DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 08.04.2014 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr "Du bist meine genetische Überraschung" Russlands erster Intersex-Aktivist Von Christiane Bauermeister URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik Oskar Schuster ?Une Valse Invisible? & Atmo Foyer Mariinsky Theater O-Ton Sasha Übersetzer Ballett ist eigentlich nicht so mein Favorit, bin fast eingeschlafen. Zeitgenössischer Tanz ist mir doch lieber! Erzählerin: Alexander Berezkin, genannt Sasha, ist Soziologieassistent an der Universität von Vladivostok. Er will seinem Freund Sergej die Schönheiten von Sankt Petersburg zeigen, dazu gehört auch der Besuch einer Ballettaufführung im altehrwürdigen Mariinsky-Theater, der ehemaligen Kirow-Oper. Heute steht ?Giselle? auf dem Programm. Sasha ist Ende zwanzig, zart gebaut, mittelgroß, sein blondes Haar sorgsam gescheitelt. Gekleidet ist er wie ein Gentleman, mit karierter Weste unter dem Samt-Jackett. Trotz der eisigen Kälte draußen tragen Sasha und auch sein Freund Sergej beim Opernbesuch modische Halbstiefel. Sergej, ist Mitte dreißig, arbeitet in leitender Position als Biochemiker an einem privaten Institut in Vladivostok. Auch er ist elegant gekleidet; dunkles Haar, ein kräftiger, gut aussehender Mann. Die beiden sind frisch verliebt. Auf dem Weg ins Mariinsky haben sie sich auf der Brücke über den kleinen Moijka-Kanal umarmt und geküsst, so ist es üblich auf der Petersburger ?Kussbrücke?. Atmo Ballett Giselle im Theater O-Ton Sasha Übersetzer Ich hab mich manchmal wie ein Fehler der Natur gefühlt, ein Scheusal, wirklich wie eine Art Monster. Solche Leute sollten doch gar nicht auf der Welt sein. Besonders dann, wenn man mir zu verstehen gab, dass man das nicht verbreiten solle, die Leute würden einen sowieso nicht verstehen, darüber muss man schweigen, schweigen, schweigen. Das ist etwas sehr, sehr, sehr Peinliches. Manchmal fällt es mir leichter, zuzugeben dass ich schwul bin, als zu sagen ich sei intersexuell. Titelansage ?Du bist meine genetische Überraschung? Russlands erster Intersex-Aktivist Ein Feature von Christiane Bauermeister Atmo Ballett Giselle im Theater Erzählerin: Intersexuelle Menschen haben sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale, ihr Geschlecht lässt sich daher nicht ohne weiteres in das gängige Mann/ Frau Schema einordnen. Sashas Chromosomensatz, der Kariotyp, wie es in der Vererbungslehre heißt, zeigt eine Abweichung: statt des typisch männlichen XY-Chromosomensatzes ist Sasha mit einem X-Chromosom zu viel geboren, er hat den Chromosomensatz XXY. O-Ton Sasha Übersetzer Ich hatte auch sexuelle Erfahrungen mit Frauen, als ich so 28 Jahre alt war, wie soll ich das nun sagen, es war wohl eher ein gewisses Interesse, so kann ich eben auch. (lacht) Ich hab dann gemerkt, dass das kein Problem für mich ist, hab dann meine gewisse Bisexualität akzeptiert, vorher hat es interessante bisexuelle Momente gegeben, die ich wohl unterdrückt hab, nun wusste ich, es gibt beides. Das hat mich dann auch befreit. Das hat mir dann auch geholfen. Musik Oskar Schuster ?Pause (La Nuit)? Erzählerin: In einer modernen Kinderklinik am Rande Moskaus residiert der berühmte Kinderchirurg Professor Aleksej Borisowitsch Akulow, der bis heute bei Kindern mit uneindeutigem Geschlecht sofort operiert. In seinem langen Leben soll der Halbgott in Weiß mehr als zehntausende Operationen an den Genitalien durchgeführt haben. Ein alter Herr, der mich sofort an den Kinderarzt erinnert, jenen Halbgott im minzfarbenen Kittel, der damals bei meinem Kind eine geschlechtsangleichende Operation angeordnet hat. O-Ton Chirurg Übersetzer Ohne eine Geschlechtszugehörigkeit kann man nicht leben. Allerdings weiß keiner so genau, was Geschlecht eigentlich ist. Ziehen Sie einen Duden zu Rate, sie werden auch nicht schlauer sein. In den Nachschlagewerken gibt es ja auch nur XX und XY. Erzählerin Es ist sehr schwierig, in Russland an Zahlen, gar an Statistiken über irgendwelche Fälle von Intersexualität zu kommen. In den Krankenhäusern sind die Ärzte und auch die Hebammen zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet. O-Ton Chirurg Übersetzer Ihr bei euch nennt das ja Intersex. Früher nannte man das Hermaphroditismus. Das war doch eigentlich ein gutes Wort und verständlich. Die Bezeichnung gab es noch im vergangenen Jahrhundert; es gab reinen Hermaphroditismus, Pseudoherm-aphroditismus, männlicher Ausprägung, weiblicher Ausprägung. Diese Bezeichnungen wenden wir heute nicht mehr an. Stellen Sie sich vor: Da kommt so ein kleines Menschlein auf die Welt, man bringt es zur Mutter, und wir sagen ihr: das ist ein Hermaphrodit, da stockt der ja sofort die Milch! Deshalb reden wir ja viel