COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Menschen und Landschaften, 08.07.2007 ?Wir zahlen keine Miete mehr? Landnahme in Brasilien Von Matthias Drawe Deutschlandradio Kultur 2007 MUSIK Delcio Carvalho, "Sonho Meu?, Maria Bethania, Gal Costa, Ensemble ERZÄHLER Verdammt, ich muss schon wieder raus. Das ist jetzt schon das dritte Mal in dieser Nacht. Was ist nur los? Ist es das Wasser hier, das Bier oder der Cachaca? ATMO Quietschende Tür ERZÄHLER Die quietschende Tür zu meinem Schlafzimmer nervt. Morgen muss ich unbedingt irgendwo Öl besorgen. Es ist mir peinlich, denn ich muss jedes Mal durchs Wohnzimmer, in dem Tina, meine Gastgeberin, schläft. Außerdem schlafen dort auch noch ihre beiden Kinder, ihr Bruder, ihre Freundin Angelica, die überraschend zu Besuch gekommen ist, und deren beiden Kinder. Sie liegen alle auf dem gefliesten Fußboden. Als Polster benutzen sie nur ein paar Steppdecken und Kissen. Die Brasilianer auf dem Land sind ein zähes Völkchen. Natürlich ist mir klar, dass mein "Gästezimmer" in Wirklichkeit Tinas Schlafzimmer ist und dass sie es vermietet, weil sie dringend Geld braucht. Ich zahle 15 Dollar mit Frühstück, das ist ein Spottpreis, doch hier in der Baixada, dem ?Tal?, wie die Gegend allgemein genannt wird, ist es viel Geld. ATMO Quietschende Tür ERZÄHLER Die Tür zum Badezimmer quietscht ebenfalls entsetzlich. Tinas Freundin Angelica, die bis eben noch leicht geschnarcht hatte, ist plötzlich still. Habe ich sie geweckt? Das Bad hat nur eine Klapptür, die oben und unten offen ist. Man hört jedes Geräusch. ATMO Klospülung ERZÄHLER Ich schleiche auf Zehenspitzen zurück. Im Hof brennt eine nackte Glühlampe und wirft etwas Licht durch die offenen, vergitterten Fenster. In der Ferne bellt ein Hund. Angelica sieht mich fragend an. Ich breite entschuldigend die Arme aus und verschwinde in meinem Zimmer. MUSIK Delcio Carvalho, "Sonho Meu?, Maria Bethania, Gal Costa, Ensemble ATMO Lautes Hämmern und Klopfen, im Hintergrund ein brasilianisches Nachrichtenprogramm aus einem Transistorradio O-TON Dennis ?Vou fazer umas colunas ? madeira forte.? SPRECHER 1 Zunächst einmal ziehe ich hier die Stützpfeiler hoch. Da sie ziemlich weit auseinander stehen, werde ich für die Querbalken, die das Dach halten, ein ziemlich starkes Kantholz verwenden müssen. ERZÄHLER Acht Uhr morgens. Ich stehe auf dem Flachdach von Tinas Haus und sehe mir die Baustelle an. Eigentlich hätte ich noch ein Stündchen Schlaf vertragen können, doch bei dem Gehämmer ist das kaum möglich. Tina will nachträglich ein zweites Stockwerk draufsetzen, was hier nicht ungewöhnlich ist. O-TON Dennis ?Eu sou constructor ? minha casa tamben.? SPRECHER 1 Ich mache alles, ich lege das Fundament, ziehe die Mauern hoch, setze ein Dach darauf, verlege Fliesen und mache auch Klempnerarbeiten. Das einzige, was ich nicht anfasse, ist die Elektrik, das ist mir zu viel Verantwortung. Bei mir zu Hause hab ich auch die Elektrik gemacht, doch bei anderen Leuten mache ich das lieber nicht, wegen der Brandgefahr. ERZAHLER Dennis ist groß, schwarz und hat einen leichten Speckgürtel um die Hüften. An den Enden seiner schwarzen Zöpfchen baumeln bunte Perlen, sein Bleistiftbärtchen hat er blond gefärbt. Das blonde Bärtchen sieht etwas seltsam aus in seinem dunklen Gesicht, doch wahrscheinlich findet er es gerade deshalb schick. Dennis macht fast alles allein, nur gelegentlich braucht er einen Helfer. Ich frage ihn, ob er ein Diplom hat, oder einen Meisterbrief und ernte ein müdes Lächeln. Eine solche Frage kann nur ein Gringo stellen. O-TON Dennis ?Eu aprendi ? construir uma casa.? SPRECHER 1 Ich hab das alles von meinem Vater und von meinem Onkel gelernt, so mit 15, 16. Mein Onkel ist ein ziemlich ungeduldiger Typ und hat mich öfter angeschrieen, mach dies, mach das, verdammt, du versaust ja alles. Mein Vater hatte mehr Geduld mit mir. Ich hab viel falsch gemacht am Anfang, doch nach und nach hab ich es gelernt. Und jetzt weiß ich, wie man ein Haus baut. ERZÄHLER Einen Moment lang denke ich daran zu fragen, ob man hier eine Baugenehmigung braucht, doch natürlich ist das wieder eine Gringo-Frage. Also halte ich lieber den Mund. Der Blick vom Dach ist umwerfend. Rings herum grüne Hügel und tropische Vegetation. Und in der Ferne ragt ein Vulkan in den Himmel. Der Vulkan ist einer der Gründe, weshalb ich hier bin. Dennis war schon mal oben. O-TON Dennis ?Pra me eu hacho maravilhoso ? morto.? SPRECHER 1 Ich finde den Vulkan klasse. Die Aussicht auf dem Gipfel ist atemberaubend. Es gibt sogar eine Rampe, von der die Drachensegler abfliegen. Der Krater des Vulkans ist riesig. Im Fernsehen haben sie gesagt, er ist fünfmal so groß wie das Fußballstadion Maracanã. Zum Glück ist der Vulkan erloschen. ERZÄHLER Das Stadion in Rio de Janeiro war immerhin mal das größte der Welt. Dennis erzählt, dass es mehr als vier Stunden dauert, den 1800 Meter hohen Vulkan zu erklimmen. Man kann sich für fünf Dollar auch hinauffahren lassen. Das dauert ungefähr 40 Minuten, doch es funktioniert nur bei gutem Wetter. Bei Regen bleiben auf den steilen Wegen selbst Allradfahrzeuge im Schlamm stecken. MUSIK Seu Jorge, "O Samba Tai?, Ensemble Farofa Carioca ERZÄHLER "Da!" Dennis zeigt auf die Spitze des Vulkans. "Siehst du den Drachenflieger?" Ich lege meine Hand über die Augen und blinzle gegen die Sonne. Tatsächlich: Oben von der Spitze hebt plötzlich ein kleines Dreieck ab und segelt kreisförmig übers Tal. Ziemlich cool. Ich nehme mir vor, bei nächster Gelegenheit einen Trip zum Gipfel zu machen. ATMO Brasilianisches Fernsehen ERZÄHLER Ich sitze im Hof an einem Plastiktisch und frühstücke. Omelette mit Käse und Schinken und ein Baguettebrötchen mit Butter. Dazu einen "Cafezinho", einen ziemlich starken, brasilianischen Kaffee und einen frisch gepressten Saft aus den Orangen vom Nachbargarten. Die Kinder sind bereits in der Schule, und deshalb ist es, von dem ständig laufenden Fernseher mal abgesehen, ungewöhnlich ruhig, aber schon morgens wahnsinnig heiß. In der Sonne hält man es kaum aus. Tinas Hof ist nicht gerade ein Fest fürs Auge. Die Ziegelmauer, die ihn von der Außenwelt abgrenzt, ist mit grobem Zement verkleidet, der an manchen Stellen abbröckelt. Ein krasser Gegensatz zum tollen Blick vom Dach. Hier im Hof sieht man nur die graue Wand und ein Stück Himmel. Doch die Mauer ist wichtig. Aus Sicherheitsgründen. ATMO Brasilianische Spielshow im Fernsehen, gelegentlich Hämmern O-TON Tina ?Infelizmente nao tenho ? mais dinhero.? SPRECHERIN Leider gehört kein Garten zum Grundstück, aber ich kaufe vielleicht ein Stück Land vom Nachbarn, wenn ich zu Geld komme. ERZÄHLER Tina ist 28 und Witwe. Ihr Mann ist vor vier Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen. O-TON Tina ?Os filhos ? recibi o dinhero.? SPRECHERIN Die Kinder sind beide von ihm, doch da wir nicht verheiratet waren, hat es vier Jahre gedauert, bis ich von der Pensionskasse endlich Geld bekommen habe. ERZÄHLER Tina ist gertenschlank und sieht jünger aus als 28. Sie isst eigentlich ziemlich viel und trink auch gern Bier, nimmt aber kein Gramm zu. Beneidenswert. Angelica ist etwas üppiger als Tina und hat außer den zwei Kindern, die hier geschlafen haben, noch drei - von drei verschiedenen Männern. Die beiden Freundinnen sind recht unterschiedliche Typen. Tina hat ein schmales Gesicht, ihre Schneidezähne sind leicht übereinander geschoben. Angelica dagegen hat einen sehr breiten Mund und Lücken zwischen den Zähnen. ATMO Dusche, außen ERZÄHLER Während ich noch frühstücke, duscht Angelica im Hof. Eigentlich ist es keine richtige Dusche, sondern nur ein Gartenschlauch, der mit ein paar Schellen an der Wand befestigt ist. Angelica trägt einen winzigen Bikini, der kaum Fragen offenlässt. Ich bemerke, dass das Hämmern aufgehört hat. Dennis grinst mir zu und streckt den Daumen in die Luft. Hat Angelica bemerkt, dass wir sie beobachten? Sie dreht plötzlich das Wasser ab, schnappt sich ein Handtuch und verschwindet im Haus. Dennis winkt. Ich klettere die Leiter zum Dach hinauf. "Kannst du mir einen Gefallen tun?" flüstert er mir zu. "Ich bin im Moment ein bisschen klamm und brauche dringend ein neues Sägeblatt." Er zeigt mir das leicht verbogene und abgenutzte Blatt seiner Kreissäge. "Du bekommst die Kohle heute Abend zurück, wenn Tina mich bezahlt, okay?" MUSIK Pintado do Bongo, ?Braseira Ardia?, Ensemble Timbalada ATMO Gang durch dörfliche Seitenstraßen O-TON Ademi ?Ten pessoas Depende do cavallo ? na rua.? SPRECHER 2 Einige Leute in Rio halten sich für etwas Besseres, die denken, sie seien mehr wert als wir aus der Baixada. Meine Frau hat mal als Bedienstete in Ipanema gearbeitet, und der Hausherr hat angefangen mit ihr zu flirten, hat wohl gedacht, er kann sie mir einfach wegnehmen, weil ich aus der Baixada komme und arm bin. Doch da hatte er sich geschnitten. Ich habe mir eine Waffe besorgt, bin