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Diese Organisation verlangte von Robert, der gewissenhaft bestrebt war, allen Mächten gleich ergeben zu dienen, nicht weniger Gehorsam als die Schule. Sie verursachte ihm die gleichen Qualen wie sein Freund Friedrich Maaß, und in ihr fühlte er sich ebenso als Fremder wie in seinem Elternhaus. Die Quintaner des Gymnasiums waren der neuen Ordnung sehr zugetan, und es war eine Freude zu sehen, wie bei der Schulfeier am 9. November 1933 die ganze Klasse bis auf wenige Ausnahmen in der Uniform des Deutschen Jungvolks erschien. Zu den Ausnahmen gehörten Herbert Löwenstein, ein Jude, und Karl Ratjen, der Sohn eines ehemaligen Kommunisten, Friedrich Maaß, Robert Mohwinkel und einige andere. Robert hielt es nicht für gut, bei der Minderheit zu bleiben, und er erhoffte sich, wenn er dieser Organisation beitreten würde, die Protektion der Klassenstärksten, die zum Teil schon die rotweiße Schnur des Jungenschaftsführers oder die grüne des Jungzugführers trugen. Sonst versprach er sich von seiner Mitgliedschaft im Deutschen Jungvolk nichts; er wusste auch, dass eine besondere Position ihn dort nicht erwartete und dass die Begeisterung dieser Jungen, die er nie verstanden hatte, ihn niemals anstecken würde. SPRECHERIN Robert Mohwinkel heißt der Protagonist in Rudolf Lorenzens Roman ?Alles andere als ein Held?: ein unauffälliger angepasster Junge, der lernt, dass man auch ohne elterliche Liebe aufwachsen kann; dass man Prügel und Demütigungen einstecken muss, um noch größere Konflikte zu vermeiden; daß man sich einen Vorteil verschafft, indem man ein System durchschaut und sich perfekt an seine Regeln hält. Ein Nicht-Held, der sich in der Schule von Lehrern und Mitschülern drangsalieren lässt und doch ihre Schwächen ausnutzt; der als Lehrling in einer Schiffsmaklerfirma die Rituale von Unterwerfung und Schmeichelei erlernt; der zur Hitlerjugend geht, weil er keinen Ärger haben will und lieber Latrinen reinigt als sich bei den Geländespielen zu verletzen; der als Soldat im Krieg und dann in russischer Gefangenschaft überlebt, weil er sich zu ducken und Vorgesetzten nach dem Mund zu reden gelernt hat. SPRECHER ?Alles andere als ein Held? ist ein weitgehend autobiografischer Roman. SPRECHERIN Rudolf Lorenzen, geboren 1922 in Lübeck, wächst in Bremen auf. Er verläßt das Gymnasium, geht bei einer Schiffsmaklerfirma in die Lehre und bringt es bis zum Abteilungsleiter. 15 Jahre lang übt er diesen Beruf aus, dazwischen liegen Arbeitsdienst, Kriegsdienst und Gefangenschaft in Sibirien. Nach dem Krieg arbeitet Lorenzen dann in einer Werbeagentur in der bayrischen Provinz. Er heiratet die Journalistin und Autorin Annemarie Weber, zieht zu ihr nach Westberlin und vertreibt deren Artikel. O-TON 1 Rudolf Lorenzen ?Dann kam 1957 die Aufforderung der SZ, eine Preis-Erzählung zu schreiben, die 1000-Mark-Geschichte. Alle namhaften Schriftsteller bekamen diese Aufforderung ? ich natürlich nicht, mich kannte ja keiner.? SPRECHER ? so erinnert sich Rudolf Lorenzen 2002 im Sender Freies Berlin ? O-TON 2 Rudolf Lorenzen ?Meine Frau sagte damals: ?Schreib doch mal aus deiner Lehrzeit, wie du da Kaffee gekocht hast und die Kneipen und die Tanzstunden.? Und dann habe ich es aufgeschrieben und die Geschichte bekam den Preis und sogar den allerersten Abdruck, weil es die erste Geschichte aus der Arbeitswelt war. 1000 Mark auf einmal zu verdienen, das war damals sehr viel Geld, da konnte man wieder eine Zeitlang davon leben. Dann kam der Dr. Knaus