Deutschlandfunk Gesichter Europas Samstag, 1. Mai 2010, 11.05 ? 12.00 Uhr Die Magie der Magyaren: Die ungarische Tanzhausbewegung zwischen Patriotismus und Retrokult Mit Reportagen von Jan-Uwe Stahr Moderation und Musikauswahl: Simonetta Dibbern Redaktion: Thilo Kößler Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Der Organisator des jährlichen Volkstanz-Festivals in Budapest über die Wiederbelebung einer alten Tradition : Die Tanzhaus-Bewegung ist aus einer echten Begeisterung entstanden, Ende der 70er-Jahre. Und sie kommt aus dem Herzen. Inzwischen sind auch die Kinder und sogar schon Enkel mit dabei, die diese Tradition weiterführen. Und Ferenc Sebö, der Vater der ungarischen Tanzhaus-Bewegung, über das Misstrauen der damaligen staatlichen Behörden: Und der war sehr provokativ und stellte mir die Fragen wie: "Warum sind nicht alle in Volkstracht?" Da sagte ich: "Genosse Aczél, wir sind keine Bauern-Nachahmungen hier, wir sind junge Leute aus der Stadt." Gesichter Europas: Die Magie der Magyaren: Die ungarische Tanzhaus-Bewegung zwischen Patriotismus und Retrokult. Mit Reportagen von Jan-Uwe Stahr. Am Mikrophon begrüßt Sie Simonetta Dibbern. Fast überall auf der Welt sind Tanz und Musik fester Bestandteil der Alltagskultur: Und dienen, neben Sprache und Dialekt, der Versicherung der eigenen kulturellen Identität, vor allem auf dem Land. Mit der Industrialisierung und dann mit der zunehmenden Kommerzialisierung des Musikmarktes sind viele lokale Musiktraditionen verschwunden. Und nur in wenigen Regionen Europas hat die ursprüngliche Volksmusik die Globalisierung überlebt. Dort vor allem, wo die kulturelle Identität ansonsten zu verschwinden drohte. In Ungarn etwa, einem historisch wie aktuell zerrissenen Land. Bereits in den 70er-Jahren entstand hier, als eine Art Gegenbewegung zur sozialistisch verordneten Einheitskultur, die Tanzhausbewegung. Im Tanchaz tanzen Jugendliche und Erwachsene zu den eigentümlichen und komplizierten Rhythmen alter ungarischer Volksmusik ? ein gesellschaftliches Ereignis, das überall stattfinden kann, wo ein paar Musiker und viele tanzlustige Menschen zusammenkommen. Zum Beispiel im Most. Eine der angesagten Szenekneipen in der Budapester Altstadt. Most, zu deutsch: jetzt. Das Publikum ist jung, zwischen Anfang 20 und Mitte 30, am Wochenende legen hier stadtbekannte Djs auf: Dancefloor, Salsa, Rock'n Roll. Und seit einigen Monaten eben auch: Tanzmusik. Alte Holztische und ?stühle, ausrangierte Schulmöbel zumeist, füllen den Kneipensaal. Auf den Tischen flackern Kerzen in alten Weinflaschen. Überspannt wird der hohe Raum von einem gläsernem Dach. Früher war hier eine Autowerkstatt - heute ist hier das "Most!". Noch gibt es viele freie Plätze. Aber allmählich füllt sich der Raum. Um neun Uhr beginnt, nebenan im Disko-Raum, das "Táncház" - der ungarische Volkstanz-Abend. Die Band ist schon da, stimmt ihre Instrumente. Und Zsuszanna Perlaki, die Chefin des "Most!", steht am Tresen, beobachtet das Geschehen. Vor einiger Zeit erst kam ihr die Idee mit dem Volkstanz-Angebot. Sie sei für alles sehr offen, sagt die 44jährige, streicht sich eine blonde Haarsträne hinters Ohr und steckt sich dann eine Zigarette an. Und da der Sonntagabend bisher meist ziemlich ruhig war, habe sie sich überlegt, es mal mit dem traditionellen "Táncház" zu probieren. So, wie es jetzt immer mehr Budapester Klubs und Kneipen anbieten. Es geht los: Die ersten Gäste erheben sich von den Kneipentischen, begeben sich nach nebenan in den schummrigen Disko-Raum: Bunte Strahler hängen dort unter der Decke, eine Seitenwand ist verspiegelt. Auf der kleinen Bühne, rechts neben einem abgedeckten DJ-Pult, stehen drei junge Männer in verwaschenen Jeans und schwarzen T-Shirts. Zwei streichen ihre Fideln, einer zupft den Kontrabass. In der Mitte der Tanzfläche dreht sich ein Paar ? die Tanzlehrer. Er: Ein dürrer Langer mit schütterem Haar und einem etwas zu kurzem Anzug. Sie: klein mit wehendem Faltenrock und wippendem Pferdeschwanz. Zehn andere Paare richten ihre Augen auf die beiden. Die Schrittfolge scheint simpel, doch der Rhythmus ist ungewohnt. Die Frau soll sich drehen, der Mann springt um sie herum, schlägt sich dabei auf Schenkel und Schuh. Zsuszanna Perlaki, die Chefin des "Most" wirft einen kurzen Blick auf das Schenkelklopfen. Bis vor kurzem gab es hier neben Disko, Techno und Dance-Floor nur argentinischen Tango. Und jetzt also: Ungarisches Táncház mit altertümlicher Volksmusik. Doch irgendwie gefällt ihr das Dieser Rhythmus, dieses Schwingende, das sei schon sehr ungarisch, sagt Zsuszanna und verschwindet wieder Richtung Tresen. Das "Táncház"-Karussel nimmt an Fahrt auf. Eine dritte Geige ist jetzt dabei und immer mehr junge Kneipengäste drängen in den Disko-Raum - langsam wird es eng. Jetzt wirbeln auch fortgeschrittene Tänzerinnen und Tänzer über den Holzfußboden. Immer schneller drehen sich die Mädchen, immer wilder springen, stampfen und klatschen die Jungs ? "Balz-Rituale" auf alt-ungarisch. Magyaren in ihrem Element ? so scheint es. Die Begeisterung ist echt. Der Tanzsaal ist brechend voll, die Kneipe auch. Die allgegenwärtige Wirtschaftskrise und Existenzangst, die absurde