DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Feature Ortserkundungen Leben unter der Tuffsteinburg Uchisar, ein Dorf in Kappadokien Feature von Barbara Kenneweg Produktion: DLF 2014 Regie: Barbara Kenneweg Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 29. August 2014, 20.10 - 21.00 Uhr Atmo 01 OV Shükru: Hier bin ich geboren, hier habe ich mein ganzes Leben gelebt, und hier möchte ich sterben. In diesem Haus. 02 Almut: 68 1:43 Und dann kam wieder so eine Frau vorbei und die sagte, tja, mit so vielen Kindern gehören Sie eigentlich in die Türkei. Und da hab ich gedacht: gute Idee. Ansage: Leben unter der Tuffsteinburg Uchisar, ein Dorf in Kappadokien Ein Feature von Barbara Kenneweg Musik Erz.: Ein Dorf aus bizarren Felsformationen. Über Hunderttausende von Jahren hat die Erosion sie in die Landschaft gefeilt. Die Häuser sind in den Stein gemeißelt. Ein, zwei Zimmer mögen gemauert sein, dahinter beginnen Höhlenräume. Alles ist sandfarben. Über allem thront die alte Burg, eine zweizackige Klippe. Im Lauf der Jahrtausende wurde sie von Menschenhand durchlöchert wie ein Schweizer Käse. 03 OV Yavuz: Ich bin sehr glücklich in diesem wunderbaren Dorf wohnen zu dürfen. Ich war 17 Jahre in Izmir. Meine Träume brachten mich zurück nach Uchisar. Hier bin ich wiedergeboren worden. 04 Almut: Als ich mit den Kindern nach Zentralanatolien ging, wurde ich besonders von der Großvaterseite extrem beschimpft. Wie kann ich nur mit Kindern in die letzte Affentürkei gehen, da wird aus den Kindern nie was, da werden die Frauen nur geschlagen und unter Kopftücher gesteckt. 05 Yavuz: Meine erste Erinnerung ist, wie ich als kleiner Junge mit den Frauen um den warmen Tandir, die Kochstelle saß. Die Frauen strickten und haben über alles und jeden geredet und den ganzen Abend Witze gemacht. Musik 07 Almut: Uchisar, das ist hier in Kappadokien die höchste Erhebung. Uchisar heißt auch "die allerhöchste Burg". Das ist ein Felsen, den sieht man schon von weitem. Wenn man von Göreme hochguckt, sieht das aus wie ein Drache. Erz.: Von oben überblickt man in jede Richtung die einzigartige Steinlandschaft Kappadokiens. Spitze und breite Tuffhüte, schmale und dicke Zylinder mit Zipfel- oder Pudelmütze, Riesenbaisers und Sahnehauben aus Tuff, sanft gerundete Pilze und messerscharfe Abgründe. Man meint, man sei auf einem fremden Planeten gelandet. Durch die weißgelbe Landschaft ziehen sich wasserreiche Schluchten. Hier liegen die Felder und Gärten. 08 Merve: Es gibt hier ein Sprichwort, wenn du Kappadokien durch die richtige Tür betrittst, wirst Du nie mehr fortgehen. Atmo mit Hodscha Erz.: Ich sitze in einem mit bunten Teppichen ausgelegten Zimmer mit Tonnengewölbe. Der hintere Teil ist eine Höhle. Wie viele Räume sich unter uns befinden und wer sie einst in den Berg geschlagen hat, wie viele Tunnel und wohin sie führen, kann niemand sagen. Heute gehört das Haus Almut Wegner. 12 Almut: Ich weiß gar nicht, wieviel Zimmer ich hab. Es geht immer weiter. Wenn man dann auf den Boden klopft, spürt man, das ist wieder hohl da drunter, aber wo dann die Eingänge zu den nächsten Zimmer sind und nächsten Etagen, das ist manchmal ganz schwer rauszubekommen. Erz.: Spätestens seit der Bronzezeit wohnen in Kappadokien Menschen. Die Hethiter waren hier, die Phryger, Perser, Römer, Byzantiner, Seldschuken, Osmanen... Der Tuffstein schützt vor Kälte und vor Hitze. Außerdem suchten Menschen darin immer wieder Zuflucht vor ihren Feinden. 13 Almut: Ich hab ja Musiktheaterregie studiert und da hab ich hauptsächlich inszeniert. nd dann kam das erste Kind, und da haben wir uns immer abgewechselt, der Vater.. und ich.. Dann kam das zweite, da haben wir das immer noch so gemacht... dann kam aber das dritte, und da machte es klock und dann war ich irgendwie asozial. Mit dem vierten gehörte man sowieso zum Abschaum der Gesellschaft, da kam das Jugendamt und kontrollierte einmal in der Woche, ob man auch unter der Heizung geputzt hatte. 1:21 Als sie dann sahen dass meine Kinder mit Ton spielten im Garten..., die waren von Kopf bis Fuß halt vollgeschmiert mit Ton weil die Skulpturen machten.., da kamen die an und sagten, ja, bei so einer Mutter, da müssen wir ja ein bisschen nachdenken, ob die Kinder nicht ins Erziehungsheim gehören. Erz.: Als Almut vor über 20 Jahren in die Türkei kam, verlagerte sie ihren beruflichen Schwerpunkt auf die bildende Kunst. An den Wänden hängen Gemälde. Musik Erz II: Ohne Worte in einer fremden Sprache. Sehen statt verstehen. Statt zu analysieren, interpretieren, begreifen, aneignen, erst mal sehen. Und ein Bild machen. 