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Heute gehört ihm ein kleiner Raum, schmal, an einer Seite steht ein Klavier. Er kippt das Fenster, setzt sich wieder auf seinen Hocker, greift den Bass am Hals, lehnt ihn an sein Knie und streicht mit dem Bogen über die Saiten. Die Töne füllen den Raum. Atmo 2: Bass spielt wieder Dittersdorf, unter Text einblenden / bricht ab. 2 O-Ton Das Fiese ist, das muss man alles messerscharf spielen, dass es verständlich ist. Gerade diese letzte Stelle. Atmo 3 ? Platz / Straße Autorin Während Konrad Reber sich einspielt, steigt am Gendarmenmarkt in Berlin gerade die Sonne über die Dächer. Eine junge Frau schiebt ihren großen Instrumentenkasten über das Kopfsteinpflaster. Sie bleibt stehen und sieht sich unsicher um. Ein Mann, einen ebensolchen Kasten auf dem Rücken, nickt ihr zu: Hierhin. Sie haben sich kürzlich schon gesehen, dieselbe Situation, andere Stadt. Heute werden sie mit Konrad Reber um die einzige freie Kontrabass-Stelle im Berliner Konzerthausorchester spielen. Am Bühneneingang steht Ernst-Martin Schmidt, ein Mann mit braunen Locken und aufmunterndem Dauerlächeln. In der Hand hält er mehrere Blätter Papier: die Namensliste des Probespiels. 92 haben sich beworben. 54 wurden eingeladen. 25 sind gekommen. Atmo 4 Schritte BLENDE in stiller Raum 3 O-Ton E.M. Schmidt Ich begrüße die Kandidaten, und da ich selber nicht wesentlich älter bin mit Anfang 30, wird im allgemeinen nicht davon ausgegangen, dass ich Orchestervorstand sein könnte. Auf meinen Gruß wird freundlich reagiert bis völlig abwesend oder gar nicht. Autorin Schmidt organisiert als Mitglied des Orchestervorstands den Verlauf des Probespiels: Er lost die Reihenfolge der Auftritte aus, jeder Kandidat bekommt eine Nummer. Am Ende wird er darüber wachen, dass jeder in der Jury seinen Stimmzettel abgibt. Atmo 5 Schritte, leise Kontrabassklänge Am Pförtner vorbei führt Ernst-Martin Schmidt in die schmucklosen Gänge hinter der Bühne. Ein Zimmer reiht sich an das nächste, wie in einem einfachen Hotel, jeder Musiker bekommt ein Zimmer zugewiesen. Schmidt weiß, wie angespannt die Kandidaten sind; er kann sich noch gut an seine eigenen Probespiele erinnern. Allerdings hat er selbst nur drei machen müssen, bis er seinen festen Platz im Orchester bekam. 4 O-Ton Schmidt Insofern hatte ich großes Glück. Es gibt Kandidaten, die 20, 30, 40, 50 Probespiele gemacht haben. Bis zu 80 habe ich mal von einer Freundin gehört. die 80 Probespiele gemacht hat. Atmo 6: Musiker spielen sich ein, leise Autorin Probespiel-Zirkus. So nennen Musiker diese Zeit zwischen dem Diplom an der Musikhochschule und einer festen Stelle. Es ist das engste Nadelöhr im Lebenslauf eines Musikers. Nur 40 Prozent aller in Deutschland ausgebildeten Musiker schaffen diese Hürde. Die Kandidaten, die sich um die Stelle im Konzerthausorchester bewerben, haben Bewerbungsmappen eingeschickt mit Lebensläufen, die von Verzicht, Fleiß, Drill und Zielstrebigkeit erzählen. Und mit Fotos, die manchmal fast noch Kinder zeigen. Atmo 7: Kontrabassspiel? / Menschen / Schritte /Türen Da ist Je-Jun Kwak aus Südkorea: er verlässt mit 15 die Schule und kommt mit seinem Bass nach Deutschland, allein. Da ist Krasen Zagorski aus Bulgarien, 25 Jahre alt: er zählt an der Nationalen Musikschule in Sofia zu den Besten und studiert in Deutschland, weil er von seinem Beruf einmal leben will. Christian Poll aus Wiesbaden, 35 Jahre alt, der für sein Instrument so viel ausgegeben hat, wie andere für einen Mittelklassewagen: 35000 Euro. Und da ist Konrad Reber, 25 Jahre alt, aus einem Dorf zwischen Leipzig und Dresden, der eine befristete Stelle in einem Orchester hatte. Vor einem Jahr ist sie ausgelaufen, weshalb er jetzt wieder am Anfang steht. Atmo 8 Raum Zwei Wochen vor dem Probespiel im Konzerthausorchester Berlin sitzt Konrad Reber zuhause in Sachsen, in dem winzigen Haus, in dem er mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern wohnt. 