Politik ? die Ungarns Gesellschaft so gespalten hat wie kaum eine andere in Europa ? hier scheint alles wie weggeblasen. Von der alten Volksmusik. Pause! Zeit zum Durstlöschen. Zsuszanna Perlaki, die Chefin des "Most" steht am Tresen, zapft Bier, raucht und lächelt. Ihre Idee, mit dem "Táncház"- das Sonntags-Geschäft zu beleben, scheint zu zünden. Eine Volks-Musik-Band zu bekommen sei zum Glück überhaupt kein Problem. Es gäbe so viele inzwischen. Kovacs Marton und Band nennt sich die vierköpfige Kapelle des heutigen Abends. Die Musiker sind Mitte bis Ende zwanzig, Studenten an der Ferenc Liszt Musikhochschule in Budapest. "Wir verdienen uns mit dem Tánc-Ház etwas Geld zum Lebensunterhalt", sagt Marton Kovacs. Aber es gehe nicht allein ums Geld: Wir wünschen uns, dass es zur neuen Mode wird. Wir waren auch schon in einer Rockmusik-Kneipe, wo mehrere hundert Leute an dem Abend zu Disko-Musik tanzten. Und dort haben wir uns einfach ins Büfet gesetzt und dann unsere Volksmusik gespielt ? und auch dort kam sie sehr gut an. Was wir hier machen ist eigentlich nicht neu ? das Tanzhaus gibt es schon eine Weile. ... Aber dass jetzt die jungen Leute daran Gefallen finden, daran arbeiten wir. Das Interesse an der ungarischen Volksmusik wächst wieder, glaubt auch Zsuszana Perlaki. In den letzten zehn Jahren war das nicht so, da gingen vor allem die internationalen Musiktrends. Die Chefin der Pester-Szene-Kneipe schaut auf die Uhr. Es ist schon halb elf. Und noch immer ist ihr Laden voll ? nicht schlecht für einen Sonntagabend. Dass die ungarische Volksmusik bis heute so lebendig ist ? und dass ihr der Sprung vom Land in die Stadt gelang: das ist, neben den Musikern, vor allem zwei Komponisten zu verdanken: Bela Bartok und Zoltan Kodaly. Anfang des 20. Jahrhunderts sind sie durch die osteuropäische Provinz gezogen, um die Musik der ländlichen Bevölkerung zu erforschen. Die Rhythmen und die Melodien der bulgarischen, rumänischen und eben auch ungarischen Volkstänze haben sie in eigenen Kompositionen verarbeitet ? doch die Quellen ihrer Inspirationen konnten sie nicht hoch genug schätzen, vor allem Bela Bartok. "Unter Bauernmusik im engeren Sinne des Wortes verstehen wir die Gesamtheit all jener Bauernmelodien, welche zu einem oder mehreren einheitlichen Stilen gehören. Also ist Bauernmusik im engeren Sinne das Resultat der Umgestaltungsarbeit einer unbewusst wirkenden Naturkraft, die triebhafte Schöpfung einer von jeder Gelehrsamkeit freien Menschenmasse, eine ebensolche Naturerscheinung wie zum Beispiel die verschiedensten Formen des Tier- und Pflanzenreiches. Deshalb sind ihre Individuen ? die einzelnen Melodien ? Beispiele der höchsten künstlerischen Vollkommenheit. In kleinen Proportionen sind sie genauso vollkommen wie die groß angelegten Meisterwerke. Sie sind wahrlich klassische Beispiele dafür, wie man in der knappesten Form mit bescheidensten Mitteln einen musikalischen Gedanken in seiner ganzen Frische, wohlproportioniert, mit einem Wort: auf möglichst vollkommene Art ausdrücken kann." Die Recherchen der Volksmusikforscher Bartok und Kodaly befinden sich heute in einem neoklassizistischen Prunkgebäude im Budapester Stadtteil Buda. "Budai Vigado" steht über der Säulenfassade, zu deutsch: "Budaer Veranstaltungshaus". Gebaut zu Zeiten der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, als Vergnügungs-Tempel für Adel und gehobenes Bürgertum, mit Ballsälen und Kartenspiel-Salons, und - natürlich ? mit einem Kaffeehaus. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Villa verstaatlicht ? seitdem ist im Budai Vigado das "Haus der Traditionen" untergebracht: das Archiv der ungarischen Volksmusik. Der heutige Direktor ist Ferenc Sebö. Einer der Väter der modernen Tanzhausbewegung. Das ist ein spezielles Archiv für Tanz und Musik, das Ganze entstand von György Martin, dem Tanzforscher ... bitte. Ferenc Sebö betritt einen schmalen, kleinen Saal. Das Licht ist dämmrig. Es riecht nach Eichenholz und alten Büchern. Bläuliches Licht dringt aus der hinteren Ecke des Raumes. Zwei junge Frauen sitzen vor Computer-Monitoren, arbeiten. In aller Stille. Ferenc Sebö nickt ihnen freundlich zu... und zeigt dann auf die hohen, prallgefüllten Holzregale. Das sind viele Bücher. Natürlich sind CDs hier und Schallplatten und Tonbänder, aber das wird alles digitalisiert, und das kann man auch schon über die Webseite alles bekommen. Der 63jährige Archiv-Leiter schiebt beide Hände in die Taschen seines dunkelgrünen Cordjackets. Streckt das Rückgrat durch. Lässt den Blick durch den Raum wandern. Sein graublondes, halblanges Haar lockt sich luftig um das fröhliche Gesicht. Das ungarische Volksmusik-Erbe - es lebt. Und er Ferenc Sebö, gelernter Architekt und Musiker - hat es wieder zum Leben erweckt. Angefangen hatte alles vor über 40 Jahren in einem Sommerlager. Wo Sebö und sein Freund Béla Hamos mit anderen Studenten aus den "sozialistischen Bruderländern" zusammentrafen. Dort waren auch deutsche Studenten und Polen, Bulgaren, Serben und wir saßen zusammen am Feuer ? und alle sangen was. Da haben wir gestaunt, mit Bela, dass auch die deutschen, auch die Serben, auch die Polen alle sangen eigene Volkslieder