auf nach Ipanema und habe dem Typen die Knarre unter die Nase gehalten. Danach hat er meine Frau in Ruhe gelassen. ERZÄHLER Ich bin mit Tinas Nachbar Ademi auf dem Weg zur Rua da Palhada, der Hauptgeschäftsstraße von Cabuçu. Cabuçu ist ein Vorort der Bezirksstadt Nova Iguacu, zwei Autostunden von Rio de Janeiro entfernt, und ein ziemlich beschauliches Nest. Da ich ohnehin etwas Maschinenöl kaufen will, habe ich Dennis angeboten, ihm auch gleich das Sägeblatt mitzubringen. Ademi ist genau wie Dennis schwarz und hat leicht vorstehende Augen. Wir laufen mit unseren Gummilatschen auf unebenen Sandstraßen und springen gelegentlich über eine Pfütze. Die meisten Straßen hier sind nicht befestigt, an einigen Ecken liegt Müll. Ein paar herrenlose Hunde streunen umher, auf einer Wiese grast ein Pferd. Einige Häuser sind recht solide gebaut, andere wirken improvisiert. Ademi ist krank, auch wenn man es ihm nicht gleich ansieht. Nierenversagen. Wir sind auf dem Weg zur Klinik. Er muss zur Dialyse. O-TON Ademi ?Ten direito ? problema.? SPRECHER 2 Ich habe ein Recht auf Behandlung, ich habe zwar keine Versicherung, aber mein Leiden ist quasi die Versicherung. Als meine Nieren zum ersten Mal versagten, bin ich hier in das nächste Krankenhaus eingeliefert worden. Und die haben jetzt die Verpflichtung, mich weiterzubehandeln. Wenn sie das nicht tun, könnte ich sie verklagen, und das Krankenhaus hätte dann ein Problem. ERZÄHLER Wir kommen an drei Männern vorbei, die auf Plastikstühlen sitzen, Bier trinken und Domino spielen. Ademi kennt sie und winkt ihnen kurz zu. - "Sag mal, ist dir eigentlich gar nicht heiß?" Er zeigt auf mein Poloshirt. Mir fällt plötzlich auf, dass ich der einzige bin, der hier ein Hemd anhat. Allgemeiner Dresscode: Gummilatschen, Bermudashorts, freier Oberkörper. Ich ziehe das Poloshirt aus und stopfe es in die Tüte mit dem Sägeblatt. Ademi klopft mir auf die Schulter. "Besser so!" Dann lacht er. "Mann, du bist wirklich wahnsinnig weiß, das ist ja fast schon krank." Doch bei dem Wort 'krank' verfinstert sich seine Miene plötzlich wieder. O-TON Ademi ?Mudo muito minha vida ? no agua.? SPRECHER 2 Meine Krankheit hat mein Leben stark verändert. Ich war immer ein fröhlicher Kerl. Es hat mir Spaß gemacht, laute Musik zu hören, ein Bierchen zu trinken und mit meiner Frau und den Kindern Scherze zu machen. Heute Morgen zum Beispiel, wenn ich die Wahrheit sagen soll, eigentlich rede ich nicht darüber, habe ich eine Stunde zu Hause im Dunkeln gesessen und einfach geweint. Gestern ging?s mir besonders schlecht, da hab ich kaum Luft bekommen. Ich war im Krankenhaus, aber sie konnten die Maschine nicht anschließen, weil es kein Wasser gab. Vorgestern war ich da, gestern ? kein Wasser. ERZÄHLER Ademi hat angerufen. Im Moment gibt es Wasser, und er hofft, dass es nicht wieder ausfällt, bevor er in der Klinik ankommt. O-TON Ademi ?A unica coisa ? me deixa.? SPRECHER 2 Das Einzige, was mich retten könnte, ist eine Organspende. Aber das ist wahnsinnig schwierig. Es stehen mehr als 3000 Leute vor mir auf der Warteliste. Meine Brüder könnten mir helfen. Wenn mir einer meiner Brüder eine seiner Nieren geben würde, bekäme ich sofort einen Operationstermin. Doch die Schweinehunde lassen sich hier nicht blicken. Das ist einer der Gründe, weshalb ich manchmal so niedergeschlagen bin. Meine eigene Familie lässt mich im Stich. ERZÄHLER Ademi ballt die Faust, wirft einen Blick zum Himmel und murmelt etwas vor sich hin. Wir stelzen vorsichtig über ein paar Inselchen inmitten einer großen Pfütze. Wenn man hier nicht aufpasst, hat man sofort die Füße voller Schlamm. Ich frage Ademi, wieso Dennis eigentlich kein Geld für ein Sägeblatt hat. Schließlich scheint er doch hart zu arbeiten. Ademi grinst. Dann erzählt er mir, dass Dennis fünf Kinder mit drei Frauen hat und dass er vom Familienrichter dazu verdonnert worden ist, für alle zu zahlen. Sobald er Geld in der Tasche hat, steht gleich eine seiner Frauen vor der Tür. ATMO Hämmern, Klopfen ERZÄHLER Wir kommen an einer Baustelle vorbei. Außer dem Fundament, eingeklemmt zwischen den beiden Nachbarhäusern, und zwei Pfeilern steht noch nichts. O-TON Ademi ?Um banhero ? bastante o precio.? SPRECHER 2 Ein Häuschen mit einem Zimmer, einem kleinem Bad und einer kleinen Küche kannst du hier schon für etwa 2000 Reais bauen. Mein Cousin hat sich so eins gebaut. Glücklicherweise ist das Material billiger geworden, die Ziegel