wie vor die leitenden Personen in der Verwaltung und die haben es einfach nach dem Krieg gemacht. Das hat Böll mehr als geärgert, das hat ihn gestört, das hat ihn verwirrt, kann man geradezu sagen. Immer wieder taucht die Metapher der Autos, der dritten, der wirklichen Zerstörung der Stadt auf. (16`18) Das ist die Ironie, die durchscheint, die Absurdität, die er auf die Spitze treibt. Es gibt einen Essay, Hülchrather Straße, da beschreibt er diese Straße, in der er gelebt hat. Zitat BÖLL „Hülchrather Straße Nr. 7“ (1972) (KA 18, 77 ff.) Eines Tages, so denke ich, wird es den Fußgängern erlaubt werden müssen, über die Dächer langsam voranschleichender Autos hinweg zu spazieren und so, Schritt für Schritt, die Autos zu überholen. Man sollte für alle Fälle schon, wenn man weiterhin Autos und Autos und Autos in die Städte hineinpumpt, eine Art strapazierbaren Bodenbelags für Autodächer erfinden, und die Satiriker unter den Karikaturisten könnten sich vielleicht des Themas annehmen, denn es wäre viel bekömmlicher für die Fußgänger, über den Autos als neben ihnen her zu spazieren, und vielleicht sich auf diese Weise Autodächer zu Kinderspielplätzen, beweglichen umfunktionieren; eine Art Spielrolltreppen für Kinder, Laufbänder, eins hin, das andere zurück, so daß die Kinder und auch Erwachsene ungefährdet und kostenlos natürlich, stadtein- und stadtauswärts über den Autodächern sich bewegen könnten. Fahrbare kleine Schwimmbassins, Ping-Pong Tische – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt; man könnte auch die Autofahrer verpflichten, Liegestühle oder Bänke auf ihren Dächern mitzuführen. Stankowski (nach 16`18) Und er beschreibt dann etwa, wie die Straße gesperrt war, wenn die Müllabfuhr kam. Das dauerte natürlich, bis die Tonnen geleert und wieder zurück gebracht wurden. Und das selbe Motiv taucht in einem Roman auf, „Gruppenbild mit Dame“, da wird eine Frau ausgewiesen und Freunde wollen verhindern, oder fliegt aus dem Haus raus und wollen verhindern, dass sie das verlassen muss, blockieren mit Hilfe der Müllarbeiter, mit denen sie befreundet sind, die Straße und auch das Ordnungsamt kann sie nicht holen. O-TON Böll „Gruppenbild mit Dame“ ( KA 17, 355f.; CD 4 Track 207 (ab 1`15) Es gehe nicht gegen ausländische Arbeiter, man hege keine Rassenvorurteile, nur müsse man konsequent sein, und wenn Tante Leni sich bereit erkläre, marktgerechte Mieten zu nehmen , ließe sich sogar darüber reden, ob man nicht das ganze Haus für ausländische Arbeiter freigebe, es bettenweise, zimmerweise vermiete, Tante Leni zur Verwalterin bestimme und ihr sogar freie Wohnung und eine monatliche Bargeldentschädigung gewähre; doch sie nehme ja was nun tatsächlich Wahnsinn sei und sogar Erkenntnissen der sozialistischen ökonomischen Lehre widerspreche –, sie nehme ja als Miete genausoviel, wie sie selbst zahle; nur um ihretwillen habe man noch den Quadratmeterpreis auf 2,50 gehalten und nicht, damit andere davon profitierten; so zahle die portugiesische Familie für 50 Quadratmeter 125 ,– DM, zusätzlich 13 ,- DM für Bad und Küchenbenutzung, die 3 Türken (»Von denen der eine ja nun dauernd bei ihr pennt, so daß eigentlich nur zwei das Zimmer bewohnen.«) für fünfunddreißig Quadratmeter 87 ,50 DM, die beiden Helzens wiederum für 50 qm 125 ,– DM, plus jeweils dreizehn, »und dabei ist sie so irrsinnig, die Küchen und Badanteile für sich doppelt zu berechnen, weil sie Lev, der ja nun vorübergehend kostenlos untergebracht ist, das Zimmer freihält». Und was das Faß zum Überlaufen bringe, sei die Tatsache, daß sie Leermiete für möblierte Wohnungen berechne; das sei nun nicht etwa etwas so Harmloses wie ein anarchistischkommunistisches Experiment, das sei Marktzersetzung; man könne aus der Wohnung, ohne allzu unfair zu sein, gut und gerne pro Zimmer mit Bad- und Küchenbenutzung 300 ,– bis 400 ,– Mark herausschlagen. Etc. Etc Stankowski (17`35) Das ist ein schönes Beispiel, in welcher Weise Köln im Werk von Böll auftaucht. Es gibt ja immer die große Frage Böll und Köln. Das ist der prominenteste Schriftsteller, den die Kölner haben und die Kölnerinnen natürlich auch, aber man kann nicht in gleicher Weise durch die Brille des Werkes sich die Stadt aneignen. (…) Es tauchen zwar immer wieder Teile auf, aber entweder verfremdet, es gibt eine schöne Geschichte in „Billard um halb zehn“, da wird jemand beschrieben, der tritt aus dem Bahnhof heraus und steht dann vor der Kirche, diese berühmte Kirche mit den zwei Türmen und dann wird die weiter beschrieben, es ist die Severins Kirche, es war ja die Kirche seiner Kindheit, aber die Severinskirche ist nicht am Bahnhof. (…) Das hat ihn nicht interessiert in dem Moment, sondern er beschreibt etwas in der Weise. (…) Es werden Versatzstücke aufgenommen, die im Werk auftauchen, aber nicht brauchbar als Führer durch die Stadt. MUSIK Wolfgang Niedecken singt „Strassen wie diese“ Darüber Autor Gemeinsam mit dem Fotografen Chargesheimer hat Heinrich Böll den Band „Unter Krahnenbäumen“ veröffentlicht. Das Buch versammelt Fotografien, die das Leben einer kleinen Straße in Kölner zeigen, bevor sie durch den Bau der breiten Autoschneise, Nord-Süd-Fahrt zerstört wurde. Den Essay, „Strassen wie diese“, den Böll dem Fotoband beisteuerte, hat Wolfgang Niedecken vertont. MUSIK Wolfgang Niedecken singt „Strassen wie diese“ Darüber Autor Die kritische Haltung, die Böll gegenüber seiner Geburtsstadt einnahm, führte auch dazu, dass ihm 1983 beinahe die Kölner „Ehrenbürgerwürde“ nicht zugesprochen wurde. Einige Politiker im Stadtrat waren der Auffassung, Böll habe nichts für die Stadt geleistet. Mit Mühe konnte der damalige