besser von einer Deformation des äußeren Geschlechts. Erzählerin: Professor Akulow ist von keinerlei Zweifeln geplagt. Bis heute wird in Russland eine geschlechtsangleichende Operation bei Kleinkindern nicht in Frage gestellt. O-Ton Chirurg Übersetzer Wir als Ärzte entscheiden über das Geschlecht schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt, nicht ich ganz allein, sondern, wie soll ich?s sagen (lacht) eine ganze Division, dazu gehören Endokrinologen, Morphologen, Psychologen, Humangenetiker,....bei uns läuft das alles gut, richtig gut. Man kann doch nicht außerhalb eines Geschlechts leben, es gibt kein mittleres, kein zwanzigstes, es gibt Männer und es gibt Frauen!!! Musik Rammstein Erzählerin Als mein Kind vor 30 Jahren mit unklarem Geschlecht geboren wurde, da gab es auch in Deutschland keinerlei Informationen über das Phänomen Intersex. Sogar die Bezeichnung war unbekannt, die Ärzte sprachen auch hierzulande von ?Pseudohermaphroditismus? oder ?Zwittergeschlecht? und drangen darauf, Eindeutigkeit herzustellen. Mein Gewissen sprach sich damals gegen eine Operation aus, doch auch ich wollte ?klare Verhältnisse? schaffen und stimmte schließlich einer geschlechts-angleichenden Operation zu, die mein Kind später als Kastration bezeichnen sollte. O-Ton Sasha Übersetzer Natürlich will ich in erster Linie aufklären, indem ich über das Thema spreche, dann aber auch Forschung betreiben, soziologische Forschungen. Ich bin ja selbst Soziologe. Ich will fragen, was sich die Gesellschaft unter Intersexualität vorstellt, ich will Forschungen über die Bedürfnisse intersexueller Menschen betreiben, wenn es mir gelingt, mit ihnen in Kontakt zu treten, wenn sie mich überhaupt sehen wollen. Denn selbst mit mir gibt es Schwierigkeiten, Intersexuelle wollen manchmal nichts voneinander wissen. Musik Rammstein dann Nina Hagen ?Seemann? Erzählerin: Als mein Kind mit achtzehn Jahren und auch ich Kontakte zu Selbsthilfegruppen aufnahmen, war das ein ungeheurer Befreiungsschlag. Endlich raus aus dem Schweigen, endlich konnte auch ich öffentlich über meine Probleme als Mutter eines intersexuellen Kindes reden, endlich konnte ich Erfahrungen mit anderen Müttern austauschen. Und, vielleicht noch viel wichtiger, mein Kind fühlt sich durch den Kontakt mit anderen Intersexuellen nicht mehr allein. Aus solchen Erfahrungen will Sasha lernen. Er hat im Netz recherchiert und mich gefunden, die Mutter eines intersexuellen Kindes in seinem Alter. Über das Internet sind wir uns in den letzten Monaten nähergekommen und Sasha wollte mich treffen. O-Ton Sasha Übersetzer Mir hat es sehr geholfen, als ich erfuhr, dass ich Intersex bin, es hat mich befreit, hat mich lebensfähig gemacht, und diese Erfahrung möchte ich mit anderen teilen, mit anderen Intersexuellen. Ich will zeigen, dass es möglich ist, sich von bestimmten Ängsten zu befreien. Und so halte ich Seminare über Intersexualität. Im Rahmen von soziologischen Seminaren spreche ich mit Studenten über Genderfragen, über Fragen des Geschlechts und als Beispiele führe ich an, dass es Personen mit verschiedenen Geschlechtern gibt, nicht nur Mann und Frau, sondern eben auch Intersex. Erzählerin: Ein heikles Thema, über Jahrhunderte mit Tabus besetzt. Erst recht in Russland, in einer Kultur, in der die Menschen überhaupt nicht gewohnt sind, über Sexualität öffentlich zu reden, und sich nach der jüngsten homophoben Gesetzgebung sogar davor fürchten. O-Ton Siegert Erstens ist es so, dass ein großer Teil der Bevölkerung der Meinung ist, dass, wenn diese Leute überhaupt ein Recht haben, in irgendeiner Weise auftreten, dann sollen sie das sehr dezent machen, möglichst nicht in den Augen der Öffentlichkeit. Und zum zweiten gibt es natürlich diese staatliche Kampagne, die auch mit den Gesetzen zum... - offiziell heißen die Schutz für Minderjährige vor nicht-traditionellen sexuellen Praktiken, begründet werden die aber tatsächlich dazu führen - und es gibt dazu eine etwa 180 Seiten lange Instruktion einer staatlichen Aufsichtsbehörde, praktisch alle Äußerungen in der Öffentlichkeit über diese Themen über sexuelle Minderheiten möglicherweise unter Strafe stellen, jedenfalls dann, wenn sie geeignet sind, dass Kinder die zu sehen bekommen oder zu hören bekommen. Erzählerin: Jens Siegert ist Leiter des Moskauer Büros der Heinrich Böll Stiftung, die viele Initiativen sexueller Minderheiten in Russland unterstützt. Selbst in Metropolen wie Moskau oder St. Petersburg, sagt er, lebten Schwule mit einem enormen Risiko, wenn sie ihre sexuelle Orientierung in der Öffentlichkeit nicht verheimlichten. O-Ton Siegert Und zwar mit dem Risiko, dass auf der gleichen Straße irgendwelche Idioten herumlaufen, die meinen, dass das nicht sein darf, und dann auch