COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitreisen 05. Januar 2010 Volkes Stimme Tallinn, Estland und die Erfindung einer Nation Von Tabea Schmitt Besetzung: Erzählerin, Sprecher (als Zitator und Übersetzer) O-TON 1: JÜRGEN ROSTER (steht frei) Singing – yeah, of course (lacht), we sing so bad that we even scared the Russians out of Estonia, this is called the “Singing Revolution”, there is this big square where we all came together to sing, about 300.000 people sing in time! And we sang so horribly, so mystically badly and so out of tune, that he Russians took their troops and went out, it´s kind of our guarantee to freedom! ATMO 1: Gesang Jürgen Roster, DARÜBER: ERZÄHLERIN: „Wir singen so schlecht, unser Gesang hat sogar die Russen verjagt“ – der freche Singer-Songwriter Jürgen Roster wirft einen ironischen Blick zurück auf den Gründungsmythos seiner Nation. Denn die Esten haben ihre Unabhängigkeit von 1991 nicht mit Waffen erkämpft, sondern mit estnischen Volksliedern: Die spontanen Sängerfeste der „Singenden Revolution“ waren Massendemonstrationen gegen die sowjetische Okkupationsmacht. Als eigene Nation haben sich die Esten erst mit und durch ihren Gesang „erfunden“: In acht Jahrhunderten unter dänischer, deutscher, schwedischer und russischer Fremdherrschaft stifteten Lieder die Grundlage für eine estnische Identität. MUSIK 1: Mu isamaa on minu arm (Chorgesang von CD), DARÜBER: O-TON 2: ÖIE KIRS Wenn man da jetzt hinguckt, da sieht man im Grünen eine muschelförmige Bühne, das ist die Sängerbühne, die Sängerwiese der Stadt Tallinn. Und heute finden da ganz regelmäßig alle 5 Jahre die großen All-Estnischen Sängerfeste statt. Etwas typisch Estländisches zu singen, sich zu treffen und zusammen zu singen! ATMO 2: Stadtführung in Tallinn (193 oder 197), DARÜBER: ERZÄHLERIN: Öie Kirs unterrichtet Deutsch an der Universität von Tallinn, in ihrer freien Zeit führt sie Touristen durch die historische Altstadt der europäischen Kulturhauptstadt 2011. Deren Architektur spiegelt die wechselhafte Geschichte Estlands wider, das mehrfach zwischen die Fronten von Großmächten geriet: Das mittelalterliche Rathaus, die Gildehäuser und Kirchen zeugen vom Reichtum deutscher Kaufleute, die sich im 13. Jahrhundert in Tallinn ansiedelten. Im 18. Jahrhundert annektierte das Russische Zarenreich das kleine Land: Peter der Große schenkte seiner Frau Katharina ein barockes Sommerschloss im Stadtteil Kadriorg. Auf halbem Weg zwischen „Schloss Katharinental“ und der Tallinner Altstadt erstreckt sich das legendäre Sängerstadion. Erbaut im Jahr 1960 gilt die muschelförmige Bühne als Musterbeispiel des sowjetischen Modernismus. Die Stadtführerin Öie Kirs erzählt die ruhmreiche Geschichte der „Singenden Revolution“, als sich im Jahr 1988 300.000 Menschen auf dem Sängergelände in Tallinn versammelten. Die Esten forderten ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion – nicht mit Waffen, sondern mit Gesang. Deshalb hat die Unesco das Singen baltischer Volkslieder 2007 in den Kanon des „mündlichen Erbes der Menschheit“ aufgenommen. Doch über die estnischen Volkslieder runzelt so mancher deutsche Besucher die Stirn, berichtet Öie Kirs: O-TON 3: ÖIE KIRS Die deutschen Gäste sagen uns freundlicherweise: Das sind doch alles unsere Lieder, was ihr singt, hier. Das sind doch keine estnischen Lieder! Viele deutsche Lieder werden als estnische Volkslieder vielleicht verstanden, denn unsere Vorfahren haben gehört, wie auf den Gütern gesungen wurde. Und