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Dizengoff hatte 1909 - zusammen mit 66 Familien - den Grundstein für die ersten Häuser in Tel Aviv gelegt und zeitlebens beharrlich für die nationale Wertschätzung der Stadt im "Land Israel" gestritten. Landarbeiter, die Kollektive in der Wüste, an Küstenrändern, in den Ebenen Galiläas und an den Grenzen zum Libanon, zu Syrien und Jordanien gründeten, fühlten sich als "zionistische Elite" und als "Pioniere einer besseren Welt". Auf die Städter sahen die Kibbuzbewohner mit einer Mischung aus Mitleid und Hochmut herab. Musik einblenden, unterlegen: CD "Mashiri nami shamar" - Phonokol Records 2005 (4205-2) Track 2:"Serenada" Autorin: Der älteste, am See Genezareth gelegene Kibbuz wurde im selben Jahr wie Tel Aviv gegründet, 1909. Russische Zionisten machten den Anfang. Schnell folgten Gleichgesinnte aus Polen und Rumänien. In einer klassenlosen, basisdemokratischen und geschlossenen Gemeinschaft zu leben, das war ihr Ideal. Die Kibbuzmitglieder - die Kibbuznikim - schliefen in Zelten, sie arbeiteten auf dem Feld und bauten zuerst Ställe, bevor sie sich eigene bescheidene Wohnhäuser gönnten. Sie versorgten die Städte mit Lebensmitteln und verteidigten immer auch die Grenzen des Landes. Ihre Kinder lebten getrennt von den leiblichen Eltern in eigenen Häusern, befreit - wie man glaubte - von den Fesseln einer kleinbürgerlichen Erziehung. Ein Kibbuz-Kind gehörte dem Kollektiv. Musik auf- und abblenden Autorin: Seither hat sich viel verändert. Das Sendungsbewusstsein, das die Kibbuznikim früher hatten, wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten aufgerieben. Die Jüngeren wollten die Welt ohne die Erlaubnis des Kibbuzrates erkunden; sie wollten herausfinden, wer sie selbst sind, wollten reisen, studieren und lernen, eigenverantwortlich mit Geld umzugehen. Der ökonomische Erfolgsdruck und die Internationalisierung der Märkte erzwangen eine Veränderung der starren Lebens- und Organisationsprinzipien in den Kollektiven. Heute lassen 75 Prozent der Kibbuzim Privateigentum zu. Mitglieder erhalten keinen Einheitslohn mehr, sondern werden nach ihren Leistungen bezahlt. Die Grundbedürfnisse und die medizinische Versorgung von eingeschränkt Arbeitsfähigen und kranken Mitgliedern sind hingegen überall gesichert. An der Universität Haifa dokumentieren Michal Palgi und Shlomo Getz die Geschichte der Kibbuzbewegung. Für beide ist der Zeitpunkt, an dem die Bewegung wirtschaftlich in Bedrängnis kam, klar bestimmbar. Take 1a (Getz): When the political shift in 1977 came it was really shock ... ... a long process. Sprecher-Übersetzer: 1977 wurde Menachem Begin zum Ministerpräsidenten gewählt, und dieser politische Wandel, der den konservativen Likud an die Macht brachte, war für die Kibbuzbewegung ein Schock. Take 1b (Palgi): One of the interests of the political ... ... what they gave to the country. Sprecherin-Übersetzerin: Der Likud hatte Interesse daran, den Einfluss der Kibbuznikim zu verringern, denn diese unterstützten die Arbeitspartei. An Wahltagen brauchten die Kibbuzniks nicht zu arbeiten, denn die Arbeiterpartei wollte, dass sie unbedingt an die Urnen gingen. Der Likud hatte großes Interesse daran, die nationale Leistung der Kibbuzim kleinzureden. Take 2 (Getz): Menachem Begin and his party ... ... so it was a very easy target. 