COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Die Lagerbox - Leben in Kisten Eine Reportage von Caroline Pirich Redaktion: Ellen Häring Regie: Roswitha Graf _______________________________________________________ ______ 1 Atmo - Hof (Baustelle im Hintergrund) 1 O-Ton Dahinten das Zeugs, das ist alles meins, das muss ich jetzt da reinkarren. weiter 1 Atmo - Hof Autor Ein schmal gebauter Mann, Ende dreißig, steht im Innenhof des Lagerhauses in Berlin-Friedrichshain und sucht ihn mit den Augen ab. Nebenan wird ein Bürogebäude hochgezogen. Es parken ein paar Autos, sonst ist niemand zu sehen. 2 O-Ton Ich bin Johannes Kirchgatter. Kirchgatter - wie die Kirche und das Tor. Autorin Kirchgatter entdeckt einen Stapel Umzugskisten neben einem Lieferwagen, aufeinandergetürmt. Er steuert sie an, der Gang ist federnd, leicht. Er will den Vormittag mit seinen Sachen in seiner Lagerbox verbringen - eine von 1700 hier zwischen einem und 25 Quadratmetern Fläche und drei Metern Höhe. Insgesamt 6300 Quadratmeter Lagerplatz in einem fünfstöckigen Würfel aus Stahl und Beton, der zentral an der Spree liegt; ein Filetgrundstück. Anonym, unpersönlich, Zugang per Code. Johannes Kirchgatter wuchtet routiniert die Kartons auf einen Transportwagen und rollt sie zu einem Aufzug. 2 Atmo - Transportwagen rumpelt über den Hof 3 O-Ton Johannes Kirchgatter Hier sind Zelte drin, die gehen in die zentralafrikanische Republik. Damit rüsten wir Ranger aus, die dort gegen die Wilderei kämpfen und wochenlang an den Flüssen entlang im Wald und in Booten auf der Suche nach Wilderern. 3 Atmo - Knistern im Karton Autorin Johannes Kirchgatter verschwindet fast hinter den Kartons, er ist nicht besonders groß, und mit seiner runden John-Lennon-Brille wirkt er eher wie ein etwas älter gewordener Student, weniger wie ein Biologe und Geograph, der ein Drittel des Jahres im Dschungel lebt. Kirchgatter arbeitet für den WWF Deutschland, den World Wide Fund For Nature. Einsatzgebiet: Afrika, genauer: Zentralafrika, das Kongobecken. 4 O-Ton Kirchgatter Das ist mitten irgendwo im Busch, im Regenwald, zum Beispiel Tsanga Tsanga, das sind 8000 Quadratkilometer totale Wildnis mit zum Glück noch 1000 Elefanten und Gorillas. Das ist unsere Kernaufgabe, dass diese auch erhalten bleiben. Wir haben aber zunehmend Wildereidruck, das sind internationale Mafiabanden, die die Elefanten abschlachten. O-Ton 4b / Atmo darunter : Code Jetzt werd ich persönlich begrüßt... 4 Atmo (und siehe auch Atmo 9) - im Gang - leise Musik (unter folgenden Text einblenden) Autorin "Hallo WWF, Zugang gestattet", erscheint auf dem Display. Als sich der Aufzug wieder öffnet, sieht es rechts, links und geradeaus haargenau gleich aus: jeweils ein schmaler Gang, ausgeleuchtet von Neonröhren, weiß lackiertes, gewelltes Stahlblech auf beiden Seiten. In rhythmischen Abständen wechseln sich Rolltore und Stahltüren ab, grell orangefarben lackiert: Rolltor, Stahltür, Rolltor, Stahltür. Der Gang läuft schnurgerade auf einen winzigen Fluchtpunkt zu, so lang ist er. Aus unsichtbaren Lautsprechern dudelt Plastikmusik. Es riecht nach: nichts. Nicht einmal nach Keller. 