COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Grenzgänger der Uckermark Der deutsche Speckgürtel um das polnische Stettin Von Rosalia Romaniec Sendung: 01. Juni 2013, 15:05 Uhr Ton: Alexander Brennecke Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 O-Ton 1: Mathias Enger Dieses Bermudadreieck Prenzlau, Pasewalk, Stettin, in dem geht nichts verloren, das ist das Spannende. Es geht weder die Erinnerung der Menschen verloren, weil sie festgehalten wird. Sie wird entdeckt durch Polen, dadurch, dass viele Polen plötzlich auf der deutschen Seite Grund erworben haben. Stettin hat 420 000 Einwohner - so eine Großstadt gibt es nicht in Brandenburg und in Mecklenburg Vorpommern auch nicht, das ist die größte Stadt der Region, wenn wir von Berlin absehen. Und das ist schon für die Menschen in diesem Bermudadreieck ein Markt. Man müsste es schaffen, sich ganz gezielt an Stettiner zu wenden. Autorin: Das Grenzland bei Stettin. So wird diese Region oft von Einheimischen genannt. Wer hier unterwegs ist, kreuzt oft die Grenze zwischen Brandenburg, Mecklenburg Vorpommern und dem polnischen Westpommern. Es ist ein wenig wie eine Reise durchs Niemandsland. Eine Region mit besonderen Kontrasten und mit Menschen, die das Abenteuer suchen. Eine Region im Wandel? Kennmelodie Spr. V. Dienst: Grenzgänger der Uckermark Der deutsche Speckgürtel um das polnische Stettin Eine Deutschlandrundfahrt von Rosalia Romaniec O-Ton 2: Katrin van Zwoll Das ist definitiv ein Landstrich, wo man Lebensträume verwirklichen kann. Ja. Wir sollten die Wertschöpfung aus dem machen, was wir haben, und das ist Natur pur. Das ist nicht so oft in Deutschland, in dieser Größe. Wo kann man in Deutschland vier Tage lang wandern, ohne eine Menschenseele zu treffen. Hier geht das. ATMO ESEL Autorin: So klingt es, wenn Eselsfrau Ellie neue Gäste auf dem Hof begrüßt. Gastgeberin und stolze Besitzerin von insgesamt 13 Eseln ist Katrin van Zwoll. Die gebürtige Berlinerin hat noch elf Pferde, zwei Katzen und einen Hund. Eine kleine Idylle im nördlichsten Zipfel Brandenburgs. Zu ihrem Hof gehören auch ein See, mehrere Wiesen und Hügel. Alles liegt in Suckow - südlich von Prenzlau, in der tiefsten Uckermark. Die Mittvierzigerin hat eine ruhige Ausstrahlung und scheint eitelkeitsfrei. Auch ungeschminkt posiert sie gerne mit der schreienden Ellie für ein Bild, das eventuell auf die Internetseite kommt. Katrin van Zwoll hat sich vor zehn Jahren in die Uckermark verliebt und zog aus Berlin mit ihrer Familie hierher, um ihren Traum zu verwirklichen. Einen, den sie Jahre zuvor erstmals in Irland träumte. O-Ton 3: Katrin van Zwoll Ich habe dort eine Zigeunerwagenfahrt mitgemacht, von einer Woche, mit meinem damals sechsjährigen Sohn und noch nie hat mich ein Urlaub so tief beeindruckt und ich bin so schnell runter gefahren wie dieser. Deswegen war ich begeistert von der Sache an sich, was es mit einem Menschen macht, wenn man sich in dem Tempo bewegt, wo wir uns heute nirgendwo bewegen. Es ist ein Urlaub, der im Schritttempo erfolgt. Das Tempo gibt nicht der Mensch, sondern ein Tier vor und wenn man sich dem anpasst, öffnet sich ein Blick für die Landschaft, den man sonst nicht wahrnimmt. Weil auch ein Fahrrad