Oberbürgermeister den Nobelpreisträger Böll überreden die Ehrenbürgerwürde doch anzunehmen. MUSIK Mögl. Zitateinsel (Sprecher/O-Ton Böll) Ich habe das Herz eines Künstlers // Eine bewohnbare Sprache in einem bewohnbaren Land // Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke // Heimat ist Sehnsucht nach Kindheit // Die Sprache kann der letzte Hort der Freiheit sein. Musik 3. Stunde Bewohnbare Sprache und bewohnbares Land Autor Für den Roman „Gruppenbild mit Dame“ Hatte Heinrich Böll 1972 den Literaturnobelpreis erhalten. In seiner Preisrede spricht er von seine Herkunft, seiner vertriebenen Heimat und Sprache. O-TON/ Zitat Böll: Nobelpreisrede (KA18 177; File 6999985975/ 7`18-8`03) Der Weg hierhin war ein weiter Weg für mich, der ich, wie viele Millionen aus dem Krieg heimkehrte und nicht viel mehr besaß als die Hände in der Tasche, unterschieden von den anderen nur durch die Leidenschaft, schreiben und wieder schreiben zu wollen. Das Schreiben hat mich hierhergebracht. Gestatten Sie mir, die Tatsache, daß ich hier stehe, für nicht so ganz wahr zu halten, wenn ich zurückblicke auf den jungen Mann, der da nach langer Vertreibung und langem Umhergetriebensein in eine vertriebene Heimat zurückkehrte; nicht nur dem Tod, auch der Todessehnsucht entronnen; befreit, überlebend; Frieden – ich bin 1917geboren – nur ein Wort, weder Gegenstand der Erinnerung noch Zustand; Republik kein Fremdwort, nur zerbrochene Erinnerung. Ich müßte hier sehr vielen danken, ausländischen Autoren, die zu Befreiern wurden, das Befremdende und das Fremde aus der Eingeschlossenheit befreiten, das sich selbst um seiner Materialität willen in die Eigenheit zurückverwies. Der Rest war Eroberung der Sprache in dieser Zurückverweisung an das Material, an diese Hand voll Staub, die vor der Tür zu liegen schien und doch so schwer zu greifen und zu begreifen war. Danken möchte ich auch für viel Ermutigung durch deutsche Freunde und deutsche Kritiker, danken auch für viele Versuche der Entmutigung, denn manches geschieht ohne Krieg, nichts aber, so scheint mir, ohne Widerstand. (S.178) Ich bin weder ein Eigentlicher noch eigentlich keiner, ich bin ein Deutscher, mein einzig gültiger Ausweis, den mir niemand auszustellen oder zu verlängern braucht, ist die Sprache, in der ich schreibe. Als solcher, als Deutscher, freue ich mich über die große Ehre. Ich danke der Schwedischen Akademie und dem Land Schweden für diese Ehre, die wohl nicht nur mir gilt, auch der Sprache, in der ich mich ausdrücke, und dem Land, dessen Bürger ich bin. MUSIK Autor Böll reiste mit einem geliehenen Frack zur Nobelpreisvergabe. Vom Preisgeld kaufte er die Wohnung in der Hülchrather Straße, in der er seit drei Jahren lebte und die im Grundriss der im Roman „Gruppenbild mit Dame“ beschrieben entspricht. Oftmals zog Heinrich Böll mit seiner Familie in Köln um. Um Ruhe zum Schreiben zu finden, suchte er immer wieder Fluchtpunkte. In Köln-Müngersdorf ließ er auf seinem Grundstück ein Gartenhaus errichten, in das er sich zurückzog zum Schreiben. Es gab auch eine Telefonleitung, die funktionierte aber nur in eine Richtung, aus dem Haus heraus. Und dann waren da noch die verschiedenen Zimmer, die er sich überall in der Stadt anmietete zum Schreiben, erinnert sich sein Sohn René Böll. René Böll (2`43) Ich glaube so zwanzig vielleicht. Er sagte immer, ein Arbeitszimmer ist verbraucht. Das musste ein neues oder umändern. So ein bisschen Unruhe war schon immer da. … Er hat ja immer parallel an vielen Sachen gearbeitet. … Um weg zu sein von der Familie, Ruhe zu haben, kein Telefon zu haben, keinen Besuch zu haben. Er hatte ja mehrere Zimmer in Köln, mehrere möblierte Zimmer, wo er dann gearbeitet hat. MUSIK Irish Folk Zitat Böll: „Irisches Tagebuch“ (1957) (BW Bd. 10 S. 195) (O-Ton Böll?) Ankunft II Eine Tasse Tee, so bei Sonnenaufgang, wenn man fröstelnd im Westwind steht, während die Insel der Heiligen sich noch im Morgendunst vor der Sonne verbarg; auf dieser Insel also wohnt das einzige Volk Europas, das nie Eroberungszüge unternahm, wohl selbst einige Male erobert wurde, von Dänen, Normannen, Engländern – nur Priester schickte es, Mönche, Missionare, die – auf dem seltsamen Umweg über Irland – den Geist thebäischer Askese nach Europa brachten; vor mehr als tausend Jahren lag hier, so weit außerhalb der Mitte, als ein Exzentrikum, tief in den Atlantik hineingerutscht, Europas glühendes Herz. Autor In den fünfziger Jahren entdeckt Böll noch einen ganz anderen, viel weiter entfernt gelegenen Ort des Schreibens: Irland. Hierher zieht er sich seither manchmal Monate lang mit der Familie zurück. Annemarie unterrichtet dann die Kinder und Heinrich schreibt. Schon bald findet er hier eine eigene humorvolle Sprache. Es entsteht 1957 sein Bestseller, „Irisches Tagebuch“. O-Ton Böll: „Irisches Tagebuch“ (1957) (BW Bd. 10 S. 252) Wenn Seamus einen trinken will…. Wenn Seamus (sprich Schämes) einen trinken will, muß er sich wohl überlegen, für wann er sich seinen Durst bestellt: solange die Fremden im Ort sind (und es sind deren nicht in allen Orten), kann er seinem Durst einige Freiheit lassen, denn die Fremden dürfen trinken, wann immer ihnen Durst kommt, und so kann auch der Einheimische sich getrost zwischen sie an die Theke stellen, zumal er ja ein folkloristisches, den Fremdenverkehr förderndes Element ist. Nach dem 1. September aber muß Seamus seinen Durst regulieren. Die Polizeistunde ist werktags um 22 Uhr, das ist schon bitter genug, denn an warmen, trockenen Septembertagen arbeitet Seamus oft bis halb zehn, manchmal länger. Sonntags aber muß er sich zwingen, entweder bis nachmittags