5 O-Ton Kirchgatter Das hat etwas sehr Futuristisches, dieses Lager. Man kommt sich vor wie auf einer Marsstation. 5 Atmo - Rollen, Kartons ausladen Autorin Johannes Kirchgatter steuert seinen Transportwagen in den Gang rechts. 6 O-Ton Kirchgatter Und wenn alles beisammen ist, also nicht nur Ausrüstung, sondern auch Ersatzteile, für unsere Jeeps, Solaranlagen, Wasserfilter, dann geht das nach Hamburg und in einen Container, dann geht das auf eine lange Reise über die See und abenteuerliche Regenwaldpisten... Den Container lassen wir dort, dann verwenden wir den gleich als Lagerhaus, machen wir noch Palmblätter darauf und haben dann dort gleich unser eigenes schönes Lagerhaus. 6 Atmo - Rolltor. Zusätzl. Atmo 5. Autorin Der Naturschützer öffnet sein Schloss und schiebt das Rolltor nach oben. Die Lagerbox ist groß wie ein Zimmer, 15, höchstens 18 Quadratmeter: Darin säuberlich beschriftete Kartons übereinander gestapelt. Noch mehr Zelte, Uniformen, Helme, Moskitonetze, Schuhe. Alles für den Urwald. 7 O-Ton Kirchgatter Das wird noch bis unter die Decke voll werden bis Ende des Monats. Autorin (weiter Atmo 5 unterblenden) Wenn Johannes Kirchgatter in Berlin ist, wohnt er nicht weit weg von seiner Lagerbox. Fast täglich kommt er hierher, neue Kartons einlagern, die Sachen zählen, aufschreiben, genau Buch führen. Im Keller seiner Wohnung bewahrt er seine eigene Regenwaldausrüstung auf. Und zahllose Blumentöpfe, denn er ist ein Pflanzennarr. Überall auf der Welt steht ein Koffer von Johannes Kirchgatter. Meistens bei Freunden, so wie in verschiedenen Ländern Afrikas. Dort zieht er - anders als hier - Anzüge an: für die Besuche bei Politikern. Die lässt er dann gleich da. 8 O-Ton Kirchgatter Dort muss ich schick sein, das ist dort sehr wichtig: Guter Anzug, Schlips, ein gutes Hemd. Viele Europäer machen den Fehler, wenn sie nach Afrika in legerer Kleidung kommen. Das wird dort als Missachtung verstanden. Autorin In Tansania steht noch ein alter Jeep, mit dem er kreuz und quer durch Afrika düste; er kann sich nicht von ihm trennen. In den Südstaaten der USA wartet in der Garage von Bekannten ein Hausboot, mit dem er als Student Erkundungstouren über die Flüsse der amerikanischen Nationalparks gemacht hat. Er hat es selbst gezimmert. Verschenken - kommt nicht in Frage. Am liebsten hätte er auf jedem Kontinent eine Art Box, sagt Kirchgatter. Das wäre doch praktisch. Auch seine Mutter in Schwäbisch-Hall hat noch Dinge von ihm im Keller gelagert. 9 O-Ton Kirchgatter Gerammelt voll! Ganz viele Terrarien noch aus meiner Kinderzeit. Ich hatte früher ganz viele Aquarien und Terrarien mit Fröschen und Echsen und Schildkröten und Schlangen und Fischen. Und Käfige! Meine Mutter stöhnt schon immer. ATMO Büro Autorin Der moderne Großstadtmensch ist flexibel. Er zieht problemlos um wegen der Arbeit, wegen Hobbys, wegen einer neuen Liebe oder wegen einer vergangenen. Tauscht die große Wohnung gegen eine kleine. Lebt als Single. Aber Dinge wegwerfen, sich endgültig trennen von Erinnerungen, das gelingt ihm nicht. Jedenfalls gibt es immer mehr Singles in großen Städten, aber nicht mehr Platz zum Wohnen. Dafür gibt es immer mehr Lagerhallen. Und seit 2003 sogar einen deutschen Dachverband dafür. Der Vorsitzende dieses Dachverbands sitzt im Empfangsbüro des Lagerhauses, in dem Johannes Kirchgatter die Ausrüstung für den Dschungel aufbewahrt. Ein Büro mit großen Fensterscheiben, das an der Einfahrt liegt wie ein Glaskasten - im Gegensatz zu den Boxen durchsichtig. Hier melden sich neue Kunden an, melden sich ab, bleiben auf einen Plausch bei einer Tasse Kaffee oder gehen nur stumm vorbei. 