weil diese Melodien so schön waren, hat man diese Melodien übernommen, hat eigene Texte dazu verfasst. Und wenn man ein Lied gesungen hat, 2-,3- bis 500 Jahre lang, dann hat man das Gefühl: Das gehört uns! ERZÄHLERIN: Viele estnische Volkslieder haben deutsche Wurzeln, denn Deutsche haben das Land seit dem Mittelalter über Jahrhunderte hinweg dominiert: Im Jahr 1227 erobern deutsche Kreuzfahrer des Schwertbrüderordens die dänisch besetzte Stadt „Reval“. Der Name Tallinn geht auf das estnische Wort „Taani linn“ - „Dänenstadt“ zurück. Nach der Eroberung besiedelten deutsche Kaufleute die Tallinner Oberstadt, die estnischen Bauern wurden in die Unterstadt verwiesen. Auf dem Land schufteten Esten als Leibeigene auf den Gutshöfen der Deutsch-Balten. Dort hörten sie zum ersten Mal deutsche Volkslieder. Die estnischen Bauern übernahmen die Melodie – und erfanden estnische Texte dazu. Öie Kirs: O-TON 4: ÖIE KIRS Das eine Beispiel, das jeder kennt, ist das Lied mit dem Titel „Nordseewelle“, man hat in- zwischen recherchiert und herausgefunden: das Lied kommt aus der Ecke von Mecklenburg- Vorpommern, von der Ostsee, aber ich glaube, 90% der Esten sind fest überzeugt, das ist ein estnisches Volkslied, denn wir singen über die Westsee. Denn von uns aus liegt das Meer im Westen, läänemere. 5´50 (fängt an zu singen) 6´12 Da wo die Wellen schlagen an den Strand…ja, sehen Sie? MUSIK 2: Läänemere Lained („Nordseewelle“, Quelle: Youtube Gibt´s keine andere Quelle?), DARÜBER: O-TON 5: OLAF MERTELSMANN Die Bewegung des Chorsingens ist kopiert von den Deutsch-Balten, die sie wiederum selbst aus Deutschland kopiert haben. Und es handelt sich um eines der vielen Unterfangen, um sich kulturell als gleichwertig zu zeigen, um von den Deutschen, von der deutschen Elite als kulturell gleichwertig akzeptiert zu werden. Sie haben in vielen ostmitteleuropäischen Ländern eben nicht sozusagen die Herleitung einer nationalen Identität über eine Herkunft, sondern sehr viel stärker die Konstruktion von Identitäten über Sprachen, Kultur, teilweise natürlich auch Religion, aber sehr viel stärker Sprache und Kultur. ERZÄHLERIN: Die Konstruktion einer estnischen Identität erfolgt nicht über die Herkunft, sondern über die Kultur: Der Historiker Olaf Mertelsmann von der estnischen Universität Tartu erinnert daran, dass Estland in seiner Geschichte ständig die Nationalität wechselte. 1561 fiel das vom Deutschen Orden kontrollierte Gebiet Estlands an Schweden, 1710 wurde es im Großen Nordischen Krieg vom russischen Zarenreich annektiert. Erst nach der Oktoberrevolution und dem Zusammenbruch des Russischen Reichs gründete sich Estland 1918 als Nationalstaat. Für die Idee einer estnischen Nation spielen die Chöre eine große Rolle, die im 19. Jahrhundert im ganzen Land gegründet wurden. ATMO 4: Chorprobe Cultural Capital Choir, DARÜBER: ERZÄHLERIN: Das Vereinswesen des 19. Jahrhunderts bot den Esten zum ersten Mal die Möglichkeit, gemeinsam öffentlich aktiv zu werden. Sie gründeten Sportvereine und Theatergruppen, kamen in Literaturzirkeln zusammen und sangen estnische Volkslieder. Vor allem die Chöre seien damals zu Keimzellen der nationalen Bewegung geworden, sagt Maris Hellrand: O-TON 6: MARIS HELLRAND Durch diesen Gesang, und Chorgesang besonders, haben wir uns als Nation definiert, weil in den Jahrhunderten davor waren Esten als ungebildetes Bauernvolk betrachtet und durch den Gesang haben die Leute erst mal entdeckt, dass sie auch Kultur schaffen können. Und natürlich durch