14 Almut: Mein damaliger Lebensgefährte, der Kurt Link, war auch Maler und Bildhauer, 32 Jahre älter als ich, ein Kollege von dem Joseph Beuys, mit dem war ich hier. Und wir hatten einen unterirdischen Höhlenraum, und da haben wir ein paar Monate lang gemalt. Musik Erz II: Eine neue Sprache lernen. Sprachen ohne Wörter, Blicke, Anblicke Allmählich merken, was alles zu verlernen wäre. 15 Almut: Und dann kam der Moment, wo meine älteste Tochter eingeschult werden sollte. Und dann haben wir überlegt, was ist ein guter Platz für Kinder, um groß zu werden. Da haben wir auch gedacht, das ist dieses Dorf, das ist Uchisar. Damals war das ein Dorf, wo die meisten Menschen nur von der Landwirtschaft lebten, man kann sagen, viele Menschen so gut wie bargeldlos lebten. ErzII: Vergessen. Entwöhnen... Abstreifen. Abstreifen... Musik 15a Almut: Die meisten Menschen, die lebten, sag ich mal, eine kleine Armut. Das war keine schwere Armut, und die Menschen hatten eine wunderbare Haltung, wie Könige. Und das, dachte ich, ist eigentlich für die Kinder ein guter Platz zum Großwerden, wenn die das einmal erlebt haben, dass man auch ohne Geld wie ein König leben kann, dann, dachte ich, sind sie stark genug, um an allen Plätzen der Welt stehen zu können. Erz.: Nach ein paar Jahren als Mieter kaufte das Paar eine desolate Ruine in bester Lage - mit Blick auf den fast 100 Kilometer entfernten, knapp 3000 Meter hohen Vulkan Erciyes. Aus seiner Asche ist Kappadokien einst hervorgegangenen, Wind und Wasser kerbten in vielen Jahrtausenden die Landschaft ins weiche Gestein. Mit wenig Geld, dafür viel Mühe und Phantasie baute das Paar das Haus aus Trümmern wieder auf. 16 Almut: Mit 300 Mark haben wir im Monat gelebt, sechs Personen. Und damit haben wir auch gut gelebt. Das macht natürlich auch Freundschaft, wenn die merken, da kommt einer, der hat eigentlich auch nicht mehr als wir, und der muss genauso hart kämpfen fürs Leben wie wir, das verbindet. Musik Erz II: Vom Sozialfall mit Farbfernseher, vom Outcast mit Spülmaschine zum zentralanatolischen Dorfbewohner. Vom Rand unserer Gesellschaft, der immer noch ein Speckgürtel ist, in die Höhle. 1991. 17 Almut: Als wir hierherkamen, da gab es in den meisten Häusern noch kein fließendes Wasser. Da gab es nur einige Häuser, die hatten einen Wasserhahn im Hof. Aber der war dann, weil es hier im Winter sehr kalt wird, so bis 30 minus Grad, war der denn meist fünf Monate zugefroren, und dann sind wir alle mit Krügen runter zum Brunnen gegangen und haben da unser Wasser geholt. Erz II: Ohne Heizung, Strom, Badezimmer. Mit der Notwendigkeit, nach draußen zu gehen. Mit anderen. Mittendrin. Es kann schwerer sein, wenn es leicht ist. 19 Almut: Wir waren damals die ersten Fremden, die in dem Dorf ständig lebten. Man muss sagen, die Muselmanen sind ja extrem gastfreundlich. Die sagen, dass das ein Zeichen ist, dass Gott einen liebt, wenn er einem einen Gast schickt. Musik Für die Kinder war das so schön, weil sie konnten in alle Häuser rein, konnten überall mit essen, konnten in den Tälern spielen mit den anderen Kindern. Zu mir kamen auch die Frauen ständig, und dann wurde ich ständig auch eingeladen, zum Essen, zum Reden, zum Tee trinken. Diese menschliche Seite, die war so schön, dass ich auch das, was etwas härter war in diesem Leben als in Deutschland, das hab ich direkt vergessen, weil mit dieser menschlichen Freundlichkeit im Umfeld kann man alles aushalten. Erz: Almut passt gut ins Dorf, es ist nicht ihre Absicht aus der Reihe zu tanzen. Sie trägt lange Zöpfe, weite Kleider und Hosen, grobe Sandalen und fährt ein altes Auto. Dennoch regte ihre Anwesenheit im Dorf immer wieder die orientalische Phantasie an. 20 Almut: Manchmal krieg ich so mit, was über mich erzählt wird, und dann bin ich ganz begeistert und erstaunt. Ich habe mal gehört, diese Frau, die handelt sicher mit Rauschgift. Andere haben gesagt, die gehört zu so einem Geheimverband, die jetzt hier christianisieren will, die jetzt auch bewirkt haben, dass die Moschee hier untern zugemacht wird - nicht liegt mir ferner! Und dass so eine Frau aus dem reichen, schönen Deutschland in so ein kleines schmutziges Dorf gehen kann, das verstehen die Leute natürlich nicht. ErzI I: Nicht leben wie die Made im Speck. Nicht im goldenen Käfig. Wie ein Fisch im Wasser? 21 Almut: Die Menschen, die hier leben, haben sehr viel Mutterwitz, machen sehr viele Späße. Und in dem Moment, wo man Kinder hat, da gehört man sozusagen schon dazu. Erz II: Wie die Made in - der Birne. 