7 Atmo Büro (unter Autor einblenden) 10 O-Ton Christian Lohmann Selfstorage ist nach wie vor Metropolenthema. Das muss man ganz klar sagen. So Städte wie Berlin, Hamburg, München, Stuttgart, Frankfurt, da ist das ein ganz großes Thema, denn da wird der Wohnraum immer knapper. / Früher wurden Keller genutzt für Kohle und Lebensmittel, die waren zwangsläufig feucht, diese Keller. Heute will man da Möbel lagern, will da Fotos lagern und sonst was. Das ist unsere Chance. Autorin Christian Lohmann ist auch Geschäftsführer der Firma Secur. Neun Lagerhallen hat die Firma mittlerweile deutschlandweit. Obwohl Lohmann nicht gern von "Lagerhalle" spricht. Das erinnert zu sehr an muffige Keller. "Self Storage" klingt für ihn doch viel mehr nach dem, wie er gern hätte, dass man die Boxen auch sieht: Nicht allein als das, was sie sind - praktische, trockene Lagerräume eben. Sondern auch als "Must have" in Szene-Vierteln. Als eine Art überdimensionales It-Bag. 11 O-Ton Lohmann Wir haben das Glück, dass wir hier in Berlin einen Volltreffer landen konnten. Die Lage ist unheimlich gut, Mediaspree gegenüber. Unheimlich viele junge Kunden, die sind umtriebig. Durchschnittsalter 36 Jahre, viele Umzüge. Wir haben sonst einen Zuwachs von 90 qm pro Monat. Hier haben wir 250 qm. Das ist fast drei Mal so viel. Das ist gewaltig. Autorin Anfang 2012 hat die Firma in Berlin das zweite Lagerhaus hochgezogen. Christian Lohmann reist einmal im Monat aus Hamburg dorthin. Ein Mann Anfang, vielleicht auch Mitte vierzig. Lang wie ein Türsteher, aber mit gutmütigem Gesichtsausdruck. Wenn er über seine Lagerräume spricht, zeigt er eine Vorliebe für Begriffe, die im Ohr bleiben sollen. 12 O-Ton Christian Lohmann Wir leben in der Generation Ikea, alles ist zerlegbar, alles ist stapelbar, so nutzen die Kunden Maximal die Höhe aus ... Autorin Die Idee solcher Selbstbedienungs-Lagerhäuser kommt ursprünglich aus den USA. Zwischen 50.000 und 60.000 Storages gibt es in den USA bis heute, schätzt Lohmann. In Deutschland sind es zwischen 80 und 100. Lohmann erwartet einen Boom in den kommenden zehn Jahren; 300 große, professionelle Self Storages könnte es bis dahin geben. Die steigenden Zahlen erzählen nicht nur von der Abwanderung vom Land in die Großstädte; von immer mehr Singlehaushalten und Jobnomaden. Jedes orangefarben lackierte Rolltor verspricht auch immer, eine Geschichte zu erzählen. Wenn es aufgeht ... 8 Atmo - Rolltor Kerstin Kummers kommt am Nachmittag um vier. Bisher hat es in Strömen geregnet. Jetzt blitzt immer wieder die Sonne durch die dichte Wolkendecke, in den schmalen langen Gängen des Würfels scheint Neonlicht. 