und nur wir beide saßen dort wie die Stummen und guckten uns an. ... also wir haben uns geschämt. Zumal sich mit Gitarre und Folksongs am Lagerfeuer auch die Mädchen gut beeindrucken ließen. Sebö lächelt versonnen ... und dann war es uns eine Aufgabe ? Bela, das geht nicht weiter, gucken wir in einem Haus nach den Noten, und dann haben wir uns interessiert für die ungarische Folklore. Noten für traditionelle Musik der Bauern waren schnell besorgt. Doch dann folgt die Erkenntnis: Die alten ungarischen Lieder unterscheiden sich ganz erheblich von den Volksliedern der anderen Europäer: Die bauen auf Harmonien: di, di, di, da, da, da. Tonica domina, subdomina ? die Melodie kommt von Harmonien, das lässt sich einfach auf der Gitarre begleiten. Aber die alten Lieder: De dididi, dedi, hedidei - Also das war schwierig. Da haben wir entdeckt: Aha, hier gibt es etwas anderes, als was man im Allgemeinen kennt ? eine ältere Mode. Musik wie aus dem Mittelalter. Die eigentlich kaum einer spielen konnte im Ungarn der siebziger Jahre. Allenfalls im Theater wurden diese alten Lieder und die dazugehörigen Tänze vorgetragen ? allerdings nicht in ihrer ursprünglichen Form. Ferenc Sebö verzieht den Mund: Das war ein bisschen ideologisiert, dass die Arbeiter-Kultur und Arbeiter und Bauern-Verbindungen ? also die derzeitige Ideologie musste zeigen, dass unser Volk hat eine große Energie und baut Sozialismus und immer lacht und tanzt. Nur ein paar Wissenschaftler kannten noch die authentische Musik. Einer von ihnen war der Tanz- und Musikforscher György Martin. Auf ihn stießen die beiden jungen Studenten Sebö und sein Hamos bei ihrer privaten Volksmusik-Recherche. Und dann hat er sich gefreut und uns Aufnahmen gezeigt und: habt ihr so was gehört? - Nein! Das haben wir nicht gehört! - Na und das? Wir waren ganz erstaunt und sagten: Na, geben Sie das uns? Und er: Na ja, nein! Ich gebe welche, aber ihr sollt dahin fahren. Der Wissenschaftler übergab den beiden Studenten ein Tonbandgerät und schickte sie ins rumänische Transsilvanien. Bis 1920 hatte dieses Gebiet zu Ungarn gehört. Und noch immer lebten dort viele ungarische Dorfgemeinschaften, die ihre Jahrhunderte alte Musik und die Tänze pflegten. Und ein Kulturgut bewahrt hatten, das im heutigen Ungarn längst ausgestorben war. Sebö und sein Freund Hamos fuhren also nach Rumänien, dokumentierten und lernten dort alte ungarische Musik und Tänze. Wurden so zu einer Art Kultur-Spionen, die den Argwohn der Grenzer erweckten. Sebö erinnert sich noch an ihre Worte: "Warum haben Sie eine Violine mit? - Ja, wir sind Musiker! - Das kann jeder sagen, na dann zeigen sie was." Und das war interessant: Wir haben dann, das war auf ungarischer Seite, wo die Offiziere, die waren alle aus Mekery, aus diesem Dorf, wo wir die Musik sehr gut kannten, und dann haben wir angefangen Mekery-Musik zu spielen. Und in dem Moment ? das war wie Orpheus ? diese Wildtiere waren sehr schöne Kinder geworden ? die haben angefangen zu tanzen. Die alte Musik ? sie wirkte wie eine Magie. Die beiden Studenten waren fasziniert. Zuhause in Budapest wurden sie dann eingeladen, ihr neu erworbenes Wissen in einem der öffentlichen Kulturhäuser zu präsentieren. Ja, und ich spekulierte: machen wir ein Konzert, machen wir zwei ? na und was machen wir? Fünfmal! Auch mitten in der Hauptstadt entfalteten die eigentümlichen uralten Melodien ihre magische Wirkung. Aber das Publikum wollte nicht nur zuhören, es wollte auch tanzen. Und da sagte ich: es wäre gut, wenn wir einen Klub machen, wo die Leute auch was machen. Der Kassak-Klub war geboren - eine private Initiative von Musikern und Tänzern, benannt nach dem ungarischen Dichter Lajos Kassak. Auch eigene Songs steuerte der Volksmusik-Enthusiast Sebö zum Programm bei: Die Texte von zeitgenössischen ungarischen Dichtern, die Melodien von Bauern aus Transsilvanien. Schnell entwickelte sich der Kassak-Klub zum angesagten Treffpunkt junger Budapester. Ein neuer, selbstgeschaffener Freiraum für junge Intellektuelle. Auch eine Protestkultur, anders jedoch als die der politisierten 68er im Westen. Seitenverkehrt sozusagen. Sebö lächelt verschmitzt Überall hat man uns gezwungen: Ihr sollt euch mit Politik beschäftigen und über Vietnam sprechen und über alles. Und wir haben uns ausgeschaltet ? das war Politik. Es dauerte nicht lange, da erregte diese junge tanzende Aussteiger-Szene auch die Aufmerksamkeit der ungarischen Staatsmacht. Was machen die dort? Warum sprechen sie über Transsilvanien? Sind sie etwa Nationalisten? usw. Oder: warum spielen sie rumänische Musik? Also: Von allen Seiten kam die Kritik. Sogar Geheimdienst-Berichte wurden über die neue musikalische Untergrund-Bewegung angefertigt, wie sich später herausstellte. Auf einmal kamen Gerüchte auf: Bei den folkloristischen Tanzveranstaltungen werde nicht nur getanzt und über alte Zeiten in Ungarn geredet. Sondern auch "Unzucht getrieben" ? mit Minderjährigen Die Kinder hat man eingerufen zur Polizei und die Eltern waren ganz geschockt. Was ist? Warum soll mein Kind zur Polizei, was geschieht dort? Und dann habe ich gefragt, was soll das? Und so habe ich es gehört, dass jemand das gemeldet hat. Doch Sebö