auf mich zu, später Ullstein Verlag, und sagte: ?Aus dem Stoff kann man doch einen Roman machen.? So entstand dann der Roman ? richtig im Auftrag des Verlags schon, mit Vorschuß.? SPRECHERIN Als Rudolf Lorenzens Erstlingsroman 1959 erscheint, liegen auch Heinrich Bölls ?Billard um halbzehn? und Günter Grass? ?Die Blechtrommel? in den Schaufenstern der Buchhandlungen. Für literarische Vergangenheitsbewältigung scheint also gesorgt. Daneben blüht eine Literatur der Verklärung und der Landser-Romantik. SPRECHER ?Alles andere als ein Held? ist ein realistischer Bericht über die Zeit von Nationalsozialismus und Krieg. Weder von ?Stahlgewittern? und Frontkameradschaft ist da die Rede, noch vom großen Zivilisationsbruch und der Menschheitskatastrophe. Sondern davon, dass auch in Faschismus und Weltkrieg ein Alltag weitergeht ? ein Alltag aus Opportunismus, Betrug und Dummheit, auf den jemand wie Robert Mohwinkel vorbereitet ist. SPRECHERIN Eine solche Betrachtung der Zeitgeschichte, eine solche Art der Vergangenheitsbewältigung ? oder eben der Verweigerung von Bewältigung ? ist in der Zeit des Wiederaufbaus im Allgemeinen nicht erwünscht. Da gibt es auf der rechten Seite die Memoiren- und Rechtfertigungsliteratur: den Mythos des deutschen Soldaten, der heldenhaft und kameradschaftlich durch den Krieg ging, den die Nazis zu verantworten hatten, ohne von deren Verbrechen zu wissen. Und auf der anderen Seite gibt es die expressive Literatur der Anklage und des Schmerzes. Wenn Rudolf Lorenzen detailreich und dokumentarisch beschreibt, dass es für viele Deutsche unter den Nazis und im Krieg genauso weitergeht wie vorher und nach dem Dritten Reich auch wieder, muss das in diesen Jahren als provozierend sarkastisch erscheinen. SPRECHER Entsprechend verhalten sind die Reaktionen. Natürlich schmäht die Rechte die angebliche ?Nestbeschmutzung?, aber auch bei der neuen Linken im Westen hält sich das Interesse in Grenzen und der traditionellen Linken im Osten ist natürlich die Kleinbürger-Perspektive in ?Alles andere als ein Held? suspekt. Vielleicht zieht auch Günther Grass mit seiner Mischung von Realismus und Groteske in der ?Blechtrommel? die Aufmerksamkeit zu sehr auf sich, als dass man einen anderen, weniger spektakulären aber genaueren Blick auf diese Zeit wahrnehmen will. SPRECHERIN Dabei findet ?Alles andere als ein Held? durchaus wohlwollende Kritiker und vor allem Leser. Dennoch wird der Roman für Rudolf Lorenzen nicht zum Grundstein einer literarischen Karriere. So bleibt es späteren Generationen vorbehalten, die Bedeutung dieses so einfachen und zugleich so radikalen Berichts aus deutscher Geschichte von unten zu entdecken. O-TON 3 Axel von Ernst ?Ich dachte, daß ich die Schwarte nie würde lesen können, fing an und konnte nicht mehr aufhören, weil es mich in seinen Bann gezogen hat.? SPRECHERIN ? Axel von Ernst, Schriftsteller und Mitgründer des Lilienfeld Verlages ? O-TON 4 Axel von Ernst ?Meine ersten Fragen stellten sich gleich beim Lesen: Warum hatte ich noch nie von diesem Roman gehört? Warum ist das nicht ein Standardwerk? Ich habe während des Lesens immer auf den Haken gewartet, einen Bruch, Erzählschwächen, Fehler im Plot, aber es blieb bis zum Schluß ein wirkliches Meisterwerk ? das sage ich nicht oft. Warum ist es dann vergessen worden? Vermutlich wegen seiner vermeintlichen Schlichtheit, viele glauben, daß es sich dabei um Kunstlosigkeit handelt, um eine Schwäche. Dabei ist eine einfache Erzählweise besonders schwierig, also schlichte Sätze, die aber gar