5 O-Ton Reber Das Probespiel finde ich nicht ungerechtfertigt, es ist auch eine Nervenprüfung. Aber wenn man dann wirklich in so einer Situation ist, es kommt einem vor, es guckt einem die ganze Welt zu und muss alleine spielen. Da braucht man schon Nerven. Autorin Er hat ein glattes, herzförmiges Gesicht mit grünen Augen unter dichten Brauen. Sein Mund lächelt, immer. Er ist 25 Jahre alt, eigentlich zu jung, um es schon eilig zu haben, endlich eine Stelle zu bekommen. Aber er hat eine Tochter und einen kleinen Sohn. Auf dem Boden liegen Spielzeug und Buntstifte der Tochter, an der Wand hängt ein Foto aus der Zeit, als er die Haare noch lang trägt und zu einem Zopf zusammenbindet. Bevor er zu seinem ersten Probespiel gefahren ist, hat er ihn abgeschnitten. Sein Herz fängt an zu pochen, wenn er nur daran denkt. So schlimm ist es nie, wenn er nur ein normales Konzert spielen muss. O-Ton 6 Konrad Reber Außerdem sind die Stücke da nicht so schwer, wie die bei Probespiel. Da muss man richtig solistisch spielen. Das ist ja dann nicht die Aufgabe, die man im Orchester später hat. Autorin Auf dem kleinen Wohnzimmertisch stehen Gebäck und Kekse, eine Kerze flackert. Reber schenkt Kaffee nach. 7 O-Ton Konrad Ich habe kein anderes Hobby gehabt. Das war, wenn ich keine Schule hatte oder nicht mit meiner Freundin zusammen war, habe ich Musik gemacht. Mit dem Kontrabass, da hat mein Vater darauf bestanden. Und hat sich im Endeffekt als Glück erwiesen, dass es dann doch geklappt hat. Autorin Der Vater war Klarinettist in einem Operettenorchester, die Mutter Musiklehrerin. Der Sohn sollte ein "richtiges Instrument" lernen, Kontrabass zum Beispiel. Bässe braucht man immer, meinte der Vater. Konrad Reber ist 16, als er im Landesjugendorchester in Sachsen spielt und bemerkt, was sein großes Instrument im Orchester bewirken kann. Wie sein tiefer Ton die hellen trägt. Noch bevor er das Abitur macht, bewirbt er sich an einer Musikhochschule ? und besteht die Aufnahmeprüfung. ATMO 9: RASCHELT, PACKT BASS AUS / Raumatmo Jetzt liegt der Bass auf dem Boden in seiner Hülle. Reber nimmt ihn auf und streift die Hülle ab. Er hat ihn am Ende seines Studiums einem Bassisten im Ruhestand abgekauft, für 8000 Euro. Ein Schnäppchen, sagt Reber. 8 O-Ton Konrad Wenn man normale Preise bezahlt, dann fängt man an, bei 15.000 Euro ein probespielgeeignetes Instrument zu besorgen. Das ist noch der Witz, dann wird immer gesagt, ach, der Klang, der hat mir nicht so gut gefallen. Aber dann spielt man sowieso auf einem Orchesterinstrument, die das Orchester bereitstellt. Autorin Viele Orchester haben eigene Kontrabässe, die ihre Mitglieder benutzen, manchmal noble, alte Instrumente, deren Wert zwischen 50.000 und 100.000 Euro liegt. Konrad Reber sieht seinen hellbraunen 8000-Euro-Bass lange an. Er will ins Orchester, unbedingt. Warum, das fällt ihm schwer, in Worte zu fassen. Das Erlebnis, Teil eines Orchesters zu sein, ist eigentlich unbeschreiblich. 