ist mindestens doppelt so schnell wie ein Pferdewagen oder ein Esel. Autorin: Deshalb eröffnete sie in Suckow eine Eselsfarm. Und die Touristen nahmen das an, bundesweit. Was sie suchen und anscheinend finden, ist Entschleunigung - das Leben im Hier und Jetzt. Am Anfang kamen viele gestresste Manager, die Ruhe finden wollten – bei einer Drei-Tages-Tour. Nur der Esel, der Manager und die Natur. Diese Einzelreisen hat Katrin van Zwoll wieder aus dem Programm genommen. O-Ton 4: Katrin van Zwoll Weil die Erfolgsquote da klein ist. In der Regel ist es so, dass Manager gewohnt sind, dass das gemacht wird, was sie sagen und das wird ein Esel nicht tun. Er wird erst folgen, wenn er gebeten wird zum Beispiel und bitten können die Manager in der Regel nicht. Und das ist für das Tier, wenn ich es hier vom Hof wegschicke, auch anstrengend. Ich werde immer wieder darauf angesprochen, dass ich mit den Eselwanderungen Managerschulungen machen könnte, aber ganz ehrlich, die möchte ich bei mir nicht als Gast haben, denn sie sind einfach zu anstrengend. Und das würde ich auch meinem Team nicht zumuten wollen, auf Dauer. Wenn ich diese Richtung ausbauen wollte, würden meine Tiere mir leid tun. Wenn sie ständig mit Managern umgehen müssten. Autorin: Heute richtet Katrin van Zwoll ihr Angebot vor allem an Paare und Familien. Sie war damit eine der ersten in Deutschland. Eine mögliche Reise, die man bei ihr buchen kann: O-Ton 5: Katrin van Zwoll Man startet in Suckow, läuft hinten übers Feld am Pechberg vorbei, man nimmt von der Zivilisation Abschied und läuft durch ein kleines Örtchen aus fünf Häusern, was sich Voßberg nennt, auf einem gewundenen Pfad über Groß Fredenwalde, am Weinberg vorbei, am Bärensee, ein kleines Stückchen Strasse, überqueren die E24, nur ein kleiner Hüpfer und schon sind wir im Suckower Forst, ein Waldweg, der uns bis nach Neuten führt. Ein Gutshaus, fünf Nachbarhäuser, mehr ist hier nicht - begrüßt werde ich vom Hund. Gesehen habe ich mehrere Milane, fünf Reiher, drei Störche und eine kleine Herde Rehe. Autorin: Die Uckermark ist bekannt als die am dünnsten besiedelte Region Deutschlands. Die Natur ist bestechend schön, doch das Leben schwerer als woanders. Das erlebte auch Katrin van Zwoll. Als sie anfangs Höfe suchte, wo ihre Wanderer übernachten sollten, konnte sie kaum welche finden. O-Ton 6: Katrin van Zwoll Im Konzept war vorgesehen, dass die Wagen von Station zur Station fahren, so wie es auch in Europa alle anderen Anbieter haben. Wo ich angefangen habe, hier Partner zu suchen, wurde ich – man kann es nicht anders sagen - ausgelacht. Partner zu finden war so gut wie unmöglich. Erst nach drei, vier Jahren fing es an, dass wir Stationen gefunden haben, die auch Gäste gegen Gebühr aufnehmen. Und nach intensivem Suchen haben wir jetzt ein sehr gutes Netz an Partner in der Region. Wobei auch da sehr bemerkenswert ist, dass fast alle unsere Partner zugezogen sind. Also es sind keine ursprünglichen Uckermärker. Autorin: Vor wenigen Wochen gewann die Uckermark den Bundeswettbewerb für Nachhaltigen Tourismus. Denn nirgendwo sonst findet man derzeit so viele verrückte Ideen, die im Einklang mit der Natur umgesetzt wurden – und das, wie gesagt, von Zugezogenen. 