Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 27. Juni 2011, 19.30 Uhr Hermes, Nautilus und Rabits - die EU-Agentur FRONTEX und ihre Operationen an den europäischen Außengrenzen Von Caroline Nokel 1.Sprecherin Autorinnentext 2. Sprecherin: Overvoice Yiota Masouridou 3. Sprecherin: Overvoice Ewa Moncure 1. Sprecher: Overvoice Gil Arias Fernandez Effekt O-Ton 1 Ole Schröder Frontex hat ja schon 8500 Menschen vor Italien das Leben gerettet. Effekt O-Ton 2 Christoph Marischka Frontex ist die Organisierung der Verantwortungslosigkeit. Effekt O-Ton 3 Yiota Masouridou We have to understand that we cannot just stop migration with border control. 2. Sprecherin: Wir müssen begreifen, dass wir Migration nicht durch Grenzkontrollen stoppen können. Effekt O-Ton 4 Gil Arias Fernandez The aim is not to close the border. It is to know who is entering and what is the purpose of entering the EU. 1.Sprecher: Das Ziel ist nicht, die Grenze zu schließen, sondern zu wissen, wer in die EU kommt und zu welchem Zweck. Sprecher vom Dienst: Hermes, Nautilus und Rabits - die EU-Agentur FRONTEX und ihre Operationen an den europäischen Außengrenzen. Ein Feature von Caroline Nokel [karoli:n no:kel]. Musikakzent O-Ton 5 Fabian Wagner Das ist jetzt irgendwie so'n Stück weit einfach die Erfahrung, dass die Frage nach dem, was Frontex überhaupt ist, sehr stark variiert, auch innerhalb der scientific community. 1.SPRECHERIN: Fabian Wagner ist Teil dieser Wissenschaftsgemeinde: Am Frankfurter Institut für Sozialforschung arbeitet er am Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit dem Titel "Staatsprojekt Europa". Seine Doktorarbeit schreibt er über die europäische Grenzschutzagentur Frontex. O-Ton 6 Fabian Wagner Es gibt Ansätze, die das als ne Form von europäischem Geheimdienst sehen, weil halt unheimlich viele migrationsrelevante und grenzpolizeiliche Informationen derzeit in Frontex zusammenlaufen. Andererseits gibt es halt auch Vertreterinnen, die sagen, das ist ein grenzpolizeiliches Labor, wo bestimmte Sachen ausprobiert werden, wie ne supranationale Zusammenarbeit auf europäischer Ebene funktionieren könnte. 1.SPRECHERIN "Frontex - das klingt ja wie ein Insektenvernichtungsmittel!" echauffierte sich Kommissarin Inga Lürsen in einer Folge des ARD-"Tatorts" im Mai. Die EU-Grenzschutzagentur war Thema des Sonntagabendkrimis mit dem Titel "Der illegale Tod". Einer breiten Öffentlichkeit ist die Agentur vermutlich noch immer unbekannt. Dabei wird sie immerhin aus Steuergeldern der EU-Bürger finanziert: 86 Millionen Euro sind es derzeit jährlich, das Budget hat sich innerhalb von fünf Jahren mehr als verzehnfacht. Was also ist Frontex und was macht Frontex? Im Jahr 2004 erließ der Rat der Europäischen Union die Verordnung "zur Errichtung einer Europäischen Agentur zur operativen Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Europäischen Union". Im Oktober 2005 nahm die Agentur ihre Arbeit auf. Anderthalb Jahre später, im März 2007, eröffneten Ilkka Laitinen, finnischer Oberst und Frontex- Generaldirektor, Franco Frattini und Wolfgang Schäuble in der polnischen Hauptstadt Warschau die neue Zentrale. Deutschland hatte die EU-Ratspräsidentschaft inne, Wolfgang Schäuble war deutscher Bundesinnenminister und Franco Frattini EU- Kommissar für Justiz, Freiheit und Sicherheit. Atmo schon unter Sprechertake beginnen vor dem Frontex-Gebäude in Warschau, Straßenverkehr O-Ton 7 Ewa Moncure We are in a commercial office building that has 37 floors, and we just have five floors. 