nicht schlicht sind, sondern nur ein einfaches Geschehen formulieren und einen Symbolgehalt in diesem Geschehen haben und nicht eine aufgepropfte Symbolik vorführen. Ich glaube, daß viele denken, das sei nur runtergeschrieben, das sei ein zu schlichter Held, um interessant zu sein.? MUSIK Igor Strawinsky: ?Zirkuspolka? ZITATOR 2 ?Ich bin gar nicht sicher, ob ?Alles andere als ein Held? nicht der beste Roman irgendeines heute lebenden deutsch schreibenden Autors ist.? SPRECHERIN Mit diesem Satz beginnt der Publizist Sebastian Haffner 1965 seine hymnische Besprechung in der Zeitschrift Konkret. Für den Autor und sein Buch kommt er damit leider zu spät. Die kleine erste Auflage ist vergriffen, und vor einem Nachdruck scheut der Verlag zurück. O-TON 5 Rudolf Lorenzen ?Als der Erfolg sich nicht so meldete, sagte meine damalige Frau: ?Es gibt nur ein Mittel dagegen: weiterschreiben.? Dann schrieb ich ?Die Beutelschneider?, einen Roman über die Werbewirtschaft der Fünfziger Jahre. Ich habe ja die Kunstschule besucht, Gebrauchsgrafik gemacht und die Werbefachschule in Hamburg, und bin dann in ein kleines Werbeunternehmen in Süddeutschland gegangen. Ich kenne nun die Werbung nicht nur von der positiven, sondern auch von der betrügerischen Seite ? und nicht nur die Werbewirtschaft, sondern überhaupt das Wirtschaftswunder. Ich habe im Roman mit einfließen lassen, wie das schon zugrunde geht, das wollte natürlich auch niemand wissen. Alle waren ja beeinflusst vom Wunder der Wirtschaft, von dem Aufkommen Deutschlands, dass man nicht wissen wollte, dass das auch einmal zugrunde geht und nicht mehr so weiter geht. ?Die Beutelschneider? machten also auch keine Auflage.? SPRECHER Mindestens so drastisch wie in dem Kriegsroman ?Alles andere als ein Held? bricht Rudolf Lorenzen auch in seiner Wirtschaftswunder-Groteske ?Die Beutelschneider? mit dem deutschen Selbstbild dieser Zeit. In seinem zweiten Roman, erschienen 1962, zeichnet Lorenzen das Innenleben von Wiederaufbau und neuem Wohlstand als System von Betrug und Selbstbetrug, von Luftgeschäften, Korruption und modernisiertem Untertanengeist. SPRECHERIN Die Werbeagentur, in der Bruno Sawatzki, der Nicht-Held in ?Die Beutelschneider?, angestellt war, ist zusammengebrochen. Eigentlich müsste er alle Illusionen verloren haben, wenn er je welche gehabt hätte ? aber Rudolf Lorenzen entlässt ihn in die nächste Karriere im Wirtschaftswunderland. ZITATOR Sawatzki legte die ?Bodmans-Rundschau? beiseite und schlug wieder die ?Kölner Nachrichten? auf, in denen er das Angebot des chemischen Werks gelesen hatte. Er nahm seine Schreibmaschine, spannte einen Bogen ein und verfasste eine Bewerbung. ?Ich war jahrelang in leitender Position, besonders bei meiner Tätigkeit für den Bundesverband der Schmelzstoff verarbeitenden Industrie habe ich mir beste Public Relations-Erfahrungen aneignen können. Meine Gehaltsforderungen betagen 1800.- DM brutto; der nächstmögliche Antrittstermin ist der Januar nächsten Jahres.? Sawatzki fügte der Bewerbung Zeugnisabschriften, Lebenslauf, Handschriftenprobe und Lichtbild bei, frankierte den Umschlag und brachte den Brief zum Postkasten. Als er in sein Zimmer zurückgekehrt war, trat er ans Fenster und sah über die Stadt. In den Straßen gingen die Laternen an, vor den Geschäften erstrahlten rote, blaue und grüne Leuchtschriften. In der Ferne war die Alster. Ein Dampfer mit bunten Lampions fuhr nach Uhlenhorst. Hängen wir den Erinnerungen nicht nach, dachte Sawatzki, überall lässt sich leben, sicher auch