9 O-Ton Konrad Das Verschärfteste war, was mir niemand mehr wegnehmen kann: Mit der Sächsischen Staatskapelle mit Christian Thielemann im Wiener Musikverein ?Also sprach Zarathustra? zu spielen. Das war toll, da hat alles gepasst. Da habe ich am letzten Pult gesessen. Da fangen zwei Kontrabässe alleine an. Das sind so Gänsehautmomente. Das ist das, was mich am Leben hält, wenn ich mich erinnere, dass ich so herrliche Momente gehabt habe. Da weiß man einfach, warum man das alles macht. Autorin Damals hat er einen Vertrag in einem Orchester mit großem Namen, und bezahlt die Schulden für sein Instrument ab. 10 O-Ton Konrad (26:00) Kontrabass Tutti, 100 Prozent, Jahresvertrag. Ohne die Spur einer Aussicht auf Verlängerung. Autorin Als der Vertrag auslief, hat er Arbeitslosengeld beantragt. Das war vor eineinhalb Jahren. Atmo 10: Klavier stimmen / Auf der Bühne im Berliner Konzerthaus schlägt Ernst-Martin Schmidt, der Orchestervorstand, den Kammerton A auf dem Flügel an. Nach und nach schlendern die Jurymitglieder in den Saal. Am ersten Tag des Probespiels um die einzige freie Stelle im Konzerthausorchester Berlin besteht sie aus den sieben Kontrabassisten des Orchesters. Ihnen fehlt der achte - und den wollen sie finden. Einen sogenannten Tuttisten, der in der Masse mitspielt, einen Kollegen, auf den sie sich verlassen können, denn der Kandidat, der die Stelle bekommt, darf auf Lebenszeit bleiben. Schmidt spielt Bratsche; er selbst stimmt am ersten Tag nicht ab. 11 O-Ton Schmidt Es gibt eine Pflicht und eine Kür. Es gibt bestimmte Basics, dass er eine sichere, verlässliche Intonation hat, dass er über Rhythmusgefühl verfügt, dass er stilistisch sicher ist. Das sind Grundsachen. Dann natürlich, dass man spürt, dass da eine eigene Interpretation entsteht. Atmo 11 einsame Schritte über die Bühne Autorin Er versucht, das Undefinierbare, das gewisse Etwas, das ein Musiker eben auch zeigen muss, in Worte zu fassen. 12 O-Ton Es gibt die Musiker, bei denen es so klingt, dass man hört, das kommt gerade im Augenblick, da bringt sich jemand mit seiner ganzen Seele in sein Spiel ein. Durch seine Person hindurch wird das Stück lebendig. Da ist der Musiker als ganzer Mensch zu sehen. Das ist das, worüber wir uns freuen, wenn wir im Probespiel sitzen, und das ganze Orchester ist verzaubert. Atmo 12: Klavier ? Dittersdorf Autorin Eine Japanerin mit strenger Frisur wird die Kandidaten am Flügel begleiten. Sie spielt die nächsten Stunden immer das gleiche: das Solo-Konzert von Carl Ditters von Dittersdorf mit seinem aufstrebenden, schwierigen Lauf über zweieinhalb Oktaven, für den ein Kontrabassist viel Kraft braucht. Die Jury hat sich auf den Samtsesseln im Konzertsaal verteilt, auf die mittleren Reihen, so, dass die Akustik stimmt, aber auch so, dass zwischen ihnen und den Kandidaten eine Leere gähnt. Die müssen sie füllen. Jetzt muss das Mikrophon ausgeschaltet werden, Aufnahmen sind nicht zugelassen. Ein Probespiel ist so geheim wie die Wahl eines Papstes, das Orchester hat lange diskutiert, ob eine Journalistin überhaupt dabei sein darf. Schließlich hat es zugestimmt, aber niemand will heute viele Worte verlieren oder gar geschwätzig werden. Atmo ab hier Stille Als die erste Kandidatin, eine zierliche Asiatin, hereinkommt, liegt im Saal eine heilige Stille. Sie schwebt auf die Bühne und trägt den Bass in ihrer rechten Hand, als würde sie seine Masse nicht spüren. Die junge Französin, die folgt, stupst ihre Brille auf die Nase und spielt erstaunlich leicht. Dann ist da ein Chilene, der so aussieht, als spielte er nicht Kontrabass, sondern tanzte einen zärtlichen Tanz mit einer traurigen, dicken Frau. Schmidt sitzt ganz am Rand und macht sich in sorgfältiger Handschrift Notizen. 