die Gesangvereine und die Chöre kamen die Leute zusammen und haben sozialisiert, haben Ideen diskutiert und daraus ist diese Idee entstanden: Hey, wir könnten eigentlich ein eigener Staat sein, warum denn nicht? ERZÄHLERIN: Maris Hellrand arbeitet für die Organisation Tallinn2011, die das Programm der Europäischen Kulturhauptstadt zusammenstellt. Mit rund 250 Veranstaltungen feiern die Esten die lebendige Kulturszene ihrer Hauptstadt. Ein Höhepunkt des Programms sei das Sängerfest, sagt Maris Hell- rand: Das „Sängerfest der Jugend“ haben sie um ein Jahr vorgezogen, damit es in die Feiern der Kulturhauptstadt fällt: O-TON 7: MARIS HELLRAND Also das Sängerfest am Anfang Juli für Leute, die noch nie in Estland waren, weil durch das Chorsingen und dass 30.000 Kinder auf der Bühne gleichzeitig singen - das ist irgendwie die Chance, während eines Wochenendes in die Seele der Esten zu blicken. Das ist, was wir sind. Das ist, weswegen wir überhaupt sind. ATMO 5: Sängerfest: historische Aufnahme (Chorgesang), DARÜBER: ERZÄHLERIN: Die Geschichte der Sängerfeste ist auch eine Geschichte des Widerstands: 1869 fand unter russi- scher Besatzung das erste Sängerfest in der Universitätsstadt Tartu statt. Dabei beschworen die Esten zum ersten Mal öffentlich das Bewusstsein einer nationalen Identität: 850 Sänger und Musiker führten eine Vertonung von „Mein Vaterland ist meine Liebe“ auf – ein patriotisches Gedicht der Lyrikerin Lydia Koidula. SPRECHER: Mein Vaterland ist meine Liebe; / die ich nicht verlassen werde, und müsste ich ihretwegen / hundert Tode sterben! Ob verleumdet durch des Fremden Neid, / du lebst dennoch in meinem Herz, mein Vaterland, mein Vaterland! ERZÄHLERIN: Am 24. Februar 1918 wird Estland nach der Oktoberrevolution und dem Zerfall des Russischen Reichs unabhängig. Doch die erste Republik währt nur gut zwanzig Jahre: Denn im Geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 werden die baltischen Staaten der sowjetischen Einfluss-Sphäre zugeschlagen. Nur ein Jahr später marschieren sowjetische Soldaten ein: Estland, Lettland und Litauen werden in die Sowjetunion einverleibt, Dissidenten massenhaft nach Sibirien verschleppt. Dann besetzt Hitlerdeutschland 1941 das Baltikum, drei Jahre später „befreien“ sowjetische Soldaten die Region von den Nazis. Es folgen stalinistische Repressalien gegen so genannte Volksfeinde, Exekutionen und weitere Massendeportationen. In Estland sind unter deutscher und sowjetischer Herrschaft insgesamt 175.000 Menschen deportiert oder ermordet worden – fast ein Sechstel der damaligen Bevölkerung. ATMO 6: historische Aufnahme: Aufmarsch zum Sängerfest, DARÜBER: ERZÄHLERIN: Doch die traditionellen Sängerfeste fanden weiterhin statt – sie wurden zu Propaganda- Veranstaltungen im Sinne der Staatsraison des besetzten Landes. Maie Lepp vom Tallinner Kunstmuseum: O-TON 8: MAIE LEPP In der Sowjetzeit war es so: Die Leute kamen und es gab immer wieder viele Chöre, die dort singen – das ist Tradition. Man sang meistens auf Russisch sehr viel, aber die Leute in- teressierten sich nicht sehr für das Programm, aber wir wussten alle: Zwei Tage dauert das Fest, am Ende stehen alle Chöre auf der Bühne, und dann kommt unser Lied: „Mein Va- terland ist meine Liebe“. ERZÄHLERIN: „Mein Vaterland ist meine Liebe“ – 1944 vertont der estnische Komponist Gustav Ernesaks das Nationalgedicht von Lydia Koidula erneut. Beim ersten Sängerfest der Sozialistischen Sowjetre- publik Estland sorgt es 1947 für einen Eklat: Denn die