1. Sprecher - Übersetzer: Menachem Begin und seine Partei haben sich die Kibbuzim als Zielscheibe ausgesucht, weil sie ein Symbol der Linken waren. Die Kibbuznikim repräsentierten eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe, und es war sehr einfach, sie anzugreifen. Autorin: So behauptete die Likud-Partei, dass die Kibbuznikim höchstens zwanzig Stunden in der Woche arbeiteten; dass sie Schwimmbäder besäßen und als Landbesitzer ohnehin Millionäre seien. Das war eine abwegige, aber nicht folgenlose Behauptung. Denn die Kibbuzim hatten durch ihr sozialistisches Elitebewusstsein die Chance verpasst, sich besser in der israelischen Gesellschaft zu verankern. Davon ist Dror Shaul überzeugt, der noch ein Kind war, als Menachem Begin 1977 die Wahl gewann. Aufgewachsen ist Dror Shaul im Kibbuz Kissufim, der 1951 von Einwanderern aus Süd- und Nordamerika in der Negev-Wüste gegründet worden war. Take 3 (Shaul): We were raised like "nose-up", very cynical ... ... they did not listen to that ... 2. Sprecher - Übersetzer: Man hat uns dazu erzogen, hochnäsig zu sein. Städter haben wir zynisch verspottet. Das waren für uns nur Leute mit weißen Beinen, die nicht schwimmen konnten. Wir glaubten, unser Leben gut im Griff zu haben und die Natur genauso - das ist eine andere mächtige Fantasie. Einen Dämpfer bekamen wir erst verpasst, als Menachem Begin Ministerpräsident wurde und die Banken den Kibbuzim Kredite verweigerten, weil sie meinten, dass diese eh nur Dinge produzierten, die sie dann nicht los werden. In den Kibbuzim gibt es die Sparte "schlimmste Jobs". Zwiebeln schälen, das war die unterste Kategorie, und zu diesen Arbeiten wurden die ganz alten Leute eingeteilt. Andere Alte oder Freiwillige, denen man nichts zutraute, mussten Korken auf Brillengläser setzen und sie abziehen, nachdem diese in einer Maschine gefärbt worden waren. Ein französischer Freiwilliger hatte richtige gute Ideen, er wollte die Form der Brillen modischer gestalten. Aber Mode und Kibbuz, das passt eben gar nicht zusammen. Es war bitter, weil seine Vorschläge sofort abgelehnt wurden. Zehn Jahre später kam er in einem schwarzen Mercedes vorbei. Aus ihm war ein Geschäftspartner von Pierre Cardin geworden. Er hätte dem Kibbuz helfen können, aber die wollten einfach nichts von seinen Ideen wissen. Autorin: Dror Shaul arbeitet heute als Drehbuchautor und Filmregisseur in Tel Aviv. Für seinen im Kibbuz spielenden Kinofilm "Adama meshuga'at" - Verrückte Erde - ist er 2008 bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin mit dem Gläsernen Bären ausgezeichnet worden. Atmo Einblendung aus "Adama meshuga'at" Autorin: In Kissufim wohnen heute nur noch 55 Familien. In besseren Zeiten waren es über 100. Die einstigen Fabriken sind geschlossen. Geld verdienen die Kibbuznikim mit den Avokado- und Zitronenplantagen. Angewiesen sind sie, wie in vielen anderen Kibbuzim, auch auf die Vermietung von Gästezimmern. Der 40-jährige Filmemacher erzählt noch eine weitere Begebenheit, die belegen soll, wie ineffizient viele Kibbuzim wirtschafteten und dass die größten Probleme "hausgemacht" waren. Take 4 (Shaul) :There was a guy who said to them: I know how to make ... 