13 O-Ton Schmidt Eigentlich kommt es am Ende darauf an, den Richtigen gefunden zu haben. Und dann ist es ganz egal, ob er aus Polynesien ist oder in Pankow zur Schule gegangen ist, ob er Mann oder Frau ist. Autorin Auch die Jury macht sich Notizen. Sie malen Kreuze und Striche auf ihre Zettel. Hinter jedem Name steht entweder ein Plus oder ein Minus. Meistens ein Minus. Es ist kurz nach elf, als Konrad Reber, der junge Vater aus Sachsen, ins Rampenlicht tritt. Er schickt sein ?Guten Morgen? in den Saal, die Stimme ist fest. Der Bass, den er auf der Bühne in Balance bringt, ist etwa 100 Jahre älter als sein eigener. Er hat ihn sich extra für das Probespiel ausgeliehen, er klingt kräftiger, strahlender. Mit dem glänzend polierten Instrument lässt er die ?Mannheimer Rakete? auf der Bühne starten, eine Punktlandung. Später wird er selbst sagen, er habe "voll, frei und frisch" musiziert. Die Unterbrechung kommt aus Reihe fünf. ?Vielen Dank!?, sagt die Solobassistin. Ihr Gesicht ist nur Maske. Reber darf noch den zweiten Satz spielen. Ist das ein gutes Zeichen? Während der zähen Stunden wechseln die Kandidaten auf der Bühne. Hinter der Bühne fallen die Türen auf und wieder ins Schloss. Im Erdgeschoss wartet Michael Sander noch darauf, dass er seinen Namen hört und spielen darf. Atmo 13: Sander spielt sich mit ein paar kräftigen Strichen über das Instrument ein 14 O-Ton Sander Das ist der Bogen von Petzold. Ein DDR-Meisterfabrikat. Kostet heute 3000 Euro. Den spiele ich, seitdem ich auf der Spezialschule bin. Autorin (Atmo von O-Ton 15 darunter, rappelz) Sander sitzt auf einem Hocker, sein Instrument lehnt am linken Knie. Geübt klemmt er den Bogen zwischen dem kleinen Finger und dem Ringfinger, als er zu einer Dose greift, sie aufschraubt und eine bernsteinfarbene Substanz über die Bogenhaare reibt. 15 O-Ton Sander Das ist Harz, Baumharz, vermischt mit Abstrakten und Kräutern. Das macht ja die Güte von diesem Kolophonium aus. Atmo 14: Sander streicht über die Saiten, spielt virtuos, setzt ab Autorin Wie er wohl auf die Jury wirkt, will er wissen, wie er da so sitzt auf dem kahlen Flur, das Instrument im Arm. Kräftig gebauter Mann Ende 20, vielleicht 90 Kilo. Ein wenig blass. Er geht wenig an die frische Luft, weil er viel übt. Schönes Instrument. Schön und dunkel. Autorin Er hat nie eine richtige Freundin gehabt. Nur dieses Instrument mit Taille und Hüfte. Michael Sander war 13 Jahre alt, als er sich in einem Musikinstrumentenladen in Brandenburg in den Kontrabass verliebte. 18 O-Ton Sander In Frankfurt/Oder, da stand ein Bass. Den habe ich gesehen, angezupft. Und da hat es eine Reaktion ausgelöst. Die Frequenz, die Masse, die Kraft und auch die Schönheit. Autorin Seitdem hat er sich nur mit dem Bass beschäftigt. Er besucht ein Spezialgymnasium für Musik im Berliner Osten, studiert an zwei Hochschulen. Und momentan ist Michael Sander, 29 Jahre alt, Akademist in einem Opernorchester, eine Art Edelpraktikant, der wenig verdient, aber die Möglichkeit hat, zwei Jahre lang mit erstklassigen Musikern zu spielen. Nie wollte er etwas anderes, deshalb nennt er sich auch ?Edelkontrabass?, einer, der nie in den Urlaub fährt, weil nach zwei Wochen schon die Feinmotorik nachlässt. 