lässt sich nicht einschüchtern. Bis zum obersten Kultur-Funktionär des kommunistischen Apparates dringt der Hobby-Musiker vor, um die Sache aufzuklären. Fordert ihn frech auf, sich doch selbst ein Bild zu machen vom angeblich so verruchten Tanz-Klub. Tatsächlich kommt der Kultur-Chef persönlich vorbei im Kassak-Klub Und er war ganz überrascht, alles war hell dort und es gibt keine sexuellen Möglichkeiten. Aber er war sehr provokativ und stellte mir Fragen wie: "Warum sind nicht alle in Volkstracht?". Da sagte ich: Genosse Arczél, wir sind keine Bauern-Nachahmungen hier, wir sind junge Leute aus der Stadt. Die tanzen nur diese Tänze, weil die schön sind. Das sind normale, moderne Leute. Wissen Sie mit welchem Tanz dieser Tanz verwandt ist? Mit Rock-and-Roll! Das ist dieselbe Familie, dieser Tanz!" Von nun an lässt man die Volkstänzer gewähren. Das kommunistische Ungarn setzt auf eine vorsichtige Liberalisierung. Der Rock-and-Roll aus den karpatischen Dörfern ist nicht mehr zu stoppen. Die Tanzhausbewegung war geboren. Jetzt kann man das nicht mehr kontrollieren, ob jemand das organisiert oder nicht. Aber sehr viele wissen Tänze, sehr, sehr viele ? hundertTausende. Und das gab es früher nicht. Selbst die Bauern waren nicht so viele! Die jungen und romantischen Intellektuellen, die die Tanzhaus-Bewegung in den 70er-Jahren ins Leben riefen, liebten nicht nur alte Volksmusik und alte Volkstänze. Sie verehrten auch die ungarische Poesie. Allen voran den Dichter Jószef Attila, den Romantiker unter den ungarischen Poeten: "Seine Reime, Vokale und Konsonanten drehen sich im Rhythmus einer Musik", schreibt der Budapester Germanist Wilhelm Droste. Er hat viele Gedichte von Jószef Attila ins Deutsche übersetzt ? so auch dieses aus dem Jahre 1925. Schreitet die Liebste hinaus auf den Platz, dann setzt sich die Taube dicht zu dem Spatz. Tritt ihr Fuß auf den Bordstein, fest und fein Umstrahlt die Fessel ein dämmernder Schein. Zieht ihre Schulter leicht hinauf, Stutzt ein Junge, bewundert ihren Lauf Schon brennen die Lichter ? es gleitet ihr Schritt staunende Blicke genießen ihn mit. Ich lache bloß, denn keinen irritiert, dass sich mein Herz so ganz an sie verliert. All mein Verlangen hab ich ihr gegeben, sorgenvoll man könnte sie mir nehmen. Doch ihre Haltung hat mich still gemacht, den Neid in meinem Inneren abgeflacht. Da geht die Liebste schlank und unbeschwert, vom Winde befühlt der weiß um ihren Wert. Mit Volkstümelei hat die moderne Tanzhausbewegung in Ungarn nichts zu tun. Auch nicht mit der übertriebenen Heimatverbundenheit der neuen Rechten, die erst vor wenigen Wochen die Zweidrittel-Mehrheit im ungarischen Parlament gewann. Denn es waren oppositionelle Freigeister gewesen, die Anfang der 70er-Jahre im Tanchaz zusammenkamen. Um zu diskutieren und, eben auch: zu tanzen. Und auch wenn in den Tanzhäusern heute nur selten noch ein subversiver Wind weht, wissen viele junge Volksmusikfans doch genau zu unterscheiden, zwischen rechtspopulärem Gedankengut und einer echten Liebe zu den eigenen kulturellen Wurzeln Die Dichterin und Roman-Autorin Judit Agnes Kiss zum Beispiel. Sie ist mit der Tanzhaus-Bewegung groß geworden: ihre Eltern haben sie schon als Dreijährige mitgenommen in den legendären Kassak-Klub. Und sie ist, nach vielen Jahren im Ausland, zurückgekehrt an den Ort ihrer Kindheit: in die Szövetség utca ? zu deutsch "Bündnis-Straße". Eine der engen Gassen inmitten des Siebten Bezirkes, in der Altstadt von Pest. Die Fassaden der Häuser sind verwittert und bröckeln. Und doch hat diese Gegend einen besonderen Charme, viele junge Künstler leben hier. Und eben auch die Schriftstellerin, die alle nur Juca nennen. Juca bittet den Besuch in ihre Wohnung. Anderthalb Zimmer teilt sich die 31jährige Dichterin mit ihrem Freund David, einem Medizin-Physiker. Im kleinen Wohnzimmer drängen sich ein paar alte Sessel und ein kleiner Tisch zwischen Bücher-Regalen einem Klavier und einem Schreibsekretär mit einem tragbaren Computer- "mein Arbeitsplatz", sagt Juca. "Und hier ist mein Lieblingsplatz". Sie öffnet die Tür zu einem Balkon. Ihre hellblaue Augen strahlen, ein kleiner Windstoß pustet durch ihren feuerroten Haarschopf. Der Blick geht in einen geräumigen Hinterhof mit alten Bäumen. Und über die Dächer. In der Ferne ragt ein Kirchturm in den Himmel. Hier leben Chinesen, Araber, Juden - Russen natürlich auch. Außerdem gibt es noch eine kleine bürgerliche Gesellschaftsschicht von der Zeit vor dem Krieg. Und wenn man lange irgendwo lebt, lernt man die Gegend lieben und die Leute kennen, in den Läden oder in der Stammkonditorei. Das Viertel ist voller Geschichte und Geschichten. Ein guter Ort für Dichter. "Gedichte habe ich eigentlich schon immer gerne geschrieben" sagt Juca und geht zurück in ihr kleines Wohn- und Arbeitszimmer. Auf ihrem Schreibtischchen liegt eine Oboe. Auch Musik gehörte schon immer zu ihrem Leben. Musik hat sie studiert und Literatur. Nach dem Studium begann sie als Lehrerin zu arbeiten. Bis vor drei Jahren, war sie an einem katholischen Gymnasium, dann flog sie dort raus. Wegen eines Gedichtes, das Juca gerade in einem ersten Gedichtband veröffentlicht hatte. Die Schulleitung fand