COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitfragen. Wirtschaft und Umwelt Dienstag, den 28.6.2016, 19:30 Uhr Vom Musterknaben zum Bummelanten Natura 2000: Deutschland zögert beim Naturschutz in Nord- und Ostsee Von Lutz Reidt -------------------------------------------------------------------------------- Erzähler: Die Welt unter Wasser präsentiert sich in einem Kaleidoskop, das jedes Taucherherz höher schlagen lässt. Rot-orange gepanzerte Taschenkrebse huschen über den sandigen Meeresgrund. Ein markant gefärbter Leierfisch streckt den ersten Strahl seiner Rückenflosse empor. Türkisblaue Streifen und Sprenkel auf orangefarbenem Schuppenkleid signalisieren: Das protzende Männchen ist auf Brautschau. Die aufgeschreckte Strandkrabbe dürfte die falsche Adressatin sein. Flugs wühlt sie sich in den Sand ein - so tief und so schnell, dass jetzt nur noch die Fühler im Planktonstrom hin und her wiegen. Dann bleibt der Blick von Thilo Maack haften: Ein stattlicher Felsblock auf dem Meeresgrund. Die Farbenpracht darauf fasziniert ihn jedes Mal aufs Neue: O-Ton 1: Thilo Maack (0:33) "Die Seenelken, die man hier in weiß, in orange und in anderen Rottönen hier sieht: Zusammengezogen ähneln die eigentlich eher so einem Schokokuss ohne Schokoüberzug - also klein und gedrungen. Wenn die sich aber ausstülpen, dann ähneln die eher so einer Palme, die so 15, 20 Zentimeter in die Wassersäule hineinragt und da Organismen aus dem vorbei treibenden Plankton sich herausnimmt. Wir haben Tauchgänge gemacht an Wracks, fünfzig, sechzig Meter lang, und die waren flächendeckend mit diesen Seenelken bewachsen." Erzähler: Thilo Maack ist Meeresbiologe und arbeitet für Greenpeace. Der ausgebildete Taucher sitzt im Medienraum der Naturschutzorganisation, im fünften Stock eines neu bezogenen Gebäudes in der Hamburger Hafencity. Thilo Maack wertet hochauflösende Videosequenzen aus und blickt auf einen 50-Zoll- Monitor an der Wand, auf Bilder von seinen letzten Tauchgängen. Atmo/Musik1 (kurz frei) Erzähler: 40 Seemeilen westlich von Sylt, in rund 30 Metern Tiefe herrscht in der acht Grad kalten Nordsee tintenschwarze Nacht - eigentlich. Doch jetzt lässt uns grelles Licht aus Unterwasser-Scheinwerfern teilhaben am bunten Leben vor unseren Gestaden: O-Ton 2: Thilo Maack (0:39) "Seeskorpion, Steinpicker, Butterfisch; da kann man zum Beispiel ganz schön in rot sehen: Dieser überwachsene Schwamm, der den ganzen Stein überwuchert hat im Laufe der letzten Jahre; all das sind ganz typische Arten für diese sog. Hartsubstrate; dann hier, ganz interessant: Die einzige Weichkoralle hier in der Nordsee, die sog. Toten-Manns-Hand, die aussieht als wenn - der Namen sagt das ja schon - als wenn so einer Leichenhand die Finger empor stehen; so leichenweiß, deswegen heißen sie auch Tote-Manns-Hand, die sich von dem ernährt, was an Plankton herantreibt." Erzähler: All diese Organismen sind angewiesen auf Felsblöcke auf dem Meeresgrund. Sie brauchen hartes Substrat, um sich anzuheften: O-Ton 3: Thilo Maack (0:23) "Hier sieht man wunderschön in blau, wenn die ausgezogen sind, diese Seenelken, wie sie hier in der Strömung stehen; vom Farbenspiel auf diesen Steinen fühlt man sich eher ans Rote Meer erinnert: Also, wirklich in allen möglichen Rottönen sieht man diese Organismen; und für den Laien würde das eher für ein Korallenriff erwartbar sein als für die kalte Nordsee." Erzähler: Kein Korallenriff zwar, aber immerhin ein Steinriff. Ein Erbe der Eiszeit. Die Gletscher hatten sie vor vielen tausend Jahren aus den Eiswüsten Skandinaviens hier hergeschoben und abgelegt. Der Meeresspiegel war damals so niedrig, dass es noch gar keine Nordsee gab. In der Norddeutschen