anfangen, diese Leute zu schlagen und da darf man nicht mehr drauf hoffen, - da hat sich die Stimmung hier sehr, sehr gewandelt, es war früher auch zweifelhaft, aber inzwischen darf man überhaupt gar nicht mehr darauf hoffen, dass diesen Leuten dann geholfen wird. Auch nicht von der Polizei, sondern umgekehrt, wenn dann überhaupt etwas passiert, werden homosexuelle Paare dann eingesperrt, eventuell dann bei der Polizei auch noch geschlagen. Also offen homosexuelles Verhalten, offen zu zeigen, ist auf jeden Fall gefährlich. Ich würde mir das sehr gut überlegen. Erzählerin: Das umstrittene Gesetz ist im Sommer 2013 von Putin unterzeichnet worden. Vordergründig verbietet es vor allem zum Schutz von Kindern die Propaganda für Homosexualität, tatsächlich verhindert es jede Diskussion über gleichgeschlechtliche Liebe und stigmatisiert sie als Perversion. O-Ton Siegert Lehrer dürfen im Grunde mit Kindern darüber nicht reden. Oder dieser Instruktion der Aufsichtsbehörde, so eine Art Leitfaden, wie man das Gesetzt anwenden muss, es darf nicht positiv über diese anderen sexuellen Formen geredet werden. Das heißt also, wenn irgendjemand öffentlich, wo Kinder daran kommen könnten, über eine lesbische Beziehung redet, dann muss er das mit Verachtung tun, wenn er es nicht mit Verachtung tut, fördert er das und verletzt damit das Gesetz und kann damit bestraft werden. Musik Homeless Waltz Erzählerin: Sasha ist in dem Industriestädtchen Novokusnetzk in Sibirien geboren. Früher hieß der Ort Stalinsk und war berühmt wegen seiner Metallurgiekombinate. Heute kämpf die Stadt ums Überleben mit einer Arbeitslosenquote von über 60%. Sasha wuchs in einer öden Vorortsiedlung auf. Vorurteile gegen alles, was anders ist, waren und sind dort weit verbreitet. Musik Ende O-Ton Sasha Übersetzer Die Schule habe ich gehasst. Es gab Hänseleien, Schläge, ich erinnere mich daran, dass ich zeitweise einfach nicht zur Pause raus ging, einfach im Klassenzimmer blieb, um einem Streit zu entgehen. Ich war ein stiller bescheidener Junge, der Liebling der Lehrer, das war vielleicht damals für mich die einzige Schutzmöglichkeit. Ich hatte Bekannte auf der Schule, Freunde - wäre zu viel gesagt. Bis ich so ca. 15 Jahre alt war, bin ich für mich selbst, allein aufgewachsen. Ich hab mit Puppen gespielt, hab mir so richtige Vorführungen ausgedacht, so kleine Szenen zusammengestellt. Man hat mir gesagt, dass das etwas ungewöhnlich für einen Jungen sei, aber mir hat das gefallen. Erzählerin: Ein solches Verhalten lässt ihn in einer russischen Provinzstadt zum Außenseiter werden. Sein unmännlicher Habitus und das eher feminine Aussehen führen zu Lästereien und Boshaftigkeiten seiner Mitschüler. Um denen zu entgehen, entwickelt sich Sasha zum Schulschwänzer. Anerkennung findet er aber bei älteren Jungen, mit denen er schon ungewöhnlich früh sexuelle Kontakte aufnimmt. O-Ton Sasha Übersetzer Ich hatte schon sehr früh, im Alter von 12 Jahren sexuelle Erfahrungen gemacht, homosexueller Art, ohne Gewalt und mit meinem Einverständnis. Und vielleicht hat mich das in eine andere Lage versetzt. Ich hab das auch nicht als etwas Unnatürliches begriffen, das ist mir nicht in den Kopf gekommen. Irgendetwas hat mir gefallen; vielleicht in einem gewissen Moment wie ein Mädchen zu sein. Ich hab das nicht als unrecht empfunden, so etwa: Du bist doch aber ein Junge! Erzählerin: Viele Eltern, deren Kind kein eindeutiges Geschlecht aufweist, und das sich auch nicht nach den gängigen Kategorien männlich/ weiblich verhält, sind völlig verwirrt, können die Diagnose nur schwer verkraften. Häufig führt diese Überforderung zur Trennung der Eltern. So war es auch bei Sasha. Nach der Geburt des Kindes verließ der Vater die sibirische Kleinstadt auf nimmer Wiedersehen. Die Mutter, eine Sekretärin, ist vor ein paar Jahren an einer alkoholbedingten Leberzirrhose gestorben. Ich hatte nach der Geburt meines intersexuellen Kindes das Glück, den auf Intersex spezialisierten Psychologen Knut-Werner Rosen kennen zu lernen. Er ist einer der wenigen, die Therapien für Familien mit intersexuellen Kindern entwickelt haben. Er hat mir damals erklärt, dass diese Kinder schon sehr früh spürten, dass bei ihnen nicht alles ?normal? verlaufe, dass sie irgendwie anders seien. Eltern müssten lernen, dieses ?Anderssein? ihres Kindes zu akzeptieren, es sogar als Bereicherung zu empfinden. Das ist mir damals nicht leicht gefallen. Für den Vater meines Kindes war es nicht möglich, unsere Trennung damals unausweichlich. O-Ton Sasha Übersetzer Mit 16 Jahren stellt man sich bei uns in Russland der Musterungskommission vor, dort werden die jungen Männer gemustert, die zur Armee gehen. Die Kommission hat nun bei mir etwas entdeckt, was nicht dem Standard einer männlichen