und der Zement, die Preise sind wirklich enorm gefallen. ERZÄHLER 2000 Reais sind 800 Euro. Und wie lange dauert es, bis das Haus fertig ist? O-TON Ademi ?Con material em mao ? chave na mao.? SPRECHER 2 Wenn du das gesamte Material auf der Baustelle hast, dann brauchst du, also ein guter Maurer braucht ungefähr einen Monat, dann hast du deinen Schlüssel in der Hand. ERZÄHLER Ich erinnere mich, Dennis hatte erzählt, dass es in der Baixada noch ein bisschen so sei wie im Wilden Westen. O-TON Dennis ?En certes locais ? que no Rio.? SPRECHER 1 An einigen Stellen gibt es hier noch ein paar freie Ecken. Das Ganze funktioniert so: Du suchst dir ein Stück Land aus und steckst es ab. Dann gehst du zur Präfektur und meldest an, dass du da ein paar Pflöcke eingeschlagen hast und zahlst die Grundsteuer. Dann fängst du an zu bauen. Und nach fünf Jahren gehört das Land offiziell dir. Wenn danach doch noch irgendein Besitzer auftauchen sollte, dann hat er Pech gehabt, denn er hat sein Recht verloren. ERZÄHLER Ich frage mich, wieso sich die Leute ausgerechnet dieses schmale Grundstück ausgesucht haben. Warum nicht einen Teil von der weitläufigen Wiese, an der wir vor ein paar Minuten vorbeigekommen sind? O-TON Ademi ?Ja fica um poco dificil ? a luz, eh.? SPRECHER 2 Man muss wissen, wo es Wasser gibt, das Wasser ist das Problem. Wenn du weit weg bist vom Wasser, musst du sehr viel buddeln. Beim Bauen ist das Wasser das größte Problem und dann der Strom. Du musst nah an einer Stromleitung sein. ATMO Straßengeräusche, vorbeifahrende Autos ERZÄHLER "Mein Bus!" Ademi sprintet los. "Wir sehen uns später, okay?" Ich schlendere die Hauptstraße von Cabuçu entlang. Gemischtwarenläden, Möbelgeschäfte, ein Schönheitssalon, ein Supermarkt, mehrere kleine Bars. Ich falle auf, bemerke verstohlene Blicke. Ich bin absolut der einzige Gringo hier. Jedenfalls habe ich noch keinen anderen Ausländer gesehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Leute nicht genau wissen, wie sie mich einordnen sollen. Ist das jetzt tatsächlich ein Gringo oder vielleicht ein ziemlich weißer Brasilianer aus dem kalten Rio Grande do Sul? MUSIK Bop Luaka, ?Se Vacilar o Jacare Abraca?, Band Cabruera ATMO Bargeräusche, Musik im Hintergrund ERZÄHLER "Bon dia, senhor! Todo bem?" Vor mir steht Duda, der Vorbesitzer von Tinas Haus. Ich habe ihn kennengelernt, als er noch schnell seine Sattelitenantenne vom Dach geholt hat, ehe das zweite Geschoss drauf kommt. Duda ist dunkelbraun und hat einen massiven Bauch, den er auch stolz vor sich her trägt. Sein breites Gesicht scheint ständig zu lachen. Die schiefen Zähne werden mit mehreren Golddrähten zusammengehalten. Er trägt keine Gummilatschen, sondern Ledersandalen mit Knöchelriemen. Wahrscheinlich braucht er mehr Halt bei seinem enormen Umfang. Tina hatte mir erzählt, dass Duda stadtbekannt ist und dass er eine gut gehende Kneipe hat. Und vor genau dieser Kneipe stehe ich jetzt. Ein paar Plastiktische, eine Kühltruhe, ein Grill, eine Theke, über der riesige Fleischstücke an Haken hängen. "Setzen Sie sich einen Moment, Senhor." Duda schiebt einen kleinen Teller mit gegrilltem Fleisch auf den Tisch. "Probieren Sie!" Er legt mir die Hand auf die Schulter und drückt mich auf einen der Plastikstühle. Ich probiere das Fleisch. Ein bisschen zäh. "Sehr gut", sage ich. "Ein Bier, bitte!" Ich brauche dringend was zum Runterspülen. "Skol oder Antarctica?" - "Antarctica." Duda öffnet die Kühltruhe und gibt mir eine Halb-Liter-Flasche Antarctica. Ich schaue mich um. Es ist Mittagszeit, die Typen an den Tischen sind alle noch ziemlich jung. Sie trinken Bier, rauchen und füttern gelegentlich die Musikbox. Eile hat keiner hier und Arbeit wahrscheinlich auch nicht. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist noch eine andere Bar. Sie ist ebenfalls gut besucht. Ein Pärchen tanzt eng aneinander geschmiegt Forró. ATMO Bar mit Musik, Gesprächsfetzen ATMO Straße vor Baumarkt, Verkehr, vorbeilaufende Leute ERZÄHLER "Öl? Was für eine Art von Öl?" - "Damit das Türquietschen aufhört." - "Okay." Der Angestellte im Baumarkt steigt auf eine Leiter und langt nach einem Plastikfläschchen mit Öl. Ich zeige ihm Dennis? abgenutztes Sägeblatt. "Und so eins." Der Angestellte nickt, kramt einen Moment in einem Regal und schiebt ein neues Sägeblatt über den Ladentisch. Plötzlich klingelt das Telefon. "Für Sie, Senhor Ausländer." Ich kann es nicht fassen. "Für mich?" Der