Tiefebene heißen diese Granitblöcke "Findlinge", hier in der mittlerweile 30 Meter tiefen Nordsee bilden sie das Rückgrat des Sylter Außenriffs. Sprecherin: Das Sylter Außenriff ist auch eine wichtige Kinderstube für die bedrohten Schweinswale in der Nordsee. Das Seegebiet zählt zu den zehn Meeresregionen, welche die Bundesregierung bereits im Jahr 2004 als "Natura 2000"-Gebiete nach Brüssel gemeldet hatte. Den rechtlichen Rahmen dafür liefert die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der Europäischen Union von 1992. Hier geht es darum, die natürlichen Lebensräume mit ihren wildlebenden Tieren und Pflanzen in einem zusammenhängenden Netz von Schutzgebieten zu erhalten. Vor den deutschen Küsten von Nord- und Ostsee sollen Seevögel, Meeressäugetiere und Fische besser geschützt werden. Auch bestimmte Habitate wie "Sandbänke" und "Riffe" sind schützenswert. In der Ostsee zählt die Oderbank dazu. In der Nordsee sind es die Doggerbank sowie der Borkum-Riffgrund und eben das Sylter Außenriff. Das zuständige Bundesamt für Naturschutz bekam sehr viel Lob für seine ehrgeizigen Schutz-Pläne in Nord- und Ostsee - so auch vom Meeresbiologen Kim Detloff vom Naturschutzbund NABU: O-Ton 4: Kim Detloff (0:25) "Das war eine richtige Entscheidung, dass sich diese Gebiete in Deutschland überlappen und man eben auch Kernzonen identifiziert hat: Lebensraumtypen - Riffe und Sandbänke - oder eben auch geschützte Arten, das sind in Deutschland vor allem auch die Meeressäuger gewesen: Seehund, Kegelrobbe, Schweinswal; oder Vogelarten wie Sterntaucher, Prachttaucher, Zwergmöwe, wo diese geballt kombiniert vorkommen; und diese Kernzonen gilt es eben auch zu schützen, auch vor menschlichen Eingriffen." Sprecherin: Drei Jahre nachdem die Bundesregierung ihre zehn Natura-2000-Gebiete nach Brüssel gemeldet hatte, hat die Europäische Kommission das Ganze anerkannt. Das war 2007. Doch danach herrschte über Jahre hinweg Stillstand bei den staatlichen Schutzbemühungen. Naturschützer sprachen daher von "Paper Parks" - von Schutzgebieten ohne Schutz, die nur auf dem Papier existieren. Der Biologe Stephan Lutter vom WWF in Hamburg kritisiert, dass die Bundesregierung all die Jahre keine gesetzlichen Vorgaben auf den Weg brachte, um etwa zu verhindern, dass Schweinswale und Seevögel immer wieder in Fischereinetzen ertrinken: O-Ton 5: Stephan Lutter (0:20) "Es sind acht Jahre verflossen, ohne dass dort irgendeine menschliche Aktivität eingeschränkt wurde, schon gar nicht die Fischerei. Und deswegen haben wir einfach nach vielen Ansätzen gesucht, bei der Bundesregierung, Lobbyarbeit zu betreiben, Überzeugungsarbeit bei Entscheidungsträgern, keinen anderen Weg mehr gesehen, als eine Klage einzureichen gegen die Bundesverwaltung, die dafür zuständig ist." Sprecherin: Und zwar gegen das Bundesamt für Naturschutz, das dem Bundesumweltministerium zugeordnet ist. Die Allianz der Kläger unter Federführung des Deutschen Naturschutzrings reicht vom Naturschutzbund, kurz NABU, über den "Bund für Umwelt und Naturschutz" bis hin zu Greenpeace und dem WWF. Unabhängig davon hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Der Grund: Die Bundesregierung versäumte eine wichtige Frist, um die Schutzziele in Natura-2000-Gebieten umzusetzen: O-Ton 6: Stephan Lutter (0:13) "Das ist die berühmte Sechs-Jahres-Frist in der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, und die ist hier in diesem Fall längst überschritten; übrigens auch von einigen Bundesländern mit ihren Schutzgebieten in den 12-Seemeilen-Gewässern Mecklenburg-Vorpommerns und Schleswig- Holsteins." Sprecherin: Außerhalb der 12-Seemeilen-Zone, in der "AWZ", der Ausschließlichen