Entwicklung entsprach. Erzählerin: Ich spüre den Unmut, mit dem Sasha über seine Geschlechtsorgane spricht. Es gibt viele Ausprägungen von Intersexualität: nicht eindeutige Geschlechtsteile gehören dazu, verkümmerte Hoden, Minipenisse oder das Fehlen einer Gebärmutter etwa. Ich erinnere mich an viele Gespräche mit intersexuellen Menschen in Deutschland, die offen über ihre Probleme sprechen, aber die Geschlechtsteile selbst, die bleiben tabu und der Neugier entzogen. O-Ton Sasha Übersetzer Die Musterung war der erste Moment und der zweite war dann unsere Familienärztin, die mich schon als Kind kannte, die hat, als ich sechzehn war, zu meiner Mutter gesagt: ?Ihr Kind ist irgendwie nicht normal?. Ich hab da an der Tür gelauscht und dieses ?irgendwie nicht normal?, das hat mich tief getroffen. Dann wurde ich einem Spezialisten vorgestellt, dann dem zweiten und dritten, dann wurde letztlich mein Chromosomensatz analysiert und es wurde festgestellt, dass ich XXY bin. Mit dieser Diagnose wurde ich dann in den folgenden Jahren behandelt. Erzählerin: Ein Leidensweg begann. Sasha war allein. Mit niemandem konnte er sich über diese Diagnose austauschen. Die eigene Mutter beschwieg die Andersartigkeit des Sohns und griff zum Alkohol. Die Ärzte in seiner Provinzstadt hatten ihm zum Schweigen über seinen Zustand geraten, denn seine Umwelt sei auf eine solche ?geschlechtliche Besonderheit? nicht vorbereitet. Eines Tages begegnete er aber doch einem Mediziner in der Poliklinik, der sich mit Hormonen auszukennen schien. O-Ton Sasha Übersetzer Ein recht professioneller Arzt, jedenfalls hab ich ihn dafür gehalten, denn er führte alle drei Monate eine profunde Analyse durch, der verschrieb mir Testosteron. Erzählerin: Testosteron wurde Sasha verordnet, weil seine Hoden das männliche Hormon in nicht ausreichender Menge produzierten. Bei meinem Kind ist die Situation finster: ihm hat man im Kleinkindalter die Testosteron produzierenden Keimdrüsen entfernt. Mit dem Argument: Krebsrisiko. Angeblich können diese Drüsen in der Pubertät entarten. Bis auf den heutigen Tag bleibt dieses Argument umstritten. Als Erwachsene lassen sich heute viele Intersexuelle das Hormon verschreiben. Es soll wie ein Zaubermittel wirken. Auch mein Kind fühlt sich nach der Einnahme einfach besser, immer häufiger höre ich bei Intersex-Treffen die Frage: ?Wieviel Testo nimmst du?? O-Ton Sasha Übersetzer Mit siebzehn Jahren wusste ich also über meinen Kariotyp XXY Bescheid. Da hatte ich den Eindruck, abartig zu sein. Vielleicht im vergangenen Leben zu viel gesündigt zu haben. Ich ging dann zur Kirche, um zu beichten. Hab aber nur meine homosexuellen Erfahrungen bekannt, hab nicht gesagt, dass ich Intersex bin, den Begriff kannte ich damals noch nicht. Der Geistliche hat mir auf meine Beichte über meine homosexuellen Erfahrungen hin gesagt: ?Bereuen sie und enthalten sie sich!? Das hat mir damals nicht besonders gepasst. Atmo Kirche, Musik Terem ?Tatamka? Erzählerin: Die russische Orthodoxe Kirche, die in Russland die Rolle eines ?Ministeriums für moralische Angelegenheiten? übernommen zu haben scheint, will sich offiziell nicht zum Thema Intersexualität äußern. Ich stelle eine Anfrage an die Abteilung für Äußere Angelegenheiten beim Patriarchat. Nach einem Anruf scheint diese versandet zu sein. Schließlich gibt ein Mitarbeiter am Telefon entnervt zu, man wolle darüber nicht sprechen, denn kaum werde die Homosexualität zum Thema, da wimmelte es nur so vor homosexuellen Initiativen und Selbsthilfegruppen. Solange man allerdings über dieses Thema nicht rede, existiere es quasi nicht. Der Kirche nahestehende prominente Russen, unter ihnen der Expriester und heutige Schauspieler Ivan Ochlobystin, fordern hingegen öffentlich, Homosexuellen das Blut- oder Samenspenden zu verbieten und ihre inneren Organe nach dem Tod zu verbrennen. Den Chef-Ideologen der russisch orthodoxen Kirche wäre es am liebsten, wenn Homosexualität in Russland in Zukunft überhaupt unter Strafe gestellt werde, sagt Jens Siegert von der Böll Stiftung, voll und ganz unterstützte sie die rigide Gesetzgebung des Staates. Musik Ende O-Ton Siegert Die Kirche findet, dass Homosexualität eine Sünde ist, das kann, wenn Sie mit einem etwas aufgeklärten Priester reden, da können die Homosexuellen nichts dafür, sie sind nun eben mal so, wie sie sind, auch wenn es da, wie im ganzen Land natürlich viele Leute gibt, dass das eigentlich heilbar sei und das das eigentlich eine Frage von Verführung oder von schlechter Erziehung sei, was ja auch in der Idee diesem Gesetz zu Grunde liegt, dass man Kinder verführen könnte, aber auf keinen Fall sollte man dieser Neigung aus Sicht der Kirche nachgehen, wenn man ihr nachgeht, dann lebt man in Sünde. Musik Terem ?Homeless Waltz? Erzählerin: Sasha fing mit Ende siebzehn sein Soziologiestudium an der Hochschule von Novokusnetzk, einer Filiale der großen Universität in Kemerowo, auch deshalb an, weil er wissen wollte, wie Gesellschaften funktionieren und wie sie Außenseiter produzieren. Musik Ende O-Ton Sasha Übersetzer Ich habe dann versucht, mich selbst zu verstehen, meinen Körper fand ich grässlich. Und als ich dann 20 wurde, war ich auf der Suche nach mir selbst, ging zu einer Psychologin. Der hab ich die Situation erklärt, ihr von meinem Syndrom berichtet. Ich weiß noch so ungefähr, was sie damals nach einiger Zeit gesagt hat, nämlich dass sie jede Menge Literatur durchwühlt habe und alles was Sie mir raten könne, sei: ?Versuchen Sie, sich zu akzeptieren, sich liebzugewinnen, lernen Sie, mit sich zu leben.? Ich hab dann mit ihr so eine Kunst-Therapie gemacht, ich sollte lernen, mich und meine Individualität, meine Identität zu begreifen. Erzählerin: Bei der psychologischen Begleitung intersexueller Menschen liegt auch in Deutschland noch einiges im Argen. Es gibt viel zu wenig Ärzte und Psychologen die auf Intersexualität spezialisiert sind. Und nicht alle werden von den Betroffenen akzeptiert, da sie sich nur ungenügend in die Lage intersexueller Menschen einfühlen können. Heute fordern Intersexuelle die sogenannte ?Peer-Beratung?, Beratung auf Augenhöhe, Betroffene beraten Betroffene, es werden spezielle Ausbildungen für Psychologen mit Schwerpunkt Intersexualität angeboten. Davon ist Russland noch Lichtjahre entfernt, aber vor kurzem ist es Sasha immerhin gelungen, eine Psychologin für die Internet-Beratung zu interessieren. O-Ton Psychologin Übersetzerin In einer Ankündigung auf einer sozialen Plattform im Internet hab ich gelesen, dass die ?russischsprachige Intersexgruppe? einen Psychologen sucht. Ich möchte gern helfen, hab ich Sasha gesagt, schauen sie doch bitte, ob Sie jemanden wie mich brauchen können. Sasha hat sofort reagiert, sich bedankt, und gesagt, ich solle einfach anfangen. Erzählerin: Anna Petrowna hat früher in der Werbebranche gearbeitet. Nachdem ihre Firma pleite gemacht hatte, fing sie ein Psychologiestudium an einer englischen privaten Fachhochschule in Moskau an. Mit den Problemen sexueller Minderheiten, habe sie sich bislang nicht beschäftigt, sagt sie, aber in den letzten Monaten habe sie sich in die englischsprachige Literatur zum Thema eingearbeitet. Sie sei hochmotiviert, und sie wolle einfach leidenden Menschen helfen. Das habe sie ihr ganzes Leben lang getan und zum Beispiel zwei Jahre in einer Obdachlosenküche gearbeitet. O Ton Psychologin Übersetzerin In Russland gibt es vielleicht medizinische Hilfe für Intersexuelle, aber keine therapeutische. Ich werde dann also die erste Therapeutin sein. (sie lacht.) Atmo im Hausflur Erzählerin: Sasha und Sergej sind durch die Petersburger Kälte gestiefelt und besuchen mich in meinem Appartement. Es liegt am Moika-Kanal, ganz in der Nähe der Eremitage. Dort hat Sasha dem Freund gerade sein Lieblingsbild gezeigt, die ?Rückkehr des verlorenen Sohnes? von Rembrandt. O-Ton Sasha Übersetzer Im Augenblick bin ich ganz eindeutig nicht bi! (lacht) Ich unterstütze die Theorie, dass die Sexualität fließend ist. Freie Wahl! Erzählerin: Bei sehr vielen Intersexuellen sind langfristige Bindungen, Partnerwahl, überhaupt Liebesbeziehungen ein großes Problem. Bis heute leidet mein Kind darunter, dass es nicht zurückgeliebt wird, wenn es bei ihm einmal gefunkt hat. Schon in der Pubertät fing die Verwirrung an: Wen begehre ich, Junge oder Mädchen? Und: Soll ich meine Intersexualität erst einmal vor dem Geliebten geheim halten? Es ist unfassbar schwierig, jemanden zu finden, der einen Partner ?zwischen den Geschlechtern? akzeptiert. Mein Kind lebt ein Dasein als Single, unterstützt von vielen Freunden mit Intersex, aber eben nur Freunden, keinen Geliebten. Da hat es Sasha besser, im Augenblick jedenfalls. O-Ton Sasha Übersetzer Ich erinnere mich noch an unsere erste Begegnung, er sagte nämlich: oh wie angenehm, mit einer genetischen Überraschung bekannt zu sein! (er lacht.) Das interessanteste ist, dass er mich bei all meinen jetzigen Anfängen unterstützt und sich freut, er hält mir nicht vor, dass ich zu feminin bin. Und aufgrund seiner Liebe kann ich auch damit beginnen, mich selbst zu lieben! Und manchmal denke ich: Vielleicht ist doch alles nicht so schlimm, wie es so den Anschein hatte! Erzählerin: Sasha und Sergej kennen sich erst seit knapp einem Jahr, der Aufenthalt hier in Petersburg ist so eine Art Hochzeitsreise für die beiden. Sie haben sich in ein modernes Lofthotel im Zentrum eingemietet und besuchen gemeinsam die Museen und Paläste der Stadt. Sasha hat eine Vorliebe für italienisches