Chöre weigern sich, nach dem letzten Lied die Bühne zu verlassen. Stattdessen fangen sie an zu singen: „Mein Vaterland ist meine Liebe“ - Mu Isamaa on minu arm. Der Komponist und Dirigent Gustav Ernesaks wird auf die Bühne geholt, er dirigiert den vereinten Chor und zehntausende Esten erheben ihre Stimme. MUSIK 3: Mu Isamaa on minu arm (von CD), DARÜBER: ERZÄHLERIN: „Mein Vaterland ist meine Liebe“ wird zur inoffiziellen Staatshymne des sowjetisch besetzten Estlands. Bis heute singen die Chöre das Lied zum Abschluss der Sängerfeste, die alle fünf Jahre in Tallinn stattfinden. „Mein Vaterland ist meine Liebe“ habe den Widerstand der Esten über all die Jahre bewahrt, erzählt Maie Lepp: O-TON 9: MAIE LEPP In der Sowjetzeit kann ich ruhig sagen, das war so eine Art Beschwörung, wenn wir alle so gesungen haben: „Mein Vaterland ist meine Liebe“. Das war etwas, was einem wieder die Hoffnung gegeben hat, obwohl das so inzwischen fast verloren gegangen war. Und dann fühlte man sich wieder irgendwie anders, wenn man das alles mitgemacht hat. ERZÄHLERIN: Maie Lepp arbeitet im Kumu-Museum Tallinn, dem Haupthaus des Estnischen Kunstmuseums. ATMO 7: Führung im Kunstmuseum Kumu, Tallinn ERZÄHLERIN: Ein Gang durch die estnische Kunstgeschichte ist ein Streifzug durch die Landesgeschichte: Im Erdgeschoss erinnert eine Büste an die Dichterin Lydia Koidula und die estnische Kunst des 19. Jahrhunderts, die in einem regen Austausch mit der Kunst in Europa steht. Viele estnische Künstler sind Deutsch-Balten, die für ihr Studium nach Deutschland gehen. In einem oberen Stockwerk ist die estnische Kunst der Sowjet-Zeit ausgestellt, der sozialistische Realismus. SPRECHER: „Es lebe der große Stalin, der die Verfassung der Sozialisten geschaffen hat“, ERZÄHLERIN: heißt es auf einem Plakat. Maie Lepp bleibt vor einer Wand mit vier großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien stehen. „Fiktion II – Sängerfestgelände“ heißt das Werk, das den estnischen Performance-Künstler Siim- Tanel Annus vor der Tallinner Sängerbühne zeigt: O-TON 10: MAIE LEPP Der macht viele Happenings und Performances und das hat er…wann war das noch mal? – ´88, das war eben die Zeit, als wir diese Singende Revolution hatten und die nächtlichen Sängerfeste, wo jeden Abend die Chöre zusammenkamen und wo die Leute da hinkamen und alle gesungen haben und am frühen Morgen wieder an die Arbeit… ERZÄHLERIN: Das Sängergelände ist voller Menschen, die auf den Zuschauerrängen mit dem Rücken zur Kamera sitzen. Im Vordergrund posiert Siim-Tanel Annus in einem surrealen Aufzug: Er trägt ein langes weißes Gewand, auf dem Kopf sitzt eine Krone. Mit beiden Händen balanciert er einen schwarzen Strich, den der Künstler nachträglich mit Tinte auf die Fotografien aufgetragen hat. Der Strich schießt über den Bildrahmen hinaus und zerteilt die Fotos in zwei Hälften. Siim-Tanel Annus „Fiktion II“ zeigt die Atmosphäre von 1988, als sich 300.000 Menschen auf dem Tallinner Sängergelände versammelten und gemeinsam sangen. Die alten Volkslieder erzeugten ein unglaubliches Gefühl der Gemeinschaft, erinnert sich Maris Hellrand. Sie hat die „Singende Revolution“ als Teenager miterlebt: O-TON 11: MARIS HELLRAND Es war euphorisch! Es war natürlich gefährlich irgendwo, weil wir nicht wussten, was die offizielle Reaktion ist und ob sie die Truppen hinschicken oder die Miliz, die damalige Polizei, oder was. Aber die haben wahrscheinlich einfach nur abgewartet, was da passiert, und andererseits war die Euphorie, dass