22 Almut: Und dann hatten die erstmal so rein äußerlich Freude an unseren Namen, weil der Vater meiner Kinder, der hieß Kurt. Das heißt auf Türkisch die Made oder der Wolf. Und aus Almut haben sie Armut gemacht und das heißt die Birne. Und dann war erstmal der Hauptwitz der Frauen: hahaha, jetzt ist schon wieder die Made in der Birne drin. Erz II: Für eine gewisse Zeit. Eine Weile lang. Im Nachhinein kurz. Musik weg 23 Almut: Dann kam aber irgendwann die Zeit, auch durch Deutschtürken inspiriert, da kamen Leute an aus Deutschland, die sagten, also wir haben das jetzt gelernt in Deutschland, wie das sein muss, man muss ein Haus so bauen, eine Ebene, und dann hat man den Flur ... vergesst doch diese Landschaft und dies ewige Rauf und Runter und die vielen Tiere, baut euch ein neues Haus auf dem flachen Land, da lebt ihr sehr viel bequemer. Erz.: Das alte Zentrum von Uchisar entvölkerte sich. Erst entdeckten Ausländer, dann reiche Türken die Schönheit des Dorfes und kauften Häuser und Land. Seit zehn Jahren ist die Entwicklung rasant. 24 Almut: So vor zwanzig Jahren hat so ein Haus zwischen 500 Mark und tausend, dreitausend, vielleicht bis achttausend gekostet, inzwischen kostet der Quadratmeter schon tausend Dollar hier in dem unteren Stadtviertel. Atmo Erz.: Vor der Festung, hinter dem Parkplatz für Touristenbusse, reiht sich auf einer Länge von etwa 100 Metern ein Andenkengeschäft an das andere. Ich mache mich mit Almut auf die Suche nach ehemaligen Nachbarinnen. Dilek hat hier ein Laden. Sie macht uns gleich Tee. Ich sehe mich derweil in den Regalen um. Bunte Mützen und Tücher, Schmuck, Bücher über die Region, Becher mit Türkeifahne und Becher mit dem Schriftzug "Greetings from Uchisar". Auf der Unterseite ist zu lesen: Made in China. OV 26 Dilek: Das Geschäft läuft nicht besonders gut. Im Winter kommt niemand, da haben wir zu, im Sommer gibt es nur wenig Besucher, alle sind am Meer. Nur im Frühling und Herbst ist es voll. Erz.: Dilek hat fünf Jahre die Schule besucht, mit fünfzehn geheiratet und mit 16 ihr erstes Kind bekommen. Heute ist sie eine Frau von 42 Jahren mit warmer Ausstrahlung und ansteckendem Lachen. Vielleicht sieht sie ein wenig älter aus, als sie ist. Ihr Leben ist geprägt von Arbeit. OV 27 Dilek: Ich habe zu Hause alle möglichen Tiere, dann hab ich hier den Laden, vier Kinder, um die ich mich kümmern muss, und außerdem noch Felder. Erz.: Nur wenige im Dorf betreiben noch Landwirtschaft und haben Tiere wie Dilek. 28 Almut: Im Moment ist eher die Tendenz, dass auch die jungen Dorffrauen sagen, ach, was sollen wir noch mit der Erde spielen, wir haben keine Lust mehr in den Garten zu gehen, das soll doch der Mann für mich einkaufen. 29 Dilek: Früher war das Leben viel schwieriger. Meine Schwiegermutter musste noch jeden Tropfen Wasser vom Brunnen holen. Dagegen ist heute alles sehr bequem. Wasser, Strom, Heizung... Wir haben es jetzt wirklich gut. Erz.: Dilek war nicht einmal zwanzig und hatte von der Welt fast nichts gesehen, als Almut, Vollakademikerin, Künstlerin und Mutter von vier Kindern, hierher zog. 30 Dilek: ...Wir mochten das alte Haus sehr, leider hatten wir kein Geld es zu restaurieren, auch nicht die nötige Kraft. Wir sind nicht gern weggezogen. Jetzt pendele ich zwischen Laden, Haus und Feldern, immer hin und her, es ist fast wie im Hotel. So wie es früher war mit all den Kindern, die vor den Häusern auf der Straße spielten, und man hat sie durchs Fenster immer gehört, so ist es im neuen Viertel nicht. Aber im alten Viertel ist es ja auch nicht mehr so! Am meisten vermisse ich die Gemeinschaft unter den Nachbarn, dass man alles zusammen gemacht hat, gearbeitet und geredet und gelacht, das vermisse ich sehr. Erz.: Während Dilek mit mir spricht, räumt ihr Mann im Hintergrund leise den Laden auf. 31 Almut: Also man darf sich nicht eine türkische Landfrau brav vorstellen. Die haben sehr viel Temperament und auch sehr starke Charaktere. Musik 31a Klassischerweise ist es so, dass der Mann morgens aus dem Haus geschoben wird, und dann mit den Männern den Tag verbringt, auf der Arbeit, oder im Winter, wenn nicht so viel Arbeit da ist, im Kaffeehaus, und dann die Frauen zu Hause das Regiment übernehmen. Und dann treffen die Frauen sich meist bei irgendeiner und sitzen dann zusammen und handarbeiten oder backen Brot oder scherzen oder gucken sich vom Dach aus die Touristenmänner mit den kurzen Hosen an und lästern darüber... Und dann werden natürlich auch sehr oft... Themen besprochen: ja, wie war der Mann, gestern, heute, wie wird er morgen sein, was hat er gemacht oder nicht, und das geht dann richtig detailliert zur Sache... und die Männer, die wissen natürlich ganz genau, wenn sie an den Frauen vorbeigehen, dass gerade über sie gelästert wird, und das ist dann manchmal wie ein Spießrutenlaufen. Atmo Erz.: In der sengenden Hitze lassen die wartenden Busse den Motor laufen, wegen der Klimaanlage. Hinter einem kleinen Stand am Straßenrand steht eine von weitem mädchenhaft wirkende Frau. Aus der Nähe sieht sie nicht mehr so jung aus. Sie blickt stumm in Richtung der Busse, wartet