Wirtschaftszone, ist der Bund zuständig. In dem Küstenstreifen davor sind es die Bundesländer - so auch Mecklenburg-Vorpommern im Greifswalder Bodden. Erzähler: Pechschwarz ist die mondlose Nacht, kein einziger Stern weist Thomas Koldevitz den Weg hinaus auf den Greifswalder Bodden. Macht nichts. Auf der kleinen Kommandobrücke seiner "Seeadler" hilft die Bordelektronik beim Navigieren. Pünktlich um halb vier Uhr morgens hat er den Hafen von Gager verlassen. Gager - im Südosten von Rügen gelegen - ist der Heimathafen des zehn Meter langen Kutters. Gebannt blickt Thomas Koldevitz nach Steuerbord auf ein kleines Display. Das Echolot lässt die Welt im achteinhalb Meter tiefen Bodden in bunten Farben leuchten: knallgrün der Grund, sattblau das Wasser und darin verteilt: lauter Kleckse. Kleine gelbe und große rote: O-Ton 7: Thomas Koldevitz (0:20) + 0:08 Atmo "Umso roter der Punkt ist, umso größer ist die Konzentration vom Fisch, der Fischschwarm. Und wenn das nachher heller wird, nach außen hin, das Gelbe, was ringsum ist, das ist auch Fisch, aber im Endeffekt ist der Schwarm dünner. Autor: In Massen ziehen die Heringe im Spätwinter und Frühjahr aus der Ostsee zum Laichen in den Greifswalder Bodden. Etliche werden es jedoch nicht schaffen. Die Stellnetze von Thomas Koldevitz und den anderen Küstenfischern versperren ihnen den Weg. Erzähler: Eigentlich wäre die Welt der Boddenfischer in Ordnung - gäbe es bloß diese Naturschützer nicht: O-Ton 9: Thomas Koldevitz (0:28) "Die wollen das jetzt durchsetzen, dass die Gebiete komplett gesperrt werden, also sprich: Adlergrund, Oderbank, Greifswalder Bodden, Pommersche Bucht, Wismarer Bucht, dass die Fischerei da eingestellt wird, nur zum Schutz der Vögel und der Schweinswale und Robben und für den Fisch auch selber; aber im Endeffekt: Wovon leben wir? Sollen wir leben? Jeder Betrieb kann Schluss machen, die letzten 165 Betriebe, die es noch gibt in Vorpommern, an der Küste; das ist ja total sinnlos; man will die Fischerei erhalten, aber macht uns das Leben so schwer." Erzähler: Der Vorwurf der Naturschützer: Zu viele Wasservögel würden sich in den Stellnetzen der Boddenfischer verfangen und dann ertrinken. Doch wie viele Vögel es tatsächlich sind, weiß niemand genau. Es gäbe da so absurde Schätzungen, die völlig übertrieben seien, wettert der Heringsfischer. Schließlich habe kein Fischer alle Netze gleichzeitig im Wasser, die bei den Behörden angemeldet - also "freigemacht" - sind. O-Ton 10: Thomas Koldevitz (0:28) "Wie viele Netze gibt es komplett im Greifswalder Bodden? Es sind so und so viele tausend Meter freigemacht, das ist ja nachweisbar; aber das Problem ist ja: Wir haben ja gar nicht so viele Netze, die freigemacht sind auf unseren Papieren, auf unseren Zetteln, die haben wir gar nicht alle im Wasser; und die sind nach allen Metern gegangen, die da draufstehen. Und dann haben sie berechnet: Es waren vielleicht mal drei oder sieben Vögel dabei, bei einem Hol, den die Stellnetzfischer hatten. Und dann wurde das auf die Meterzahl der Netze ausgerechnet und dann bringen wir 140.000 Vögel um. Was gar nicht wahr ist." Erzähler: Doch wie viele Seevögel sind es jedes Jahr? Und sind auch seltene Arten dabei, die vielleicht vom Aussterben bedroht sind? Erzähler: Silbergrau sind die Heringe, die im moosgrünen Netz zappeln. Männer in orangefarbenem Ölzeug stehen am Heck ihres schaukelnden Kutters und pflücken mit geübten Griffen den glitschigen Fang aus dem Garn. Die Heringe landen in einer schmalen Rinne aus Edelstahl. Plötzlich stoppen die Fischer ihre Arbeit. Ein pechschwarzer Vogel hängt im Netz, der lange Hals baumelt schlaff aus einer Masche hervor: O-Ton 11: Christopher Zimmermann (0:14) "Man sieht hier, wie ein - das ist ein Kormoran jetzt wieder - wie ein Stellnetz, in dem sich ein Kormoran verheddert hat, an Bord kommt; und die Fischer haben dann den Holvorgang, also das An-Bord-Nehmen des Netzes gestoppt, um den Seevogel da ´rauszubekommen; (Stimme leicht oben) Erzähler: Christopher Zimmermann beobachtet die Prozedur in einem Video. Der Rostocker Fischereibiologe sitzt nicht an Bord des Kutters, sondern am Schreibtisch im Thünen- Institut für Ostseefischerei und schaut auf den Monitor. Die Bilder stammen von einem Kutter der Fischereigenossenschaft Freest, die - ebenso wie Thomas Koldevitz - im Greifswalder Bodden Heringe fängt. Die Forscher wollen herausfinden, wie viele Seevögel sich in den Stellnetzen verfangen, wann und wo genau: O-Ton 12: Christopher Zimmermann (0:20) "Der Vogel ist ertrunken, er ist tot, leider - man sieht hier, wie lange das dauert, den da aus dem Netz zu holen; also, für den Fischer ist das einfach auch ein Verlust an Zeit! Kein Fischer fängt gerne Seevögel bei, im Gegenteil; es ist nur eben manchmal tatsächlich unvermeidlich; und die spannende Frage ist, ob man über die Fangplatzwahl oder über die Zeitpunktwahl die Seevogelbeifang-Anzahlen reduzieren kann?" Erzähler: Dieses Wissen wäre wichtig, damit die Stellnetzfischerei auch in Natura-2000-Gebieten eine Zukunft haben kann: O-Ton 13: Christopher Zimmermann (0:21) "Die Fischer waren im wesentlichen interessiert, verifizierbare Informationen über den Seevogelbeifang in der Heringsfischerei zu bekommen; auch in anderen Gebieten als dem Greifswalder Bodden, also zum Beispiel auf der Oderbank; das wiederum hat Auswirkungen für die Diskussion über die Natura-2000-Gebiete; denn genau da, in der deutschen "Ausschließlichen Wirtschaftszone" (AWZ), liegen diese jetzt definierten Natura-2000-Gebiete." Sprecherin: Die Fischerei ist zwar der wesentliche Wirtschaftsfaktor in den Natura-2000-Gebieten, aber beileibe nicht der einzige. So gibt es Konzessionen für den Sand- und Kiesabbau. In angrenzenden dänischen Seegebieten gibt es Bestrebungen, nach Erdöl und Erdgas zu suchen. Und auch bei der Nutzung der Windenergie sieht Thilo Maack von Greenpeace in Hamburg einen Interessenskonflikt: O-Ton 14: Thilo Maack (0:28) "Da gibt es einen Sündenfall - das ist der Windpark Butendiek, ist mittlerweile gebaut, ist auch in direkter Umgebung von den Steinriffen hier; die Konzession dafür wurde vergeben, bevor diese Flächen als Natura-2000-Flächen ausgewiesen wurden; und deswegen ist dieser Windpark gebaut worden. Da klagt der Naturschutzbund dagegen; aber es ist tatsächlich so, dass basierend auf dem Bundesnaturschutzgesetz in den Natura-2000-Flächen keine Windparks entstehen dürfen - und das ist gut so. Die haben da nichts verloren." Sprecherin: Das gilt zumindest für die Neuplanung von Windparks. Doch der bereits zuvor genehmigte Offshore -Windpark Butendiek lässt seit 2015 gut 30 Kilometer westlich von Sylt seine Rotoren kreisen - und das auch noch in gleich zwei Natura-2000- Schutzgebieten. Zum einen im "Sylter Außenriff" - also dort, wo die Greenpeace-Taucher die farbenprächtige Unterwasserwelt gefilmt haben und die Schweinswale ihre Jungen aufziehen. Und zum anderen im EU-Vogelschutzgebiet "Östliche Deutsche Bucht". Hier rasten und überwintern viele seltene Meeresvögel, so etwa Stern- und Prachttaucher. Da diese sehr störanfällig sind, meiden sie Windparks - und verlieren so ihren Lebensraum. Doch nicht nur die Energiewirtschaft pocht auf alte Rechte, sondern auch der Bergbau: Sprecherin: Als die Konzessionen für den Abbau von Sand und Kies erteilt wurden, war von Natura- 2000-Gebiete noch keine Rede. Auch wenn Bergbau-Unternehmen