14 O-Ton Kerstin Kummers Ich pflege meine Möbel, ich hab die ja auch teilweise sechs Jahre und noch länger, und ich sehe nicht ein, dass ich die Möbel jetzt verkaufe, und wenn ich eine neue Wohnung habe, ich möchte für Wohnzimmer eine neue Couch und sonstwas haben. 9 Atmo - Raumatmo Lagerhalle / Plastikmusik Autorin Kerstin Kummers mietet seit ein paar Wochen eine etwa fünf Quadratmeter große Lagerfläche, 15 Kubikmeter. Darin in Kartons, sorgfältig beschriftet, der gesamte Inhalt ihrer Wohnung, in der sie bis vor kurzem mit ihrem Sohn gewohnt hat. Sie will in einer der Kisten nach seinem Sozialversicherungsausweis suchen. 15 O-Ton Kummers Ich lebe mit meinem Sohn zusammen, mein Sohn ist 24 und lebt noch bei mir, weil das Jobcenter das so möchte, dass die Kinder bei den Eltern wohnen, obwohl er ja selbst berufstätig war... Autorin In diesen Tagen steht Kerstin Kummers auf Abruf für ihren Sozialarbeiter bereit. Sie greift in ihre Jackentasche, überprüft, ob das Handy auch angeschaltet ist. Sie will unbedingt rangehen, wenn der Sozialarbeiter anruft. Er könnte ihr sagen, ob sie eine neue Wohnung bekommt. Ob sie wieder einen Ort hat, ihre Sachen auszupacken. Und ob sie einen neuen Job bekommt und welchen. Oder ob es wieder nicht geklappt hat. 16 O-Ton Kummers Und wohnen wir jetzt im Wohnheim. In einem Zimmer zusammen, auf 21, fast 22 Quadratmeter. Mein Sohn, ich und mein Kater. Autorin Das restliche Leben steckt in den Kisten. Eine Wohnzimmerlampe beugt sich vom Karton mit den Tischtüchern herab. Ein Klappstuhl steht griffbereit. 17 O-Ton Kummers - darunter Atmo - es rappelt Sie können ruhig den Stuhl nehmen, wenn Sie möchten. Autorin Kerstin Kummers setzt sich selbst auf einen Karton. Zurzeit wohnt sie mit ihrem Sohn in einem Heim für Obdachlose. Der Sohn hat gerade keine Arbeit. Sie auch nicht. Sie hatten eine Wohnung in einem Stadtteil von Berlin, die immer teurer und schicker wurde. 18 O-Ton Kummers Es sind Mietschulden entstanden von 2000 Euro und ein bisschen. Und diese Schulden mit Absprache des Amtes haben sie nicht mehr genehmigt. Angeblich bin ich Schuld. Obwohl ich nicht Schuld bin. Das ist ja das Kuriose. Ich hätte das bezahlen müssen, obwohl ja das Jobcenter die Überweisung selber getätigt hat. Autorin Das Amt hat die Mieterhöhung nicht rechtzeitig bezahlt. Das war ein Kündigungsgrund. Jeder Vorwand ist in diesen Zeiten in Berlin recht, um Mieter mit geringem Einkommen wie Kerstin Kummers loszuwerden. 19 O-Ton Kummers Für mich ist das Thema abgeschlossen, und ich hoffe, dass ich in meinem Alter noch mal hochkomme. Ich bin da ganz zuversichtlich, weil, ich will ja. Autorin Kerstin Kummers ist 47. Sie spricht gelassen, auch ihr Gesicht verrät keinen Ärger. Sie will nach vorne schauen, niemanden belasten. Deshalb will sie auch nicht, dass ihr Vater oder ihr zweiter Sohn davon erfahren. Und deshalb soll auch im Radio nicht ihr richtiger Name genannt werden. 20 O-Ton Kummers Mir ist das peinlich. In so eine Situation zu kommen. 