Angestellte nickt und hält mir den Hörer hin. Es ist Dennis. "Sorry", sagt er, "irgend ein Hurensohn hat mein Verlängerungskabel geklaut. Kannst du auch noch ein Verlängerungskabel kaufen? Ich brauche 20 Meter." ERZÄHLER Ich kaufe auch noch das Verlängerungskabel. Mir wird plötzlich klar, dass ich hier im Prinzip die Wirtschaft ankurble. Ich zahle Miete, also hat Tina Geld für das zweite Stockwerk. Je mehr Zimmer, desto mehr Mieteinnahmen. Die Investition schafft Werte. Und wer hat die ganze Sache ins Rollen gebracht? Der bleiche Gringo. ATMO Klopfen und Hämmern O-TON Dennis ?Todo mundo fala ? que sim.? SPRECHER 1 Viele Leute sagen, dass der Brasilianer an sich nicht gern arbeitet. Und ich glaube, das ist im Prinzip richtig. Wenn du dich hier ein bisschen umguckst, dann siehst du eine Menge junger Typen, denen es Spaß macht, auf der Straße rumzuhängen und Mädchen anzuquatschen, dann gibt's andere, die spielen gern Fußball, wieder andere denken, sie seien zum Schauspieler geboren. Das ist das Problem. ERZÄHLER Dennis schraubt das neue Sägeblatt in seine Kreissäge, stöpselt den Stecker ins Verlängerungskabel und drückt auf den Einschaltknopf. Die Säge beginnt zu surren. Dennis nickt und legt das Gerät wieder hin. O-TON Dennis ?Mais se procura ? sesenta, nao.? SPRECHER 1 Wenn du arbeiten willst, dann findest du auch was. Oder du lässt dir was einfallen. Es gibt eine Menge Leute, die laufen mit einem Bauchladen rum und verkaufen allerlei Zeug. Es ist wirklich schwer zu sagen, wie viele Leute hier arbeiten. Ich würde sagen 50 Prozent, nein, 40 Prozent arbeiten, und die übrigen 60 Prozent machen eigentlich nichts. ATMO Musik aus dem Transistorradio ERZÄHLER Es ist wahnsinnig heiß in der Nachmittagssonne. "Wasser", sagt Dennis, "kannst du Tina um etwas Wasser bitten?" Tina sitzt im Hof und liest in einem Buch. Seitdem sie das Geld von der Versicherung für ihren verunglückten Mann bekommen hat, macht sie eine Umschulung zur Buchhalterin. Früher hat sie als Kassiererin im Supermarkt gearbeitet und dort nicht viel mehr als den staatlichen Mindestlohn von 350 Reais bekommen, etwa 140 Euro. Von dem Versicherungsgeld hat sie auch das Haus gekauft. Leider ist jetzt kaum noch etwas übrig. Tinas Haus ist viel größer als die Minimallösung, von der Ademi gesprochen hat, ein großes Schlafzimmer, ein großes Wohnzimmer, eine große Küche und ein großes Bad. Die Fußböden sind professionell gefliest, alles ist solide, die Spüle und das Waschbecken im Bad haben sogar eine Marmorauflage. Deshalb hat der ganze Spaß auch fast 6000 Dollar gekostet, was schon ein kleines Vermögen ist. Tina stellt eine Plastikflasche mit Leitungswasser in einen Eimer, und ich ziehe ihn mit einer Strippe aufs Dach. Im Moment kommt man nur über eine einfache, selbst gebastelte Holzleiter nach oben. Eine Wendeltreppe wäre noch mal eine teure Angelegenheit. Dennis nimmt einen kräftigen Schluck Wasser und schüttet sich zur Abkühlung auch noch etwas über den Kopf. 6 O-TON Dennis ?Quando ?ta sol ? horivel.? SPRECHER 1 Wenn die Sonne scheint, sind die Straßen hier knochentrocken, und es staubt wie verrückt, und wenn es regnet, dann ist alles Matsch. Wenn es richtig regnet, und manchmal schüttet es hier wie aus Kübeln, verwandeln sich die Straßen in Flüsse. Wenn du Pech hast, dringt das Wasser in dein Haus ein und versaut dir die Möbel. ATMO Pferdekarren ATMO Altmodische Hupe (Tröte) ERZÄHLER Das Baumaterial ist angekommen: Fliesen, Zement, Sand, Schotter. Auf einem Pferdekarren. Der Kutscher schlägt mit der Hand die Flanken des Pferdes, damit es den Karren in eine günstige Position zum Abladen zieht. O-TON Dennis ?Carro velho ? ele entra.? SPRECHER 1 Ein altes Auto ist teurer als ein Pferd, weil du ständig Geld reinstecken musst, wenn es mal wieder nicht fährt. Pferde sind wirklich besser, sie haben eine immense Kraft und kommen auch mit diesen holprigen Wegen klar. Ein altes Auto hat keinen vernünftigen Zug und geht meist schnell kaputt. Der einzige Wagen, der hier einigermaßen funktioniert, ist der VW Käfer, weil er so robust ist. Ein Pferd kommt auch im Schlamm noch vorwärts, das Auto bleibt stecken, das Pferd kommt durch. MUSIK Tuze de Brizzi Abreu, ?Ondas?, Baleiro Zeca, Teresa Salgueiro ERZÄHLER Ich helfe Dennis und dem Lieferanten, den Pferdekarren zu entladen. Es ist ein Haufen Zeug. Ein Stapel Ziegelsteine, zwei Kubikmeter Sand, zwei Kubikmeter Schotter und acht Säcke Zement. Und das ist nur der