2. Sprecher - Übersetzer: Einer meinte, er wüsste wie man das ganz große Geld machen könnte. Er schlug vor, eine Chinchilla-Zucht aufzubauen und die Pelze zu verkaufen. Der Kibbuz finanzierte dem Typen eine anderthalbjährige Weltreise, bei der er alles Nötige über die Zuchtmöglichkeiten herausfinden sollte. Über eine Million Dollar hat er in der Zeit verbraten. Die Hühnerställe wurden abgerissen und voll automatisierte Chinchilla-Ställe für 30.000 Tiere gebaut. Eines Tages tauchte dann endlich ein deutscher Handelspartner auf. Take hochziehen: He ate a hard-boiled egg and they took him to the chinchilla-group, 9:05. 9:07 they came out ... 2. Sprecher - Übersetzer: Um 9.05 betrat er den Stall, um 9.07 kam er wieder raus und sagte nur: Hört mal, Ihr habt die falsche Rasse gezüchtet! Die taugen nicht für die Pelzverarbeitung. Sechs Millionen Dollar wurden mit dem Projekt in den Sand gesetzt. Samstags, am Schabat, haben sie sich eine Zeitlang in den umliegenden Orten mit ein paar Chinchillakäfigen hingestellt. Wer 15 Schekel zahlte, durfte die Tiere streicheln. Weil Chinchillas unheimlich gefräßig sind, mussten sie schließlich eine große Zahl verkaufen, und irgendwann haben sie wohl zehntausend einfach frei gelassen. Fakt ist, dass die Weizenernte in Ägypten danach um zehn Prozent sank. Die Ägypter müssen gedacht haben, dass die Israelis biologische Waffen gegen sie einsetzen. Zwei Jahre später haben Sadat und Begin den Friedensvertrag geschlossen. In den Kibbuzim konnten sich einige wirklich alles herausnehmen und sich wie Könige aufspielen. Dummköpfe hatten das Sagen. Und das System erlaubte ihnen, immer so weiter zu machen. O-Ton wieder hochziehen: ... . That they could go on, moving on. Autorin: Spieler wie der Kibbuznik, der Chinchillas züchten wollte, hatten in Yad Hana nie eine Chance. Der Kibbuz Yad Hana wurde 1950 von Kommunisten gegründet. Seine Mitglieder verwalten heute nur noch den Grundbesitz in der Sharon-Ebene gemeinsam. Als 2005 ultraorthodoxe Siedler Häuser im Westjordanland und dem Gaza-Streifen verlassen mussten, fanden sie Unterkunft in Yad Hana. Die Regierung hatte ausreichend Geld geboten, und so willigten die atheistischen Kibbuzgründer ein. Yishai Shuster war als kleines Kind mit seinen Eltern aus Polen nach Palästina gekommen. In Yad Hana wohnt er seit 1962. Take 5 (Shuster): We still lived in the baracks ... ... break in the communist party in Israel about this. 1. Sprecher - Übersetzer: Damals lebten wir in Baracken. Wir hatten nichts zu essen. Nichts. Ein Ei für vier Leute. Viele gingen weg. Mit 45 Leuten, die nach ihrem Militärdienst in Yad Hana blieben, waren wir ein wirklich sehr kleiner Kibbuz, aber wir wollten hier unbedingt nach unseren Vorstellungen leben. Nur 500 Meter entfernt von hier verläuft die Grenze zur Westbank. Damals war es die Grenze zu Jordanien. 1964 nahmen die Jordanier unseren Kibbuz unter Beschuss. Mein Freund wurde tödlich getroffen. Dieser Vorfall hat damals die Kommunistische Partei in Israel gespalten. Die meisten Kommunisten waren pro-palästinensisch und sahen in diesen Angriffen einfach kein Problem. Autorin: Yishai Shuster sitzt auf einem weichen Polstersofa, aber er richtet sich unwillkürlich auf, wenn er von der Härte des geschlossenen Kibbuz-Systems spricht. Der Arbeitsplatz wurde zugeteilt. Persönliche Wünsche zählten nicht. Das Kollektiv und der Sekretär hatten bei allen Entscheidungen das letzte Wort. Der wirtschaftliche Untergang der Kibbuzbewegung begann für ihn Jahre vor den Attacken der konservativen Likud-Regierung. Er bedauert, dass nicht nur das kommunistische Modell, sondern auch der "real existierende Kibbuz" als Lebensform ausgedient haben. Take 6 (Shuster): Like in all Israel we lost our direction ... ... that was the biggest mistake. 