es anstößig, Juca lacht. Um es genau zu sagen, das Wort "Schwanz" war zuviel für sie. Aber sonst hätten sie einen anderen Vorwand gesucht, denn ich war schon eine Weile nicht mehr gern gesehen dort. Die Pädagogik, die ich für gut halte, wurde dort nicht akzeptiert, das heißt einen engen Kontakt zu den Schülern halten und demokratisch zu unterrichten. Ihr Streben nach einem demokratischen und offenen Miteinander ? brachte die junge Lehrerin in Schwierigkeiten. Wie früher auch schon ihre Eltern. Auch sie waren Lehrer. Und sie gehörten, damals in den 70er-Jahren, als sie ungefähr so alt waren wie jetzt Juca, der Oppositionsbewegung an. Einer Bewegung, die für mehr Demokratie war und die sich für die ungarische Volkskunst interessierte. Jucas Eltern trafen sich mit Gleichgesinnten in einem speziellen Budapester Klub, zum Tanzen und zum diskutieren. Juca kann sich daran noch gut erinnern, denn sie wurde dort mit hingenommen, schon als kleines Kind. Auch nach Rumänien, wo ihre Eltern Kontakte zu der ungarischen Minderheit knüpften. Juca bekam mit, dass das besondere Interesse ihrer Eltern für die ungarischen Geschichte und Kultur irgendwie gefährlich war. Ja, das war unser Alltag. Mit dieser Bedrohung sind wir aufgewachsen. Unsere Eltern waren wegen ihrer politischen Aktivitäten immer in einer latenten Gefahr, das Telefon wurde abgehört. Das war für uns Kinder irgendwann ganz normal. Aber bedrückend blieb es trotzdem. Wir wussten, dass unsere Eltern Probleme bekommen würden, wenn wir in der Schule etwas Falsches sagen würden. Doch die Eltern ließen sich die Liebe für das eigene Land und seine Kultur nicht nehmen. "Das hat mich für mein Leben geprägt", sagt Juca. Und knipst ihren kleinen tragbaren Computer an. Auf dem Monitor erscheint eine grüne Fläche, darauf abgebildet sind eine Schreibfeder, eine Brille und ein Gedicht. "Hier steht alles drin was ich gerne mache" Juca tippt mit dem Zeigefinger auf das kleine Gedicht. "Ich lerne, ich tanze, ich mache Musik und ich dichte". Nachdem sie als Lehrerin von der Schule geflogen war, ging sie für ein Jahr nach Deutschland, nach Dresden, wo ihr Freund David studierte. Juca lernte Deutsch, bewarb sich dann mit einer Roman-Idee bei einer Ausschreibung, bekam einen Preis, fand daraufhin ein staatliches ungarisches Kreditinstitut als Sponsor. Das war ihr Durchbruch. Nun kann sie mit Dichten und Schreiben auch ihren Lebensunterhalt bestreiten. In Ungarn. Ihrem Heimatland, mit dessen Kultur sie sich von kleinauf so verbunden fühlt. Und das jetzt so viele im Stich lassen, wie Juca findet. Denn immer mehr ihrer Altersgenossen träumen vom Auswandern, nach Kanada oder nach Australien. Weil sie genug haben, von der anhaltenden Wirtschaftskrise oder von der geistigen Enge: Das macht mich sauer, diese Einstellung, dass man alles machen kann, wenn man Geld hat. Und dass, wer nur begabt genug ist, sich aus dem Staub machen sollte. ...Natürlich ist dieser Fluchtzwang verständlich, denn es ist heutzutage nicht sehr angenehm, in Ungarn zu leben. Andererseits ist es traurig, wenn die junge Intelligenz das Land verlässt, denn dann wird es für diejenigen, die hierbleiben, nur noch schlimmer. Natürlich stört auch Juca eine ganze Menge am heutigen Ungarn. An der Politik, an der Korruption, der allgemeinen Rücksichtslosigkeit. Und es stört sie, dass ihre Liebe zur eigenen Kultur und zur Heimat, mit der sie als Kind in der ungarischen Demokratie-Bewegung aufgewachsen ist, heute so polarisiert. Ja, genau das ist mein Problem. Wenn ich sage, ich liebe meine Heimat, dann finden viele das lächerlich, pathetisch und peinlich. Die liberal Denkenden. Und manche meinen sogar, ich möchte alle ausrotten, die nicht hierher gehören. Auf die Nazi-Methode. Patriotismus, ärgert sich Juca, bedeute doch nicht, dass man gegen Minderheiten und alles Fremde ist ? so wie es die rechtsextremen Nationalisten jetzt tun, die in Ungarn so starken Zulauf haben. Man könne doch sein eigenes Land, seine Sprache und Musik lieben und sich trotzdem für andere Kulturen interessieren. Juca zeigt auf ihren kleinen Computer: Ich stehe im e-mail- Kontakt mit jemanden aus Uruguay. Er hat sich in die ungarische Musik verliebt und irgendwann meinen ungarischen Namen auf Facebook gesehen und mir geschrieben. Jetzt mailen wir uns regelmäßig ? auf Ungarisch. Und ich freue mich sehr darüber, dass unsere Sprache, unsere Kultur, die ich so sehr liebe, auch am anderen Ende der Welt Menschen fasziniert. Die ungarische Sprache ist ? neben der traditionellen Volksmusik ? ein ganz besonderes Kulturgut im europäischen Raum: Sie ist das Mitbringsel der Magyaren, einem Volksstamm aus Mittelasien, der sich vor mehr als tausend Jahren im Karpatenbecken niederließ. Und so ist das Ungarische weder mit romanischen, noch mit slawischen oder indogermanischen Sprachen verwandt ? nur mit Finnisch und Estnisch gibt es entfernte Ähnlichkeiten. Der Dichter Jószef Attila hat nicht nur auf ungarisch geschrieben ? er hat auch philosophisch-poetische Betrachtungen über seine Muttersprache angestellt: "Die Geschmacksnerven unserer Sprache sind gut ausgereift. Aus dem ungarischen Wort ist ein feines Instrument geworden, eine leise