Anfang. Das Baumaterial wird in Etappen geliefert, denn Tina hat keinen Platz, um alles auf einmal zu lagern. Die Ziegel und die acht Säcke Zement sind kein Problem, doch es dauert eine ganze Weile, bis wir den Sand und den Schotter mit einer Schubkarre in den Hof gebracht haben. Natürlich müsste ich eigentlich nicht helfen, doch die Bewegung tut mir gut. Es kann nicht schaden, wenn ich etwas abspecke. Der Gringo ist nicht nur zu bleich, sondern auch etwas zu dick. Das sieht neben den durchtrainierten Brasilianern nicht besonders gut aus. Schon nach ein paar Minuten läuft mir der Schweiß in Strömen vom Körper, und meine nass geschwitzten Haare fallen ins Gesicht. Ich binde mir ein schmales Tuch um die Stirn und fühle mich plötzlich ziemlich als Macho. Ein richtiger Mann muss auch auf dem Bau mit anpacken können. Ademi ist zurückgekommen. Sein Arm ist etwas angeschwollen und steckt in einer Schlinge. Bei der Dialyse haben sie mehrmals seine Vene verpasst. Dennoch scheint er sich jetzt um einiges besser zu fühlen. Er streicht dem Pferd sanft über den Rücken. O-TON Ademi ?Eu prefero ? animais preso.? SPRECHER 2 Ich komme ursprünglich aus Minas Gerais, wo es auch viele Tiere gibt. Ich mag es, wenn sie frei auf dem Land leben; Tiere in Gefangenschaft finde ich schrecklich. ERZÄHLER Der Lieferant zieht das Pferd am Halfter und bewegt es zum Umdrehen. Langsam zuckelt er mit dem Karren die holprige Sandstraße hinunter und verschwindet hinter der nächsten Ecke. Ich will wissen, was so ein Pferd eigentlich im Monat kostet. Viel kann es ja wohl nicht sein. O-TON Ademi ?Manter um cavallo ? va gastar.? SPRECHER 2 Es kostet mehr als man denkt. So ein Pferd frisst ganz schön viel. Und dann sind da noch die Impfungen, ich würde sagen, es kostet mindestens 200 Dollar im Monat. Wenn man sich gut um sein Pferd kümmert, dann kostet das. ATMO Musik aus einem Transistorradio ERZÄHLER Ademi ist mit Dennis und mir aufs Dach gestiegen. Er begutachtet die Baustelle. Sein Minimal-Häuschen steht direkt neben dem von Tina. Das zweite Geschoss wird auf einen Teil von Ademis Hof einen Schatten werfen. Doch vielleicht ist ihm das sogar Recht. In der Sonne ist es ohnehin unerträglich. Nur eins darf Tina nicht tun: Ein Fenster einbauen, aus dem man direkt auf Ademis Anwesen blickt. Es ist in Brasilien verboten, Fenster so zu setzen, dass sie die Privatsphäre des Nachbarn verletzen. Dennis wird die Fenster auf der Seite zum Vulkan einbauen. Das ist ohnehin der beste Blick. Plötzlich trottet ein herrenloses Pferd den Weg vor Tinas Haus entlang. Es streckt den Kopf durch das offene Eingangstor und schnuppert an den Blumentöpfen. Um ein Haar hätte das Pferd die Blumen aufgefressen. Tina schafft es gerade noch, das Tier wieder vom Hof zu drängen. O-TON Dennis ?Acontece muito ? tirar.? SPRECHER 1 Es gibt viele Unfälle mit freilaufenden Pferden hier, besonders auf der Hauptstraße. Wenn ein Pferd frei herumläuft und jemand das anzeigt, kommt sofort die Militärpolizei und fängt das Pferd ein. Und dann muss der Besitzer eine Strafe zahlen, wenn er das Pferd wiederhaben will. O-TON Ademi ?Tem pessoas ? no ve.? SPRECHER 2 Es gibt Leute, die kümmern sich fast gar nicht um ihr Pferd. Unfälle mit streunenden Hunden sind eher selten, aber Unfälle mit Pferden kommen häufig vor. O-TON Dennis ?Inclusive ? problema seria.? SPRECHER 1 Einmal war ich mit einem Freund auf einem Pferdewagen unterwegs. Das Pferd ist plötzlich durchgegangen, und wir haben ausgerechnet einen Polizeiwagen gerammt. Da hatten wir dann wirklich ein ernstes Problem. ERZÄHLER Ein unangenehmer Geruch liegt plötzlich in der Luft. Wie angeschmortes Plastik. In ein paar hundert Metern Entfernung steigt eine dunkle Rauchwolke auf. Dennis erzählt, dass manche Leute ihren Müll einfach verbrennen. O-TON Dennis ?O problema principal ? eu corri muito.? SPRECHER 1 Das größte Problem hier ist die Müllabfuhr, denn an einigen Orten kommt sie nicht vorbei. Der Präfekt kümmert sich einfach nicht darum. Viele der Straßen sind auch total dunkel, es gibt keine Laternen. Verschiedene Gegenden sind quasi gesetzlos, da fahren Autos herum, die haben kein Nummernschild, keine Beleuchtung, nichts. Da musst du nachts wahnsinnig aufpassen. Es gibt auch eine ganze Menge herrenloser Hunde, einige sind gefährlich, andere nicht, denen gibst du einfach einen Tritt, dann hauen sie ab. Aufpassen muss man bei Pittbulls und Rottweilern. Einmal hab ich frühmorgens