zwei Uhr oder zwischen sechs und acht Uhr abends durstig zu sein. Hat das Mittagessen lange gedauert, kommt der Durst erst nach zwei Uhr, so wird Seamus seine Stammkneipe geschlossen finden, den Wirt, auch wenn es ihm gelingt, ihn herauszuklopfen, sehr sorry finden und nicht im geringsten geneigt, für ein Glas Bier oder einen Whiskey fünf Pfund Geldstrafe, eine Fahrt in die Provinzhauptstadt, einen verlorenen Arbeitstag zu riskieren. Sonntags zwischen zwei und sechs haben die Kneipen zu schließen, und des Ortspolizisten ist man nie ganz sicher; es gibt ja Leute, die sonntags nach einem schweren Mittagessen Anfälle von Korrektheit bekommen und sich an Gesetzestreue besaufen. Aber auch Seamus hat ein schweres Mittagessen gehabt, und seine Sehnsucht nach einem Glas Bier ist keineswegs unverständlich, noch weniger sündhaft. So steht Seamus fünf Minuten nach zwei auf dem Dorfplatz und überlegt. Das verbotene Bier schmeckt in der Erinnerung seiner durstigen Kehle natürlich besser, als leicht erhältliches Bier schmecken würde. Seamus denkt nach: es gibt einen Ausweg, er könnte sein Fahrrad aus dem Schuppen holen, die sechs Meilen zum Nachbardorf strampeln, denn der Wirt im Nachbardorf muß ihm geben, was ihm der heimatliche Wirt verweigern muß: sein Bier. Dieses abstruse Trinkgesetz hat die zusätzliche Floskel, daß dem Reisenden, der mindestens drei Meilen von seinem Heimatdorf entfernt ist, der kühle Trunk nicht zu verweigern sei. Seamus überlegt immer noch: die geographische Situation ist für ihn ungünstig – man kann sich den Ort, an dem man geboren wird, leider nicht aussuchen –, und Seamus hat das Pech, daß die nächste Kneipe nicht genau drei, sondern sechs Meilen weg ist – ein für einen Iren außergewöhnliches Pech, denn sechs Meilen ohne Kneipe sind eine Seltenheit. Sechs Meilen hin, sechs Meilen zurück – zwölf Meilen, mehr als achtzehn Kilometer für ein Glas Bier, und außerdem geht es noch ein Stück bergauf. Seamus ist kein Säufer, sonst würde er gar nicht so lange überlegen, sondern längst auf dem Fahrrad sitzen und lustig mit den Schillingmünzen in seiner Tasche klimpern. Er will ja nur ein Bier trinken: der Schinken war so scharf gesalzen, so gepfeffert der Kohl – und steht es etwa einem Manne an, seinen Durst mit Brunnenwasser oder Buttermilch zu löschen? Er betrachtet das Plakat, das über der Stammkneipe hängt: ein riesiges, naturalistisch gemaltes Glas Bier, lakritzig dunkel und so frisch der bittere Trank und darüber der weiße, schneeweiße Schaum, der von einem durstigen Seehund aufgeleckt wird. A lovely day for a Guinness! O Tantalus! So viel Salz im Schinken, so viel Pfeffer im Kohl. Fluchend geht Seamus ins Haus zurück, holt das Fahrrad aus dem Schuppen, trampelt zornig drauflos. O Tantalus – und die Wirkung geschickter Reklame! Es ist heiß, sehr heiß, der Berg ist steil. (…) Endlich erreicht er die Höhe des Berges: hier spielt nun der Sketch, den ich gerne schreiben möchte, denn hier begegnet Seamus seinem Vetter Dermot aus dem Nachbardorf. Dermot hat auch gesalzenen Schinken, gepfefferten Kohl gegessen, auch Dermot ist kein Trinker, nur ein Glas Bier will er gegen seinen Durst; auch er hat – im Nachbardorf – vor dem Plakat mit dem naturalistisch gemalten Glas Bier, dem genießerischen Seehund gestanden, auch er hat überlegt, hat schließlich das Fahrrad aus dem Schuppen geholt, es den Berg hinaufgeschoben, geflucht, geschwitzt – nun begegnet er Seamus: ihr Dialog ist knapp, aber gotteslästerlich –, dann saust Seamus den Berg hinunter auf Dermots Stammkneipe, Dermot auf Seamus’ Stammkneipe zu, und sie werden beide tun, was sie nicht vorhatten: sie werden sich sinnlos besaufen, denn für ein Glas Bier, für einen Whiskey diesen Weg zu machen, das würde sich nicht lohnen. Irgendwann an diesem Sonntag werden sie taumelnd und singend ihre Fahrräder den Berg wieder hinaufschieben, werden in halsbrecherischer Kühnheit den Berg hinuntersausen. Sie, die gar keine Säufer sind – oder sollten sie doch welche sein? –, werden Säufer sein, bevor es Abend geworden ist. René Böll (282/23`50) Irland war einfach unsere zweite Heimat und ist es bis heute geblieben. Für mich am meisten von den Kindern. Ich fahr jedes Jahr dahin. Ich male, ich mach Skizzen. Hab Untersuchungen gemacht über Kinderfriedhöfe in Irland. Hat mich als Kind schon immer sehr beeindruckt. Weil es dort Friedhöfe gibt, für Kinder, die gestorben sind, bevor sie getauft wurden. Die durften nicht auf dem katholischen Friedhof beerdigt werden und wurden anonym beerdigt vom Vater nachts, allein an einem geheimen Ort. Da gab´s geheime Friedhöfe. Heute kennt man sie zum Teil, nicht alle. Ich hab dazu sehr viel geforscht, wäre zu viel gesagt, hab mich sehr damit beschäftigt. Die Orte gesucht, mit Leuten gesprochen. Ich habe allein auf Akill Island über 25 gefunden. Autor René Böll ist Maler und besitzt noch einen handschriftlichen Anfahrtsplan, den sein Vater anfertigte, um René Bölls Tante Mechthild die Zug- und Schiffsreise von Köln in den Westen Irlands zu beschreiben. René Böll (27`40) Er hat meiner Tante geschrieben, die konnte kein Englisch. Und er hat ihr einen sechsseitigen Brief geschrieben wie sie vom Haus in Köln Müngersdorf bis Akill Island kommt und zwar jeden Schritt. Hier zum Bahnhof. Dem Gepäckträger, den es damals noch gab musst du das und das zahlen, da und da umsteigen, zu dem Hotel fahren. Damit ist sie dann auch nach Irland gekommen. Das hat auch funktioniert. Autor Heinrich Böll war auch ein sehr genauer, exakter Planer seiner Romane. Für „Gruppenbild mit Dame“ hat er eine grafische Skizze angefertigt, die wie der Bauplan eines Architekten