auf Kundschaft für ihre selbstgemachten Schmuck. Kunstvoll gehäkelte Ketten mit billigen Perlen. Die Japaner, die gerade aus dem Bus strömen, stapfen zielstrebig Richtung Burg, sie würdigen den Schmuck keines Blickes. Als sie Almut sieht, strahlt Reyhan. Sie hat mit Almuts älteren Kindern die Schule besucht und ist, ehe ihre Familie wegzog, in Almuts Haus ein- und ausgegangen. OV 32 Reyhan: Das Leben jetzt ist ganz anders, man hat mit den Nachbarn nicht viel zu tun. Atmo Erz.: Ausführlich erkundigt Reyhan sich nach Almuts Kindern. Aufmerksam, vielleicht etwas wehmütig, hört sie den Erfolgsgeschichten zu. Die Kinder, die laut deutschem Sozialarbeiter so gravierend vernachlässigt waren und aus denen laut Großvater in Anatolien sicher nichts werden würde, haben inzwischen studiert oder sind noch dabei, in Istanbul, in Deutschland, in den USA. OV 34 Reyhan: Ich bin hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und habe hier geheiratet. Mit 16. Ich habe meinen Mann bei einer Hochzeit getroffen. Er hat mich gesehen, sich in mich verliebt und sich dann sehr bemüht. Ich wollte ihn anfangs überhaupt nicht, er hat mir nicht gefallen. Aber er gab nicht auf. Das hat mir gefallen, da habe ich schließlich zugestimmt. Vielleicht wäre es besser gewesen später zu heiraten. Ich war mit 17 schon Mutter. Erz.: Reyhan soll als Mädchen eine Schönheit gewesen sein. Ihre Augen leuchten immer noch, doch ihr Lächeln ist leicht schief. Erz II ... eine in den Untiefen des Alltags gestrandete Prinzessin. Ov 35 Reyhan: Mein Leben ist nicht so gut gelaufen. Schon ganz früh mussten wir Schwestern viel arbeiten, weil mein Vater zuckerkrank war. Die Tiere versorgen, die Ställe säubern... Ich erinnere mich, wie die anderen Kinder draußen spielten, und wir konnten nicht. Die Armut war schwer. Meine älteste Tochter ist 18, sie macht jetzt den Schulabschluss. Ich rate ihr, nicht so früh zu heiraten, sondern auf jeden Fall erstmal etwas zu lernen, damit sie später gleichberechtigt mit ihrem Mann leben kann. Musik Erz II.: Schicksale mit klareren Linien - oder Gemüter mitweniger Grautöne als bei uns... Erz.: Auf dem Rückweg erzählt Almut mir die Geschichte vom Mann, der eine Frau für seine sieben Kinder suchte. Aber das Ganze begann anders, nämlich mit einer Frau, die einen Mann für ihren Sohn finden wollte. ErzII: Romane entstehen im Kopf des Beobachters, durch die Beobachtung. Man braucht Zeit, Mitgefühl und die Gabe der Zuspitzung. Musik 37 Almut: Da war ein Mädchen, das war schon mal verheiratet, ist dann aber wieder zu Vater und Mutter zurückgekommen, weil das nicht klappte mit der Ehe. Und dann hatte die Mutter diesen schönen jungen Mann gesehen, wir nennen ihn mal Mehmet, und dann dachte sie ach, bevor meine Tochter jetzt irgendeinen Schieläugigen heiraten muss, werde ich sie mit diesem hübschen Mehmet zusammenbringen. Und da hat die Mutter gerufen, Mehmet, komm doch mal rein.., meine Tochter, die Fatima, die bringt dir jetzt einen Tee. Und dann hat sich Mehmet auch ins Zimmer gesetzt, und Fatima ist mit dem Tee gekommen, und die Mutter hat das Zimmer abgeschlossen. Und dann hat sie diese jungen Leute da drei Tage und drei Nächte in diesem Zimmer gelassen. Und dann stand sie nach drei Tagen wie so ein Berg in der Tür, mit dem Mann im Hintergrund, und dann sagten sie jaja, also jetzt drei Tage und drei Nächte zusammen in einem Zimmer, da ist es wohl nicht mehr als richtig, wenn man dann auch heiratet. Dann musste der arme Mehmet die Fatima heiraten. Und nach ein paar Jahren hatte er sieben Kinder mit dieser Frau. Musik Dann ist sie allerdings plötzlich eines Nachts mit einem anderen Mann durchgebrannt und war weg, und er saß da mit den sieben Kindern alleine. Das ganze Dorf hat getrascht, haha, jetzt sitzt der Mehmet da mit den sieben Kindern. Und da hat die Mutter gesagt, Mehment, jetzt musst du ganz schnell wieder heiraten.. Und dann sind sie in das Auto vom großen Bruder gestiegen und sind durch die ganze Türkei kreuz und quer gefahren, um für diesen Mehmet wieder eine Frau zu finden. Er kam zwischendurch immer zu mir an und sagte, Almut, ich halt es nicht mehr aus, gestern war ich bei einer Frau, die war behaart wie eine Bärin, von Kopf bis Fuß, die hätte man drei Tage rasieren müssen. ErzII: Einen sicheren Ort, von dem aus man Schweres und Leichtes beobachten kann, bis es nicht mehr zu trennen ist. Tee mit Gewürzen drin und lange Nächte. Lange Winter vor einem einzigen Ofen, eine spitze Zunge. Eine Messerspitze voll Langeweile. 