Brötchen geholt, und hinter der Bäckerei war dieser aggressive Rottweiler, mein Gott, bin ich gerannt. ERZÄHLER Ich habe Durst und lasse mir von Tina ein eiskaltes Bier in den Plastikeimer mit der Strippe stellen. Ein Bauarbeiter braucht schließlich ab und zu auch mal eine Pause. Ich sitze mit Ademi an einem Plastiktisch auf dem Dach und sehe Dennis bei der Arbeit zu. Mir fällt auf, dass auf einer Mauer ein seltsames Gewirr von dicken Kabeln entlangläuft. Hier und da verschwindet ein Kabel in einem Loch in der Hauswand. O-TON Ademi ?Principalmente aqui ? reloje.? SPRECHER 2 Hier in der Gegend zahlt quasi niemand für Strom. Ich bin jetzt siebzehn Jahre verheiratet, aber ich hatte noch nie eine Stromrechnung auf meinen Namen. Der Typ, der vorher in unserem Haus wohnte, hatte 500 Dollar Schulden bei der Stromgesellschaft. Als ich dann mit meiner Familie eingezogen bin, hab ich das natürlich nicht bezahlt, also hat die Stromgesellschaft die Uhr abgebaut und die Leitung unterbrochen. ERZÄHLER Ademi zapft den Strom von der Hauptleitung ab und Tina auch. Nun wird mir klar, warum sie einen Elektroherd hat und keinen Gasherd. Ich stelle mir vor, wie es wohl wäre, wenn ich auf einem der umliegenden Hügel ein Häuschen bauen würde. Der Blick wäre sicherlich fantastisch. Könnte ich das mit ein paar tausend Dollar hinkriegen? O-TON Dennis ?Depende muito ? dia entero.? SPRECHER 1 Wenn das Grundstück an einem Hügel liegt, dann gibt's dort meist kein Wasser in der Nähe. Du brauchst ja schon Wasser, um überhaupt anzufangen, ohne Wasser kannst du keinen Zement anrühren. Auf einer der Baustellen, auf denen ich gearbeitet habe, mussten wir ständig Wasser ranschleppen. ERZÄHLER Dennis hat natürlich Recht. Wenn es so einfach wäre, an einem Hügel zu bauen, dann gäbe es dort sicherlich viel mehr Häuser. Wie ist das hier eigentlich mit der Kanalisation? O-TON Dennis ?A canalasicao ? casa.? SPRECHER 1 Es gibt nur ein einziges riesiges Rohr, und das liegt unter der Hauptstraße. Das Rohr ist so groß, dass man aufrecht darin laufen kann. Es führt von der Stadt Bandu bis ans Meer. Wenn du also nah an der Hauptstraße bist, ist es leicht, du buddelst einfach einen Tunnel zum Hauptrohr. Wenn du weit weg bist, dann hast du ein Problem. MUSIK Delcio Carvalho, "Sonho Meu?, Maria Bethania, Gal Costa, Ensemble O-TON Tina ?A unica coisa ? depois de alguns horas.? SPRECHERIN Zahnpasta ist wirklich das Einzige, was hilft, das hat schon meine Großmutter gesagt. Nach ein paar Stunden wird es normalerweise besser. ERZÄHLER Ich liege auf meinem Bett und leide. Unter anderen Umständen hätte ich es wahrscheinlich genossen, wenn Tina mir den Rücken einreibt, doch jetzt tut es einfach nur weh. Ich war ein totaler Vollidiot. Wie konnte ich nur einen geschlagenen Tag lang in dieser Hitze rumturnen, ohne mich einzucremen? Ein bleicher Gringo wie ich braucht den höchsten Sonnenschutzfaktor, den es auf dem Markt gibt. Doch ich hatte es einfach vergessen. Inzwischen bin ich rot wie ein Truthahn. Am Schlimmsten ist es auf dem Rücken und auf den Schultern. Ich kann mich kaum bewegen und werde wahrscheinlich kein Auge zutun. Auch mein Bauch ist verbrannt. Und die Nase. Ich sehe aus wie ein Clown. Seltsamerweise lindert die Zahnpasta tatsächlich etwas den Schmerz. Zahnpasta gegen Sonnenbrand, davon hatte ich noch nie gehört. Ist mir aber auch egal. Hauptsache es hilft. MUSIK Delcio Carvalho, "Sonho Meu?, Maria Bethania, Gal Costa, Ensemble ERZÄHLER In der Nacht bekomme ich tatsächlich kaum ein Auge zu. Egal wie ich mich drehe und wende, es tut weh. Und dann muss ich wie gewöhnlich auch noch aufs Klo. Ich habe Schwierigkeiten hochzukommen. Die Zahnpasta spannt auf der Haut. ATMO Quietschende Tür ERZÄHLER Auch das noch. Nach dem Schock mit dem Sonnenbrand hatte ich total vergessen, das Scharnier der Tür zu ölen. Ich tappe durch mein Zimmer und finde schließlich die Tüte mit dem Ölfläschchen. ATMO Quietschen verebbt langsam ERZÄHLER Wunderbar. Wenigstens das Quietschen hat jetzt ein Ende. Ich bemerke plötzlich, dass Tina und ihre beiden Kinder, die wie immer auf dem Wohnzimmerboden schlafen, mich im Halbdunkel beobachten. Der Junge kichert. Dann auch das Mädchen. Wer kann es ihnen verdenken. Wahrscheinlich sehe ich mit der Zahnpasta aus wie eine Mumie aus einem zweitklassigen Horrorfilm. MUSIK Delcio Carvalho, "Sonho Meu?, Maria Bethania, Gal Costa, Ensemble ATMO Busfahrt innen 8 O-TON Ademi ?Pra ir ao