aussieht. Auf einer großen roten Fläche, die wie ein Trichter auf eine Tülle zuläuft, zeichnet Böll die Entwicklung zum Plot vor. René Böll (28`44) Eigentlich für alle Romane gibt es das. Er hat Kapitel aufgeteilt und welche Personen wo vorkommt, die Motive, Hintergründe, Alter der Personen. Grundriss nannte er das auch. Verschiedene Farben für verschiedene Personen. (29`54) Er hat ein sehr enges Verhältnis zur Kunst aber nicht zum Sammeln. Was ich bedauere. (…) Das Verhältnis zur Kunst war sehr eng bei meinem Vater. (…) Der große Altar von van Eyck, der in Gent hängt, spielt eine große Rolle in seinen Büchern. Da sind wir damals auch öfter hingefahren. Er hatte Fotos davon. (31`16) Er hat Grafiken oder Briefe mit Heftzwecken an die Wand, also gar nicht gerahmt. Das war ihm ganz fremd, konservatorischer Umgang damit. MUSIK Autor So sehr Böll selbst Fluchtpunkte suchte, um zu schreiben, so war er auch Fluchthelfer in den Zeiten des kalten Krieges. Er suchte den Austausch mit DDR-Kollegen und reiste vor allem viel in das fernere Osteuropa, Polen, die Sowjetunion und die Tschechoslowakei, wo seine Frau geboren wurde. 1968 reiste er auf Einladung des PEN und Alexander Dubceks nach Prag, wo gerade der Prager Frühling ausgebrochen war. Auf dem Wenzels Platz musste er miterleben, wie die sowjetischen Panzer die friedliche Revolution niederwalzten. Stankowski (31`50) Es gibt zwei Dinge, einmal sich für die Ausgestoßenen zu engagieren und gegen alle Lagerdenkerei Unabhängigkeit im Kopf zu bewahren. Wir haben ja in der Linken früher das Problem gehabt, dass Dinge nicht beurteilt wurden nach wahr oder unwahr, nach ethisch oder unethisch, sondern nach Lager und das war dem Böll völlig fremd. Ich weiß, der war eingeladen zu einer größeren Veranstaltung in Prag, ganz offiziell und hatte die Frau eines Komponisten im Kofferraum rausgeschmuggelt aus der Tschechoslowakei. Das war tätige praktische Solidarität und das hat ihn überhaupt nicht daran gehindert gleichzeitig zu sagen, man muss das Blockdenken überwinden. Weil er gesagt hat, wie können wir zur Humanisierung der Gesellschaft beitragen und zur Entkrampfung und gleichzeitig zu sagen, ich engagiere mich für die, die hinausgetreten worden sind. Schnell (1:10`35) Heinrich Böll galt ja in der Bundesrepublik Deutschland, zumindest den konservativen seiner Kritiker immer als jemand der links stehe, er wurde als Kommunist verteufelt, als Sozialist hingestellt und dergleichen mehr. Aber diese Vorwürfe gegenüber Böll sind unhaltbar, wenn man sich einmal ansieht, wie genau Böll zu unterscheiden verstand zwischen den östlichen Systemen des Staatssozialismus und den Intellektuellen dort, den Dissidenten etwa. Böll hat sich nie in seinem gesamten Engagement, nie festlegen lassen durch etwa eine Nähe, eine Art falscher Solidarität zu den Systemen. Sondern was ihm am Herzen lag und wofür er sich engagierte, mehr als es seinerzeit in der Presse wahrgenommen werden konnte überhaupt, das waren die einzelnen Personen, insbesondere Künstler und Intellektuelle, die unterdrückt wurden, die sich nicht frei äußern konnten. Und da hat Böll keinen Unterschied gemacht zwischen reaktionären faschistoiden Systemen im Westen und den staatssozialistischen Institutionen und Systemen im Osten. Er hat sich vor allem eingesetzt für die Dissidenten in der Sowjetunion, für Alexander Solschenizyn, für Lew Kopelew. (…) Er hat nirgendwo Grenzen gelten lassen, wenn es um die Freiheit der Kunst und des Denkens ging. Und (…) er hat ein praktisches Engagement gepflegt, in dem Sinne dass die Personen, die zum Teil ausgewiesen wurden, bei ihm zu Hause untergebracht werden konnten. Zitat / Brief Lew Kopelew (Sprecher Fritz Pleitgen) 1982 zu Heinrich Bölls 65. Geburtstag Lieber Hein. Viele Menschen in der Sowjetunion, in der Tschechoslowakei, in Polen und in anderen Ländern, die Geld spenden, Kleidung, Lebensmittel, Medikamente und Bücher erhalten, wissen bis heute nicht, wem sie es zu verdanken haben. Nämlich Dir. Darüber, was Du uns beiden getan hast, müsste man viel erzählen. In diesem Augenblick sehen wir, wie Annemarie abwinkt und wir hören, wie Du was ganz und gar Unsalonfähiges brummst. Darum nur kurz. Dass wir hier in Deinem Köln leben und arbeiten können und nicht irgendwo weit nordostwärts von Moskau verbannt und mundtot gemacht wurden, verdanken wir vielen Freunden und am meisten Dir. Unsere Verbindung mit Dir wurde uns zur Quelle seelischer Kräfte. Deine Raja und Dein Lew Autor Mit Lew Kopelew verband Heinrich Böll eine besondere, langjährige Freundschaft. Nachdem es Böll schaffte, dass der russische Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn aus der Sowjetunion ausreisen und zunächst bei ihm unterkommen konnte, gelang ihm das auch mit Lew Kopelew und dessen Frau Raja. Musik – kurz Trenner Schnell (1:8`12) Bölls Engagement ist nur zu einem Teil zu erklären mit seinen literarischen, kritischen, polemischen Interventionen, zu einem Teil. Das Engagement Heinrich Bölls bestand zu einem anderen Teil in Aktivitäten, darin dass er sich engagiert hat für eine bestimmte Handlung, eine politische, eine gesellschaftliche wirkungs- und folgenreiche Handlung. Dazu gehört etwa das Engagement für das Schiff Cap Anamur, das Rupert Neudeck für die vietnamesischen Flüchtlinge einsetzen wollte. Ruppert Neudeck (Disk Hülchrather, 95`50) Im Zug nach Köln dachte ich nur noch an diese armen „boat people“ und schrieb schließlich einen Brief an den Einzigen, der mir in Deutschland einfiel und den ich um Unterstützung in der deutschen Öffentlichkeit bitten musste, Heinrich Böll. Zwei Tage später, am 4. Februar 1979 