10 Atmo - rascheln, kramen. Autorin Ihr Körper versinkt in ihrer quietschblauen Jacke. Hellbraune, kinnlange Haare umschließen ein etwas blasses Gesicht. Überhaupt bewegt sich Kerstin Kummers so vorsichtig in ihrer Lagerbox, als würde sie sich am liebsten lautlos und unsichtbar machen. Dabei ist sie schon sehr schmal, viel weniger geht nicht mehr. Aus einer der Kisten spickt ein Papier hervor. Vielleicht der Sozialversicherungsausweis ihres Sohnes? Sie steht auf, zerrt am Karton, öffnet ihn. Doch nicht, nur eine Rechnung. Sie will noch einen Moment allein hierbleiben, in Ruhe die Kartons durchforsten und darauf warten, ob es klappt mit der Wohnung. Oder mit dem neuen Job. Warten auf den Anruf vom Amt. 11 Atmo - Schritte Autorin Ein Stockwerk höher stapeln sich fünf Kisten in einer der kleinsten Boxen, die das Lagerhaus an der Spree bietet, ein Quadratmeter. Antje Kiesel, eine junge Frau Ende 20 mit roten Locken, steht vor der geöffneten Stahltür. In der Box bewahrt sie den Nachlass ihres Großvaters auf. 21 O-Ton Antje Kiesel Der ist dieses Jahr gestorben und wir mussten die Wohnung ausräumen. Mein Opa war wie ich Fotograf, hobbymäßig, nicht als Beruf, und seine alten Kameras sind noch hier. Alte Fotos, Dias auch, die ich noch nie gesehen habe und die ich mir im Winter in Ruhe mal anschauen möchte. Auch alte Sachen aus der DDR, von wirklich Geschirr, über Kinderspielzeug, Büchern... Autorin Antje Kiesel fotografiert Immobilien, Häuser und Wohnungen. Die 1 qm-Box hat sie eigentlich für ihr überdimensional großes Stativ angemietet, eine gelb lackierte Teleskopstange, die sich auf 15 Meter ausziehen lässt und nur diagonal in den drei Meter hohen Raum passt. Dann starb der Großvater und die Kisten kamen dazu. Sie kniet sich auf den Boden, öffnet einen Karton und zieht eine rotbraune Handtasche hervor - von ihrer Großmutter. 22 O-Ton (knistert darunter) Toll. Hier ist noch so ein bisschen alter Schmuck von meiner Oma Autorin Die Tasche erinnert an die von Mary Poppins: ein wenig altmodisch, mit Platz für allerhand Dinge, die Antje Kiesel herausholt. Ketten, ein schmaler Gürtel, ein Ledereinband, Ohrringe, eine Brosche. 22b O-Ton Antje Kiesel Meine Oma hat immer sehr wenig Schmuck getragen. Es war überraschend, dass wir überhaupt welchen gefunden haben. Autorin Sie schließt die Tasche wieder, legt sie beiseite und zieht einen schweren Band aus der Kiste. 23 O-Ton Antje Kiesel Ein Buch über die DDR (Kichern) in verschiedenen Sprachen. (Blättert) Autorin Deutsch, Russisch, Französisch, Englisch. Antje Kiesel blättert durch das Buch, ein Fotoband. Das Elbsandstein-Gebirge. Berlin Alexanderplatz. Junge Frauen in schicken Mänteln und rosigen Wangen. Erich Honecker von Bauarbeitern und Reportern umringt. Sie blättert auf die letzte Seite. 58 Mark steht im Einband. 31.3.1979. Der Großvater hat im Bergbau gearbeitet und nur nebenbei fotografiert, aber das hat die Enkelin erst nach seinem Tod erfahren. Er hat nicht viel über sich gesprochen, sagt sie. 24 O-Ton Antje Kiesel Es hat mich schon alles interessiert, aber mein Opa war auch ein sehr spezieller Mensch, wo das Rankommen auch sehr schwierig war. Dadurch dass meine Oma so früh gestorben ist, war er dann doch schon ein Einsiedler, der viel gereist ist und eher für sich war. 13 Atmo - Schließt die Tür Autorin Sie wird die Kisten irgendwann nach Hause mitnehmen und sich die Sachen in Ruhe anschauen. "Ein bisschen", sagt sie, "sind sie wie Schatzkisten." 