01 MUSIK Titel: La goutte d’or Interpret+Komponist: Ludovic Navarre Label: EMI. LC 00542 O-Ton 7: Stefan Zierke Uckermark, Ukar, Ukrania sagt man, soll Grenze heißen. Wir waren schon immer Grenzland gewesen, wir waren Grenzland zwischen Brandenburg und Pommern, jetzt sind wir nach wie vor das Grenzland zwischen Brandenburg und Pommern und haben die polnische Grenze auch, wobei die Grenze zur DDR Zeiten sicher mehr Grenze war als heute. Heute ist die Grenze kaum noch wahrnehmbar. Das Lebensgefühl hier ist Gegensatz - wir sind hier der am wenigsten besiedelten Gegenden Deutschlands und 100 Km weiter ist die am dichtesten besiedelte Gegend von Deutschland. Autorin: Stefan Zierke ist ein Kind der Uckermark. Hier ist er geboren und aufgewachsen, kennt jede Ecke. Er blickt auf die Region von innen. Die weite Welt wollte er zwar bereisen, aber nur als Tourist. Die Heimat zu verlassen – das wäre nichts für den Mann, der heute den Tourismusverband Uckermark leitet. O-Ton 8: Stefan Zierke Nun habe ich meine Frau sehr früh kennen gelernt, das heißt wenn ich die Region verlassen hätte, hätte sie mitkommen und dort einen neuen Job finden müssen. Aber sie hatte hier einen Job, so dass ich schaute, was kann man Neu machen…seine Kinderecken kennt. Sprecher: Um bleiben zu können, drückte der damals frisch ausgebildete Werkzeugmacher noch einmal die Schulbank und lernte einen neuen Beruf: Reisekaufmann. Jahrelang verkaufte er dann seinen Landsleuten Fernreisen. O-Ton 9: Stefan Zierke Dann habe ich nach zehn Jahren gesagt, ok, jetzt wechselst du die Fronten und sorgst dafür, dass nicht die Uckermärker in die weitere Welt fahren, sondern du hast die Aufgabe, die weite Welt in die Uckermark zu holen. Es gibt hier massig viele Seen, also die Uckermark hat 550 Seen. Wir zählen ein See ab 1 Ha, das ist doppelte Fußballplatzgröße, alles andere drunter wird nicht gezählt. Klare Seen und wenn man mit dem Fahrrad an mehreren Seen vorbei fährt, einfach anhalten, ins Wasser springen, die Füße ins Wasser halten zum Kühlen, das ist das Lebensgefühl, was uns die Gäste hier immer wieder sagen. Autorin: Heute ist Stefan Zierke Chef des Uckermärkischen Tourismusverbandes. Wenn er von 800 Tausend Übernachtungen jährlich spricht, sieht man ihm den Stolz an. Mittlerweile kommen nicht nur Touristen aus Ostdeutschland in seine Region, sondern auch viele Niederländer, Belgier und Skandinavier. Meist um zu zelten. Und neuerdings besuchen auch Amerikaner und Australier öfter das Land und suchen nach Familienspuren. O-Ton 10: Stefan Zierke Die Uckermark war ein Auswandergebiet nach Amerika und Australien. Und diese Menschen kommen hierher. Als ärmliche Verhältnisse auf dem Land waren, da sind ganze Dörfer nach Amerika ausgewandert und die schauen jetzt, wie es ist. Wenn man nach Australien guckt, dann gibt es auch dort ein Prenzlau, d.h. wir wissen genau, dass dort sich Menschen niedergelassen haben, die aus Prenzlau sind. Es gibt viele Dorfnamen, die in der Uckermark sind, die finden sich in den USA und Australien wieder. Das sind die, die interessant sind, die auch in die Kirchen gehen, die alten Kirchenbücher durchblättern, die auch nach Polen gehen, weil sie dort auch noch deutsche