3.Sprecherin: Wir haben unseren Sitz in einem Bürogebäude mit 37 Stockwerken, und wir haben nur fünf davon. 1.SPRECHERIN Ewa Moncure [ewa 'monkjur] ist Warschauerin und arbeitet in der Presseabteilung von Frontex. Ein schmaler Büroturm ganz aus Glas und Stahl beherbergt neben Frontex Banken und andere Unternehmen. Der Schriftzug der Ernst & Young Unternehmensberatung prangt prominent auf der Außenseite des Gebäudes. Auf dem Bildschirm in der Eingangshalle stehen weitere Namen: Crédit Suisse Luxembourg, Crédit Suisse Polen, Volkswagenbank, Hochtief, Unicef, Raiffeisenbank, Baker & Mac Kenzie, Banque Privée Edmond de Rothschild, Crédit Agricole. Der Sitz der Grenzschutzagentur als ein Unternehmen unter vielen in einem modernen Bürogebäude passt zu ihrem Selbstverständnis. Denn Frontex ist keine Behörde, die Agentur arbeitet eigenständig. Das EU-Parlament bewilligt zwar ihr Budget, kontrolliert wird die Agentur aber nur von ihrem Verwaltungsrat. Er setzt sich zusammen aus den obersten Grenzschützern der Mitgliedsländer und Vertretern der EU-Kommission. Auch sprachlich schlägt sich das Selbstverständnis von Frontex nieder: Da ist die Rede von "border management" - vom "Management" der europäischen Grenzen. Atmo Eingangshalle Frontex-Gebäude (Schritte, Stöckelschuhe, Gespräche, Verkehrsrauschen im Hintergrund) 1.SPRECHERIN Männer und Frauen im Business-Look durchqueren das Licht durchflutete Foyer. Sie passieren mit ihren Ausweisen Drehkreuze. Die Aufzüge rasen in beeindruckender Geschwindigkeit hinauf und hinunter. Wer zu Frontex möchte, muss den Knopf "22" drücken. Die gläserne Eingangstür ist verschlossen, der Besucher muss klingeln. Ein Wachdienst überprüft wie am Flughafen Taschen und Jacken. O-Ton 8 Ewa Moncure We are now 300 employés. [...] Our employés come from all the EU member states. 3.Sprecherin: Wir sind jetzt 300 Mitarbeiter. Sie kommen aus allen EU-Mitgliedstaaten. 1.SPRECHERIN Die Mitarbeiter von Frontex setzen sich, laut Selbstdarstellung, für die Freiheit, Sicherheit und das Recht der Bürger der Europäischen Union ein: "Libertas - Securitas - Justitia", so der Namenszusatz von Frontex. Der Auftrag, den die Agentur 2004 von der Europäischen Kommission erhielt: Migrationsrouten irregulärer Einwanderer beobachten, Risikoanalysen erstellen, Einsätze koordinieren, Grenzschützer fortbilden und gemeinsame Abschiebungen organisieren. Der Politologe Christoph Marischka [ma'rischka] von der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen hat Frontex seit der Gründung beobachtet: O-Ton 9 Christoph Marischka Es geht ja nicht drum, dass da jetzt im großen Maßstab neue Polizisten rekrutiert werden oder ausgebildet. Sondern dass man sozusagen Situationen antizipiert, dann ad hoc analysiert und dann auch ad hoc immer neu diese "rabits" zum Beispiel zusammensetzt. Und die größte Herausforderung ist, ein entsprechendes Kommando- oder Lagezentrum zu schaffen. 1.SPRECHERIN "Rabits" ist eine Abkürzung für "rapid border intervention teams" - multinationale Teams aus Grenzschützern, die schnell eingreifen können, und die erstmals im November 2010 an der griechisch-türkischen Grenze am Ufer des Evros zum Einsatz kamen. Um Situationen vorausschauend zu erkennen, wurde das "Frontex situation centre" eingerichtet. Frontex-Mitarbeiter sammeln dort täglich alle Nachrichten zu Vorfällen an den europäischen Außengrenzen und Ereignissen in den Nachbarstaaten und werten sie aus. Ähnlich wie in der Regie eines Fernsehsenders beobachten sie auf vielen Monitoren die aktuelle Lage. Das "Frontex situation centre" ist Teil der Einheit "Risikoanalyse". Ewa Moncure: O-Ton 10 Ewa Moncure Our risk analysis unit watches the situation around Europe and in the world, obviously very closely in the countries that border the European Union. ... Then you quickly get responses: we can provide a helicopter, but not in February, but in March. We can provide seventeen officers. That is how it works. 