diese Erlaubnis gegenwätig nicht nutzen, könnten sie durchaus Bestandsschutz anmelden. Die Sammelklage der Naturschutzverbände gegen die Bundesregierung adressierte aber weder Bergbau noch Windenergie-Nutzung, sondern einzig die Fischerei. Und zumindest für den Bereich der Nordsee kommt nun Bewegung in die Sache, sagt Thilo Maack von Greenpeace: O-Ton 16: Thilo Maack (0:30) "Es ist gut, dass z.B. der Bereich der Steinriffe, dass der zukünftig frei sein soll von dieser bodenberührenden Grundschleppnetzfischerei. Das ist tatsächlich der Hauptzerstörungsfaktor, den wir Menschen dort betreiben; es gibt dort auch noch Kiesabbau, was vergleichbar schlecht wäre; das ist aber nicht berührt durch dieses Verfahren; auf der anderen Seite greifen die Vorschläge der Bundesregierung zu kurz, weil: Gerade im östlichen Teil des Sylter Außenriffs soll zum Beispiel die Krabbenfischerei, die Garnelenfischerei weiterhin erlaubt sein." Sprecherin: Grundschleppnetze kommen beim Fang von Kabeljau und anderen Fischen in Bodennähe zum Einsatz. Übermannshohe, tonnenschwere Scherbretter aus Stahl spannen dabei zu beiden Seiten die bis zu hundert Meter langen Netze auf. Die Fanggeräte schädigen durch ihr Gewicht auch die farbenprächtige Unterwasserwelt auf den Steinriffen, kritisiert Rainer Froese vom Helmholtz-Zentrum GEOMAR in Kiel: O-Ton 17: Rainer Froese (0:28) "Bestimmte Stellen in der Nordsee, in der Deutschen Bucht, werden bis zu 20 Mal pro Jahr mit so einem Grundschleppnetz befischt; Überall da, wo regelmäßig Grundschleppnetzfischerei betrieben wird, da ist im Grunde keine nachhaltige Struktur mehr da. Es werden zu Beginn der Saison oder wenn man in ein neues Gebiet ´reingeht schwere Ketten eingesetzt, so dass man sich seine Schleppstrecken freilegt. Und durch GPS haben wir heute eine so genaue Positionierung, dass wenn ich eine solche Strecke freigelegt habe, kann ich die exakt wieder befahren." Erzähler: Dem Krabbenfischer Gerold Conradi aus dem ostfriesischen Greetsiel schwant nichts Gutes. O-Ton 18: Gerold Conradi (0:06) "Schieß den Menschen zum Mars und überlass der Natur die Natur! (Lacht, dann): Ist so! Erzähler: Seit dreißig Jahren plagt er sich schon mit Naturschützern herum, die ihn und die anderen Krabbenfischer aus dem Nationalpark im Wattenmeer raus drängen möchten. Dabei haben dort bereits ihre Vorväter über Generationen hinweg Krabben gefangen - von Borkum im Westen bis Sylt im Norden. Und die Nationalparke gibt es seit gerade mal dreißig Jahren. Bislang ist zwar nur eine kleine Zone bei Sylt für die Fischerei gesperrt, aber Naturschützer fordern eine Ausweitung dieser Zonen - und dies, obwohl andere machen können, was sie wollen, wettert Gerold Conradi: O-Ton 19: Gerold Conradi (0:23) "Es wird im Nationalpark gebaggert; es werden Kabel verlegt; es werden Klappstellen gemacht; es werden Windmühlen gebaut auf Natura-2000-Gebieten, die ausgewiesen sind; alles wird dort gemacht. Es wird auch alles geduldet, und das macht ja auch alles nix aus. Nur, wenn da ein Fischer kommt und irgendwo eine Möwe Dünnschiss hat oder ein Seehund hat Husten - dann ist der Fischer Schuld und sonst nichts!" Erzähler: Und jetzt kommen zu den Nationalparks auch noch die Natura-2000-Gebiete. Wenn dort größere Fanggebiete wegfallen würden, stünde rund die Hälfte der deutschen Meeresgebiete unter Schutz - wenn zunächst auch nur pro Forma: O-Ton 20: Gerold Conradi (0:40) "Natürlich soll die Natur geschützt werden. Sind wir alle einer Meinung. Wir leben alle davon. Aber die Fanggebiete schließen für uns, das geht nicht. Weil: Dann wird der Fischereidruck auf den anderen Stellen zunehmen. Jetzt ist die Flotte verteilt, an der ganzen Küste; haben wir aber