beschleunigende Maschine, mit der ein technisch beschlagener Geist leicht seine Begriffe zu formen versteht. Doch auch die trüben Landschaften der Seele vermag die Inspiration unserer Dichter leicht und sensibel aus ihren Versenkungen hervorzuheben. Wir können mit unserer Sprache das wirbelnde Geräusch steinschneidender Motoren, aber auch die leiseste Regung einer Hand voll Stroh im letzten Winkel eines Bauernhofes einfangen. Mit einem Wort: Unsere Sprache ist archaisch und modern, mit Wäldern, Feldern und Städten gut vertraut, asiatisch und europäisch." Die ungarische Kultur speist sich aus viele Quellen: auch die Roma haben ihren Teil dazu beigetragen. Als virtuose Musikanten wurden die Cigány auf den ungarischen Dörfern angeheuert für Feste aller Art. Und die Geiger, Gitarristen und Akkordeonspieler waren umso erfolgreicher, je mehr sie sich dem Musikgeschmack der jeweiligen Region anpassten. Manch ein Musikforscher wusste daher gar nicht mehr zu unterscheiden zwischen ungarischer Melodik und Zigeunermelodie. Und ebenso wie die Roma-Minderheit von der ungarischen Mehrheitsgesellschaft bis heute ausgegrenzt und marginalisiert wird, haben die Ungarn sich für die Musik der Roma lange kaum interessiert. Und die Cigány wiederum behielten sich ihre eigene Musik und ihre eigenen Tänze für ihre eigene Festen vor. Erst seit einiger Zeit gibt es erste Annäherungsversuche zwischen jungen Roma und jungen Ungarn: auf der Tanzfläche. Doch der Flirt zwischen den Kulturen will geübt werden. Zum Beispiel in einer Tanzschule. In einer dunklen Seitengasse in der Nähe des Budapester Westbahnhofs: Im Keller des Hauses in der Leo-Weiner-Straße Nummer 6 befindet sich so eine kleine private Tanzschule. Im Angebot sind Samba, Bauchtanz, orientalischer und ? ungarischer Zigeuner-Tanz. Ein kleines Grüppchen steht vor einem unscheinbaren Kellereingang der kleinen Tanzschule, wartet und raucht. Noch probt dort unten die Bauchtanz-Gruppe. Es ist schon kurz vor 19 Uhr und langsam müssten sie rauskommen, Platz machen für die zehn Frauen und drei Männer, die sich hier in Volkstanz üben wollen ? genauer gesagt: in ungarischen Zigeuner-Tanz. "Ein ziemlich ungewöhnliches Hobby für uns Nicht-Roma", sagt Orsi und nimmt einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. Ein anstrengender Arbeitstag liegt hinter der 38jährigen Büro-Angestellten. Ihre schwarzen Augen blicken ein wenig müde hinter den Brillengläsern. Doch jetzt freut sich die alleinstehende Budapesterin auf das Abschalten in der fremden Tanz-Welt. Ich war vor drei Jahren mit meinen Freunden in einem Budapester Gartenlokal, wo eine Zigeuner-Band aufgetreten ist, die "Szilvássy Gypsie-Band". Die Musik hat mir sehr gefallen und viele haben dazu auch getanzt. Einige so, wie man eben so tanzt auf Parties, aber es gab auch Leute, bei denen man sehen konnte, dass sie den Tanz kennen. Die habe ich gefragt, wo sie es gelernt haben. Sie haben mir von diesen Kursen erzählt ? und ich habe mich sofort angemeldet. "Grüß Euch" sagt die grazile Schönheit, die mit federleichten Schritt die Gasse herunterkommt. Katesz Baló, 32 Jahre jung, ungarische Roma und Tanzlehrerin. Mitgebracht hat Katesz drei jüngere Schwestern und ihren dreizehnjährigen Sohn. Sie nehmen ihre Tanz-Gruppe mit hinab in den Keller. Während ihre Schülerinnen im Umkleideraum in ihre mitgebrachten bunten Röcke und Tanzschuhe schlüpfen, packt Tanzlehrerin Katesz ihre Musik-CDs aus, legt sie auf eine kleine Stereoanlage, die an der Spiegelwand auf dem Fußboden steht, stellt noch eine Dose Bier daneben. Und steckt sich die Fernbedienung in den Bund ihres lila-roten Rockes. Schon seit sie 15 Jahre alt ist, unterrichte sie Tanz, sagt Katesz Baló, und vor sechs Jahren habe sie die Idee gehabt Tanzkurse auch für Nicht-Roma anzubieten: Ich habe zwei Ziele: Einerseits möchte ich den Leuten, die sich dafür interessieren unsere Kultur näherbringen. Und andererseits ist es für mich natürlich eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Ihre Schüler seien überwiegend Frauen. Sie kämen aus den unterschiedlichsten Berufen, seien Buchhalter, Mathematiker, Informatiker, Marketingfachleute. Aber auch professionelle Tänzer seien dabei. Sie selber kommt aus einer ostungarischen Musikerfamilie. In unserem Dorf, wo auch diese Tänze herkommen, gibt es noch eine lebendige Kultur und Tradition. Jedes Jahr im Sommer veranstalten wir dort in Nagyecsed für 4-5 Tage ein Ferienlager für die Tanzschüler. Die Schülerinnen und Schüler sind fertig mit Umkleiden. Stellen sich mit den Gesichtern Richtung Spiegel auf. Katesz zieht die Fernbedienung aus dem Rock, zielt damit auf die Stereoanlage. Die Tanzstunde kann beginnen Wiederholungsübungen stehen am Anfang. Die Büro-Menschen müssen sich erst in den Rhythmus eintakten. Kleine Schritte, vor und zurück, langsam von einem Fuß auf den anderen und immer schön abrollen. Von einem Musikstück zum nächsten steigt das Tempo Über die große Spiegelwand hält die Lehrerin Blickkontakt zu ihren Schülern. Immer schneller geht es nun. Die Frauen nehmen ihre Röcke in die Hände, lüpfen sie ein wenig, schwenken sie im Takt. "Haltet euren Oberkörper steif, nur die Arme sollen sich frei bewegen" ruft