rief Böll im Deutschlandfunk an. Er sagte einfach nur: Neudeck, Sie müssen das tun und ich bin dabei! Und er bat mich noch, diese Aktion ganz breit zu machen, damit keine Partei oder Kirche sich ihrer bemächtigen konnte. O-Ton Böll (WDR-Tischgespräch 28.10.1984; Feat. S.22) Ich glaube, dass ein Autor in seinem Werk am wirklichsten ist. Nicht in der Person, in der Figur oder in der Gestalt, und das erfordert viel Arbeit, ihn da zu finden. Sie finden ihn nicht in seinem Arbeitszimmer. Lindita Arapi (CD 0`25) Ich habe Böll geehrt dafür, dass er so engagiert war. Autor Lindita Arapi war 20, als sie Albanien verließ, Richtung Heinrich-Böll Haus in Langenbroich, einem einsamen Eifeldorf. Ein weiterer Rückzugsort Bölls. Aleksander Solschnizyn kam hier zunächst genauso unter wie das Ehepaar Kopelew. Lindita Arapi (CD 4`22) Böll verbinde ich in diesem Sinne auch mit Freiheit. (4`58) Es war beeindruckend und faszinierend. Ich hab gerade in dem Haus gelebt, wo Heinrich Böll gelebt hat früher, es ist ein Ort fürs Schreiben. Einsam und so wie es sein soll für die Kreativität. Autor Heute gehört das Haus der Grünen - nahen Heinrich-Böll-Stiftung. Künstler und Schriftsteller aus vielen Ländern halten sich hier als Stipendiaten auf. Lindita Arapi (CD 14`10-15`51) Dadurch, dass er dieses gesellschaftliche Engagement auch immer zum Thema gemacht hat, finde ich, er hat es geschafft zu diesem Fron zu kommen, das Gewissen der Nation. Und es wäre schade, wenn diese Gesellschaft das vergisst, weil gerade die Thema die Böll behandelt hat sind heute auch aktuell. Ich erinnere mich immer wieder an dieses Thema des persönlichen Schutzraums, was Böll auch literarisch verarbeitet hat, nicht nur öffentlich als Thema stark gebracht hat. Wir diskutieren heute leider auf einer anderen Ebene und der Zeitgeist erlaubt uns vielleicht nicht mehr an dieses Thema zurück zu kommen wie Böll dieses Thema behandelt hat. Heute diskutieren wir auf einer Ebene, wie wir uns vor Terrorismus schützen, vor einem anderen Terrorismus als in den 60er, 70er Jahren in Deutschland ein Thema war. Wir diskutieren heute nicht mehr, ob wir unseren persönlichen Schutzraum erlauben anzutasten. Wir diskutieren heute wieviel dieser persönliche Raum angegriffen wird. Wir haben Böll verraten in diesem Sinne. Wir erlauben uns kontrolliert zu werden, weil wir wollen so in Sicherheit leben. In diesem Sinne hat Böll den Kampf mit diesem Zeitgeist verloren. MUSIK Autor Am 10. Januar 1972 erscheint im Spiegel Heinrich Bölls Essay `Soviel Liebe auf einmal. Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?´ Vermutlich hat keine Veröffentlichung eines deutschen Schriftstellers nach dem Zweiten Weltkrieg ein strittigeres Echo hervorgerufen als dieser Essay Bölls. Zitat Böll (KA 18, 41) Wo die Polizeibehörden ermitteln, vermuten, kombinieren, ist Bild schon bedeutend weiter: Bild weiß. Dicke Überschrift auf der Titelseite der (Kölner) Ausgabe vom 23.12.71: »Baader-Meinhof-Gruppe mordet weiter«. Autor In der Bild-Zeitung waren am 23. Dezember die Schlagzeilen zu lesen: „Baader-Meinhof-Bande mordet weiter. Bankraub: Polizist erschossen. Eine Witwe und 2 Kinder bleiben zurück“ Der nachfolgende Artikel wusste aber nur von einem Verdacht zu berichten. Böll ist erzürnt über das Verhalten der Boulevardpresse im Umgang mit der Baader-Meinhof-Gruppe. Ihn stört die Vorverurteilung, die er als eine Beugung des Rechts in einer Demokratie bezeichnet. Denn, solange nicht das Gegenteil bewiesen sei, gelte die Unschuldsvermutung, auch bei möglichen Terroristen. Zitat Böll (KA 18, 44) In jeder Erscheinungsform von Rechtsstaat hat jeder Verdächtigte ein Recht, daß, wenn man schon einen bloßen Verdacht publizieren darf, betont wird, daß er nur verdächtigt wird. Autor Diese Forderung allein reichte schon aus, Böll in die Nähe der „Baader-Meinhof-Gruppe“ und der „Rote-Armee-Fraktion“ (RAF) zu rücken. Verstärkt wurde die auf den Spiegel Essay folgende Kampagne aber vor allem durch die Wahl des Titels. „Soviel Liebe auf einmal“ war mit dem Spiegel abgesprochen. Böll bat auch ausdrücklich nichts am Inhalt und dem Titel des Essays zu verändern. Der Spiegel hielt sich nicht daran und fügte den Titel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ zudem noch unter Weglassen des Nachnamens Meinhof hinzu, ohne Böll zu informieren. Schnell (nach1:34`49) Ein Titel, der (…) eine gewisse Nähe des Autors Heinrich Böll zu Ulrike Meinhof dadurch nahelegte, dass der Nachname Meinhof fallengelassen wurde. „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“, das legt natürlich eine persönliche Freundschaft gewissermaßen nahe, die Böll nie zu dieser Gruppe gehabt hatte. (…) Als die BILD-Zeitung erschien mit der Schlagzeile „Baader-Meinhof-Bande mordet weiter“, da hat Böll dann deutlich gemacht, dass das eine Form der Vorverurteilung ist, die grundgesetzlich untersagt ist, die nicht vereinbar ist mit dem deutschen Recht, und er hat seine Kritik geäußert in einer Polemik, die Ihresgleichen sucht. Er hat den Begriff Faschismus im Blick auf die Springer-Presse und Lynchjustiz im Blick auf die Springer-Presse benutzt. Und er hat sich damit natürlich der Kritik der rechten Presse in Deutschland ausgesetzt. Das hat er auch gewusst, er hat auch gewusst, was ihm bevorsteht, aber er hat es vielleicht doch nicht in dieser massiven blockartigen, gewaltförmigen Qualität vorhersehen können. Jedenfalls stand Böll in der Kritik in Deutschland, wegen dieser und anderer Interventionen. René Böll (19`10) Der Titel war schon übel gemacht. Das war schon eine sehr starke Veränderung. (19`36) Das haben die sich einfach so rausgenommen. Da