diese geschlossenen Gebiete, dann wird sich alles auf weniger Stellen konzentrieren. Wir haben ja jetzt schon viele Gebiete, die für uns geschlossen sind, wo wir gar nicht hinkönnen. Sprich: Windparks, Kabeltrassen, Baggergebiete, Schüttstellen etc. Es sind so viele Gebiete, die für uns nicht mehr befischbar sind; und da jetzt noch diese Natura-2000-Gebiete hin? Das passt nicht." Erzähler: Als Krabbenfischer zieht Gerold Conradi sein Fanggeschirr auf Rollen über den Meeresboden. Dahinter schwebt das Netz durchs Wasser und fängt die Krabben ein. Aus seiner Sicht ist dies eine sanfte Form der Fischerei. Ganz anders ist es beim Fang von Plattfischen, also Seezunge und Scholle. Hier sind es tonnenschwere Baumkurren, also querstehende Konstrukte aus Holz und Stahl, die das Netz in seiner ganzen Breite offen halten und dabei über den Meeresboden rumpeln. Zudem scheuchen schwere Metallketten die Plattfische auf, räumt Fischereivertreter Kai-Arne Schmidt ein. O-Ton 21: Kai-Arne Schmidt (0:25) "Die schwere Baumkurren-Fischerei hat ein Problem, das ist unstrittig, ... : Die haben ja das schwere Geschirr, damit das in den Sand richtig ´reingräbt, um die Schollen und Seezungen hochzujagen, damit die ins Netz gehen; eine Krabbe ist ja ganz anders, die schwebt ja im Wasser, und die springt ja hoch; also, das ist ja ein ganz anderes Tier wie die Plattfischer das betreiben; ich glaube, da sind wir uns auch alle einig, dass das nicht so weitergehen kann; aber: Baumkurrenfischerei ist nicht gleich Baumkurrenfischerei." Sprecherin: Kai-Arne Schmidt ist Geschäftsführer der "Erzeugergemeinschaft der Nord- und Ostseefischer" in Cuxhaven und Mitglied im Deutschen Fischereiverband, der mit den Naturschutzverbänden im Clinch liegt. Die Fischereilobby bemängelt vor allem die Größe der Schutzzonen westlich von Sylt. Die Dänen machen es weiter nördlich kleinräumiger, meint Kai-Arne Schmidt. Wo ein Riff ist, dürfe dort im Umkreis von 300 Metern kein Fangschiff rein. Das sei angemessener Schutz. Die Deutschen dagegen wollen einen Bereich schützen, der mehr als fünfzig Mal größer ist als das eigentliche Schutzgut im Sylter Außenriff: O-Ton 24: Kai-Arne Schmidt (0:26) "Warum muss ich 9.000 Quadratkilometer sperren, um rund 160 (Quadratkilometer) zu schützen? Warum so viel? Deutschland hat´s jetzt beschlossen, das geht jetzt in diese berühmte Scheveningen-Gruppe; das heißt, Deutschland muss sich jetzt abstimmen mit Holland und mit Dänemark; muss Argumente darlegen, warum man diese Gebiete sperrt? Warum man sie so großräumig sperrt? Warum das ein Riff ist? Warum das eine Sandbank ist? Und da erwarten wir Ergebnisse frühestens Anfang nächsten Jahres." Sprecherin: Und das wird im Wortsinne zur Gretchenfrage für den Naturschutz im Kampf gegen die Fischerei mit Grundschleppnetzen und Baumkurren, meint Thilo Maack: O-Ton 25: Thilo Maack (0:13) "Wie beschränkt die Bundesregierung einen niederländischen Baumkurrenfischer, der im Sylter Außenriff das Steinriff zerstört? Und das basiert auf dem gemeinsamen Fischereirecht der EU. Und das ist hochkomplex." Sprecherin: In der Tat: Auf der einen Seite fordert die Europäische Union von ihren Mitgliedsstaaten, im Rahmen der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, Natura-2000-Gebiete auszuweisen. Auf der anderen Seite sieht das Gemeinschaftsrecht vor, dass die Fischereidirektoren der Anrainerstaaten diesen Plänen erst noch zustimmen müssen: O-Ton 26: Thilo Maack (0:28) "Sobald ein Land - das kann Dänemark sein oder Holland sein - diese Fischereimaßnahmen nicht akzeptiert, wird die Uhr wieder zurückgestellt und man muss sich neue Fischereimaßnahmen überlegen. Und das betrifft die Fischereimaßnahmen für