Kirchenbücher haben, wo sie die Familienstammbäume nachschreiben können. Das ist alles vorhanden. Autorin: Eine ärmliche Gegend ist die Uckermark noch heute. Man ahnt es auch beim Spaziergang durch die diesjährige Landesgartenschau in Prenzlau. Schöne, ordentlich angelegte Blumenbeete, doch die üppige Farbenpracht und Vielfalt fehlen. Dort arbeitet auch Manuela Mallow. Auf dem Markt der Gartenschau verkauft sie Apfelprodukte, die aus der Produktion von Daisy Gräfin von Armin stammen. Die adelige Hausfrau entwickelte in der Uckermark ihre eigene Marke. Die Verkäuferin begrüßt die Gäste, ihr Lächeln steckt an, wenn sie von ihren Marmeladen und Aufstrichen erzählt. Bei dieser guten Laune ahnt zunächst niemand, dass sie seit Jahren keinen festen Arbeitsplatz findet. Bei der Landesgartenschau arbeitet sie bis Oktober, danach wird sie wieder arbeitslos. O-Ton 11: Manuela Mallow Was ich gelernt habe, gibt es nicht mehr. Den Beruf gibt es nicht mehr. Das war Facharbeiter für Be- und Verarbeitung pflanzlicher Produkte. Ha, ha. Den gab es nach der Wende nicht mehr. Da waren ganz viele Arbeitsplätze verschwunden, viele Berufe verschwunden. Und jetzt sucht man immer einen Strohhalm, dass man ein Stück weiter kommt. Seit 1990 pendeln wir von der Arbeitslosigkeit zur Arbeit und wieder hin und her. – Was haben Sie schon alles gemacht? – oh je, Hotelfachfrau, am Fließband hat man schon gestanden, Verkäuferin, Zimmermädchen, Restaurantfachfrau, also wir sind da sehr flexibel, uns kann man alles anbieten. Wir passen überall rein. LACHEN Autorin: Es ist kein Defätismus und auch kein Zynismus, der aus ihr spricht. Sie ist tatsächlich eine Frohnatur – und: hat ihre besondere Quelle, aus der sie schöpft: O-Ton 12: Manuela Mallow Die Familie. Ich habe zwei Kinder, einen Enkel, nen Mann sowieso, wir haben schon Silberhochzeit gehabt. Und wir haben vor, noch 50 Jahre verheiratet zu sein und wir ergänzen uns gegenseitig. Mein Mann ist ein ruhiger Pool, ich bin mehr die Wilde. Und wenn ich hoch hinaus schießen will, dann kommt er und sagt, komm schon runter. Uns ging es noch nie so schlecht, dass wir nichts zu essen hatten. Ich bin in der Jacobikirche, es ist eine evangelische Kirche in Prenzlau, sehr aktiv. Ich bin zum Beispiel Vorsitzende oder Chefin von der Abendrunde in St. Jacobi. Wir unternehmen viel. Wir verreisen, gehen ins Kino, viel Kirchliches, ehrenamtlich, für unsere Senioren Kaffeetafel und das hilft auch ein Stück weiter. Einer holt den anderen wieder aus dem Tief, jemand, der weiß, wo es wieder Arbeit gibt, dann schickt man den dahin, manchmal klappt es, manchmal nicht. Irgendwie ging das immer. Wir brauchen keinen Psychologen, wir haben uns. Autorin: Auf der Suche nach besseren Perspektiven schauen die Uckermärker auch über die eigenen Grenzen hinaus. Weder in Rostock noch in Berlin sehen sie wirklich ihre Chancen. Eine Alternative liegt dagegen fast vor der eigenen Tür im Osten – gleich hinter der polnischen Grenze. Dort liegt Stettin – eine schnell wachsende Stadt, von der die grenznahen deutschen Regionen zunehmend profitieren wollen. Stefan Zierke vom Tourismusverband der Uckermark: O-Ton 13: Stefan Zierke Stettin ist ein ganz wichtiger Markt für uns. Als Touristiker