3.Sprecherin: Unsere Abteilung "Risikoanalyse" beobachtet die Situation in Europa und in der Welt, besonders genau in den Ländern, die an die Europäische Union angrenzen. Man musste kein Genie sein, um darauf zu kommen, Nordafrika zu beobachten, mit allem, was dort passierte. Als die Situation auf Lampedusa eintrat, waren wir überhaupt nicht überrascht. Das war etwas, was wir erwartet hatten. Dementsprechend schlagen wir einen Einsatz vor, und wir schicken Anfragen raus. Denn wir wissen schon, was uns die Mitgliedstaaten anbieten können an Experten und Ausrüstung. Dann bekommen wir sehr schnell Antworten: "Wir können einen Helikopter bereitstellen, aber nicht im Februar, sondern im März. Wir können siebzehn Grenzschützer schicken." So funktioniert es. 1. SPRECHERIN Auf der italienischen Insel Lampedusa waren im Frühjahr 2011 nach den Unruhen in Nordafrika mehrere Tausend Tunesier angekommen. Nachdem Italien Frontex um Unterstützung ersucht hatte, boten vierzehn Mitgliedstaaten Personal und technische Ausstattung an. Frontex schickte schließlich am 20. Februar 2011 insgesamt zwanzig europäische Experten in italienische Flüchtlingslager, um in so genannten "De-briefings" - Kritiker nennen es Verhöre - dort mehr über Migrationsrouten und -netzwerke zu erfahren. Der gemeinsame Einsatz bekam den Namen "Hermes", denn bei Frontex tragen die Einsätze an den Seegrenzen Namen griechischer Gottheiten wie "Poseidon" oder "Hera", die Einsätze an den Landgrenzen heißen nach Planeten wie "Saturn", "Jupiter" oder "Merkur", und diejenigen an den Luftgrenzen werden von Fall zu Fall entschieden und changieren zwischen "Agelaus", "Hubble" und "Hammer". Wobei der stellvertretende Direktor von Frontex, Gil Arias Fernandez [chil a'rias fernandes] einräumt, der Name "Hammer" sei ungeschickt gewählt, da er zu martialisch klinge und zu falschen Schlüssen führe. Musikakzent 1. SPRECHERIN Jahr für Jahr riskieren Menschen ihr Leben für eine Überfahrt nach Europa - weil sie politisch verfolgt werden, weil sie vor Krieg oder sexueller Gewalt fliehen, oder weil sie schlicht keinen anderen Ausweg aus der Armut ihres Landes sehen. Es sind oft tödliche Passagen. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl spricht davon, dass seit Jahresbeginn 1600 Menschen im Mittelmeer ertrunken seien. Karl Kopp von Pro Asyl: O-Ton 11 Karl Kopp In der Frühphase von Frontex waren die Seeoperationen von Frontex-Verbänden im nationalstaatlichen Kontext im Blickpunkt. Also, was machen spanische Einheiten und Frontex-Einheiten auf hoher See mit Flüchtlingsbooten, die aus Westafrika gekommen sind, damals, 2006, 2007 etc. In der Zeit kam es zum tausendfachen "Umdrehen" von Flüchtlingen, man hat sie zurückgeschickt in Drittstaaten, z. B. nach Mauretanien, wo Spanien auch Haftanstalten betrieben hat. Und dieses "Umdrehen", wie Frontex es genannt hat, ist für uns ne Menschenrechtsverletzung. 1. SPRECHERIN Der stellvertretende Direktor von Frontex, Gil Arias Fernandez, leugnet das: O-Ton 12 Gil Arias Fernandez: In the Frontex coordinated joint operations, there is no push back of migrants.... This could lead to put their lives at risk. This is not permitted in our operations. 