die Nordsee. In der Ostsee fehlen diese Vorschläge gesamt; also Deutschland hat bis jetzt noch keine Vorschläge gemacht. Die Signale aus dem Umweltministerium sind so, dass die im Laufe diesen Jahres noch kommen sollen - schauen wir mal, wohin die Diskussion geht." Erzähler: Thomas Koldevitz hat mit seiner "Seeadler" die Stellnetze im Greifswalder Bodden erreicht. Über eine mannshohe Winde an der Backbord-Seite saust das langgezogene, orangefarbene Netz aufs Vorderdeck, silbergrau schimmernde Heringe zappeln jetzt auf den Planken. Florian Koldevitz, der Sohn des Fischers, legt das Netz mit viel Geschick so ab, dass es sich nicht verheddert. Vögel im Netz? Fehlanzeige: O-Ton 27: Thomas Koldevitz (0:10) + Geräusch Kuttermotor (0:03) "Haste ja gesehen: Nicht einer! Weder Seevogel noch untermaßige Fische im Heringsnetz. Das ist eindeutig, dass kaum Vögel in den Netzen sind." Erzähler: Zumindest heute nicht. Die Zeit der Rastvögel ist auch längst vorbei. Im zeitigen Frühjahr jedoch kann das durchaus anders aussehen: O-Ton 28: Thomas Koldevitz (0:22) "Natürlich kann das passieren. Es kann auch passieren, dass mal ein Reh vors Auto läuft. Oder ein Wildschwein, oder sonst was. Das kann alles passieren; aber wir setzen ja nicht, um Vögel tot zu machen; wir setzen einfach da, um Fisch zu fangen und um zu überleben. Um unsere Familien zu ernähren - darum geht es doch eigentlich. Das gab es früher schon mal, dass da ein Vogel auf dem Netz war, das ist alles richtig; ich sage ja auch nicht, dass es nicht stimmt, aber wir bringen hier nicht zigtausend Vögel um, das stimmt nicht." Sprecherin: Der wissenschaftliche Nachweis dafür, der steht aber noch aus. Christopher Zimmermann vom Thünen-Institut für Ostseefischerei in Rostock wollte es genauer wissen. Per Videoanalyse suchte er nach bestimmten Zeitfenstern für die Fischer, in denen sie ihre Stellnetze ausbringen können, ohne den Tod von schützenswerten Seevögeln in Kauf nehmen zu müssen: O-Ton 29: Christopher Zimmermann (0:25) "Bei unserem Videoversuch mit den drei Freester Fischern haben sich über 21 Monate insgesamt 136 Seevögel verheddert und sind ertrunken. Davon ungefähr 90 Seevögel im ersten Jahr; davon wieder fast 50 Seevögel in der allerersten Woche! In diesem Fall die letzte Märzwoche. Da haben wir angefangen, diese Aufnahmen zu machen; und genau das war die Woche, in der alle drei Fahrzeuge relativ hohe Seevogelbeifänge hatten." Sprecherin: Theoretisch könnten die Heringsfischer in einer solchen Woche den Fang vorübergehend einstellen und danach fortsetzen. Das Problem ist nur, dass der Videoversuch nicht lange genug lief, um die Ergebnisse seriös hochzurechnen. Der Grund: Die Fischer waren nicht mehr bereit, sich beim Fang filmen zu lassen. Versuch abgebrochen. Pech für die Forscher. Vor allem aber: Pech für die Fischer! Denn ohne belastbare Daten fehlen Christopher Zimmermann jetzt die Argumente, um den Fischfang mit Stellnetzen in Natura-2000-Gebieten zu rechtfertigen: O-Ton 30: Christopher Zimmermann (0:26) "Nach Vorsorgeansatz muss man leider sagen: Wenn es keine belastbaren Daten gibt, dann muss man annehmen, dass das Schlimmste passiert; und dann natürlich die Fischerei ausschließen. Das heißt: Die Fischerei hat aus unserer Sicht ein starkes Eigeninteresse nachzuweisen, dass die tatsächlichen Seevogel-Beifänge viel geringer sind als man im schlimmsten Fall annehmen kann. Und das ist jetzt die Frage: Wie weist man das nach? Und wir haben eine Methode entwickelt, mit der man das vernünftig nachweisen kann. Und je länger man wartet, desto später erzielt man diese Ergebnisse." Sprecherin: Hier hat die Fischerei eine große Chance verpasst. Die Naturschutzverbände gehen