37 Almut: Und am Ende haben die irgendwann im Osten unten die Zweitfrau von einem Großgrundbesitzer gefunden, die war geschieden.. hatte auch noch ein Mädchen, und die war einigermaßen hübsch, und der große Bruder hat gesagt, Mehmet, wenn du mir dein Auto gibst, dann kriegst du meine Schwester. ErzII: ... die Frau bekam noch ein paar Kinder und lebte fortan glücklich und zufrieden ....mit sieben fremden und 4 eigenen Sprösslingen... Atmo Zentrum m. Hodscha Erz: Das Dorf besteht aus Geschichten, erzählt von seinen dreieinhalb tausend Einwohnern, Tag für Tag, immer anders. Noch hat der Fernseher sie nicht zum Verstummen gebracht. 39 Yavuz: Als ich beschnitten werden sollte, bin ich weggerannt, nach unten ins Tal. Meine Eltern mussten mir hinterherrennen und mich holen. Sie haben mir dann schöne Geschenke gegeben. Aber ich habe auch zwei Ohrfeigen bekommen, weil ich alle Gäste hatte warten lassen. Erz.: Yavuz ist um die fünfzig. Er hat einen schönen Laden mit antikem Schmuck, Porzellan und Teppichen direkt unterhalb der Burg. Er wirkt mit seinem gepflegten Äußeren und seiner höflichen Art wie ein gediegener Gentleman. Sein Cousin übersetzt. 40 Yavuz: Wenn wir Kinder mit den Frauen um den Tandir, den Herd, saßen, haben sie uns auch Gruselgeschichten erzählt, um uns Angst zu machen, von Geistern und Gespenstern. Sie haben gedroht: wenn Du nicht brav bist, kommt die Dame mit dem weißen Haar aus der Burgruine und holt dich. Erz.: Je länger wir reden, desto mehr Cousins kommen in den Laden, setzen sich dazu und steuern eine Anekdote bei. OV 41 Cousin 2: Eine andere Erziehungsmaßnahme war, dass sie uns immer drohten: wenn du frech bist, steck ich dich in meine Pumphose! Davor hatten wir furchtbare Angst. OV 42 Cousin 1: Ich weiß es noch genau, deine Mutter hat das zu mir gesagt. Aber ich fand es interessant und antwortete: ja, lass uns das ausprobieren! Erz.: Als ich ihn nach seinem Werdegang befrage, entpuppt Yavuz sich als das enfant terrible seiner Familie. OV 43 Yavuz: Ich ging nach der Grundschule auf eine Schule, auf der Imams ausgebildet wurden. Dort bin ich überhaupt nicht zurechtgekommen. Ich war der Meinung, Imame dürften kein Geld von den Leuten bekommen, denn so steht es im Buch. Sie können nebenbei ein Geschäft oder ein Handwerk betreiben, aber als Imame sollten sie nicht bezahlt werden. Deswegen wollte ich kein Geld für die Lehrer sammeln. Also konnten sie mich nicht ausstehen, es gab immer Probleme. Schließlich tat ich etwas, damit sie mich rausschmissen: ich schenkte einem der Lehrer zum Geburtstag einen Kuchen. In den Kuchen hatte ich einen hethitischen Fruchtbarkeitsgott gesteckt. Als der Imam das aufmachte und den Gott mit dem riesigen Phallus sah, war ich raus aus der Schule. OV 44 Cousin1: Sein Vater hat ihn nach Izmir geschickt, damit er hier keine weiteren Dummheiten anrichten konnte! OV 43 Yavuz: Ich habe meine Zukunft eben nicht als Imam gesehen, sondern im Tourismus das Licht erblickt. Atmo Erz.: Nach 17 Jahren in der Textilbranche in Izmir kehrte Yavuz endlich nach Uchisar zurück, nicht zuletzt, weil er wollte, dass sein Sohn das gleiche erleben und fühlen sollte, was er als Junge erfahren hatte. OV 44 Yavuz: Ich erinnere mich an einen alten Mann, der hier um die Ecke lebte. Er war Bauer, ziemlich arm. Aber wenn er Joghurt übrig hatte, machte er Ayran und gab allen davon ab. Dieser 80jährige Mann ging mit einem Tablett in der ganzen Nachbarschaft herum, füllte Glas um Glas und ging erst nach Hause, wenn jeder etwas bekommen hatte. Früher waren wir Produzenten. Jetzt konsumieren wir. Niemand produziert mehr etwas, dafür kaufen wir alle möglichen Produkte, zum Beispiel aus China. Irgendwie verursacht das eine Angst zu teilen. Die Alten waren sehr vorausschauend, kannten keinen Neid und haben an alle gedacht. Die jüngeren Leute denken nur an den schnellen Vorteil. Ich wünschte, die Geldwirtschaft mit ihrer liberalen Ideologie wäre nie hierhergekommen. Es war besser, als wir noch getauscht haben. Erz.: Vielleicht hätten wir noch Stunden gesessen und geplaudert. Aber da nähert sich Yavuz Mutter der Türschwelle. Die älteste Person der Familie. Alle stehen auf, gehen zur Tür oder rücken Stühle zurecht. Die Mutter wird zu einem Stuhl in der Mitte geführt und ist ab sofort die Hauptperson. Atmo Erz.: Es ist 5 Uhr früh, ich bin hellwach. Das Rauschen und Fauchen der Heißluftballons hat mich geweckt, mit denen sich die Touristen gern durch die Landschaft tragen lassen. Schön sieht es aus, wie ein einsamer Ballon im Morgenlicht neben dem Erciyes schwebt. Nach einer Viertelstunde sind es dreißig. Ich höre auf zu zählen und lege mich wieder ins Bett. Atmo Beim Frühstück herrscht in Almuts Viertel wieder Ruhe. Die Straßen sind schmal, steil und haben Kopfsteinpflaster, hier fahren nur die Autos der Bewohner. Schon um 10 Uhr ist es so heiß, dass sogar die Vögel schweigen. Die Hunde liegen lethargisch im Schatten. Almut führt mich herum. Immer wieder suchen wir Schutz vor Sonne und Wind in leerstehenden Höhlenräumen. Je weiter man hineingeht, desto kühler wird es. Kein Stein isoliert besser als Tuff. Tief in den ausgehöhlten Bergen sind es sommers wie winters 18 Grad. 45 Almut: Also wenn du jetzt hier ins Tal runterguckst, dann siehst du ganz hinten einen kleinen gelben Kegel mit einer kleinen Tür. In diesem Kegel hat früher der heilige Basilius gelebt. Erz.: Kappadokien war ein Rückzugsort der frühen Christen. Später, als das Christentum zur Staatsreligion gemacht wurde, wurde es zum blühenden Zentrum der Missionierung. Zahllose Kirchen wurden in den Fels gehauen, viele kleine und auch ein paar größere, noch heute sind über 400 zu besichtigen. 