Barock, Sergej bevorzugt Märchenschlösser und träumt von einer gemeinsamen Reise nach Neuschwanstein. O-Ton Sasha Übersetzer In Russland kann ich manche meiner Emotionen nicht offen ausdrücken. So zum Beispiel wenn ich mit dem geliebten Menschen auf der Straße spazieren gehe, dann können wir uns nicht an den Händen halten, uns nicht küssen. Das kann Missfallen hervorrufen. In kleineren Städten ist das manchmal nicht ungefährlich. Mein Geliebter hat schon Recht, wenn er sagt, er möchte dort wohnen, wo es nicht gefährlich ist. Das versteh ich. Erzählerin: Sasha erzählt nur wenig über sein alltägliches Leben in Vladivostok. Russen sind bis heute zurückhaltend, wenn es um persönliche Dinge gehrt. Das ist auch ein Relikt aus der Sowjetzeit, als keiner öffentlich von beengten Wohnverhältnissen oder bescheidenem Lebensstil berichten wollte. In Vladivostok leben die beiden nicht zusammen. Sasha wohnt in einem Studentenwohnheim am Stadtrand, Sergej in einer Zweizimmerwohnung im Zentrum. Von ihrem homosexuellen Verhältnis wissen nur ein paar Freunde. Sie wollen homophobe Reaktionen vermeiden und fürchten Diskriminierungen im Beruf. Das trifft im besonderen Maße auf Sergej zu, der als Wissenschaftler am Beginn seiner Karriere steht. Aber so oft es geht, verlassen sie gemeinsam die Stadt, reisen in die Naturschutzgebiete der Umgebung oder fahren an die Strände des Pazifischen Ozeans. Eigentlich hatten wir vereinbart, in Ruhe heute in meiner Wohnung ein Gespräch mit Sergej über seine Liebe, seine Einstellung zu Intersexualität zu führen, doch Sergej lehnt das nun doch ab. Musik Oskar Schuster ?Rêverb? Erzählerin: Sasha hat eine besondere Beziehung zu St. Petersburg, weil hier ein liberalerer Geist als im übrigen Russland herrsche. Als er im Jahr 2011 Literatur über Homosexualität suchte, stieß er im Internet auf den Soziologen Valeri Sosajev, einem Aktivisten der ersten Stunde in der Petersburger Schwulen-Szene. Sosajev hat sich als unabhängiger Forscher zu Homosexualität und Queer-Theorie einen Namen gemacht und wird zu internationalen Veranstaltungen eingeladen. So trat er zuletzt im Februar 2014 im Berliner Roten Rathaus als Teilnehmer einer deutsch-russischen Konferenz auf. Unter dem Titel ?Gold for Equal Rights? thematisierte die vor dem Hintergrund der olympischen Spiele in Sotschi die Verfolgung von Schwulen und Lesben in Russland. Valeri hatte Sasha Ende 2011 zu einem internationalen Podium unter dem Motto ?Gegen den Hass? nach St. Petersburg eingeladen. Und gleich darauf folgte die nächste Einladung. O-Ton Sasha Übersetzer Es war in St. Petersburg, ich weiß sogar noch das Datum, es war am 1.März 2012 da geriet ich in ein Seminar zur Soziologie der Sexualität. Eine Psychologin betreute den Kurs und sie sprach über Intersexualität. Das weiß ich noch wie heute, denn ich dachte, die redet ja über mich! Und sie sagte, das sei keine Krankheit. - Wie denn das? Und das war dann für mich eine ?Offenbarung?, deren Tragweite ich aber noch nicht so ganz verstanden hatte. Erzählerin: Zurück in Vladivostok wollte Sasha weiter an dieser ?Offenbarung? arbeiten, er fand Studenten, Freunde und auch Kollegen, die sich wie er für Genderfragen interessierten. Sie trafen sich zu einem Gesprächszirkel. Allerdings außerhalb der Universität, dort sind bisher nur zwei Kollegen, Professoren mit Schwerpunkt Genderforschung in Sashas Intersexualität eingeweiht. Zunächst wurden die Veranstaltungen durch ?Mund-zu-Mund-Propaganda? organisiert, dann aber auch auf Facebook gepostet; in Russland ein besonders populäres Kommunikationsmittel. O-Ton Sasha Übersetzer Wir haben dann einen kleinen Verein gegründet, hier sollte man Unterstützung finden können, interessante Dinge sollten in Seminaren zu hören sein, man sollte die Möglichkeit haben, über seine eigenen Probleme zu reden, etc. Und da hab ich von Schwulen und Lesben, auch von Transgender gesprochen, aber auch davon, dass es Intersexualität gibt. Und dass ich ein Intersexueller sei. Alles, was ich so wusste; dass es eine genetische Variante, dass es keine Krankheit sei. Das alles so vor vierzehn Leuten. Das war für mich das erste intersexuelle Coming out! Erzählerin: Für Nicht-Betroffene ist so ein Coming out eines intersexuellen Menschen nur schwer nachvollziehbar. Es wird eine Schallmauer durchbrochen, jahrelanges Schweigen, Herumdrucksen wird in einem einzigen Augenblick aufgehoben. Unvergesslich ist mir das coming out meines Kindes: Vor einigen Jahren saßen wir im Kino, es gab einen der ersten Dokumentarfilme über Intersex. Nach der Vorführung ging der Protagonist auf die Bühne, um zu diskutieren. Plötzlich stand mein Kind auf: ?Ich bin auch eine von denen, ich bin auch intersexuell, wir müssen uns zusammentun und an die Öffentlichkeit gehen!!? Sie nahm wieder Platz und stieß mir in die Rippen. Ich war fassungslos, den Tränen nahe. Aber ungeheuer stolz auf mein Kind, auf seinen Mut, auf seine Ehrlichkeit. Franzi ging ins Foyer, setzte sich zu Alex und strahlte. Es war wohl das erste Mal, dass sie mit einem Schicksalsgenossen sprach. Musik Oskar Schuster ?