ohnehin nicht mit der Forderung hausieren, die Fischerei vollständig aus den Natura-2000-Gebieten zu verbannen. Die Verbände fordern, dass rund die Hälfte der Gebiete verschont wird von jeglichen Entnahmen: Sei es Öl oder Gas, Sand oder Kies und eben auch Fisch. Auch der Meeresbiologe Rainer Froese vom GEOMAR in Kiel plädiert keineswegs für die Abschaffung der Fischerei in den Natura-2000-Gebieten: O-Ton 32: Rainer Froese (0:30) "Wir haben also ungefähr die Hälfte der Gewässer in der deutschen AWZ als Schutzgebiete erklärt; allerdings wird bisher da noch nichts geschützt, das soll erst kommen; aber auch wenn das kommt, müssen wir davon ausgehen, dass nicht das gesamte Gebiet geschlossen wird, sondern dass man verschiedene Zonen einteilen wird, in denen auch weiterhin Fischerei stattfinden darf. Solche Fischerei wird anders sein als heute, sie wird schonender sein, weil wir ja von einem Naturschutzgebiet sprechen, aber nach wie vor wird es da Fischerei geben; zum Beispiel mit Fallen oder mit Leinen oder ähnlichem." Sprecherin: So gibt es zum Beispiel Kastenfallen, die oben offen sind. Seevögel, die dort hinein tauchen, könnten wieder entkommen. Und Schweinswale geraten gar nicht erst in solche Fallen. Gleichwohl räumt Stephan Lutter vom WWF in Hamburg ein, dass die von ihm favorisierten alternativen Fangmethoden durchaus noch zu verbessern wären: O-Ton 33: Stephan Lutter 0:2x) "Diese Änderung kann man auch unterstützen durch Mittel aus dem "Europäischen Fischerei- und Meeresfond", aus dem alternative Fangtechniken gefördert werden können; also Langleinen oder Fischfallen. Selbst für Schweinswale kann es sein, dass bestimmte Verbote von den Stellnetzen auch nur zu bestimmten Zeiten des Jahres erforderlich sind." Erzähler: Thomas Koldevitz nimmt mit seiner "Seeadler" Kurs stramm nach Nord, zurück nach Gager. Ein erster Silberstreif über der Ostsee kündigt den neuen Tag an. Noch eine Stunde, dann macht die Seeadler wieder im Hafen fest. Der Gesamtfang fiel heute Nacht mäßig aus: 500 Kilo, schätzt der Fischer, also etwa 2.500 Heringe. Die Saison geht zu Ende. Im zeitigen Frühjahr sind es schon mal vier Tonnen in der Nacht - also achtmal so viel. Dann ist das Vorderdeck berstend voll mit Fisch. Keine Seevögel haben sich heute Nacht im Netz verfangen. Und erst recht keine Schweinswale oder Robben: O-Ton 34: Thomas Koldevitz #00:07:30-5# "Wenn ein Schweinswal da ´reinkommt, in den feinen Netzen, die wir haben - wenn der sich mal verheddern sollte, der reißt sich da ´raus. Auch eine Robbe: die geht da dran und pflückt sich was ab, .. die verhaken sich gar nicht da drin. Da kommen mehr Robben um, wenn sie mal in die Nähe von einem Schiff kommen - im Netz selber, da passiert gar nichts." Erzähler: Forschungen legen nahe: Wenn, dann verfangen sich Schweinswale eher in den grobmaschigen Stellnetzen der Dorschfischer, draußen in der Ostsee, aber nicht hier im Greifswalder Bodden in den feinen Stellnetzen der Heringsfischer. Im Gegenlicht der Morgensonne ist steuerbord das Kliff am Zickerschen Höft zu erkennen, ein markanter Sandsteinfelsen im Südosten von Rügen. Hoch oben am Klippenrand krallen sich zerzauste, windschiefe Bäume wagemutig in den weißen Sandstein: O-Ton 35: Thomas Koldevitz "Und jedes Mal siehst du das, wenn wir ein bisschen mehr Regen haben, dann bricht immer viel ab. Das spült dann aus, und irgendwann fällt das von oben ab. Und die Bäume, die dann genau an der Ecke stehen, an der Kante - das bricht dann runter. Es ist die letzten 20 Jahre sehr viel abgegangen, also abgebrochen. Da hält nichts auf, das Wasser holt sich schon das, was es braucht vom Land. Da kann man machen, was man will. Die Welt wird kleiner." 1