19 O-Ton Sander Denn wenn Sie das nicht sehr ernst nehmen, dann lassen Sie es lieber sein. Das empfehle ich jedem, der Kontrabass spielen will oder Musik überhaupt. Weil der Markt, der ist so hart. Autorin Der Druck auf die jungen Musiker ist so groß, dass ein kleines Beratungsbusiness entstanden ist: Es gibt Yoga-Kurse an Musikhochschulen, Coachingwochen, Mentaltrainer und Psychologen, die sich ganz auf Musiker spezialisiert haben. An diesem morgen auf den Fluren des Konzerthauses haben die Bassisten ihre Instrumente beäugt wie Rennfahrer ihre Autos. Michael Sander hört auch durch die Türen, wie die anderen in ihren Stimmzimmern spielen. Auch Konrad Reber hat er schon durch die Tür gehört und einen anderen, einen mit dunklem Lockenkopf. Ein Chilene. Krafttöne hat der gespielt. 20 O-Ton Sander Man hat gute Ohren. Ich höre alles, ich höre, was jemand fünf Räume weiter spielt. Man darf sich davon nicht irritieren lassen. Wenn jemand eine Phrase spielt, die ich auch spiele und der spielt das viel schöner: Mensch, warum bist du da nicht selbst darauf gekommen! Davon darf man sich nicht beeindrucken lassen. Bis man dahin kommt, das dauert lange. Ich kann das nicht, bis heute. Autorin 15 Probespiele hat Sander in den vergangenen zwölf Monaten mitgemacht. Jetzt will er endlich eine Stelle gewinnen. Er sagt tatsächlich: gewinnen. Wie bei einem Wettkampf. Oder einer Lotterie. Wie bei einem Spiel, auf dessen Ausgang man selbst kaum mehr Einfluss hat. 21 O-Ton Sander Das Probespiel ist ein klassisches Konzert, ein romantisches Konzert, und das entscheidet aber über ihr Leben. Wenn man das nicht so sieht, ist man kein professioneller Musiker. Dass diese 5 Minuten, diese 10 Minuten ihre Nervenstärke, ihre Tagesform, ihre Vorbereitung, diese Sachen entscheiden also darüber, wenn man den Beruf machen will. Autorin Er ist bald dran und braucht jetzt Ruhe. Atmo 16 Tür schließt / leises Spielen 13 Uhr. Nach drei Stunden ist die erste Runde im Vorspiel um die Kontrabassstelle Tutti im Berliner Konzerthausorchester vorbei. Während die Jury stimmt abstimmt, bleiben die Türen zum Saal von innen verschlossen. Die Kandidaten sammeln sich im Foyer wie eine Schulklasse vor der Zeugnisvergabe. Die zierliche Japanerin klemmt sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Konrad Reber, der junge Vater, schaut zu Boden. Nhassim Gazale, der Chilene mit Lockenkopf, lehnt an der Wand. Und Michael Sanders Blick sucht Halt an einer Deckenlampe. Atmo 17: Tür öffnet Ernst-Martin Schmidt, der Orchestervorstand, tritt als erster aus der Tür. 22 O-Ton Schmidt Liebe Kandidaten, die Orchestermusiker haben sich jetzt entschieden, wen sie in der zweiten Runde hören möchten. Allen anderen möchte ich sehr herzlich danken und alles Gute wünschen. Für die nächste Runde sind: die Kandidaten Nummer 2, 5, 8, 9 und 11. Autorin Michael Sander hört seine Nummer. Konrad Reber hatte eigentlich ein gutes Gefühl. Es hat ihn getäuscht. Der junge Vater aus Sachsen wartet vergeblich. Atmo 18: Dittersdorf (Leise!) Am Tag darauf spielen die sechs Kandidaten hinter einem blassblauen Vorhang aus Ballonseide, der traurig in der Mitte durchhängt. Sie haben wieder Nummern anstatt Namen. Das ganze Orchester hört zu. Die Jury tagt und ist sich wieder nicht einig. Atmo 19: Bottesini leise! Noch eine Runde. Jetzt sind es nur noch zwei Kandidaten: Michael Sander und Nhassim Gazale, der Chilene, den vorher niemand auf der Rechnung hatte. Mit einem romantischen Stück nach Wahl sollen sie Persönlichkeit zeigen. Der Vorhang wird abgebaut und gibt den Blick frei auf Michael Sander. Er hat den Bottesini vorbereitet, ein herzzerreißend dramatisches Stück in h-Moll. Als er fertig ist, blickt er in die Gesichter im Saal, greift sein Instrument an der Taille und verlässt zügig den Raum. Atmo 20: Schritte BLENDE in Koussevitzky (Leise!) Der zweite Mann