wir zusammen sind, dass wir unbesiegbar sind, dass wir das machen können. Das ist wirklich das wichtigste Ereignis, so im Leben. Wirklich Adrenalin. ATMO 8: „Singende Revolution“ (Quelle Youtube), DARÜBER: ERZÄHLERIN: Die „Singende Revolution“ ist der Gründungsmythos der Estnischen Republik, für Maris Hellrand ist das Singen Inbegriff der estnischen Identität. Doch diese Identität hat sich nach 1991 gewandelt. Die „Singende Revolution“ ist für den Theatermacher Peeter Jalakas nur noch mystisch verklärte Vergangenheit: O-TON 12: PEETER JALAKAS Es ist jetzt komisch, darüber zu reden, weil - es ist ganz schwer sich vorzustellen, dass wir mal alle zusammen in dieser Singing Field standen und Hand in Hand da alte Lieder sangen. Es ist schwierig, heute ein gemeinsames Ziel zu haben. Das ist nicht so leicht. Es war viel leichter, viel mehr klar natürlich damals, und heute – frei! Man kann sagen, dass jeder Chor singt für sich, glaub ich. (lacht) ATMO 9: Audio-Installation auf Estnisch (aufgenommen vor Einkaufsmall in Tartu) ERZÄHLERIN: „Heute singt jeder Chor für sich“ - Peeter Jalakas wünscht sich nicht den Sozialismus zurück. Aber in seinem kleinen, unabhängigen „Theater van Krahl“ setzt er sich kritisch mit dem Turbo- Kapitalismus in seinem Land auseinander. Estland hat eine der liberalsten Gesetzgebungen Europas. Seit den 1990er Jahren boomt die IT-Branche in Tallinn: Junge Start-Up-Unternehmen beziehen die schicken Lofts, die in ehemaligen sowjetischen Industrieanlagen am Stadtrand entstehen. Dort wurde 2003 auch die Idee für das Telefonieren im Internet geboren: „Skype“. Eine der weltweit erfolgreichsten Internetdienste nach Facebook ist eine estnische Erfindung. Für den IT-Unternehmer Priit Kongo ist Tallinn das „Sillicon Valley“ Europas. MUSIK 4: estnische New Metal - Musik („Alte Zeit vs. Neue Zeit“) ERZÄHLERIN: Seit seiner Unabhängigkeit hat sich Estland radikal modernisiert. In den frühen 1990ern wurden die alten Eliten ausgetauscht und wichtige Posten an frisch gebackene Uni-Absolventen vergeben. Eine Generation junger Esten - Anfang 30 - übernahm die Macht im Land. Innerhalb eines Jahrzehnts bauten sie Estland in „E-Estonia“ um - das „elektronische Estland“. In „E-Estonia“ arbeitet das Parlament papierlos, alle Entscheidungen werden im Internet veröf- fentlicht. Banken, Schulen, Polizei, das Gesundheitswesen sind online: Die Esten können ihre per- sönlichen Daten über den elektronischen Personalausweis im Internet einsehen. Im Bus kontrollieren Schaffner mithilfe von internetfähigen Lesegeräten, ob die Mitfahrer ein virtuelles Busticket gelöst haben. ATMO 10: Tallinn E-Estonia Demo-Center ERZÄHLERIN: Im „E-Estonia Demo-Center“ in Talinn erklärt Indrek Vimberg die Errungenschaften des „elekt- ronischen Estlands“. Der 29-jährige führt jeden Tag Delegationen aus aller Welt durch einen Lern- Parcours. Dort befindet sich zum Beispiel ein kleiner Parkplatz, für den Indrek Vimberg ein Ticket lösen will. Einen Parkscheinautomaten sucht man vergeblich – Tickets kaufen die Esten per SMS: O-TON 13: INDREK VIMBERG Now I want to buy a ticket, all I have to do is dial a service number, - Ansage auf Estnisch – Ticket activated – it will be added to my monthly mobile bill, so let´s have a look – peep peep – here we go, I have a ticket! SPRECHER (VOICE-OVER): Wenn ich ein Parkticket kaufen möchte, dann muss ich einfach nur eine Service-Nummer wählen. - Jetzt wird das Ticket aktiviert… - Das Parkticket kommt auf meine nächste Tele- fonrechnung. Mal