war schon eine sehr große Arroganz auch da. Autor Heinrich Böll verteidigte auch später diesen Essay. Er sah keinen Grund sich zu distanzieren, obwohl er sich massiven Anfeindungen ausgesetzt sah. Zitat Böll (KA 22,87) Der Artikel war polemisch, er hatte seine Zeit, entsprach ihr und der Stimmung, die damals herrschte. Er war polemisch, aber nicht verleumderisch; er entsprach dem, was ich mir unter Meinungsfreiheit vorstelle; was er außerdem war: er war beleidigend, beleidigend für Herrn Springer René Böll (18`12) Bespitzelt, ja das kann man sagen. Geheimpolizei oder wer auch immer. Es ist immer abgestritten worden, aber die waren hinter uns her, hinter der ganzen Familie. Bei meinem Bruder, der wohnte damals in der Bonner Str. War gegenüber so ein kleines Café, da saßen die immer, haben den permanent überwacht. Mein anderer Bruder, der fuhr nach Aachen zum Studium. Da sind sie hinterher gefahren. Das war schon enorm. Post wurde geöffnet, abgefangen. Telefon abgehört. Autor Es ging bis zu Hausdurchsuchungen berichtet René Böll. René Böll (19`45) Die erste war bei meinem Bruder Raimund. Dann war eine bei meinem Vater, bei meinem Bruder, bei uns. Bei uns war 77. Und zwei bei Vettern von mir, wo wir früher gewohnt hatten. (20`43) Wenn Leute in Restaurants sagten, wieso werden die hier bedient. Wieso dürfen die Kommunisten hier essen. Das war schon sehr unangenehm. Oder man hat uns ins Gesicht gesagt, bei Adolf hätten wir euch an die Wand gestellt. Das waren Nachbarn. Das war schon sehr sehr übel. Bei uns die Hausdurchsuchung war, als Schleyer, ist ja genau 40 Jahre her, als Schleyer noch entführt war, also noch lebte. Und man hat angeblich Schleyer bei uns gesucht. Das ist natürlich vollkommener…, das war nur, um meinen Vater fertig zu machen, da bin ich sicher. (21`34) Er war natürlich empört. Das war für ihn schon sehr sehr verletzend. Die Polizei hat auch ganz bewusst gelogen. Sie hat gesagt, bei uns hätte kein Name an der Tür gestanden. Was nicht stimmte. Wir wohnten da seit Jahren. Sie haben gesagt es sei ein verstecktes Hinterhaus gewesen, wo kein Name an der Tür war und so anonym war. Das stimmte überhaupt nicht. MUSIK Hans Werner Henze: Konzertsuite für kleines Orchester (nach der Musik zum Film Die verlorene Ehre der Katharina Blum). UA 6. Mai 1976 Autor Auf die Verfolgung reagiert Böll 1974 mit dem Kolportageroman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Katharina Blum wird von der Polizei drangsaliert, weil sie einen angeblichen Terroristen schützen soll. Sie hat sich in diese Zufallsbekanntschaft verliebt und wird nun von der „Zeitung“ als Terroristen-Hure beschimpft. Zitat Böll Zitat „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974) (KA 18, 343) Katharina auf der Titelseite. Riesenfoto, Riesenlettern. RÄUBERLIEBCHEN KATHARINA BLUM VERWEIGERT AUSSAGE ÜBER HERRENBESUCHE. Der seit eineinhalb Jahren gesuchte Bandit und Mörder Ludwig Götten hätte gestern verhaftet werden können, hätte nicht seine Geliebte, die Hausangestellte Katharina Blum, seine Spuren verwischt und seine Flucht gedeckt. Die Polizei vermutet, daß die Blum schon seit längerer Zeit in die Verschwörung verwickelt ist. (Weiteres siehe auf der Rückseite unter dem Titel: HERRENBESUCHE). (345) MÖRDERBRAUT IMMER NOCH VERSTOCKT! Autor Der Zeitung -Reporter Tötges verfolgt sie unnachgiebig und zerstört schließlich ihr Leben, als er sie in ihrer Wohnung aufsucht. Zitat Angela Winkler/Verfilmung Katharina Blum (416) Nun, ich sah sofort, welch ein Schwein er war, ein richtiges Schwein. Er sagte „Na Blümchen, was machen wir zwei denn jetzt?“ Ich sagte kein Wort, wich ins Wohnzimmer zurück, und er kam mir nach und sagte: „Was guckst du mich denn so entgeistert an mein Blümelein – ich schlage vor, daß wir jetzt erst einmal bumsen.“ Nun, inzwischen war ich bei meiner Handtasche, und er ging mir an die Kledage, und ich dachte: „Bumsen, meinetwegen, und ich hab die Pistole rausgenommen und sofort auf ihn geschossen. Zweimal, dreimal, viermal. Ich weiß nicht mehr genau. .. Dieser Kerl – und dann „Bumsen“, und ich dachte: Gut, jetzt bumst`s. Autor Volker Schlöndorff hat den Roman mit Angela Winkler als Katharina Blum eindringlich verfilmt. Böll hat für die Verfilmung noch eine Schlusssequenz geschrieben, die im Roman nicht enthalten ist. Sie zeigt die Beerdigung des Reporters Tötges und die dort geahltene Grabrede. Sie ist zugleich Ausdruck einer der wichtigsten Seiten Bölls, der keine politische Auseinandersetzung scheute, aber auch einen Humor hatte, mit dem er dieser eine ganz eigene Schärfe verleihen konnte. Zitat Blum Verfilmung / (1:38`50 – 40`38) Rede am Grab von Tötges Die Schüsse, die Werner Tötges tödlich getroffen haben, haben nicht nur ihn getroffen, sie galten der Pressefreiheit, einem der kostbarsten Güter unserer jungen Demokratie. Und durch diese Schüsse sind auch wir, die wir trauern und entsetzt stehen, nicht nur betroffen, sondern getroffen. Wer spürt nicht die Wunde, wer spürt nicht den Schmerz, der weit über das Persönliche hinaus geht? Wer spürt nicht den Atem des Terrors und die Wildheit der Anarchie? Wer spürt nicht die Gewalt, mit der hier an der freiheitlich demokratischen Grundordnung gerüttelt wurde, die uns allen so am Herzen liegt. Und wieder einmal gilt, wehret den Anfängen! Seit wachsam! Denn mit der Pressefreiheit steht und fällt alles. Wohlstand, sozialer Fortschritt, Demokratie Pluralismus, Meinungsvielfalt. Und wer die Zeitung angreift, greift uns alle an. Schnell (1:29`27) Heinrich Böll ist auch ein großer Humorist. Humor nicht im landläufig versöhnerischen oder versöhnlichen Sinne, sondern Humor