in Wuppertal. Dann zog er die Vorhänge zu und stellte den Plattenspieler an. Unter seinen Schallplatten wählte er die ?Zirkuspolka? von Igor Strawinsky. MUSIK Igor Strawinsky: ?Zirkuspolka? SPRECHERIN Heute mag Lorenzens Roman fast prophetisch wirken, damals will sich niemand die kollektive Erfolgsgeschichte vermiesen lassen. Zumal der Autor auch den Kulturbetrieb und die literarische Dominanz der Gruppe 47 und ihrer Vertreter nicht verschont. O-TON 6 Waibel ??Die Beutelschneider? sind ja auch eine Satire auf die Gruppe 47:? SPRECHER ? Ambros Waibel, Schriftsteller und taz-Redakteur ? O-TON 7 Waibel ?Den Schriftsteller Redwanz kann man als Satire auf Martin Walser lesen, obwohl der auch nett geschildert wird, weil er die Mechanismen durchschaut ? ein netter immer leicht besoffener Zyniker. Wenn da gesagt wird, daß es das Ziel des Schriftstellers ist, Ruhm und Geld zu bekommen, seine zweite Absicht aber ist, dies verbergen zu müssen, weil er sonst in der literarischen Öffentlichkeit keine Chance hat ? dann bringt das die ganze Sache so pointiert zusammen, daß da auch kein Weg mehr ist. Lorenzen hat also die entscheidende Gruppierung, die ihm literarischen Erfolg hätte verschaffen können, nicht nur links liegen gelassen, sondern er hat sie auch lächerlich gemacht. Sowas kann man sich nicht leisten, sowas kann man sich auch heute noch nicht leisten.? SPRECHER Nach dem finanziellen Misserfolg von ?Die Beutelschneider? scheint die Karriere des Romanciers beendet. O-TON 8 Rudolf Lorenzen ?Ich habe mich entschieden, alleine für mich zu schreiben und musste dafür den Preis zahlen, dass ich keine Anerkennung fand. Aber der Preis ist es mir wert, so kann ich schreiben, was ich denke ? ohne mich darauf konzentrieren zu müssen, was anderen gefällt.? O-TON 9 Ambros Waibel ?Man könnte jetzt die übliche Schelte auf den Betrieb machen, die ist bestimmt nicht falsch. Ich glaube aber, daß die Gründe dafür, daß Lorenzen mehrere Jahrzehnte vergessen war, schon auch in seiner Persönlichkeit zu suchen sind. Wenn man in im literarischen Betrieb Erfolg haben will, dann braucht man eine gewisse sagen wir Geschmeidigkeit ? und die hat Lorenzen nicht. Er ist ein Typ, der sein Werk macht und für den bestimmte Unterwerfungsgesten oder ein bestimmtes Sich-Ran-Werfen an den Betrieb nicht in Frage kommt. Und man muß natürlich auch sagen, daß er es nicht nötig hat, denn er konnte in Rundfunk, Fernsehen und Tagespresse gut zurechtkommen. Warum soll man seine Würde aufgeben als Autor und Mensch, um in die Großfeuilletons zu kommen?? SPRECHERIN Rudolf Lorenzen ist vielleicht ein verkannter Schriftsteller, ein Schriftsteller, der der deutschen Gesellschaft viel zu sagen hätte, wenn denn jemand zuhören wollte. Ein Schriftsteller, der schnörkellos und ungefiltert, oft in hinterhältig harmlosem Ton, wiedergibt, was sich jenseits der großen politischen Inszenierungen und der kulturellen Maskierungen ereignet. Ein armer Poet ist Lorenzen aber nie gewesen. SPRECHER Rudolf Lorenzen gibt es in der deutschen Kultur gleichsam zweimal: als Meister der kleinen Form, als populären Journalisten, der in Zeitung, Radio und Fernsehen über die Boulevards von Berlin, die Geschichte des Sportpalasts oder die Swing- und Schlagermusik der Vorkriegszeit zu erzählen weiß ? und als unbequemen Roman-Autor, der immer nur von einer kleinen verschworenen Gemeinde von Kennern geschätzt wird, der mehrmals wieder entdeckt und wieder vergessen wird. SPRECHERIN Fatalerweise finden die beiden Spuren des Schriftstellers Rudolf