1. Sprecher - Übersetzer: Nach dem Sechs-Tage-Krieg haben wir in unserem Kibbuz - und es passierte im ganzen Land - den Verstand verloren. Wir besetzten ein anderes Volk und sahen in unseren Nachbarn nur noch Arbeitskräfte. In den Kibbuzim hat man Arbeiter angestellt, aber als Mitglieder wollte man die Leute nicht. Man wollte sie nicht als Mitstreiter, mit denen man die Lage gemeinsam verbessern könnte. Ich glaube, das war der größte Fehler. Autorin: Yishai Shuster, der seinen Lebensunterhalt in Tel Aviv mit dem Unterricht von Dokumentarfilmtechniken verdient, besteht auf dem egalitären Prinzip, welches keinen Unterschied zwischen dem Einsatz einer Wäscherin und dem eines Fabrikmanagers macht. Diese Grundsäule der Kibbuz-Ethik wurde in den meisten Kollektiven aufgegeben. Take 7 (Shuster): That for me is the kibbutz ... ... I don't live with them. I come here to sleep. 1. Sprecher - Übersetzer: Für mich bedeutet der Kibbuz, dass ich die Leute außerhalb des Kibbuz als Menschen wahrnehme, als mögliche Partner, als Nachbarn. So wie ich die Palästinenser 500 Meter weiter hinter der Sicherheitsmauer als Volk anerkenne und nicht als eine Masse billiger Arbeitskräfte. Ich möchte ihnen sagen: Hey, lasst uns reden, lasst uns einen Film anschauen, lasst uns einen Kaffee trinken. Das bedeutet für mich gutes Leben. Vor zwanzig, dreißig Jahren hatte ich Freunde hier. Heute bin ich umgeben von Leuten, die ich grüße, und das war's dann schon. Ich lebe nicht mit ihnen. Ich komme nur noch zum Schlafen hierher. Autorin: Michal Palgi von der Universität Haifa hat nichts übrig für Sentimentalitäten. Nüchtern resümiert sie Fakten. Es gibt heute 270 Kibbuzim mit 120.000 Mitgliedern. Für den Zuzug gibt es Wartelisten. Vorrang haben die rückkehrwilligen Kinder von langjährigen Kibbuzbewohnern. Take 8 (Palgi): Nowadays 75 Prozent of the Kibbuzim are privatized but ... ... they are sold on the stock, that's all. Sprecherin - Übersetzerin: Heute sind drei Viertel der Kibbuzim, also etwa 200, privatisiert. Die Leute dort bekommen ein Gehalt und davon werden Steuern abgeführt. Einbehalten wird auch ein bestimmter Satz, den man für die Unterstützung der Schwächeren und für soziale Aktivitäten braucht. Der Landbesitz und der Hausbau auf dem Kibbuz-Grund sind in der Regel von der Privatisierung ausgenommen. Ein paar Kibbuzim sind mit ihren Unternehmen an die Börse gegangen. Der Gewinn gehört den Bewohnern. Autorin: Der kommunistische Kibbuz Yad Hana hat es nicht geschafft, sich zu erneuern, einem anderen, dem sozialistisch geführten Sasa im Norden Galiläas, ist es glänzend gelungen. Sasa steht für das innovative Potenzial der Kibbuzim. Manche bedienen weltweit Märkte mit Plastiknetzen, die bei landwirtschaftlichen Ernteeinsätzen gebraucht werden, mit Elektrogeräten, für die sie Patente angemeldet haben und mit Datenverarbeitungssystemen. Selbst einen großen literarischen Verlag unterhält ein Kibbuz in Jerusalem und nennt ihn gemäß seiner ideologischen Ausrichtung schlicht "ha-kibbuz ha-me'uchad": Vereinter Kibbuz. Nur noch ein Viertel der Kibbuzim funktioniert nach