46 Almut: Und jetzt hier rechts von uns, die Kegel die du da siehst, das ist eine alte Klosteranlage. In dem ganz dicken Kegel, da ist eine große dreischiffige Kirche drin, und in den Kegeln rechts und links davon jeweils eine kleine Kirche. Erz II: Ein Land aus Kegeln. Wie Röcke. Erster überlieferter Name: Land der großen Mütter. Heute noch tanzende Derwische im Kegelkleid. Und Touristen aus aller Welt auf den Spuren des Paulus. Nicht nur Touristen. Visionen vom Vater: 09 Reza: Vor 12 Jahren habe ich Jesus Christus im Traum gesehen, er war in einer Kirche auf der Festung von Uchisar. Ich bin Dein Vater, sagte er, komm zu mir. Ich wusste damals nicht, dass es diese Kirche und diese Burg wirklich gibt. Ich komme aus dem Iran. Weil ich Christ geworden bin, musste ich aus dem Iran fliehen, ich habe in Bombay Computertechnologie studiert und bin schließlich hier gelandet. 12 Jahre nach meinem Traum stand ich plötzlich hier vor der Festung. Es war ein Schock. Erz.: Die Blütezeit Kappadokiens ging mit dem Schwinden des Christentums zu Ende. Unter den Osmanen verlor auch Uchisars Festung ihre Bedeutung. Heute ist etwa ein Viertel der Häuser im alten Zentrum in desolatem Zustand. Dazwischen stehen hübsch hergerichtete Gebäude, manche mit blühenden Gärten. Sogar bewässerte Rasenflächen gibt es, die eigentlich nicht hierher passen. Almuts Nachbarschaft hat sich in der Tat geändert. 48 Almut: E sind reiche, sehr kulturinteressierte Menschen, es sind Künstler.. ich hab eine Prinzessin aus Tahiti als Nachbarin, die ich sehr mag. Viele Ausländer, die hierher kommen, die sind wie die Vögel, die sind nur hier, wenn es warm ist, und wenn es kalt ist, fliegen sie schnell an die Zentralheizung oder auf die Malediven. Erz.: Die größten und am besten renovierten Häuser sind durchweg Hotels. Dileks altes Haus wurde von einem Franzosen aufgekauft, der inzwischen fast ein Dutzend Häuser vermietet. Im Gebäude daneben hat die Deutsche Evelyn Kopp vor rund zehn Jahren ein schickes Hotel eröffnet. Atmo Sie fährt in ihrem Jeep an uns vorbei und winkt. Für ein Gespräch hat sie keine Zeit. Wir warten, bis der Staub sich gelegt hat. Dann zeigt Almut mir den Dorfbrunnen direkt vor Frau Kopps Hotel. Die Wände bröckeln. Es sieht aus, als hätte sich mindestens ein Jahrzehnt lang keiner mehr um die alte Wasserstelle gekümmert. 50 Almut: Und auf der anderen Seite von dem Brunnen, da ist eine alte Mühle, ein Mühlstein, der früher von einem Esel im Kreis gezogen wurde, und wo die dann das Mehl gemahlen haben. Und neben diesem Mühlstein, da sieht man eine kleine Öffnung in der Wand, und wenn man in diese Öffnung reinklettert, dann ist man in dem Tunnelsystem von Uchisar. Also ich bin auch neulich da mal durchgelaufen, und dann hab ich einen Seitenarm genommen, und dann stand ich plötzlich in einem Hotel im Wohnzimmer, mit meinen Matschstiefeln. Ein Luxushotel vom Feinsten, von irgendeinem türkischen Minister. Atmo Argos/ Hodscha Erz.: Almut muss nicht weit gehen, um in einem Nobelhotel zu landen. Neben ihrem Haus steht eine Moschee, und direkt neben der Moschee befindet sich das Argoshotel. Es verfügt über ein exquisites Restaurant und bietet Suiten mit Schwimmbad im Zimmer an. 51 Almut: Früher war es so, wenn man zu einem Haus kam, dann ging die Tür auf, da kam jemand raus und hat gesagt, willst du nicht mal reinkommen, Tee trinken. Wenn man jetzt zu so einem Hotel kommt dann steht da ein Wächter vor der Tür mit Trillerpfeife, und wehe man nähert sich dem englischen Rasen, dann bläst der Mann in die Trillerpfeife und legt die Hand an die Pistole, und das ist natürlich irgendwie ganz, total gegen die Seele des Dorfes. Atmo Café 52 Kenan: Jetzt gibt es mittlerweile 28 Hotels, und sehr teure Hotels. Du kannst hier für 50 Euro die Nacht übernachten, aber auch für 2000 Euro die Nacht... aber das ist kein Uchisar mehr. Luxus pur. Alle 28 Hoteliers kenne ich. Und die sagen mir, diese Zimmer werden zuerst verkauft, und dann die billigeren. Atmo Erz.: Kenan betreibt ein Café an einer der belebtesten Ecken des Ortes, da, wo die Läden sind und die Autos parken. Zu ihm kommen keine Reichen, sondern ganz normale Familien. Auch für sie ist Uchisar ein beliebtes Ausflugsziel. 