nachsehen…..jetzt ist es da, ich habe das Ticket. ERZÄHLERIN: Über 500 internetbasierte Dienste gibt es in Estland – das kleine Land zählt zu den führenden Informationsgesellschaften der Welt. Doch der Segen von „E-Estonia“ kommt bei einer Bevölke- rungsgruppe nicht an: Rund 120.000 Menschen der russischen Minderheit sind staatenlos. Nach der Unabhängigkeit von 1991 bürgert Estland nicht automatisch alle Russen ein, die zu Sowjetzeiten in Estland angesiedelt wurden. Die russischen Zuwanderer stellen 30% der gesamten Bevölkerung, in der Hauptstadt Tallinn sind es 50%. Die estnische Regierung fürchtet um die kulturelle Identität ihres Landes. Doch ohne elektronischen Personalausweis können die Staatenlosen Internetdienste wie das digitale Gesundheitsamt oder das virtuelle Busticket nicht nutzen – die Teilhabe am „neuen Estland“ bleibt ihnen verschlossen. Estland habe ein „Integrationsproblem“, heißt es, es gebe eine „russische Parallelgesell-schaft“. Das Gefühl, nicht richtig dazu zu gehören, trifft sogar eingebürgerte Russen, die einen estnischen Pass haben, erzählt die russische Journalistin Anna Litvinenko: O-TON 14: ANNA LITVINENKO Das ist nicht Immigration, sie waren in ihrem Land und dann plötzlich ist alles zusammen gefallen. Und natürlich sehnen sie sich nach diesen Zeiten, wo sie richtig als eine Kernnation hier waren und alle Privilegien genießen konnten. Und jetzt sind ganz viele von denen nicht Staatsbürger. Deswegen kann man es ein bisschen verstehen, dass sie sich diskriminiert fühlen. Sie wollen sich immer so in die Vergangenheit verstecken, aber ich glaube, so kann man sich nicht weiter entwickeln. ATMO 11: Taxifahrt - Anna unterhält sich mit Taxifahrer auf Russisch ERZÄHLERIN: Anna Litvinenko ist 29 Jahre alt und lehrt Journalismus an der Universität Sankt Petersburg. Sie schreibt für ein russisches Magazin über die Transformation Estlands, der wirtschaftlich erfolg- reichsten ehemaligen Sowjetrepublik. So manche Recherche kann Anna Litvinenko im Taxi erledigen – das Taxigeschäft der Hauptstadt liegt fest in russischer Hand. In Politik und Verwaltung ist die russische Minderheit dagegen drastisch unterrepräsentiert. Die unterschiedlichen Bildungschancen liegen am getrennten Schulsystem, meint Anna Litvinenko: Estnisch-sprachige Kinder besuchen estnische Schulen, russisch-sprachige Kinder werden auf russische Schulen geschickt. O-TON 15: ANNA LITVINENKO Diese zwei Schulen, wo die Kinder wirklich getrennt aufwachsen, die gar nicht mal irgendwie ins Gespräch kommen mit den Esten so richtig oder nicht zusammen spielen, das bedeutet wirklich ganz viel für ihre Zukunft. Weil Estland ist auch so ein kleines Land, und da werden wirklich auch die Posten danach vergeben, also an deinen Mitschüler oder so. Das ist keine Korruption in dem Sinne, aber es sind diese ganz menschlichen Beziehungen, die dann entstehen. Und dann die Russen werden ein wenig getrennt davon. ERZÄHLERIN: Die estnische Regierung möchte das ändern und plant eine gemeinsame Schule, in der alle Kinder auf Estnisch unterrichtet werden – doch hier prallen unvereinbare Interessen aufeinander. Denn die russischen Schulen in Estland bekommen Gelder aus Russland. Die russische Regierung hat kein Interesse daran, ihren Einfluss auf die russische Minderheit zu verlieren. Seit Jahren liegen Tallinn und Moskau im Clinch über den Umgang Estlands mit seinem sowjetischen Erbe. ATMO 12: Ausschreitungen in Tallinn 2007 (Quelle: Youtube) ERZÄHLERIN: Der Konflikt eskalierte