Katesz den Frauen zu. Dann zeigt ihr schlanker Körper die feinen Nuancen des Männerreizen: Den Po ein wenig mehr hervorgestreckt in den Hüften stärker schwingen... Lächelnd folgen ihr die Schülerinnen. Nur die drei jungen Roma-Mädchen verziehen keine Miene, anmutig jedoch ihr rhythmisches Schwingen. Nach einer Stunde: Pause. Die Schülerinnen greifen nach ihren Wasserflaschen. Die Tanzlehrerin lässt ihre Dose Bier aufzischen. Und Orsi, die am Zigeunertanz auch schätzt, dass man dafür keinen festen Partner braucht, geht nach draußen eine Zigarette rauchen. Es gibt beim Tanzen viele sehr wichtige Verhaltensregeln bei den Romas, sagt sie Weder Liebhaber noch Geschwister noch Ehepaare dürfen sich beim Tanzen in die Augen sehen. Meine Tanzlehrerin tanzt so mit ihrem Bruder, dass sie ihn dabei nicht ein einziges Mal anschaut. Es war immer sehr witzig: wenn wir im Ferienlager waren und uns hinterher erzählt haben, mit wem wir getanzt haben, dann hieß es nicht: ich habe mit dem Mann im weißen Hemd getanzt, sondern: ich habe mit den roten, den blauen oder den goldenen Schuhen getanzt. Denn auf den Boden gucken ist ja erlaubt. Im Tanz-Ferienlager in dem ostungarischen Roma-Dorf Nagyecsed haben Orsi und die anderen Teilnehmer zum ersten Mal tiefere Einblicke in das Leben der ungarischen Zigeuner bekommen. Erlebt, wieviel dort die Gastfreundschaft zählt - trotz der bedrückenden Armut: Auch wenn 10 oder 20 Personen unerwartet bei ihnen hereinschneien, werden die Gäste mit Freude empfangen und bewirtet. Die Roma sind sehr gastfreundlich. Aber sie sind auch fürchterlich sensibel, man muss immer aufpassen, dass man sie nicht verletzt. Orsi nimmt einen letzten Zug aus ihrer Zigarette, geht wieder hinunter in den Keller. Legt dort, wie die anderen, ihre umgerechnet 5 Euro Tanzstunden-Gebühr auf die Stereoanlage. Der 13jährige Sohn der Tanzlehrerin übt noch mit den einzigen beiden Männern des Kurses ein wenig das Schenkel-Klatschen. Es sieht sehr ähnlich aus wie beim ungarischen Volkstanz. Natürlich sind die Volkstänze der Ungarn und der Roma miteinander verwandt, wie auch ihre Volksmusik eine Menge Berührungspunkte hat. Schließlich lebt man seit Jahrhunderten in unmittelbarer Nachbarschaft. "Und doch gibt es diese unsichtbare Grenze zwischen den Ungarn und uns ungarischen Roma", sagt Katesz Baló, die Tanzlehrerin. Und dabei lächelt sie zum ersten mal nicht. Ich habe es in den 32 Jahren meines Lebens so erfahren, dass wir, die Roma, viel offener und aufgeschlossener sind als die andere Seite. Die Ungarn werden es nie akzeptieren, dass wir und unsere Kultur anders sind. Das können sie einfach nicht tolerieren. Für alle Ungarn gilt das jedoch nicht. Und schon gar nicht für die Gruppe, die hier in der kleinen Keller-Tanzschule jetzt die Feinheiten der Tanzfiguren einübt. Einfach ist das nicht... Wer gerne tanzt, braucht keine Rechtfertigung über seine Beweggründe: ob Tradition oder Bewegungslust ihn oder sie dazu bringen, die Beine zu schwingen, will keiner wissen. So wie früher die Kommunisten, so versuchen zwar heute rechte Parteien und Nationalisten das ungarische Kulturgut zu vereinnahmen. Doch die Tanzhaus-Tänzer lassen sich für nationalistisches Gedankengut nicht gewinnen. Und so ist die Tanc-Haz-Bewegung in Ungarn weniger politisch von Bedeutung als ideell. Und kommerziell. Rund dreißigtausend Besucher aus der ganzen Welt kommen jedes Jahr im Frühling nach Budapest. Und stellen sich an, an einem der zehn Kassenschalter der "Papp László Sportarena". Neben Sportveranstaltungen dient Budapests größtes überdachtes Stadion auch als Veranstaltungsort für Pop- und Rockkonzerte. Und einmal im Jahr für das "Landesweite Tanzhaus-Treffen". Ein Familienfestival. Und zugleich eine riesige Kulturmesse m Dienst der ungarischen Tradition. 1500 Forint ? rund fünf Euro pro Person kostet ein Tages-Ticket für das Tanzhaus-Festival in der Papp-László-Arena. Das ist zwar wenig im Vergleich zum Eintritt für die internationalen Rockstars, die hier sonst auftreten. Doch wenn man ? wie viele Besucher - mit der ganzen Großfamilie anrückt, kommt doch eine erkleckliche Summe zusammen. Aber nicht nur ungarische Besucher lockt die Volkstanzmesse an, die dieses Jahr schon zum 29. Mal stattfindet: It´s the first time we come here, we know for a long time that it happens every year....and so we come to Budapest for a week and we like the magyar Tanzhaus. Das Ehepaar aus Holland ist zum ersten mal in Ungarn. Eine Woche wollen sie in Budapest bleiben. Die ungarische Volksmusik sei einfach einzigartig, finden die beiden Tanzfans. It's different from all the other countries around Hungaria, the music: I hear a filing and I know immediately it's a Hungarian filing ? it's a very special sound... "Ein sehr spezieller Sound". Jetzt erfüllt er die große Sportarena. In der Mitte der Halle steht eine Band auf einer zehn mal zehn Meter großen Bühne. Davor erstreckt sich eine riesige Tanzfläche, über die jetzt die Besucher schlendern, hin zu den nebeneinander aufgereihten, kleinen Marktständen an denen vielerlei Kunsthandwerkliches zum Verkauf geboten wird: Vogelstimmen-Flöten, Keramik, auch Notenhefte und Bücher über die Volksmusik und -bräuche verschiedener Regionen des ungarischen Kulturraums. An einigen Ständen gibt es Handwerk zum Mitmachen, Weidenkorbflechten zum Beispiel. Auf den Zuschauer-Rängen haben sich Besucher mit Hilfe ihrer dort abgelegten Anoraks und Rucksäcken Sitze und manche Familien auch ganze Sitzreihen reserviert. Um sich dort zwischen ihren Rundgängen auszuruhen. In den Seitengängen der Sportarena stehen die vielen Händler mit den Trachten "Ich komme aus Siebenbürgen und habe hier handgemachte Kleidung", eine Frau mit weißem Kopftuch zeigt ihr Angebot. "Zum Tanzen haben wir hier die Székler Volkstracht" sagt sie und breitet eins der Kostüme auf ihrem Verkaufs-Tisch aus Ein dunkelroter Székler Leinenrock, dazu eine rüschige schwarze Seidenbluse, eine bunt bestickte Schürze und ein weißer Unterrock ? beste Stoffe, handgearbeitet und das Ganze für 15 Tausend Forint das sind umgerechnet 50 Euro. Seit 10 Jahren sei sie schon hier ? aber jetzt kaufen die Leute immer weniger: Man spüre die Wirtschaftskrise, sagt die Ungarin aus dem rumänischen Siebenbürgen. Nebenan, an einem Stand aus Moldawien, ist gerade Kundschaft: Eine großgewachsene Tänzerin im hellgrünen Trachtenkleid probiert eine zylinderförmige Kopfbedeckung mit umgewickeltem Schleier an. "Guckt doch mal wie ich aussehe" die schlanke Frau dreht sich grazil vor, drei jungen Männern, "Macht doch mal ein Foto! Wie sehe ich aus?". "Sehr gut" finden ihre Begleiter. Die Kundin strahlt. Ihre Begleiter nicken ihr zu. Die vier kommen aus Szolnok, etwa 100 Kilometer südlich von Budapest. Im Alltagsleben sei sie Verkäuferin in einem Weinhandel, sagt die Trachten-Tänzerin. Aber den größten Teil ihrer Freizeit widme sie den alten ungarischen Volkstänzen. Die Musik, die Kultur, die Bewegung ? das gibt mir einfach Energie. Ich bin 31 Jahre alt und bin immer noch dabei und kann mithalten. Ich fühle mich sehr wohl in dieser Gemeinschaft. Ein schlanker großer Mann im dunklen Anzug bahnt sich einen Weg durch den dichten Besucherstrom. Das Handy griffbereit in der rechten Hand. Peter Àrendás, 44 Jahre alt, Musikkoordinator des "Landesweiten-Tanzhaus-Treffens" wie das Festival offiziell heißt. Aber eigentlich ist es eine Messe der internationalen ungarischen Traditionen Man kann sagen, dass das Ganze Karpatenbecken vertreten ist, also nicht nur das heutige Ungarn. Und auch aus Ungarn sind nicht nur Ungarn vertreten, sondern auch andere in Ungarn lebende Nationalitäten, das heißt Slowaken, Deutsche. Dazu die ungarischen Minderheiten aus Siebenbürgen, Felvidék, Wojwodina. Unter den Mitwirkenden sind sehr viele ältere Dorfbewohner aus Siebenbürgen, sie verkaufen ihre Trachten und ihre Waren. Und was das Publikum betrifft, kommen sogar viele aus Amerika und Kanada. Am Rande der Zuschauer-Ränge steht ein langhaariger blonder Hüne. Blickt interessiert Richtung Bühne. Seine kurzen Hosen geben den Blick frei auf reich tätowierte Waden. Ich bin Wikinger, ich bin ein historischer Darsteller. Er komme regelmäßig nach Budapest zur Tanzhaus-Messe, aus beruflichen Gründen. Denn hier könne man viele Handwerker-Kontakte schließen, für die Mittelalter-Märkte, die er in ganz Europa veranstalte. Er sei fasziniert von der Traditionsliebe der Ungarn, sagt der Wikinger. Das ist eine von den größten Anreizen für mich, dass so viele Kinder hier begeistert sind. Deswegen ist das lebende Geschichte and heritage, dass so viele Kinder davon begeistert sind. And alle Art von Leute, die Dudel-Spieler oder die Flöten-Spieler, die werden geehrt wie Halbgötter, das finde ich super! Besonders gefalle ihm aber auch, dass die Liebe zur heimatlichen Kultur hier so ganz ohne künstliche Volkstümelei auskomme: Ich komme aus Chicago. Wenn so eine Veranstaltung in Amerika stattfinden würde, alle würden amerikanische Flaggen winken ? was soll das? Die Kultur und die Musik - das ist für mich der größte Anreiz. Im ersten Obergeschoß der Sportarena werden in verschiedenen Sälen Volkstanzkurse angeboten. Im zweiten Stock gibt es Veranstaltung mit Fachvorträgen zum Thema: Volkstanz in der Gegenwart und Zukunft. Festival-Manager Peter Árendas, kommt telefonierend um die Ecke. Ein eineinhalb anstrengende Tanz-Haus-Festival-Tage hat er noch vor sich, doch die Anstrengung lohnt sich, findet er. Er glaubt an die Zukunft der ungarischen Volksmusik-Bewegung. Die Tanzhaus-Bewegung ist aus einer echten Begeisterung entstanden, Ende der 70er-Jahre. Und sie kommt aus dem Herzen. Inzwischen sind auch die Kinder und sogar schon Enkel mit dabei, die diese Tradition weiterführen. Was als sanfter Widerstand gegen die kulturelle Gleichmacherei im Sozialismus begann, bietet heute ein beruhigendes Gemeinschaftsgefühl in der rauen Welt des globalen Kapitalismus. Unten in der großen Halle haben sich hunderte Besucher bei den Händen gefasst tanzen singend in großen Kreisen durch die Papp László Sportarena... Die Magie der Magyaren. Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag: Die ungarische Tanzhaus-Bewegung zwischen Patriotismus und Retrokult. Mit Reportagen von Jan-Uwe Stahr. Die Texte von Bela Bartok und Joszef Attila las Jan Kemmerer ? und am Mikrophon verabschiedet sich im Namen des ganzen Teams Simonetta Dibbern. 3 3