53 Kenan: Bis 1980 war ich bei meinen Großeltern hier... Ich dachte, mein Opa ist mein Vater, ich habe ihn sehr geliebt. Mehr wie meinen Vater. Meinen Vater hab ich ja nur einmal im Jahr gesehen. Mein Opa war mein ein und alles, er hat mir mein erstes Pferd gekauft. Pferdekutschen gab es viel, das war schön. 1980 haben meine Eltern mich nach Deutschland geholt. Erz.: Kenans Café ist keine hundert Meter vom Haus seiner Kindheit entfernt. 54 Kenan: Ach ja, jedes Mal, wenn ich an dem Haus vorbeilaufe, kriege ich Gänsehaut. Leider Gottes, wie mein Opa gestorben ist, haben die Kinder das verkauft, für n Äppel und Ei. Ich hab letztens mal nachgefragt... der Käufer will jetzt 2 Millionen Euro, damals hat er nur 15 000 Mark bezahlt. Die Preise sind aber so. Ich wünschte, ich hätte 3, 4, Ruinen. Eine Ruine kostet 200 000, 300 000 Euro. Erz.: Jedes Mal, wenn Kenan aus Deutschland zu Besuch kam, gab es ein Restaurant oder ein Hotel mehr. 54a Kenan: Uchisar ist im Kommen. Göreme hat 180 Hotels. Ich hoffe, wir werden kein Göreme. Hier leben wenigstens noch Einheimische. Naja, es gibt Vor- und Nachteile. Es gibt keine Arbeitslosen hier, jeder hat Arbeit. Sie sind entweder in den Hotels, oder in Restaurants, oder bei den Ballongesellschaften, die jetzt überall wie Pilze wachsen. Musik Ich wünschte, es wär immer noch wie 1979, da war kein Ballon in der Luft. Jetzt, wenn Du morgens aufwachst, sind bis zu 80 Ballons in der Luft. Erz.: Trotzdem ist Kenans Traum für seine Zukunft: ein Hotel aufzumachen. Musik/Atmo Erz.: Als ich zurück ins alte Zentrum komme, fällt mein Blick auf einen rauchenden Schornstein. Daneben ein Mäuerchen und eine steinerne Hütte. Hübsch sieht der Platz aus, Blumen wachsen da, an der Mauer sind Küchenutensilien aufgehängt. Sollte hier etwa gerade Brot gebacken werden? Neugierig nähere ich mich. Da tritt mir eine elegant gekleidete Dame entgegen und fragt in exzellentem Englisch, ob sie mir helfen könne - höflich, aber so, dass ich gleich verstehe, ich habe hier nichts zu suchen. Auf meine Frage nach dem vermeintlichen Ofen klärt sie mich auf, dass der Platz zum Argoshotel gehört, und dass es sich bei der Steinhütte um die Technikzentrale des Hotels handelt. Der Schornstein raucht, weil die Klimaanlage läuft. Als sie merkt, dass ich mich wirklich für das Dorf interessiere und zudem fürs Radio unterwegs bin, bittet sie mich freundlich ins Restaurant. Merve Uzel ist Manager für "Guest relations". 55 Merve: Ich habe vorher in Bodrum gelebt. Dann kam ich hierher, verliebte mich in das Hotel, in die Gegend, in Uchisar, und bin jetzt seit zweieinhalb Jahren hier. Die Natur ist natürlich schön. Aber vor allem die Leute sind wunderbar. Auf Türkisch sagen wir "Herzensmenschen". Bei diesem Hotel geht es nicht nur um Unterkunft. Es geht darum, das Dorf zu erfahren. Sechs Anwesen gehören dazu, dazwischen verlaufen die Dorfstraßen. Die Dorfbewohner kommen deswegen ständig vorbei, sie sind unsere Nachbarn, und übrigens ist es ja ihr Dorf. Atmo Erz.: Die Vorher-Nachher-Bilder, die Merve mir zeigt, beeindrucken mich. Wo nur noch Mauerreste waren, ragen nun schöne Bögen, ein grauer Schotter-Hang hat sich in einen terrassierten Garten mit Gemüse und Blumen verwandelt. 56a Merve: Neulich habe ich vor dem Hotel eine alte Frau getroffen, die hatte ganz rote Augen. Ich habe sie gefragt, Tante - so nennen wie hier alle alten Damen - kann ich etwas für dich tun? Sie sagte, nein, ich suche nur das Haus, in dem ich geboren wurde. Erz.: Merve steigt in ihrem knappen Kleid aufs Moped und brettert durch die steilen Gassen zurück zur Rezeption. Musik Erz.: Am nächsten Tag besuchen wir die einzige Familie, die noch wie eh und je im alten Viertel lebt. Kadin, die jüngste Tochter der Uskals ist Anfang 30. Sie hat einen Bekannten von Almut aus Deutschland geheiratet. Gerade ist Kadin zu Besuch aus Köln. Man merkt, wie sie an ihrem Elternhaus hängt. Immer wieder tätschelt sie ihrem alten Vater den Kopf. 61 Kadin: (deutsch) Ich vermisse immer mein Dorf. Ich würde gern hier leben, aber mein Mann will nicht. Er kann hier nicht arbeiten, und er kann nicht den ganzen Tag sitzen. Er wollte immer arbeiten. Deutscher radikal. Atmo Erz.: Wir sitzen im Garten neben einem großen Felskegel, um uns herum Bäume, Bienen, Blumen und Katzen. So viele Katzen..., dass ich nachfrage. Es sind 15. Atmo Herr Uskal ist eine Art Mensch, wie sie heutzutage nicht mehr vorkommt. Wenn er sitzt, sitzt er. Wenn er spricht, spricht er. Wenn er schweigt, schweigt er. Mit seinen 75 Jahren strahlt er immer noch Kraft aus, aber er hat viel zu viel