1.Sprecher: Gil Arias Fernandez In den von Frontex koordinierten Einsätzen gibt es kein Zurückweisen von Migranten. Das könnte sie davon abhalten, Asyl zu beantragen, wenn sie Asyl, internationalen Schutz benötigen. Es könnte dazu führen, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen. Bei unseren Einsätzen ist das nicht erlaubt. 1. SPRECHERIN Was in der Praxis passiert, wird jedoch nicht von unabhängiger Stelle kontrolliert. Hat der Frontex-Beamte das Asylgesuch eines Flüchtlings einfach nicht gehört? Wollte er es nicht hören? Pro Asyl fordert klare Strukturen für Frontex-Einsätze auf hoher See: Sie sollen transparent, nachvollziehbar und gerichtlich nachprüfbar sein. Gil Arias Fernandez sagt, das Ziel von Frontex sei mitnichten die Abwehr von Flüchtlingen: O-Ton 13 Gil Arias Fernandez The main target, objective for us even if we do not have .... this is the first objective, because they are criminals at the end. 1.Sprecher: Das Hauptziel für uns ist, Schmuggler festzunehmen. Auch wenn Frontex selbst nicht die Befugnis hat, sie festzunehmen, aber das ist das erste Ziel: der Polizei zu helfen, die Kriminellen zu fassen, denn letztlich sind sie ja Kriminelle. 1. SPRECHERIN Kriminalität zu bekämpfen ist die originäre Aufgabe der Polizei. Bei der so genannten illegalen Migration oder dem undokumentierten Reisen verhält es sich jedoch etwas komplizierter. Denn Migranten und Flüchtlinge, die in die EU einreisen möchten, sind keine Kriminellen. Ihr einziges Vergehen: Sie reisen ohne Visum ein. Die Anwältin Yiota Masouridou [jota masu'ridu] aus Athen ist vertraut mit den Motiven der Menschen, die versuchen, über Griechenland in die EU zu gelangen - zum Jahreswechsel 2010 / 2011 wurden 90 % der irregulären Migranten in die EU an der griechisch-türkischen Landgrenze aufgegriffen. Yiota Masouridou vertritt Flüchtlinge und Asylsuchende in Griechenland vor Gericht. O-Ton 14 Yiota Masouridou The asylum profile is not common nowadays, because it reflects the modern world how it is. ... There are other countries like Afghanistan; they leave because they can't stand the situation in their countries. 2.Sprecherin: Das Asylprofil ist nicht einheitlich heutzutage. Es reflektiert die moderne Welt, so wie sie ist. Der Großteil der Menschen kommt aus Afghanistan, Irak, Bangladesh, Pakistan. Aus allen afrikanischen Ländern. Sogar Leute aus Westafrika, sie kommen über Griechenland nach Europa, weil sie nicht in das nächstgelegene Land wie Spanien gehen können. Leute aus Lateinamerika, der Dominikanischen Republik. Sie kommen auch in Griechenland an, um danach nach Spanien weiter zu reisen. Es hängt vom Herkunftsland ab, bei manchen Ländern kann man sagen, dass die Menschen aus politischen Gründen kommen. Es gibt andere Länder wie Afghanistan, dort gehen die Leute, weil sie die Lage in ihren Ländern nicht mehr ertragen können. SPRECHERIN Ob politisch verfolgt, Bürgerkriegs- oder Armutsflüchtling: Wer kein Visum für die EU erhält, nimmt die Dienste so genannter Schleuser in Anspruch. Christoph Marischka von der Informationsstelle Militarisierung: O-Ton 15 Christoph Marischka Je stärker man ne Grenze kontrolliert und abdichtet, desto höher sind auch die Gewinne für die, die diese Grenze wiederum unterlaufen und desto mehr Geschäft entsteht da auch wieder. Wo es eine visafreie Einreise gibt, braucht man keine Schleuser. Und wo Frontex patrouilliert, steigen halt die Preise und damit auch die potentiellen Gewinne. SPRECHERIN Der stellvertretende Direktor von Frontex, Gil Arias