Lorenzen nur sehr selten zusammen. O-TON 10 Enno Stahl ?Tatsächlich sind die Romane ?Alles andere als ein Held? und ?Die Beutelschneider? meiner Ansicht nach kaum zu überschätzen. ?Alles andere als ein Held? schlägt um Längen alles, was an Weltkriegsliteratur sonst im schwange ist, all das was damals in der Gruppe 47 propagiert wurde, spielt heute keine Rolle mehr, das will auch keiner mehr lesen.? SPRECHERIN ? Enno Stahl, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Mitarbeiter des ?Heinrich-Heine-Instituts? Düsseldorf ? O-TON 11 Enno Stahl ?Bei Lorenzen werden Perspektiven aufgezeigt über den Alltag im Nationalsozialismus und im Krieg und wie dann die Geschichte dann bruchlos weitergeht für die Leute, die nicht die Macht hatten, die niemals die Macht hatten und haben werden, das ist wirklich sehr einzigartig. Allein daß es diese Kontinuität gibt in einem Buch, daß über die Zeit im Nationalsozialismus berichtet wird, dann über den Krieg und dann noch jahrelang in die Nachkriegszeit hinein, das kenne sonst nich nicht, das ist schon ein absoluter Meilenstein, dieses Buch. Und das selbe gilt für ?Die Beutelschneider?, diese Satire über das Wirtschaftswunderland Deutschland, da sind so viele Facetten drin: Da wird der Literaturbetrieb karikiert, die Kulturwelt, das Klein- und das Großbürgertum karikiert, das vermittelt einem ein Fenster in die Zeit der Fünfziger Jahre. Meineserachtens gelingt das anderen großen Autoren gar nicht so sehr. Ich schätze durchaus auch Heinrich Böll, aber die Art wie Lorenzen diese Zeit wach werden läßt, das wird man bei Böll nicht so stark wiederfinden. Und das ist auch Aufgabe von Literatur, daß sie uns Zeiten, die vergangen sind, wieder sichtbar macht. Deshalb glaube ich, daß er einen ganz wichtigen Platz in der Nachkriegsliteratur hat. Generell und für mich persönlich noch viel mehr, denn die ganzen anderen Autoren wie Martin Walser, Günter Grass u.a. sind für mich und für viele meiner Generation im Grunde schon gar nicht mehr von Belang.? SPRECHERIN Die Leidenschaft für die große Form packt Rudolf Lorenzen immer wieder. Auch die Entstehungsgeschichte seines dritten Romans ist geprägt von Zufällen, von Missverständnissen, vom Vergessen- und Wiederentdeckt-Werden. O-TON 12 Rudolf Lorenzen ?Das war ein seltsamer Vorgang: ein ZDF-Redakteur kam und sagte: ?Kannst du mir nicht mal einen Kriminalroman schreiben?? Da ich keine Krimis lese, konnte ich keinen Ermittlungsroman schreiben, das können andere besser. Also habe ich einen Bedrohungsroman geschrieben, über einen Mann, der bedroht wird. Das wurde falsch verstanden und Redakteur und Regisseur machten aus der dünnen Kriminalgeschichte ein Ermittlungsthema. Das ging natürlich daneben.? SPRECHER Der Autor läßt sich nicht entmutigen: 1981 erscheint ?Grüße aus Bald Walden? im Fischer Verlag, mit dem etwas reißerischen Untertitel ?Mord auf Super 8?. Die überarbeitete Fassung des Romans, die der Verbrecher Verlag jetzt im Rahmen einer Werkausgabe herausgebracht hat, zeigt deutlicher, was sich hinter dem etwas unbefriedigenden Krimi verbirgt: das dritte große Zeitbild Rudolf Lorenzens. SPRECHERIN Nach Krieg und Wirtschaftswunder begleiten wir nun den Lorenzenschen Nicht-Helden in die Siebziger Jahre, die Jahre der moralischen Krisen und der Verunsicherung. Immer noch profitiert der Nicht-Held, sein Name ist jetzt Claus Jordan, von den Schwächen seiner Mitmenschen und von seiner Fähigkeit zu Anpassung und scheinbarer Unterordnung. Aber er hat die Fähigkeit verloren, seine Erfolge zu