für den Tagesausflugbereich, auch für den Eventbereich, da gibt es noch ganz viel zu arbeiten, die Stettiner und ihr Umland für Tagesausflüge zu begeistern. Polnische Gäste kommen einerseits zum Einkauf, also gerade in Schwedt merkt man es im Einzelhandel. Polnische Gäste kommen meist zum kulturellen Bereich, zu Konzerten, Tanzgruppen. Ansonsten ist der Gast aus Polen nicht der Naturliebhaber, er schätzt unsere Radwege, und er kommt gerne zu Spaßbädern, alles was so im Indoorbereich ist, so Feste bezogen. Autorin: Das mag auch die polnische Verkäuferin auf dem Markt der Landesgartenschau in Prenzlau. Die 22jährige Angelika Kedziorek verkauft Produkte aus Polen. Sie lebt ganz nah an der deutsch-polnischen Grenze, in Löcknitz. Vor sechs Jahren zogen ihre Eltern mit drei Kindern aus Stettin her – wegen der schlechten Lage auf dem Stettiner Wohnungsmarkt. Sie hatten in polnischen Zeitungen gelesen, dass in Löcknitz Plattenbauwohnungen frei sind. Da beschlossen sie, die Chance zu ergreifen. Und so arbeitet ihre Tochter Angelika heute als Verkäuferin auf dem Prenzlauer Markt. O-Ton 14: Angelika Kedziorek, polnische Verkäuferin (O-Ton in Deutsch) Diese Arbeit macht mir Spaß als Verkäuferin. Das sind polnische Produkte, welche ich verkaufe, sie sind von Westpommern. Meistens sind es solche Bioprodukte, also ohne Konservierung und Farbstoffe, mit allen natürlichen Zutaten. Zum Beispiel Brot, Kekse haben wir, Biogurken, diese Kolberger Gurken, sind richtig lecker. Honig, Säfte, 100 Prozent Saft ohne Zucker, kein Konzentrat. Ah so, wir haben noch im Glas Pastete, Leberwurst, Schmalz, Schmalz mit Zwiebel. Autorin: Angelika Kedziorek und Manuela Mallow – zwei Verkäuferinnen, eine Polin und eine Deutsche. Beide leben in der grenznahen Provinz, doch nicht beide fühlen sich hier gleichermaßen zuhause. O-Ton 15:Angelika Kedziorek Ich wohne in Löcknitz seit sechs Jahren, vorher habe ich schon 16 Jahre in Stettin gewohnt. Das ist schon große Stadt und hier ein solches kleines Dorf. Manchmal ist es schon langweilig. O-Ton 16: Manuela Mallow Also wir sind gerne hier. Man fährt fünf Meter aus der Stadt und ist schon in der Natur. Überall Wasser, schöne Radwegen, doch es ist sehr schön hier. 02 MUSIK Titel: Teilzeithippie Interpret: Annett Louisan Text: Frank Ramond Komposition: Martin Gallop/Friedrich Paravicini Label: 105Music, LC 12465 Autorin: Es ist das letzte Grundstück in einer Dorfstrasse bei Pasewalk. Direkt am Waldrand steht umgeben von hohen Bäumen und einem etwas verwilderten Garten das Haus des Bürgermeisters Rainer Dambach. Der Schwabe kam vor 20 Jahren nach Pasewalk, als ein Industriebetrieb nach dem anderen dicht machte. Dambach hoffte damals auf die Hilfe aus seiner schwäbischen Heimat. Leider vergeblich. O-Ton 17: Rainer Dambach Das ist das Problem. Wenn ich ein Betrieb angesprochen habe, da haben alle gefragt, wie sieht es da mit qualifizierten Arbeitskräften aus. Ich sagte, wir haben Arbeitslose, aber die muss man erst qualifizieren. Ist aber nicht gut. Aber hätte ich sagen können, wir kriegen die Arbeitskräfte aus Polen, die er haben will, in der Qualifikation, das hätte die Chancen vergrößert. Aber wenn ich mit dem Grenz-Knowhow werben wollte, dann ging