Fernandez, glaubt an einen abschreckenden Effekt der Grenzkontrollen und Abschiebungen. O-Ton 16 Gil Arias Fernandez ... If they succeed in entering undetected, they have much more possibilities to stay. Illegally, but to stay. 1.Sprecher: Wenn die Migranten wissen, dass die Gefahr besteht, abgeschoben zu werden, sind sie weniger bereit, diese Fahrt zu unternehmen. Und sie werden auch weniger bereit sein, für die Fahrt zu zahlen. Diese Komponente, zum Beispiel die Abschiebung, hat abschreckende Wirkung. Und auch die Möglichkeiten der Überwachung und die Boote auszumachen, denn das Hauptziel der Schmuggler ist ja, das europäische Territorium unerkannt zu erreichen. Wenn sie es schaffen, unerkannt hereinzukommen, haben sie viel mehr Möglichkeiten zu bleiben. Illegal, aber zu bleiben. SPRECHERIN Frontex organisiert und koordiniert gemeinsame Abschiebungen der Mitgliedstaaten und übernimmt die Kosten. Gegen die These der abschreckenden Wirkung spricht allerdings, dass Migration aus ärmeren Ländern und aus Kriegsgebieten trotz Abschreckung nicht abnimmt oder gar aufhört zu existieren. Die Routen verlagern sich lediglich und werden immer riskanter. Ist die eine Lücke in der Grenze geschlossen, suchen Flüchtlinge eine andere Möglichkeit, in die EU zu gelangen. Denn die Ursachen, warum Menschen fliehen, existieren weiter. Der Effekt, den Frontex auf die Migration hat, ist so gesehen beschränkt. Gil Arias Fernandez: O-Ton 18 Gil Arias Fernandez In 2006, the main flow of illegal immigration was what we call the Western African route, ... Berlusconi and Gaddafi put in place an agreement which had be signed before, which was put in force in May 2009. 1.Sprecher: 2006 war der Hauptstrom illegaler Immigration, was wir die westafrikanische Route nennen, über die kanarischen Inseln. Bis die spanischen Behörden Abkommen mit dem Senegal und Mauretanien abschlossen, um bilateral zusammenzuarbeiten, um diese Route in Angriff zu nehmen. Die Schlepper suchten nach anderen Möglichkeiten, anderen Toren in die EU. Jetzt spreche ich von 2008. Das war das Jahr, in dem mehr Migranten in die EU kamen. Das Startland war Libyen, der Ankunftspunkt hauptsächlich Lampedusa, aber auch Malta und die italienischen Inseln. Italien und Libyen handelten auch ein Abkommen aus. Berlusconi und Gaddafi setzten ein Abkommen um, das sie vorher unterzeichnet hatten, im Mai 2009 trat es in Kraft. SPRECHERIN Den Preis für die bilateralen Abkommen mit Diktaturen zahlen die Flüchtlinge. Dadurch, dass sie schon in ihrem Heimatland oder in einem Transitland wie Libyen davon abgehalten werden, in See zu stechen, haben sie keine Chance, jemals einen Antrag auf Asyl stellen zu können. Und dass ein Diktator wie Muammar al-Gaddafi oder die Militärjunta in Mauretanien ihre Menschenrechte wahrt, davon kann niemand ernsthaft ausgehen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wies in ihrem Jahresbericht 2010 auf unverhältnismäßige Gewalt und systematische Folter gegen Demonstranten, Häftlinge und die Zivilbevölkerung in Mauretanien hin. O-Ton 20 Christoph Marischka Es wurde die Migration auf die Kanaren angesprochen. Da war wesentlicher Faktor, dass man mit Mauretanien auch in mauretanischen Küstengewässern, auch an Land in Mauretanien ne enge Zusammenarbeit zwischen Frontex oder den spanischen Behörden und den mauretanischen hergestellt hat. Diese Kooperation hat stattgefunden, während in Mauretanien zwei Putsche stattfinden. Illegale Machtübernahmen durchs Militär. Und diese Kooperation wurde fortgesetzt, völlig ununterbrochen, da