14 Atmo - Im Büro Autorin Unten im gläsernen Empfangsbüro flimmern auf dem großen Flatscreen orangefarbene Rechtecke, grüne, rote, gelbe. Sie ziehen von unten nach oben vorbei. Rosemarie Thiele ist Geschäftsführerin des neuen Hauses. 25 O-Ton Rosemarie Thiele Als erstes sehen Sie die Ebenen Erdgeschoss bis fünfte Etage. Da können Sie sehen, welche Boxen frei sind, welche Kunden auf dem Hof sind, sich bei uns die Tür auf haben, geschlossen haben, und leider auch, welche Kunden nicht bezahlt haben und welche Box da gesperrt ist. Autorin Es sind einige rote Kästchen; einige Kunden haben also die Miete nicht überwiesen. Rosemarie Thiele steht vor dem Bildschirm, lächelt gewinnend und dechiffriert die Kästchen-Farben. Vom Erdgeschoss bis zum 5. Stock werden die grünen immer mehr. 26 O-Ton Rosemarie Thiele Die grünen Farben heißen "vakant", die Boxen sind also noch alle frei. Die dunkelblauen zeigen, die Kunden sind bei uns auf dem Hof, die Box ist zu und sie befinden sich auf dem Weg vom Gelände. Autorin Zusammen mit ihrem Kollegen Maik Eisenberg sitzt sie hier jeden Tag, hinter der Theke des gläsernen Büros mit seiner speziellen Atmosphäre: eine Mischung aus Autovermietung und WG. Einem neuen Kunden werden gleich die Regeln mitgeteilt. 27 O-Ton Thiele Einlagern dürfen sie keine Pflanzen, Lebensmittel, leicht brennbare Sachen wie Lacke, Farben, Benzin. Geruchsbelästigende Dinge. Keine Waffen. Keine Tiere. Das ist verboten. Autorin Es ist die zweite Woche im Monat, anders als zum Monatsende nicht viel los auf dem Hof. Rosemarie Thiele fragt, ob jemand Cappuccino möchte und verschwindet für ein paar Minuten in der Teeküche. Das Gespräch bei Vertragsabschluss hat auch immer etwas von einer WG-Vorstellung. Über die Frage, was denn eingelagert werden soll, erfahren Thiele, Eisenberg und Geschäftsführer Lohmann viel über ihre neuen Mieter. 28 O-Ton Lohmann Mit dem Wort Möbel ist eine Geschichte verbunden, die da dran hängt, und die Geschichten hören wir uns immer an. Das können mal lustige Geschichten sein, oder auch traurige Sachen, wenn jemand gestorben ist und Nachlässe eingelagert werden sollen. Oder wenn der Ehemann fremdgegangen ist und die Frau rausfliegt aus der Wohnung. oder oder oder. ATMO - schlichte Büroatmo Autorin Als hätte er es bestellt, öffnet sich die Tür und eine schlanke Frau etwa Mitte vierzig betritt das Büro, hektisch. Ihr Gesicht verrät, dass sie anderes geplant hatte, aber nun, an diesem Dienstagvormittag einen Platz braucht, wo sie ihre Sachen lassen kann. Sie muss ausziehen, sofort. Sie presst die Lippen aufeinander, als sie Frau Thiele ihren Personalausweis gibt. Dann lässt sie sich eine Box zeigen. Christian Lohmann dreht sich noch einmal um und zuckt mit den Schultern wie um zu sagen: sehen Sie, sag ich doch. 15 Atmo - draußen Hof, Baustelle Nicht immer, aber oft ist das Einlagern eine Notlösung. Denn billig ist es nicht: Die kleinste Größe, ein Quadratmeter, kostet 33 Euro für vier Wochen, 20 Quadratmeter kosten schon so viel wie noch vor ein paar Jahren in Berlin ein WG-Zimmer in derselben Größe: knapp 300 Euro. Wenn man länger mietet wird es etwas günstiger. Ein kleines schwarzes Auto fährt auf den Hof, ein junger Mann steigt aus ganz in schwarz, auch die Brille hat einen dicken, schwarzen Rand. Er verleiht seinem ansonsten eher jungen Gesicht etwas Markantes. Er hievt eine Kiste aus dem Kofferraum. 