überraschend im Jahr 2007, als der estnische Premierminister Andrus Ansip die Bronzeskulptur eines sowjetischen Soldaten an den Stadtrand verlegen ließ. In Tallinn be- schimpften russische Jugendliche Polizisten als „Faschisten“, in der Innenstadt flogen Steine und Flaschen. Die Krawalle von 2007 verstellten allerdings den Blick dafür, dass in Estland auch eine neue Ge- neration Russen lebt: Jugendliche, die in Estland geboren sind und die sowjetische Vergangenheit des Landes ebenso wenig kennen wie die russische Heimat ihrer Eltern. Sie bezeichnen sich als „Euro- Russen“ - als Russen des europäischen Mitgliedsstaates Estland. Es sei Zeit, nach vorne zu schauen, findet die russische Journalistin Anna Litvinenko. Die Esten sollten neben ihrem deutschen, dänischen und schwedischen Erbe auch ihre russische Vergangenheit als Teil der eigenen Identität akzeptieren: O-TON 16: ANNA LITVINENKO Diese kulturellen Einflüsse – sie waren immer mittendrin, also deutsche Einflüsse, russische Einflüsse, auch skandinavische, ich glaube, das gehört schon zur Kultur, auf jeden Fall. Ich glaube, man sollte in die Zukunft schauen und das als Bereicherung ansehen, dass man so viele kulturelle Einflüsse hat. ERZÄHLERIN: Die Stadtführerin Öie Kirs widerspricht: Die kulturelle „Bereicherung“ bedrohe die estnische Identität, sagt sie. Estland sei ein kleines Land und Jahrhunderte der Fremdherrschaft hätten den Esten die Verletzlichkeit ihrer staatlichen Souveränität vor Augen geführt. Die Erfahrung der Ok- kupation präge die Esten bis heute, so Öie Kirs: O-TON 17: ÖIE KIRS Man hat immer noch unbewusst diese Angst, dass es vielleicht anders werden kann, wieder einmal. Deswegen: Wir glauben, oder wir hoffen, unabhängig zu sein, aber, wie gesagt, etwas sitzt in uns Esten drin, so eine Ungewissheit, oder teilweise auch so eine Angst. ERZÄHLERIN: Die unterschwellige Angst richtet sich gegen den großen Nachbarn Russland – doch das Gefühl der Bedrohung ist auch eine Frage der Generationszugehörigkeit. Die jungen Esten sind in einem unabhängigen Land erwachsen geworden, für viele liegt die Zeit der sowjetischen Okkupation unter dem Schleier der Kindheit. Die jungen Esten sprechen kein Russisch mehr – Englisch hat die „Brudersprache“ Russisch als erste Fremdsprache verdrängt. Vom „großen“ Russland fühlt sich Jürgen Roster nicht bedroht. Der estnische Singer-Songwriter ist Anfang 30 und findet, dass die Sowjetzeit eine Ewigkeit her ist. Schließlich hätten die Esten schon einmal die Russen aus dem Land gejagt. Mit Hilfe ihrer stärksten Waffe: dem Gesang. O-TON 18: JÜRGEN ROSTER (O-Ton siehe Intro) Singing – yeah, of course (lacht), we sing so bad that we even scared the Russians out of Estonia, this is called the “Singing Revolution”, there is this big square where we all came together to sing, about 300.000 people sing in time! And we sang so horribly, so mystically badly and so out of tune, that the Russians took their troops and went out, it´s kind of our guarantee to freedom! SPRECHER (OVER-VOICE): Singen – wir singen so schlecht, dass wir sogar die Russen aus Estland gejagt haben! Das nennen wir die „Singende Revolution“. 300.000 Leute haben sich auf diesem großen Platz versammelt und gemeinsam gesungen. Und wir haben so furchtbar und schief gesungen, dass sich die Russen ihre Soldaten geschnappt haben und geflohen sind. Unser schrecklicher Gesang ist der Garant unserer Freiheit! Unter dem Text aufblenden: MUSIK 6: Gesang Jürgen Roster Solo-Tutti mit Schluss 1