wurde das nicht mal in Frage gestellt. SPRECHERIN Libertas - Securitas - Justitia: die hehren Ansprüche Europas an Freiheit, Sicherheit und Recht gelten offensichtlich nur für die eigenen Staatsbürger und werden einer Interessenspolitik leichtfertig untergeordnet. Global gesehen führt die Unterdrückung von Migration jedoch zu keiner nachhaltigen Lösung. Christoph Marischka: O-Ton 21 Christoph Marischka Der Versuch, Migration zu kontrollieren führt auch dazu, sie zu konzentrieren. Wir haben das in Lampedusa. Da sind jetzt 22 000 Flüchtlinge bislang angekommen. Wenn die einfach mit Schiffen, Flugzeugen, so an die verschiedenen Zielhäfen in Europa - wo sie ja auch gerne hin wollen, die wollen ja nicht alle auf diese kleine Insel Lampedusa - ankommen würde, das würde niemand merken. Jeden Tag landen Zehntausende Menschen in Europa, ist ganz normal, ist ja ne globalisierte Gesellschaft. Dadurch, dass man versucht, es zu kontrollieren, konzentriert man es. Dadurch schafft man eigentlich erst das Problem, das man wiederum zu lösen vorgibt. 1. SPRECHERIN Vergegenwärtigt man sich, dass die Flüchtlinge und Migranten, die derzeit auf Lampedusa oder anderen italienischen Inseln, auf Malta oder in Griechenland ankommen, eigentlich Flüchtlinge sind, die in der EU ankommen, verringert sich der viel beschworene Migrationsdruck sofort. Selbst wenn man von 100.000 Migranten und Flüchtlingen pro Jahr ausgeht - sie "überschwemmen" oder bedrohen Europa keinesfalls. Die EU hat immerhin 500 Millionen Einwohner. In Ländern wie Iran mit knapp 80 Millionen Einwohnern leben über 900 000 Flüchtlinge aus Afghanistan und über 50 000 Flüchtlinge aus dem Irak, Tunesien hat trotz seiner instabilen Lage 200 000 Flüchtlinge aufgenommen. Statt Bürgerkriegsflüchtlinge aus Libyen großzügig aufzunehmen, streitet man in der EU über die Lastenverteilung. Kleine Staaten wie Malta und die südlichen Staaten mit EU-Außengrenzen beklagen schon seit geraumer Zeit die mangelnde Solidarität unter den Mitgliedstaaten. Staatssekretär Ole Schröder im deutschen Bundesinnenministerium: O-Ton 22 Ole Schröder Man kann überhaupt nicht davon sprechen, dass durch eine verschärfte Kontrolle die Mitgliedstaaten wie Griechenland oder Malta oder Italien stärker betroffen sind, im Gegenteil. Das Problem, was wir dort haben, ist, dass gerade illegale Migration durch Schleuserbanden nicht ausreichend bekämpft wird. Und dass dort Schleuserbanden, die abscheuliche Straftaten begehen, dass man denen dort nicht ausreichend das Handwerk legt. 1. SPRECHERIN Seit einer Rechtsvorschrift von 2003, der Dublin II-Verordnung, kann ein Flüchtling in einen so genannten sicheren Drittstaat abgeschoben werden, durch den er in die EU eingereist ist. Das heißt, ein Flüchtling muss seinen Asylantrag in dem EU-Land stellen, das er als erstes betritt. Von Lampedusa aus kann er beispielsweise nicht nach Frankreich oder Deutschland weiterreisen. Dadurch, dass die Verantwortung für den Großteil der Flüchtlinge und Migranten nur wenigen Mitgliedstaaten aufgebürdet wird, entsteht in der Öffentlichkeit leicht der Eindruck eines generellen Notstandes. Tatsache sei aber, sagt Fabian Wagner: O-Ton 23 Fabian Wagner Dass in den letzten fünf Jahren die illegalen Grenzübertritte in die EU einfach zurückgehen, aber gleichzeitig über die mediale Repräsentanz von Migration der Eindruck entsteht, dass Europa förmlich überrannt wird. Musikakzent 1. SPRECHERIN Europa wird nicht überrannt, die Migration wird nur künstlich konzentriert. Die Zustände in den griechischen Internierungslagern