Þyrniro?s? Erzählerin: Als Sasha vor zwei Jahren in St. Petersburg aufgetreten war, knüpfte er auch erste Kontakte zur Selbsthilfegruppe ?Vychod?, was sinngemäß dem englischen ?coming out? entspricht. Sie versteht sich als LGTB-Gemeinschaft, Lesbisch, Gay, Transgender, Bisexuell und ist Mitglied der internationalen LGTB. Diese Selbsthilfe-Organisation setzt sich für die Rechte von sexuellen Minderheiten ein. Sasha fühlt sich hier gut aufgehoben, weil er ein offenes Ohr für die Probleme intersexueller Menschen gefunden hat. Die Aktionen und Erfahrungen von ?Vychod? sind ihm wichtig, sie dienen ihm als Vorbild und geben ihm Anregungen für seine Aktivitäten mit den Studenten und Freunden in Vladivostok. Atmo Bu?ro von Alexandra Erzählerin: Wir fahren mit dem Lift in den 6. Stock eines Bürohauses in der Nähe des Newski-Prospekts; an der Tür treffen wir auf Alexandra Semjonowa. Die junge Frau ist die Leiterin der Petersburger Filiale von LGTB. Mit ihrem kurzen Haarschopf sieht sie aus wie eine russische Jeanne d?Arc. Sie führt uns in ihr geräumiges Büro; an den Wänden Plakate von LGTB-Aktivitäten, Bücherregale, die große Regenbogen-Fahne, Symbol der schwul-lesbischen Bewegung. Auf den Tischen Teetassen, ein Samowar. Der Verein hat sich auch zur Aufgabe gesetzt, homophobe Angriffe von Seiten der Bevölkerung an die Öffentlichkeit zu bringen. Noch werden die Aktivitäten des Vereins in Petersburg geduldet. O-Ton Alexandra Übersetzerin Es ist nicht so einfach, für die ganze Organisation zu sprechen. Wir arbeiten hier, um LGTB zu unterstützen, um zu verstehen, was rings um uns geschieht und was wir als Gemeinschaft tun können, um unsere eigenen Rechte zu schützen. Wir wollen, dass es einfach eine Organisation gibt, die mit einer eigenen Stimme spricht. Unsere Organisation ?Wychod? unterscheidet sich von den meisten anderen, denn bei uns arbeiten hauptsächlich Frauen. Unser Schwerpunkt lag bisher auf den Rechten der Homosexuellen auch lesbischer Frauen, aber heute wollen wir auch andere Minderheiten nicht mehr vernachlässigen. O-Ton Sasha Übersetzer Für einen Mensch aus der fernen Provinz ist der Verein ein Vorbild, so wie sie arbeiten, wie sie sich untereinander helfen, das ist alles sehr inspirierend. Hier gibt es einfach Spezialisten, die bei juristischen oder psychologischen Fragen helfen können. Und ich bin sehr froh, dass es in unserer heutigen schwierigen Zeit hier in Russland eine solche Organisation gibt. Erzählerin: Bei uns in Deutschland gibt es schon seit etwa zehn Jahren ähnliche Selbsthilfegruppen. Sie beraten Betroffene, vermitteln Kontakte, auch untereinander. Als mein Kind zum ersten Mal im Internet und zunächst anonym mit einer Intersex-Selbsthilfegruppe Kontakt aufnahm, konnte es sich mit gleichermaßen Betroffenen über Dinge, über Probleme austauschen, über die es mit mir als Mutter nie sprechen wollte. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, die Selbsthilfegruppen ganz besonders zu schätzen und zu stützen. O-Ton Alexandra Übersetzerin Uns helfen Bürgerorganisationen und auch andere Organisationen, die Rechte zu verteidigen. Moralische und auch finanzielle Unterstützung bekommen wir natürlich auch vom LGTB-Dachverband, also vom russischen und auch vom internationalen. Ohne diese auch psychologische, emotionale Unterstützung, die wir täglich spüren, könnten wir gar nicht existieren. Vor fast zwei Jahren, da haben wir so ein Büchlein herausgegeben, das haben wir im Rahmen des Festivals ?Queerkultur? veröffentlicht, da geht es um persönliche Berichte von Menschen, die dem Verein angehören. Wir wollten aber die Stimmen veröffentlichen, die man sonst eher selten hört. In diesem Falle die Stimmen von Transgender und intersexuellen Menschen. Und dann haben wir einen Beitrag von Sasha bekommen. Der war sehr mutig. Übersetzer Sasha aus der Broschüre ?Wir sind auch Menschen, wollen nicht in die pathologische Ecke gedrängt werden. Intersexualität ist im postsowjetischen Raum vor allem ein Problem der Menschenrechte, ein Problem des gesellschaftlichen Umgangs mit Menschen, die genetisch- biologische Varianten aufweisen.? O-Ton Sasha Übersetzer Wir hatten damals ja gerade erst so angefangen. In der Broschüre steckte viel Arbeit, es war so mehr eine Weichenstellung für die zukünftige Arbeit, es ging hier weniger um die persönliche Position. Intersexuelle Menschen müssen noch lernen, über sich zu sprechen, sich auszudrücken. Davor waren