dem alten Kollektivmodell, in dem jeder unabhängig von seiner Arbeit und seiner Leistung gleich viel Einkommen erhält. Das reformierte Modell sieht Stufenlöhne vor und erlaubt Mitgliedern, auch außerhalb der Gemeinschaft Geld zu verdienen. In Kibbuzim, die für das Modell "mitchadasch" gestimmt haben, lebt jeder allein von seinem Einkommen. Yishai Shuster leitet den wirtschaftlichen Erfolg der Kollektivbetriebe aus der Treue zu den alten Prinzipien her. Take 9 (Shuster): Somebody told me, it is because ... ... strong to manage as a kibbutz. 1. Sprecher - Übersetzer: Man sagt: Ja, da läuft es, denn die haben genug Geld. Ich sage: Sasa ist so wohlhabend, weil dort alle zusammen halten. Sie stehen sozial und ökonomisch sehr gut da, weil sie an den Kibbuz-Prinzipien festhalten. Autorin: Im Kibbuz Sasa wird ein Werkstoff hergestellt, den man für die Panzerung von Fahrzeugen braucht. Das Militär und die Polizei in Israel sowie die Armee in den USA gehören zu den Hauptabnehmern. Exportiert wird Plasan auch nach Schweden und Bulgarien. Sasa hält Anteile in französischen und amerikanischen Firmen und steht an der Spitze der profitabelsten Kibbuz-Betriebe. Angela Yantian war zwanzig, als sie die Schweiz verließ. Sie hat in Sasa gearbeitet, bevor sie1976 in den drei Kilometer entfernt gelegenen Kibbuz Baram zog. Dort lebt sie noch heute. Beide Orte liegen in unmittelbarer Nähe der libanesischen Grenze. Die Gegend ist fruchtbar. Baram erntet große Erträge auf den Obstplantagen. Das Haupteinkommen wird aber mit einem kleinen Teil erwirtschaftet, das an keinem Infusionsschlauch fehlt, und also in jedem Krankenhaus benötigt wird. Atmo Café Take 10 (Yantian): Baram und Sasa gleichen sich, da auch Baram die Ideologie nicht verlassen wollte. Sozialismus kann gut sein, solange man es sich leisten kann, solange es genügend Ressourcen gibt, dieses Leben aufrecht zu erhalten. Unser Kibbuz wurde als ökologischer Kibbuz bewertet, und wir leben auch so. Man sucht immer neue Gründe. Ohne Sinn kann man ja kein Leben führen. Es muss mehr dahinter sein: das Grüne, die verschiedenen Kreise, sich um die älteren Leute kümmern, es gibt Volontärgeist, etwas zu machen, nicht nur für sich selbst. Autorin: Yael Neeman wurde 1960 im Kibbuz Yechiam, in der Nähe der Küstenstadt Naharia, geboren. Mit zwanzig hat sie Yechiam für immer verlassen, Literaturwissenschaft studiert und jahrzehntelang nicht gewusst, wie sie das Gefühl, auf einem anderen Planeten aufgewachsen zu sein, in Worte fassen sollte. 2011 veröffentliche Yael Neeman schließlich das Buch "Hayinu ha-atid" - Wir waren die Zukunft. Der poetische Erinnerungsband wurde ein Kassenschlager, und plötzlich diskutierte man in Israel wieder über das sozialistische Experiment im allgemeinen und eines seiner Grundsäulen: die Kinderhäuser. 1. Sprecherin: Schon als Neugeborene wurden wir schnurstracks vom Kranken- ins Säuglingshaus gebracht, wo die Betreuerin die Mütter erwartete. Zum Stillen kamen sie stets gemeinsam, zur selben Stunde. Stillten nebeneinander. Die zeitliche Abstimmung sollte dafür sorgen, dass kein Kind mehr bekam als die anderen. Nicht mehr und nicht weniger. Auch zum Schlafenlegen kamen die Eltern in Scharen, eine erlaubte Viertelstunde lang. O-Ton Kinderstimmen Autorin: Erst 1995 wurde das letzte Kinderhaus geschlossen. Shoshana Bütow kam 1934 als Siebenjährige