im Evros-Gebiet waren im vergangenen Winter dermaßen menschenunwürdig , dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 21. Januar 2011 feststellte: Sowohl Griechenland als auch das abschiebende Land, in dem Fall Belgien, haben mehrfach die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt. Der Gerichtshof empfahl, Abschiebungen nach Griechenland auszusetzen. Seit Januar schiebt Deutschland, wie andere europäische Länder auch, für ein Jahr lang keine Flüchtlinge mehr nach Griechenland ab. Frontex schickte erstmals im Oktober 2010 "rapid border intervention teams" nach Griechenland. An dem Einsatz von 175 Grenzschützern aus 26 Ländern waren auch deutsche Bundespolizisten beteiligt, zu Spitzenzeiten bis zu 40 Beamte. Auch nach Abschluss des RABIT-Einsatzes im März sind weiterhin zwei deutsche Beamte in Griechenland im Einsatz. Karl Kopp von "Pro Asyl": O-Ton 24 Karl Kopp Im Zusammenhang mit dem Frontex-Einsatz im Evros-Gebiet muss man einfach sagen, das haben Frontex-Beamte selber mir mitgeteilt im November 2010, als ich im Evros- Gebiet war, dass Frontex-Beamte, auch aus Deutschland, indirekt an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind, ohne dass sie es wollen, weil sie Menschen, Flüchtlinge und Migranten, aufgreifen und dann in Lagern abliefern. 1. SPRECHERIN Die griechische Anwältin Yiota Masouridou sieht eine Mitverantwortung bei den Frontex- Beamten: O-Ton 25 Yiota Masouridou They are part of it. They are supplementary forces to the greek officers right now. ... They also know, frontex officers know the conditions the children are detained. 2. Sprecherin: Sie sind daran beteiligt. Sie sind zusätzliche Einheiten zu den griechischen Polizisten. Sie patrouillieren und machen die Screenings allein, das heißt Identifizierung, Name und Nationalität der Inhaftierten. Sie dürfen es nicht alleine machen, aber sie machen es. Ich habe es gesehen. Sie stellen sich nicht vor. Sie erklären nicht, worum es geht. Die Flüchtlinge wissen nicht, wer sie sind. Sie denken, es sei die UN. Sie fragen: Sind wir in einem Krieg? Es ist wirklich beängstigend. Sie erkennen sie nicht als Menschen, die internationalen Schutz benötigen. Frontex-Grenzschützer wissen, dass Kinder inhaftiert werden. Sie kennen auch die Umstände, unter denen Kinder inhaftiert werden. 1. SPRECHERIN Die Konsequenz der deutschen Frontex-Beamten war, nur noch den Grenzabschnitt zu sichern und sich nicht mehr an den Befragungen in den Lagern zu beteiligen. O-Ton 26 Karl Kopp Es gab auch interne Berichte von Frontex-Beamten an ihre jeweiligen Innenministerien. Das drückt aus, dass es für einen Beamten oder eine Beamtin ein Leidensdruck war und ist. SPRECHERIN Karl Kopp sagt, Griechenland betreibe zwar die Lager, doch es seien indirekt auch deutsche Lager. Der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Ole Schröder, sieht die Verantwortung bei Griechenland. O-Ton 27 Ole Schröder Wir können es nicht verantworten, dass deutsche Einsatzkräfte sich daran beteiligen, sobald unsere humanitären Standards nicht eingehalten werden. Dann ziehen wir selbstverständlich unsere Polizeikräfte sofort ab. Das ist eine Form des Protestes. 