das nicht. Weil auf die Arbeitskräfte hatten wir keinen Zugriff, weil sie keine Arbeitsgenehmigung bekommen haben. Dadurch sind zwei Firmen gleich nach Polen gegangen. Diese Angst der Bundesrepublik vor dem Zustrom der Facharbeiter, wo man 2004 bei der EU-Osterweiterung diese Arbeitnehmerfreizügigkeit eingegrenzt hat, die war aus meiner Sicht Blödsinn, weil sie dazu führte, dass man die Fachkräfte, die man brauchte, dass man die nicht bekommen hatte. Und unsere waren weg. Die sind nach Norwegen und England gegangen und damit ist der Region Potential verloren gegangen, was sehr schade war. Autorin: Mittlerweile dürfen Polen in Deutschland arbeiten, doch die wenigsten wollen ins Grenzgebiet. Großbritannien oder Westdeutschland sind attraktiver. Ebenso wie die Jobs in Polen selbst. Dort boomt die Wirtschaft, auch wenn die derzeitige Krise zu spüren ist. Wer mal nach Stettin kommt, kann den Aufschwung nicht übersehen. Überall neue Siedlungen, Industriegebiete, kein Hektar Land entlang der Hauptstrasse ohne Baustellen. Wenn der Pasewalker Bürgermeister Dambach davon erzählt, sieht man ihm die Enttäuschung an: kaum etwas davon ist in seiner Region zu sehen. O-Ton 18: Rainer Dambach Und wir haben hier ein Riesenproblem mit den Gemeindefinanzen, das liegt u.a. daran, weil unsere Steuereinnahmen natürlich mager sind. Die kann ich nur dann langfristig nur anheben, indem ich den Wohlstand der Bevölkerung erhöhe und indem ich praktisch genug wohlhabende Bürger habe, die ordentlich Geld verdienen und auch genug Firmen, die entsprechend Arbeitsplätze schaffen und die Gewerbesteuer zahlen. Und gegen genau dieses Bemühen wirkt die NPD: Weil nämlich viele sagen, warum soll ich dahin gehen, da sind doch die Braunen. Warum soll ich mir das antun. Reden Sie mit einem baden-württembergischen Unternehmen, da sagen sie, das mag ganz spannend sein, aber in einer Gegend, wo die NPD dominiert, das ist nicht mein Thema. Das ist genau das Problem. Die Außenwahrnehmung der Region ist einfach so ein bisschen eine braune Region. Autorin: Über die Präsenz der NPD zu reden war hier lange ein Tabu. Viele fühlen sich überfordert, wenn sie dazu befragt werden. Auch Marion Reim, eine Mutter von vier Kindern, die einen großen Landwirtschaftsbetrieb an der Grenze führt. Ihre Kinder gehen in das deutsch-polnische Gymnasium in Löcknitz, sie ist dort Elternvertreterin. Und Kontakte nach Polen hat sie auch, manche noch aus der DDR-Zeit. Immer wieder wird sie auf die NPD angesprochen, und nie weiß sie so richtig, was sie sagen soll. O-Ton 19: Marion Reim Ich erlebe es auch in Löcknitz, unsere kleinen Mädchen spielen Fußball im Verein, wo es mehrere Sachen schon gab, wo aber natürlich auch NPD Eltern drin sind. Und ich denke, es ist der richtige Weg sie mit einzubeziehen, als sie auszugrenzen, aber es ist unendlich schwer dieses Thema. Ich versuche oftmals sie zu meiden, also diese Konfrontation, aber dass man sich dem stellt, das ist eine schwere Sache. Ich finde es äußerst schlimm, dass es so ist. Es gibt jetzt auch ein Bündnis in unserem Landkreis „Bunt statt braun“ und ich finde es gut, dass es die Leute gibt, die sich dazu bekennen, aber es muss noch mehr werden. Atmo: Tagesschau Autorin: Letztes