aus Dessau nach Palästina. Seit 1953 lebt sie in Mizra, unweit von Nazareth. Drei ihrer vier Kinder haben den Kibbuz verlassen. Eine negative Prägung durch das Kinderhaus schließt Shoshana aus. Take 11 (Shoshana): Wir hatten eigentlich damals ein sehr schönes Leben. Unsere Kinder kamen nachmittags um vier nach Hause und blieben mit den Eltern vier Stunden, die sehr intensiv waren meistens. Wir haben dann wirklich nur die Zeit gehabt für die Kinder, und abends um acht haben wir die Kinder wieder in die Kinderhäuser gebracht. Viele sagen: Ihr Habt Eure Kinder weggeschmissen. Das ist Unsinn! Autorin: Die Empfindung, dass Eltern und Kinder auf anderen Planeten lebten und kaum etwas voneinander wussten, würde Shoshana Bütow nie gelten lassen. Dennoch war in den Kibbuzim alles darauf angelegt, die Kinder aus ihren biologischen Familien zu lösen. In der einen großen Kibbuz-Familie sollte das Kind zum "neuen Menschen" heranreifen und das Gleichheitsprinzip für immer verinnerlichen. Yael Neeman: Take 12 (Neeman): I think the guilt was immanent. You can make shivion ... ... many times coming as a guilt. Sprecherin - Übersetzerin: Ich denke, die Sache war von Grund auf mit Schuld behaftet. Die materielle Gleichstellung war problemlos umzusetzen, aber kann man Kinder wirklich ausnahmslos gleich behandeln? Was passiert, wenn eines schöner, wenn es liebenswerter oder begabter ist als andere? Es gab immer Gründe, sich schuldig zu fühlen, nur weil man ein bisschen anders war. Natürlich half jeder jedem, aber Individualität zu entwickeln, das war mit Schuldgefühlen verbunden. Autorin: Der amerikanische Kinderpsychologe Bruno Bettelheim hatte früh vor den seelischen Langzeitschädigungen einer kollektivistischen Erziehung gewarnt, doch seine Bedenken galten den Kibbuznikim nichts. Fühlte Yael Neeman sich vom Erziehungssystem um ihre Familie betrogen? Take 13 (Neeman): Me not but there were children that tried to run away ... ... confindent, strong and brave. Sprecherin - Übersetzerin: Ich nicht, aber es gab Kinder, die rannten nachts weg. Sie wollten zu ihren Eltern, und die mussten die Kinder dann zurückbringen. Manchmal sperrten sie die Haustüren zu. Dann standen die Kinder weinend davor, sie fühlten sich elend. Man glaubte, mit dieser Strenge Kinder zu starken, tapferen und selbstbewussten Personen heranzuziehen. Autorin: Yael Neeman selbst hat Jahre gebraucht, um sich in einer Stadt zurechtzufinden, um sich in der Berufswelt zu orientieren, eine eigene Wohnung zu beziehen und Türen abzuschließen. Diese Selbstverständlichkeiten mussten mühsam erlernt werden. Die meisten in Kibbuzim lebenden Israelis werten das Festhalten an Kinderhäusern heute als Fehler. Dennoch bemühen sie sich, die "guten Absichten" der Gründer auf keinen Fall zu denunzieren. Wegen der straffen Arbeitsmoral und Lebensweise der atheistisch gesinnten Kibbuzbewohner wurden die Kibbuzim auch als "Klöster ohne Gott" genannt, aber es gibt auch "Klöster mit Gott". Lavi gehört zu den sechzehn religiösen Kibbuzim in Israel. Henry Stern hat Lavi mitgegründet. Er wurde 1923 in Stuttgart geboren und floh im Sommer 1939 mit einem der letzten "Kindertransporte" nach England. 