genießen, er schwankt zwischen Angst-Attacken und Melancholie ? von dem System, das er so perfekt durchschaut hat, wähnt er sich jetzt überall bedroht. ZITATOR Claus fühlte sich verfolgt. Was wollte man von ihm? Der Overall öffnete das Kirchenportal und schob den Gast hinein. Enttäuscht rief Claus aus: ?Hier ist ja alles purifiziert!? ?Gewiss, und das überrascht Sie?? Sie gingen an leeren Kapellen vorbei zum Chor. Der Overall plauderte: ?Von den Klugen und törichten Jungfrauen, die in alten Reiseführern noch verzeichnet waren, sind wir gereinigt, von der Auferstehung sind wir gereinigt, das Rundfenster wude vermauert, das Sternengewölbe der Apsis übermalt. Dies ist ein vortreffliches kunsthistorisches Beispiel vollendeter, wenn Sie so wollen Purifizierung, Oder besser: vollendeter Zerstörung. Sie lieben doch das Vollendete?? Claus fühlte sich unbehaglich in diesem Bau, selbst die Kuppel erschien ihm aks Gewölbe einer Gruft. ?Wo haben Sie mich denn gesehen?? fragte er seinen Führer. ?Wo? Man sieht sich überall. Ich weiß nicht, wie lange Sie schon hier sind, doch sicher waren Sie im Restaurant Kurgarten... in der Weinstube Käfig... in Luigis Pizzeria... im Höllental...? SPRECHERIN Die kleine Welt eines Kurortes am Saisonende wird in diesem ?Alles-andere-als-Kriminalroman? zum Abbild einer Gesellschaft, die beginnt, an sich selber zu ersticken. Jeder betrügt jeden im Glauben daran, das System werde immer so weiter funktionieren. Man arrangiert sich wie Claus Jordan mit Verbrechern, man verkauft, um das Geschäft anzukurbeln, zusätzlich zu den Antiquitäten Waffen und Orden. Viel hat sich nicht verändert in der Bundesrepublik der Siebziger Jahre. Die neue Gesellschaft ist ganz die alte. SPRECHER Ein besonders optimistischer Autor ist Rudolf Lorenzen nicht. OMUSIK Igor Strawinsky: ?Zirkuspolka? SPRECHER In der Berliner Altbauwohnung unweit von Kurfürstendamm und Gedächtniskirche, in der Lorenzen mit seiner zweiten Frau lebt, sitzt er auch mit 87 Jahren noch täglich am Schreibtisch. Sein fünfter Roman ?Ohne Liebe geht es auch?, der nächstes Jahr erscheinen soll, handelt davon, wie ein Robert Mohwinkel zum Nicht-Helden wird ? die Geschichte einer deutschen Kleinbürgerfamilie auf dem Weg vom Kaiserreich zum Faschismus. O-TON 15 Rudolf Lorenzen ?Das ist die Vorgeschichte der Familie, in der die Lieblosigkeit seit vier Generationen zuhause war. Liebe hat es nirgends gegeben, auch bei den Großeltern und Urgroßeltern nicht.? SPRECHERIN Was Rudolf Lorenzen in der deutschen Literatur so einzigartig macht, ist vor allem seine Perspektive: gleich weit entfernt von einer bildungsbürgerlichen Überhöhung wie von der Parteilichkeit der politischen Literatur. Es ist die vielleicht nur auf den ersten Blick paradoxe Begegnung der kleinbürgerlichen Lebenserfahrung mit der Anarchie. O-TON 16 Ambros Waibel ?Das Anarchistische bei Lorenzen sehe ich in einer gewissen Unfähigkeit, sich in so einen Betrieb einzufügen. Ich sehe es vor allem in seiner Haltung. Lorenzen ist ja ein Autodidakt, er kommt nicht aus einem Bildungsbürgerhaushalt. Bei Lorenzen gerade in seinem Weltkriegsroman ist Schreiben doch in erster Linie mal ein Aufschreiben. d.h. was dieses Schreiben initiiert, ist nicht der Wille, Kunst zu machen, sondern es ist das konkrete Leben. Es sind aufgeschriebene Lebensfragmente, und dadurch hat die Sache immer noch so einen Saft, weil da schon ein großer Kunstwille ist, es zu gestalten, aber es sind unheimliche Inhaltsmengen, die da bewältigt werden.? O-TON 17 Enno Stahl ?Lorenzen ist