verstanden als eine Form der kritischen, witzigen, ironischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Und das zieht sich eigentlich durch Bölls gesamtes Werk hindurch, von den frühen Erzählungen, nach 1945, so etwa „Mein Freund hat seine eigenen Ideen“, 1949, oder „Die schwarzen Schafe“, geht das weiter über „Nicht nur zur Weihnachtszeit“, ein Text, der übrigens in Schulen heute noch gerne gelesen wird, oder auch der Klassiker unter den satirischen Arbeiten Bölls „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ von 1955. Autor In seiner Satire auf den öffentlich rechtlichen Rundfunk der 50er Jahre, besteigt ein gedanklich schwer beladener Redakteur den Paternoster. O-Ton Böll (CD 1 / 33; KA 9, 303) Jeden Morgen, wenn er das Funkhaus betreten hatte, unterzog sich Murke einer existentiellen Turnübung: er sprang in den Paternosteraufzug, stieg aber nicht im zweiten Stockwerk, wo sein Büro lag, aus, sondern ließ sich höher tragen, am dritten, am vierten, am fünften Stockwerk vorbei, und jedesmal befiel ihn Angst, wenn die Plattform der Aufzugskabine sich über den Flur des fünften Stockwerks hinweg erhob, die Kabine sich knirschend in den Leerraum schob, wo geölte Ketten, mit Fett beschmierte Stangen, ächzendes Eisenwerk die Kabine aus der Aufwärts- in die Abwärtsrichtung schoben, und Murke starrte voller Angst auf diese einzige unverputzte Stelle des Funkhauses, atmete auf, wenn die Kabine sich zurechtgerückt, die Schleuse passiert und sich wieder eingereiht hatte und langsam nach unten sank, am fünften, am vierten, am dritten Stockwerk vorbei; Murke wußte, daß seine Angst unbegründet war: selbstverständlich würde nie etwas passieren, es konnte gar nichts passieren, und wenn etwas passierte, würde er im schlimmsten Falle gerade oben sein, wenn der Aufzug zum Stillstand kam, und würde eine Stunde, höchstens zwei dort oben eingesperrt sein. Er hatte immer ein Buch in der Tasche, immer Zigaretten mit; doch seit das Funkhaus stand, seit drei Jahren, hatte der Aufzug noch nicht einmal versagt. Es kamen Tage, an denen er Nachgesehen wurde, Tage, an denen Murke auf diese viereinhalb Sekunden Angst verzichten mußte, und er war an diesen Tagen gereizt und unzufrieden, wie Leute, die kein Frühstück gehabt haben. Er brauchte diese Angst, wie andere ihren Kaffee, ihren Haferbrei oder ihren Fruchtsaft brauchen. Wenn er dann im zweiten Stock, wo die Abteilung Kulturwort untergebracht war, vom Aufzug absprang, war er heiter und gelassen, wie eben jemand heiter und gelassen ist, der seine Arbeit liebt und versteht. Autor Böll, der in den 50er Jahren selbst viel für den Hörfunk gearbeitet hat, erkennt die Eitelkeiten des jungen, streng hierarchisch strukturierten Mediums. Film Zitat Murkes (Feat. 39`16-39`41) Bur-Mallotke: So, da bin ich wieder (Intendant) Schenken sie mir eine Minute! (Intendant) Sie bekommen Stunden und Tage (Bur-Mallotke) Nein, es handelt sich nicht um eine gewöhnliche Zeitminute, sondern um einen Sendeminute. (Intendant) Hoffentlich handelt es sich nicht um eine politische Minute. (Bur-Mallotke) Nein, um eine halbe lokale und eine halbe Unterhaltungs-Minute. (Intendant) Ah, das ist was anderes. Autor Auch die Verfilmung mit Dieter Hildebrandt wurde ein großer Erfolg. Film Zitat Murkes (Feat. 39`50-57) Komm eben von Enzensberger – Was macht er? – Enzensberger macht ein Feature über Walser und später macht Walser eins über Enzensberger. Nach dem Wahlspruch: Verfeaturest Du mich; dann verfeature ich Dich. Dieter Wellershoff Er hat wunderbare Satiren geschrieben. Da wird alles das, was man auf der anderen Seite hier und da als Klischee empfinden kann, zur Pointe. Meine Lieblingsgeschichte ist „Nicht nur zur Weihnachtszeit“. O-Ton Böll (CD 1 20, 0`18-2`45; KA 6, 210f.) Um Lichtmeß herum war das Schreckliche geschehen. Als mein Vetter Johannes am Abend des Lichtmeßtages, nachdem ein letztes Mal der Baum gebrannt hatte als Johannes begann, die Zwerge von den Klammern zu lösen, fing meine bis dahin so milde Tante jämmerlich zu schreien an, und zwar so heftig und plötzlich, daß mein Vetter erschrak, die Herrschaft über den leise schwankenden Baum verlor, und schon war es geschehen: es klirrte und klingelte, Zwerge und Glocken, Ambosse und der Spitzenengel, alles stürzte hinunter, und meine Tante schrie. Sie schrie fast eine Woche lang, Neurologen wurden herbeitelegraphiert, Psychiater kamen in Taxen herangerast – aber alle, auch Kapazitäten, verließen achselzuckend, ein wenig er schreckt auch, das Haus. Keiner hatte diesem unerfreulich schrillen Konzert ein Ende bereiten können. Nur die stärksten Mittel brachten einige Stunden Ruhe, doch ist die Dosis Luminal, die man einer Sechzigjährigen täglich verabreichen kann, ohne ihr Leben zu gefähr den, leider gering. Es ist aber eine Qual, eine aus allen Leibeskräften schreiende Frau im Hause zu haben: schon am zweiten Tage befand sich die Familie in völliger Auflösung. Auch der Zuspruch des Priesters, der am Heiligen Abend der Feier beizuwohnen pflegte, blieb vergeblich: meine Tante schrie. Franz machte sich besonders unbeliebt, weil er riet, einen regelrechten Exorzismus anzuwenden. Der Pfarrer schalt ihn, die Familie war bestürzt über seine mittelalterlichen Anschauungen, der Ruf seiner Brutalität überwog für einige Wochen seinen Ruf als Faustkämpfer. Inzwischen wurde alles versucht, meine Tante aus ihrem Zustand zu erlösen. Sie verweigerte die Nahrung, sprach nicht, schlief nicht; man wandte kaltes Wasser an, heißes, Fußbäder, Wechselbäder, die Ärzte schlugen in Lexika nach, suchten nach dem Namen dieses Komplexes, fanden ihn nicht. Und meine Tante schrie. Sie