unsere Stimmen überhaupt nicht zu hören. O-Ton Alexandra Übersetzerin Wir hören hier einfach einer Stimme zu und geben ihr einen Raum. Die Bedeutung seiner Aussagen ist außerordentlich, besonders für die vielen Menschen, die noch nie über solche Fragen nachgedacht haben. Die können jetzt das Büchlein in die Hand nehmen, sie können jetzt verstehen, dass das Gender-Spektrum sehr vielfältig und unterschiedlich sein kann, hier gibt es Platz für jeden und nicht nur für homosexuelle oder heterosexuelle Menschen, sondern es erklingen die Stimmen ganz verschiedener Menschen mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen und jede Stimme hat etwas der Welt zu sagen. Das war ganz einzigartig! O-Ton Sasha: Übersetzer Danke, das war eine tolle Unterstützung! Erzählerin: Ich schaue mir die Broschüre an mit ihren vielen Bildern, Sasha im karierten Hemd und jede Menge Fotos von homosexuellen Künstlern der russischen Avantgarde. Einer Geschichtstabelle entnehme ich, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Männern und Frauen nach der Oktoberrevolution von 1917 entkriminalisiert wurden, das Volkskommissariat finanzierte sogar biologische Studien zu Homosexualität. Doch schon mit dem Beginn der Stalinzeit in den dreißiger Jahren bis zum Ende der Sowjet-ära wurde Homosexualität gerichtlich verfolgt und in die Subkultur abgedrängt. Noch 1980, als die olympischen Spiele in Moskau stattfanden, sperrte die Obrigkeit schwule Menschen einfach in die Psychiatrie. 1993 wurde zwar der Paragraph der gleichgeschlechtliche Beziehungen verbot, aus dem Gesetzbuch gestrichen, doch seit einigen Jahren geht Russland wieder in die andere Richtung. Schwule und Lesben werden in zunehmendem Maße von Gesellschaft und Staat diskriminiert. Formal bleibt Homosexualität legal, aber das Gesetz gegen die ?Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen? hat ein Klima von Angst und Willkür geschaffen. O-Ton Sasha Übersetzer Alexandra hat Transgender- Umfragen gestartet und da haben sich auch ein paar Menschen mit Intersexualität gemeldet. O-Ton Alexandra: Übersetzerin An der Umfrage haben rund 600 Personen teilgenommen, sechs davon haben geschrieben, dass sie intersexuelle Menschen seien. Und trotz dieser geringen Zahl konnten wir dann besondere Fragen in einem Extra-Kapitel für Intersexuelle ausarbeiten und auf ihre Bedürfnisse eingehen, als wir dann die Resultate ausgearbeitet haben. Erzählerin: In der streng vertraulichen Studie berichten sexuelle Minderheiten von ihren Erlebnissen in Kindheit und Jugend, von Diskriminierungen im russischen Alltag, sie machen aber auch Vorschläge, wie man ihr Leben verbessern kann. Alexandra hat eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die unter Sashas Vorsitz Verbesserungsvorschläge zum Leben Intersexueller in Russland ausarbeiten wird. Sasha hat damit begonnen, in Bibliotheken und Archiven nach Gesetzen, Richtlinien und Analysen zum Thema Intersex zu suchen. Vor allem in den Dokumenten der Weltgesundheitsorganisation WHO, deren Mitglied Russland ist, hat er ein wachsendes Verständnis für diese Andersartigkeit gefunden, über andere Ergebnisse seiner Recherchen ist er regelrecht erschrocken. O-Ton Sasha Übersetzer Oft finde ich allerdings auch Texte darüber, dass intersexuelle Menschen pathologisch sind, dazu noch die meisten unter ihnen Alkoholiker, Drogenabhängige und sozial auffällig. Wenn Du das liest denkst Du, das soll ich etwa sein? Das soll mit mir los sein? Das wirkt ganz schön hart. Wenn man so die heutige westliche Literatur liest, dann werden solche Wörter wenigstens erklärt, da findet man weniger Diskriminierendes. Weniger Stigmatisierung. Es wird erst einmal verständlich. Wenn man unsere liest, denkt man, hätte ich das bloß nicht gelesen! Musik Oskar Schuster ?Une Valse Invisible? Erzählerin: Sicherlich ist für Sashas Arbeit eine der größten Unterstützungen die Liebe von Sergej. Der schrieb mir noch in St. Petersburg eine mail: ?Danke für den schönen Abend im Mariinsky?. Was Sascha betrifft, Sie haben ja gesehen, welche tiefen Gefühle ich für ihn empfinde, und selbstverständlich werde ich immer an seiner Seite stehen und auch mit meinen wissenschaftlichen Forschungen seine Sache unterstützen!? Absage: ?Du bist meine genetische Überraschung? Russlands erster Intersex-Aktivist Ein Feature von Christiane Bauermeister Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2014 Es sprachen: Claudia Mischke, Louis Friedemann Thiele, Wolfgang Rüter und Susanne Reuter Ton und Technik: Ernst Hartmann und Angelika Brochhaus Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion Hermann Theißen Die Recherchen zu dieser Sendung wurden von der Robert Bosch Stiftung im Rahmen des Förderprogramms ?Grenzgänger? unterstützt. 10 1