vulcao ? nao pode subir.? SPRECHER 2 Ich war leider noch nie ganz oben auf dem Vulkan, nur so auf halber Höhe. Es dauert ewig lange, da hinauf zu kraxeln, und selbst mit einem Geländewagen ist es sehr schwierig, weil es so steil hochgeht. ERZÄHLER Ademi und ich sitzen im Bus. Wir sind auf dem Weg zum Vulkan. Es ist meine letzte Chance, denn heute Abend geht mein Rückflug nach New York. Ich habe mich mehrere Tage lang nicht aus dem Haus getraut. Inzwischen hat sich die verbrannte Haut geschält, und ich sehe wieder einigermaßen aus wie ein Mensch. Positiver Nebeneffekt: Mein Portugiesisch hat sich enorm verbessert, denn ich haben in den Tagen meiner Quarantäne sämtliche Donald Duck Heftchen von Tinas Sohn gelesen. O-TON Ademi ?Sempre ? que ayudar.? SPRECHER 2 Es hat mir schon immer Spaß gemacht, mit Kindern zu arbeiten. Ich war früher ein guter Fußballspieler, aber jetzt kann ich natürlich nicht mehr spielen, ich kann nur noch zusehen. Aber wenigstens trainieren würde ich gern, das könnte ich wirklich gut. Hier in der Nähe gibt es ein Feld. Gut, es ist sehr einfach, aber es ist ein Fußballfeld. Ich habe nur leider kein Zubehör, keinen Ball, keine Pfeife. Ich würde auch eine Massagetasche mit der notwendigen Medizin brauchen, weil Kinder ja ständig hinfallen, da muss man die Wunden verarzten. ERZÄHLER Ademi sieht mich mit wässrigen Augen an. Denkt er, dass ich ihm helfen kann? Wahrscheinlich ist ihm nicht klar, dass auch ich nicht gerade ein Krösus bin. "Hier müssen wir raus!" Ademi zieht die Leine für das Stoppsignal. ATMO Stark befahrene Straße vor einer Tankstelle ERZÄHLER Die Auffahrt zum Vulkan beginnt neben einer Tankstelle. Dort steht bereits eine Gruppe von zehn Männern mit großen Taschen. "Drachenflieger", sagt Ademi, "die wollen auch hinauf." Er zeigt auf eine kleine Staubwolke am Vulkan, die sich langsam in Schlangenlinien nach unten bewegt. "Das ist Moreira", erklärt mir Ademi, "der einzige Typ, der es schafft, mit seiner Karre bis ganz nach oben zu kommen." Mir wird plötzlich klar, dass ich eventuell in Zeitschwierigkeiten geraten könnte, denn Ademi sagt, dass Moreira ungefähr 45 Minuten bis nach oben braucht und 30 Minuten zurück. ATMO Lautes Motorengeräusch ERZÄHLER Moreiras Karre sieht aus wie aus einem "Mad Max"-Film. Es ist ein umgebauter VW Käfer, der fast keine Karosserie mehr hat. Nur eine Art Rohrgestell. Die Reifen sind superbreit und übergroß. Der Motor ist frisiert. Moreiras silbergraue Haare sind streichholzkurz, er trägt eine Art Fliegerbrille gegen den Staub. Ich will jetzt unbedingt auf den Vulkan, doch wir haben kein Glück. Moreira kann maximal drei Leute auf einmal mitnehmen, und die Männer mit den Drachen sind vor uns dran. Wenn ich solange warte, verpasse ich meinen Flug. MUSIK Seu Jorge, "O Samba Tai?, Ensemble Farofa Carioca ERZÄHLER Ich werfe meine paar Klamotten in die Tasche und verabschiede mich von Tina, umarme sie und gebe ihr nach brasilianischer Sitte zwei Küsschen auf die Wangen. Durch die Sache mit dem Sonnenbrand gehöre ich jetzt fast zur Familie. Ich habe den Kindern das deutsche Kartenspiel ?Mau-Mau? beigebracht und kann mich inzwischen mit jedem Knirps auf Portugiesisch über die neuesten Abenteuer von ?Pato Donald? unterhalten. Das zweite Geschoss auf Tinas Haus hat inzwischen Gestalt angenommen, obwohl es noch lange nicht fertig ist. Als ich mich auch von Dennis verabschiede, erwartet mich eine Überraschung, denn der Häuserbauer hat selbst kein eigenes Haus. O-TON Dennis ?Nao, no e minha ? nao da.? SPRECHER 1 Im Moment wohne ich noch bei meinen Eltern, ich habe einfach kein Geld für ein eigenes Haus, weil fast alles, was ich verdiene, für meine Kinder draufgeht. Außerdem gibt es da ein juristisches Problem. Wenn ich plötzlich Eigentum hätte, würde sich der Familienrichter melden. Ich muss da also sehr vorsichtig sein. MUSIK Seu Jorge, "O Samba Tai?, Ensemble Farofa Carioca ATMO Straße in New York, Sirenen im Hintergrund ERZÄHLER Am nächsten Tag bin ich wieder in New York. Die Miete ist fällig. Wahnsinn, mit einer einzigen Miete für meine bescheidene Ein-Zimmer-Wohnung in Manhattan könnte ich in der Baixada bereits ein Minimal-Haus bauen. Wenn ich irgendwann mal genug habe von New York, wäre ein eigenes Häuschen in Brasilien immerhin eine Option. Miete müsste ich dann jedenfalls keine mehr zahlen. MUSIK Delcio Carvalho, "Sonho Meu?, Maria Bethania, Gal Costa, Ensemble 1 Drawe Landnahme in Brasilien.doc