1949, kurz nach der Gründung des Staates Israel, wanderte Henry Stern mit einer Gruppe frommer Juden ein. Die Kibbuzleitung schickte die jungen Leute nach Lavi, das damals an der Grenze zu Syrien lag. Die Straße, die Lavi mit Tiberias am See Genezareth, mit Nazareth und Akko verband, wurde immer wieder von syrischen Scharfschützen unter Beschuss genommen. Take 14 (Stern): This particular place was just absolutely awful ... ... before we got a bottle every day. 1. Sprecher - Übersetzer: Dieser Ort hier war einfach entsetzlich. Nichts als ein steiniger Hügel. Ohne Bäume und kein Wasser. Der Wind heulte, es war kalt. Wir waren hier, um ein neues Leben zu beginnen, ein Zuhause aufzubauen. Mit Europa waren wir fertig. Die Hälfte unserer Gruppe - wir waren insgesamt 60 - musste in den nahe liegenden Orten Arbeit suchen, damit wir etwas zu essen bekamen. Der Rest klopfte zwei Jahre lang Steine. Man musste hier sein ganzes berufliches Vorleben vergessen, wie alles andere auch. Wir hatten nichts als unsere Vision. Das Leben war furchtbar primitiv, in Zelten und ohne jede Hygiene. Aber jedes Mal, wenn uns etwas gelang, war das wunderbar. Nach anderthalb Jahren konnten wir Wasser aus einer 5 km entfernten Quelle hier hoch pumpen. Vorher gab es für jeden pro Tag nur eine Flasche Wasser. Autorin: Heute besitzt Lavi ein koscheres Vier-Sterne-Hotel, Kornfelder, Obstplantagen, Stallungen für Hühner und Kühe sowie eine große Schreinerei. Take 15 (Stern): We made our own furniture ... ... an order from Australia and Brazil. 1. Sprecher - Übersetzer: Kaum hatten wir angefangen, Möbel zu bauen und den ersten großen Auftrag bekommen, da brannte die ganze Werkstatt ab. Das war wirklich eine Tragödie. Wir haben alles wieder aufgebaut und von da an lief es. In Israel haben wir 3000 Synagogen mit unserer Stühlen und Bänken ausgestattet. In Deutschland sind es drei. Es gibt auch Bestellungen aus Australien und Brasilien. Autorin: Der fromme Henry Stern ebenso wie die atheistische Shoshana Bütow, der Kommunist Yishai Shuster und die auf das Ehrenamt schwörende Angela Yantian verkörpern einen Pioniergeist, der sich dem Ideal eines gemeinschaftlichen Lebens in gegenseitiger Verantwortung zutiefst verpflichtet fühlt und an die Richtigkeit des kollektiv eingeschlagenen Weges glaubt. Dror Shaul und Yael Neeman haben ihre bitteren Erfahrungen in Kunst verwandelt. Als sie dem Kibbuz den Rücken kehrten, wurden individuelle Lebensweisen nicht toleriert. Heute schon. Das Kollektiv hat Erwartungen, aber wenig Ansprüche. Die Zeiten, in denen es gut 30 Abgeordnete aus Kibbuzim in der Knesset gab, sind lange vorbei, doch viele Israelis schätzen den grundoppositionellen Geist der Kibbuznikim. Sie leben in ihren Enklaven, beobachten aber genau, wohin die Gesellschaft treibt. Shoshana Bütow bekümmert die drohende Spaltung des Landes. Religiös geführte Kibbuzim wie Lavi sind ihr zwar grundfremd, aber sie sieht in ihnen keine Gefahr. Es gibt ja auch nur sechzehn. Was sie fürchtet, ist der stetig wachsende Einfluss der ultraorthodoxen Juden auf die Regierungspolitik. Als sie auf ihrer Hollywood-Schaukel inmitten üppigen Grüns Platz nimmt, verflüchtigt sich ihre Unruhe angesichts der unsicheren Zukunft des Landes zusehends. Für Shoshana und viele andere bleibt das Leben im Kibbuz alternativlos. Take 16 (Shoshana): Wir sagen immer, wir leben in einem Paradies für dumme Leute (Lachen): gan eden shel shotim. Also, wir haben es wunderbar. Keiner sagt uns, wie wir leben und was wir tun ... (Lachen) 1