ist kaum größer als sein Instrument. Er sitzt nicht, er steht. Es ist der Chilene. Wie er den Bass von hinten umfasst, wirkt es wieder, als wiege er eine Frau mit beeindruckender Taille in seinen Armen. Sein krauses Haar wippt, bis er den letzten Ton spielt. Atmo 21: Kantine In der Kantine wartet Nhassim Gazale, der Chilene mit den schwarzen Locken, auf das Ergebnis. Er ist zwar erleichtert, aber auch nervös. Er spielt mit seinen Fingern, als er erzählt, wie er überhaupt zum Kontrabass kam. 23 O-Ton Nhassim 4:30 Es war eine Jugendorchester in Curanilahue, eine kleine Stadt in Chile, sehr arm. Es hat diese Jugendorchesterbewegung angefangen wie in Venezuela. Meine Gruppe war da, sie haben Cello gespielt. Ich wollte auch. Ich komme rein in das Orchester, und es war nur ein einziger Platz für Cello. Sie haben unsere Hände angesehen und zu meine Hände gesagt: du spielst Kontrabass. Autorin Nhassim Gazale lacht wie ein Junge, dem ein Streich geglückt ist, als würde er selbst nicht glauben, dass er heute hier sitzt und bis in die letzte Runde eines Probespiels gekommen ist. In einem Orchester in Deutschland, dem Sehnsuchtsland vieler junger Musiker von überall her. Hier gibt es allein 133 staatlich finanzierte Orchester, ein Viertel aller Kulturorchester der Welt. Weil Nhassim Gazale als 13-Jähriger große Hände hatte, gaben ihm die Lehrer damals den Kontrabass. Und er war gut, es machte ihm Spaß ? bis er mit 20 in ein chilenisches Symphonieorchester kam. 24 O-Ton Nhassim Gazale Ich war sehr demotiviert, ich wollte nicht mehr spielen, das Orchester war so schlecht. Das war der Grund, ich habe aufgehört, dann habe ich Zahnmedizin studiert fünf Jahre. Die praktische Sache, das Zähne wegmachen oder Anästhesie, das war cool, ein bisschen Freak, ich weiß. (lacht) Autorin Zahnmedizin also. Aber der Zahnmedizin-Professor lässt Gazale durch die letzte Prüfung fallen. Er kehrt zurück zu seinem Instrument und beschließt, zusammen mit ihm auszuwandern. Vor zwei Jahren ist er nach Berlin gekommen, um an einer Musikhochschule zu studieren. Heute ist er 27 Jahre. Das Probespiel heute ist sein allererstes gewesen. Vielleicht erklärt das seine Leichtigkeit: während sich andere wie Michael Sander jahrelang die Finger wund übten, zog Nhassim Gazale in Chile Zähne und sah sein Instrument nur aus der Ferne. Atmo 22: Lautsprecher: Die Kandidaten bitte ins Foyer. Gazale muss zurück ins Foyer vor den Konzertsaal, wo Michael Sander hin und her läuft und sich die Unterarme reibt. Verstohlen kreuzen sich ihre Blicke. Atmo 23: Tür (liegt unter O-Ton 25) Das Orchester hat entschieden, die Stimmen sind ausgezählt. 25 O-Ton Schmidt Bei einer Tutti-Stelle reicht die einfache Mehrheit plus eins aus, dass der Kandidat angenommen ist. Autorin Ernst-Martin Schmidt, der Orchestervorstand, streckt seine Hand aus: Richtung Nhassim Gazale. Sein Arm schnellt nach vorne. Michael Sander lässt seine Arme fallen wie ein Boxer nach einem Wettkampf. Der Chilene begrüßt nacheinander seine neue Kollegen, und schon sprechen sie über die erste Sinfonie, die er mit ihnen in einem Monat spielen wird, Beethovens sechste. Da verabschiedet sich Michael Sander für einen langen Spaziergang. 26 O-Ton Sander Hier die Kollegen sagen, das ist sauber, solide. Das ist absolut das, was wir brauchen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Daran glaube ich und ich ziehe die Sache durch. Es ist möglich, eine Stelle zu erspielen. Autorin Für den Rest des Tages wird er den Bass in seiner Kiste lassen. Ausnahmsweise. Atmo 24: Tür fällt zu. 4