schrie so lange, bis mein Onkel Franz – dieser wirklich herzensgute Mensch – auf die Idee kam, einen neuen Tannenbaum aufzustellen. MUSIK (weihnachtlich) Dieter Wellershoff Da ist er auch ganz kritisch, da sieht er, wie die Nährwerte Weihnachten in das Gegenteil einer Lebenslüge umschlagen können. Da ist nichts Sentimentales drin. Das ist ja wirklich ironisch, analytisch, wie eine Gesellschaft die sich weigert, eine Erfahrung zu machen, nämlich, dass es Alltag gibt und dass Feste nicht dass, Feststimmungen, Familiengemütlichkeiten nicht die Form für das ganze Leben sind, das hat er ja wunderbar ad absurdum geführt. Schnell (nach 1:53`40) Ich habe oft gehört im Blick auf die gegenwärtigen Weltläufe und Zeitläufte, was würde ein Heinrich Böll zu diesem oder zu jenem Problem sagen, wie der Flüchtlinge, der Migration etwa, was würde ein Heinrich Böll dazu sagen. Dass wir keinen Heinrich Böll mehr haben, und eigentlich nach dem Ableben von Günter Grass und nach dem leiser werden von Martin Walser als öffentlicher Intellektueller, dass gewissermaßen ein ganzes Profil, ein gesellschaftliches, ein kulturelles Profil verschwunden ist, kann man bedauern, man kann es aber auch so sehen wie es Hans Magnus Enzensberger mal schön ausgedrückt hat: wir haben Heinrich Böll verloren, aber wir haben es zu tun mit einer Vergesellschaftung seiner Rolle, der Rolle, die er früher wahrgenommen hat. Und Vergesellschaftung heißt eben, wir haben heute Attac, wir haben heute Greenpeace, man könnte noch hinzufügen, wir haben ja überhaupt die ökologische Bewegung, wir haben die Grünen als Partei. Wir haben die feministische Bewegung, alles das sind Entwicklungen in Form von Bewegungen, auch Parteibildungen, die heute von Einzelnen nicht mehr wahrgenommen werden könnten. Das heißt wir haben auf der einen Seite den Verlust des repräsentativen Intellektuellen, und wir haben auf der anderen Seite das Gegengewicht von gesellschaftlichen Gruppen und Vergesellschaftungen dieser Rollen, die natürlich politisch ungleich gewichtiger sind. Autor Zwei Monate vor seinem Tod schrieb Heinrich Böll seiner Enkelin ein Gedicht in ihr Poesiealbum. Es ist ein Vermächtnis und zugleich auch ein Versprechen für alle, die sich mit der Literatur und dem Menschen Heinrich Böll beschäftigen. Zitat Böll: „Gedicht für Samay“ (1985) (KA 23, S. 289) Wir kommen weit her Liebes Kind Und müssen weit gehen Keine Angst Alle sind bei Dir Die vor Dir waren Deine Mutter, Dein Vater Und alle, die vor ihnen waren Weit weit zurück Alle sind bei Dir Keine Angst Wir kommen weit her Und müssen weit gehen Liebes Kind Dein Großvater 8.Mai 1985 Musik Absage Musik Musikliste 1. Stunde Titel: Independency part 1 Länge: 08:18 Interpret und Komponist: Arild Andersen Label: ECM-Records Best.-Nr: 1774448 Plattentitel: Live at Belleville Titel: Vier kurze Studien für Violincello Länge: 00:30 Interpret: Guido Boselli, Cello Komponist: Bernd Alois Zimmermann Label: edition zeitklang Best.-Nr: ez 25023 Titel: 3 Stücke für Violoncello und Klavier (3 [trois] pièces), Nr. 2: Sans vitesse et à l'aise a-Moll Länge: 07:03 Solisten: Julian Steckel (Violoncello), Paul Rivinius (Klavier) Komponist: Nadia Boulanger Label: CAvi-music Best.-Nr: 8553230 Titel: Epitaph auf den Tod von Paul Dessau (für Violoncello) Länge: 02:14 Interpret: Asa Akerberg, Cello Komponist: Hans Werner Henze Label: Wergo Best.-Nr: WER67272 Titel: aus: Klaviersonate Nr. 19 aus: Andante Länge: 04:10 Interpret: Wilhelm Kempf, Klavier Komponist: Ludwig van Beethoven Label: Deutsche Grammophon Best.-Nr: 453 724 2 Titel: Air to air, Wah habbibi Länge: 01:45 Interpret: Silk Road Music Komponist: Osvaldo Giljiov Label: WORLD VILLAGE, keine Best.-Nr. Titel: aus: Trio für Violine, Violoncello und Klavier Nr. 2 Es-Dur, D 929 (op. 100), 2. Satz: Andante con moto Länge: 09:41 Interpreten: Lars Vogt, Klavier; Christian Tetzlaff, Violine; Tanja Tetzlaff, Cello Komponist: Franz Schubert Label: Avi – music Best.-Nr: 553044 2. Stunde Titel: Die Befristeten Länge: 01:50 Interpret: Axel Dörner, Trompete Komponist: Bernd Alois Zimmermann Label und Best.-Nr: keine Titel: Stillness Länge: 01:43 Solist: Hilary Hahn (Violine) Solist: Volker Bertelmann (Präpariertes Klavier) Komponist: Hilary Hahn, Hauschka Label: Deutsche Grammophon Best.-Nr: 4790303 Titel: Snow Länge: 01:47 Interpret: Ben Frost und Daniel Bjarnason Komponist: Daniel Bjarnason, Ben Frost Label: Bedroom Community, keine Best.-Nr. Titel: Straßen wie diese Länge: 07:31 Interpret: BAP Komponist: Helmut Krumminga Label: Emi Best.-Nr: 553916-2 Plattentitel: Wann immer du nit wiggerweiß Titel: The Coolin Länge: 01:30 Interpret: unbekannt Komponist: trad. Label: IML Irish Music Licensing, keine Best.-Nr. Plattentitel: CD: The essential Irish Folk Collection Titel: The Shaskeen / The Velvet Länge: 03:45 Interpret: unbekannt Komponist: trad. Label: IML Irish Music Licensing, keine Best.-Nr. Plattentitel: CD: The essential Irish Folk Collection 3. Stunde Titel: S. Biagio 9 Agosto ore 1207. Ricordo per un contrabasso solo (Sankt Biagio 9. August 12 Uhr 07 für Kontrabass solo) Länge: 03:28 Solist: Frank Reinecke (Kontrabass) Komponist: Hans Werner Henze Label: NEOS Best.-Nr: NEOS 11018 Titel: Suite Länge: 01:59 Interpret: Hans Werner Henze Ensemble Komponist: Hans Werner Henze Label: TSUNAMI Best.-Nr: 02943-2 Plattentitel: Filmmuseum Berlin - Musik zum deutschen Film, Vol. 2: 1946-2000 Titel: aus: Quintett für 2 Violinen, Viola und 2 Violoncelli C-Dur, D 956, op.posth.163, Adagio (2)(14.23/0.07) Länge: 47:29 Ensemble: Alban Berg Quartett Komponist: Franz Schubert Label: EMI CLASSICS Best.-Nr: 747018-2