ein Nonkonformist des Schreibens, weil er sich nicht an die üblichen Regeln hält. Seine Texte sind zwar gar nicht so wahnsinnig verschieden von Autoren seiner Generation, aber ihr Tonfall ist eben doch ein anderer. Das eine ist diese Form des nüchternen Understatements, diese Ironie, die da immer wieder zum Vorschein kommt. Das andere ist die Welt, die er schildert, die andere außen vor lassen und auch die Form des stark materialistischen Zugangs. Das machen andere nicht, und das ist auch etwas verpönt, das gilt als sprachlich schlicht und literarisch weniger hochwertig. Das mögen sehr viele Leute, die mit der Literatur betrieblich befasst sind, nicht so gerne.? SPRECHER Es ist weniger ein Platz im Literaturbetrieb oder im germanistischen Seminar, was man dem Autor Rudolf Lorenzen wünschen möchte, sondern vor allem: viele Leser. Und vielleicht Autoren, die sich bei ihm Anregungen für das nonkonformistische Schreiben holen. O-TON 18 Axel von Ernst ?Es wäre schön, wenn Rudolf Lorenzen ein Vorbild abgäbe für neue Literaten, wenn man sagen würde, daß er eine Art Punk der Literatur ist, der eine wahre Sprache spricht, nahe an der Wirklichkeit bleibt und schnörkellos schreibt. Ich fürchte aber, daß die meisten, die Literatur machen, dies eigentlich aus dem Ansatz heraus machen, eben kunstvolle Sprache zu sprechen. Aber vielleicht gibt es eine Gruppe von Autoren, die sich anders zu äußern mag ? ohne die kunstvolle Literatur zu verurteilten. Wir könnnten in der deutschen Literatur auf jeden Fall mehr Wahrhaftigkeit in dieser Art gebrauchen.? MUSIK Igor Strawinsky: ?Zirkuspolka? /DARÜBER ZITATOR Überall hatte man in Deutschland nur das Siegen geübt. Schon im Deutschen Jungvolk lernten Kinder Stürmen, Angriff und Hurragebrüll, aber niemand hatte ihnen gezeigt, wie man kapituliert, die weiße Fahne hisst, und die Hände hochhebt. Es gab keine Regeln für den Rückzug, für die Auflösung und für das Chaos. Alles hatten die Deutschen gelernt: die Riesenwelle am Reck und das Singen unter der Gasmaske, die Fahnen zu grüßen und hundert Meter in elf Sekunden zu laufen. Aber sie hatten nicht gelernt, ohne Ordnung und ohne Befehl zu sein, sie hatten versäumt, hungern zu lernen, Zusammenbrüche zu ertragen und als erniedrigter Mensch trotzdem anständig weiterzuleben. Robert fühlte, dass er allen diesen Menschen überlegen war. Zwar schmerzten auch ihn die Füße, auch er war müde, hungrig und durstig, ungewiss, ob er diesen Zusammenbruch überleben würde, aber er war auf Niederlagen besser vorbereitet als seine Kameraden. Er war sein Leben lang meistens unterdrückt worden, beschimpft und gequält: in der Schule, im Jungvolk, in der Hitlerjugend und von seinem Freund Friedrich Maaß. Er war immer der Verlierer gewesen, beim Ringkampf hatte er immer nur unten gelegen, bei Geländespielen war er verhauen worden. Viele, viele Male hatte er ?Deportation? gespielt; er hatte als Zielscheibe vor dem Luftgewehr seines Vetters Paul gestanden, bereit, erschossen zu werden. Was konnte ihm jetzt noch passieren? MUSIK Igor Strawinsky: ?Zirkuspolka? /DARÜBER SPRECHERIN Rudolf Lorenzens Robert Mohwinkel, der später Sawatzki oder Jordan heisst, ist dann doch ein deutscher Held geworden, halb Hochstapler, halb Untertan ? ganz und gar Wirklichkeit, ganz und gar Literatur. O-TON 19 Rudolf Lorenzen ?Erfolg misst man ja daran, dass man etwas schreibt ? das ist der erste Erfolg ? und zufrieden damit ist, das ist der zweite Erfolg. Das andere ist der Verkaufserfolg, das ist ein ganz anderes Genre.? MUSIK HOCH 13