erlebt, um nicht demütig zu sein. In seinen Augen aber blitzt der Schalk. OV 57 Shükru: Als ich klein war und mein Beschneidungsfest hatte, bin ich am selben Tag wieder aufs Feld gegangen um zu arbeiten. Früher hatten wir nichts, jetzt gibt es von allem so viel: Essen, Kleidung, Bettzeug. Früher gab es viel Armut, mögen diese Tage nicht wiederkehren. Erz.: Shükrus Frau Niger hält sich im Hintergrund und serviert Wasser, Kaffee, Nüsse. Sie möchte nicht ins Radio, hat genug von den Medien, die an ihrem Leben sowieso nichts ändern. Vor kurzem war ein Filmteam hier, das in der Nähe ihres Hauses einen Kinofilm gedreht hat. Lauter Kosmopoliten, bewaffnet mit aufwendigster Technik, die ihre Tomatenbeete zertrampelten. OV 58 Shükru: Mein Vater erzählte, wie mein Großvater einmal eine Fee mit nach Hause gebracht hat. Er hatte sie am See gefunden und mitgenommen. Vierzig Tage wohnte sie in der Familie, half mit, wusch, bediente. Aber nach 40 Tagen begann sie plötzlich alles herumzuwerfen und kaputtzuschlagen. Sie wollte zurück in ihr Wasser. ErzII.: Eine junger Mann bändelt mit einer jungen Frau an, sie verlässt ihre Familie. Vierzig Tage lang lieben sie sich. Dann bekommt die Frau Heimweh und kehrt zu ihrer Familie zurück. Die Familie aber nimmt sie nicht wieder auf, sondern verstößt sie. Aus Verzweiflung bringt die junge Frau sich um. OV 59 Shükru: Mein Großvater brachte sie also zurück zum See. Dort sagte sie zu ihm: Wirf mich ins Wasser. Wenn meine Familie mich wieder aufnimmt, wird es grün bleiben, wenn nicht, verfärbt es sich rot. Mein Großvater warf die Fee also in den See. Sofort wurde das Wasser blutrot. Musik Erz.: Wenn Shükru ins Erzählen kommt, wird seine Stimme so laut, dass das Laub über uns zittert. Er ist kein großer Mann, aber seine Hände sind die größten, breitesten Hände die ich je gesehen habe. Man müsste sie im Museum ausstellen. OV 60 Shükru: Ich habe als Schmied gearbeitet, hier vorn habe ich noch meine Schmiede. In allen möglichen Dörfern habe ich gearbeitet, auch im Straßenbau. Und Wasserleitungen habe ich gebaut. Von meiner Arbeit ist noch viel zu sehen. . Ich weiß nie, wann was war, weil ich nicht schreiben und nicht lesen kann. Damals gab es gar keine guten Lehrer im Dorf. Ich bin 3 Jahre zur Schule gegangen und habe nichts kapiert. Ich hatte keine Socken, ging mit nackten Füßen in die Schule. Früher gab es ganz wenig von allem, wir hatten fast nichts. Erz.: Direkt vor Herrn Uskals Nase hat das Argoshotel kürzlich ein neues Gebäude errichtet - ein bisschen zu groß und zu prächtig für das Dorf. Die Genehmigung steht noch aus. OV 61 Shükru: Hoffentlich wird es wieder abgerissen. Ich hatte immer freien Blick auf den Weg, konnte sehen, wer kam und ging. Wenn da Leute einziehen, gucken sie mir direkt ins Haus. Außerdem befürchte ich, wenn es genehmigt wird, dass Evelyn Kopp daneben vielleicht auch noch ein Hotel baut. Atmo Erz.: Kadin zeigt mir ihr Elternhaus. Der erste Raum ist das Lager, dann noch ein Lager, dann steigen wir hinab in untere Felsenräume. Sie sind schön und kühl und vollkommen leer. Dann folgt endlich ein wohnliches Zimmer mit Matten und Kissen. Es ist Wohn- und Schlafzimmer zugleich. Ich erwarte eine zweite, obere Etage, aber sie kommt nicht. Die Uskals wohnen in einem Zimmer. Jetzt, wo das offizielle Interview vorbei ist, legt Niger los. Sie hat die Nase voll von dem alten Haus. Atmo/ O-Ton mit Kadin Erz.: Letzten Winter herrschte Frost in Nigers Küche, es gab kein fließendes Wasser, ihr froren fast die Finger ab. Almut schlägt vor, in den offenen Torbogen ein Fenster einsetzen zu lassen, das die Wärme drinnen hält. Die Idee ist gut, allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass der alte Shükru das für nötig befindet. Atmo Erz.: Als wir uns verabschieden, kommt Niger mit einem freudigem Lächeln aus dem Lager. Sie lässt uns nicht gehen, ohne uns eine große Tüte mit Gemüse überreicht zu haben. ErzII: Ist es leichter zu schenken, wenn man wenig hat? Wenn das, was man hat, nachwächst? Wenn man gelernt hat, wenig zu brauchen? Oder erfahren hat, was brauchen ist? Musik/ Trommeln ABSAGE Leben unter der Tuffsteinburg Uchisar, ein Dorf in Kappadokien Sie hörten ein Feature von Barbara Kenneweg Es sprachen: Sigrid Burkholder, Claudia Mischke, Susanne Reuter, Jochen Langner, Andreas Potulski Ernst August Schepmann und Christoph Wittelsbürger. Es musizierten Mustafa Naiki, Aram Polatouglu und Freunde Ton und Technik: Ernst Hartmann, Petra Pelloth und Anna D´hein Regie: Barbara Kenneweg Redaktion: Ulrike Bajohr 63 Kenan: Wie komm ich jetzt auf Monika zu sprechen? Monika war meine große Liebe in Deutschland. (Lacht) Sie würde sich so freuen, wenn ich hier ein Wort über sie sage. Produktion Deutschlandfunk 2014 26