1. SPRECHERIN Ein funktionierendes Asylsystem existiert in Griechenland nicht. Anträge werden von der Polizei bearbeitet, wenn es überhaupt so weit kommt. Auch wenn das Griechenlands Verschulden ist, so ist doch die bloße Zahl - zeitweise 90 % der Migranten EU-weit - eine Überforderung für das krisengeschüttelte Land. O-Ton 28 Ole Schröder Sie können diese gemischten Migrationsströme, mit denen wir das ja zu tun haben, die können Sie nur bewältigen, wenn sie ein effizientes System haben. Dass wir wirklich den Menschen helfen, die verfolgt sind, die unsere Hilfe wirklich brauchen. Und dazu brauchen Sie sehr effiziente Asylverfahren. Und das genau ist das Problem. Dass in Griechenland das bisher nicht im ausreichenden Maße vorhanden ist. Deshalb führen wir auch nicht mehr nach Griechenland im Rahmen von Dublin II zurück, sondern haben das ausgesetzt. Dass wir sagen, die Menschen, die über Griechenland nach Deutschland kommen, für die führen wir das Asylverfahren selbst durch. Obwohl Griechenland zuständig ist, aber aufgrund der Zustände haben wir gesagt, setzen wir es aus. O-Ton 29 Fabian Wagner Man ist nicht mehr im Fokus von Menschenrechtsorganisationen, der no-border- Bewegung und einer linksliberalen Öffentlichkeit. Als die Bundesrepublik noch die Außengrenze hatte mit der Oder-Neiße-Grenze, war ja die Bundesrepublik immer wieder gern genommene Zielscheibe von eben genannten Akteuren, um eine unmenschliche Abschottungspolitik zu kritisieren. Jetzt ist die Bundesrepublik fein raus. Man kann sozusagen selber als Bundesrepublik den schwarzen Peter an Spanien, Malta, Italien und Griechenland weiter reichen. O-Ton 30 Ole Schröder Wir haben natürlich ein großes Interesse daran, dass unsere Grenzen in Europa sicher sind. Wir haben keine eigene Außengrenze mehr. Und deshalb haben wir natürlich ein großes Interesse, dass die Mitgliedstaaten mit einer Außengrenze ihrer Verantwortung auch gerecht werden. Frontex ist ein Instrument der europäischen Solidarität, und deshalb haben wir von vornherein gesagt, dass wir das unterstützen. SPRECHERIN Die Rechtsgrundlage, die die Arbeit von Frontex regelt, wird überarbeitet. Der Änderungsvorschlag sieht vor, die operativen Kapazitäten der Agentur zu stärken. Die Rechte von Flüchtlingen und Asylsuchenden sollen in die Verordnung mit aufgenommen werden. O-Ton 31 Ole Schröder Wir unterstützen Frontex. Wir haben uns bei den Beratungen zu der neuen Frontex- Verordnung auch dafür eingesetzt, dass Frontex mehr Kompetenzen erhält. Wir sind da noch mitten in den Verhandlungen mit dem europäischen Parlament, da gibt es Diskussionen, wie das optimal austariert wird. SPRECHERIN Es ist zu erwarten, dass die parlamentarische Kontrolle, sowohl national, als auch auf europäischer Ebene, nicht zunehmen wird. Obwohl es der EU und ihren Mitgliedstaaten gut zu Gesicht stünde, auch an ihren Außengrenzen nach den Maximen der Demokratie und der Menschenrechte zu handeln. O-Ton 32 Christoph Marischka Frontex macht ja tatsächlich im Wesentlichen das, was die europäischen Innenpolitiker verlangen, was ihre Vorstellung ist von nem Grenzregime. Wann immer was passiert, wann immer jemand stirbt, und so ist Frontex organisiert, ist nicht die Agentur schuld. Obwohl sie das koordiniert, was da passiert. Und es gibt im Grunde auch niemanden bei Frontex, der unmittelbar politisch verantwortlich ist. Sprecher vom Dienst: Hermes, Nautilus und Rabits - die EU-Agentur FRONTEX und ihre Operationen an den europäischen Außengrenzen. Ein Feature von Caroline [karolin:n] Nokel. Es sprachen: Ton: Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Constanze Lehmann. Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 Am nächsten Montag hören Sie an dieser Stelle: Jetzt entscheide ich! Persönliche Assistenz statt fremdbestimmter Behindertenhilfe Manuskripte und weitere Informationen zu unseren Zeitfragen-Sendungen finden Sie im Internet unter www.dradio.de 17