29 O-Ton Alexander Kowalski Ich bin Alexander Kowalski. Ich bin Musiker und hab hier mein Equipment eingelagert und Teile von meinem Hausrat. Autorin In der Kiste sind alte Schallplatten. Neben Platten sammelt er auch Synthesizer. 30 O-Ton Kowalski Ich mach schon lange, lange Musik. Elektronisch, Techno, House. 16 Atmo - tippt Code ein Alexander Kowalski kennt seinen Code auswendig. Er tippt ihn oft ein. 31 O-Ton Kowalski Ich will nicht alles in der Wohnung haben. Das nervt halt. Autorin Kowalski biegt zügig in einen der Gänge ein. Sofort flackern die Neonröhren auf und leuchten ihr Neonröhrenlicht auf den Gang. Im Laufe der Jahre, in denen Alexander Kowalski als DJ Musik produziert und auflegt, ist sein Keller immer voller geworden. Jetzt passt nichts mehr rein. Irgendwann wurde es auch nass. 32 O-Ton Kowalski Im Sommer hat es so doll geregnet, da ist das ganze Wasser in den Keller gelaufen. Das hat 700 Platten zerstört, die dann nicht mehr zu gebrauchen waren. Da haben die Platten schon angefangen zu schimmeln. Und das sind Sachen, die hab ich 1995 gekauft und ich wusste noch, wo ich was gekauft hatte. Da hängt da schon Herzblut dran. Da kriegt man dann schlechte Laune. 17 - Atmo - Knistern, fummelt in der Kiste Dit is jetzt n' Klassiker: Sunglasses at night. Von Tiger, damit ist er berühmt geworden. (rascheln) was haben wir denn hier noch... Das sind halt echt schon so Technoklassiker. Was halt verloren gegangen ist, die Chicago-Sachen, die New-York-Sachen. Ich war damals Azubi und hab mir die Sachen vom Mund abgespart. Autorin Die Box ist mittelgroß, zehn Quadratmeter, wie die der meisten privaten Mieter. Ein Kinderfahrrad steht darin, es gehört seiner Schwester; ein Vogelkäfig und eine Gitarre. Ansonsten Kisten mit Privatkram und vor allem: 3000 Platten. Außerdem sammelt Kowalski hier die Flyer von den Orten, wo er aufgetreten ist. Städte in Australien. Japan. China. Er fummelt einen Zettel mit neonfarbenen Buchstaben aus einem Karton. 33 O-Ton Kowalski Flyer aus Spanien. Ich sprech leider immer noch kein Spanisch. Wird im März gewesen sein. Ich weiß nicht, welches Jahr. Wird schon 'ne Weile her sein. Autorin Mittlerweile transportiert Alexander Kowalski seine Musik digital auf Festplatte um die Welt. Aber er kann sich nicht von den Platten trennen, ebensowenig wie von den Flyern. 34 O-Ton Kowalski Nee, möcht ick nich', kann ick nich', will ick nich'. Weil's 'n Stück von meinem Leben is'. Ich möchte später, wenn ich alt bin, möchte ich mich hinsetzen und die Platten auflegen. Ah, der Track: Damals und so. Ah die Platte: die hab ich da und da gekauft. Das sind halt Erinnerungen. 18 Atmo - Knistern Oder Tür schließen Autorin Eines Tages wird er alles noch mal aus den Kartons ziehen. Dann, wenn er in einem Schaukelstuhl sitzt und Zeit hat, sich zu erinnern. Womöglich braucht Alexander Kowalski bis dahin eine größere Lagerbox. Oder eine zweite, das könnte sein. Damit am Ende doch etwas bleibt. 1