Jahr im Sommer war es dann so weit. Zum ersten Mal haben sich viele Organisationen und regionale Initiativen zu einem parteiübergreifenden „Aktionsbündnis gegen Rechts“ zusammengeschlossen und wochenlang mobilisiert. In einer Region, die es nicht gewohnt ist, öffentlich Farbe zu bekennen, gingen dann eines Tages Tausende auf die Straße, um eine kilometerlange Menschenkette zu bilden. So kam die Region ins Fernsehen – und zwar als positives Beispiel für Zivilcourage. Atmo: Meldung Tagesschau O-Ton 18: Rainer Dambach Na ja, der große Vorteil bei der Geschichte war, dass alle sechs demokratischen Parteien, die es hier gibt, einmütig an einem Strang gezogen haben und zwar ohne die Parteiflagge in den Vordergrund zu stellen. Sondern: Wir als Bürger stellen es auf und zeigen, dass wir versuchen deutlich zu machen, dass wir es nicht wollen und, dass es keine braune Region ist. Die Nachhaltigkeit an der ganzen Geschichte, dass die Leute gesehen haben, ok, wir haben es einmal gemacht und es ist schön, dass wir stark sind, wenn es darauf ankommt, aber wir müssen weiter machen. Das Aktionsbündnis lebt nach wie vor. Wir waren auch bei der NPD Demo gegen das Asylbewerberheim in Güstrow und es wird auch zum Jahrestag eine Veranstaltung geben in Pasewalk und zwischenzeitlich gibt es auch einige Initiativen, Aktivitäten, die vom Aktionsbündnis ausgehen. Autorin: Durch die Menschenkette im letzten Sommer gewann die Region ein neues Selbstbewusstsein. Viele Gemeinden merken auch die Vorteile ihrer polnischen Bewohner und das Potential, das sie mit ihren Kontakten nach Stettin mitbringen. Die Stadt mit 420 Tausend Einwohnern ist mittlerweile zum Zentrum der Region beiderseits der Grenze geworden. O-Ton 22: Rainer Dambach Also, für unsere Region muss es die Zukunftsmusik sein. Wo sollen unsere Chancen herkommen. Wir haben 11 Tausend Einwohner und Stettin über 400 Tausend. Wir haben die Wirtschaftsregion um Stettin. Wenn sie sich solche Konstellation in Westdeutschland anschauen, also Stuttgart und Umland. Das Umland bis zu 40-50 Km hat absolut von der Wirtschaftslokomotive Stuttgart profitiert. Wenn aber Stettin die Lokomotive sein soll, was es auch sein könnte, dann muss natürlich diese Grenze eingedampft werden. Das geht nur, indem man die Sprachen gegenseitig versteht. Dann könnte man davon auch profitieren. Für die Gegend ist es aus meiner Sicht eine Zukunftschance. 03 MUSIK Titel: Goodnight Moon Interpret: Shivaree Komponist/Texter: Ambrosia Parsley/Duke McVinnie Label: Maverick, LC 01485 O-Ton 23: Herr Siegmund Das geht jetzt wieder Pleite, wenn es so weiter geht. Da geht keiner hin, weil die Preise so hoch sind. Wir sind gewohnt, am Abend ein Bier trinken zu gehen und da gibt es kein Bier für uns. Zwei Welten sind es. Wenn eine Tasse Kaffe so viel kostet. Man will nicht davon reden. Die hauen wieder ab. 2-3 Jahre, dann sagen sie ade. Dann haben sie Fördergelder genommen und dann sind sie weg. So wird es immer weiter gehen. O-Ton 24: Stefanie Völz Ich sehe es positiv. Weil wenn jemand hier etwas investiert und andere Unternehmen kauft, dann habe ich das Gefühl, er wird hier etwas bewirken. Aber das sind so Meinungen von jung und alt. O-Ton 25: Olaf Zimmermann Sicherlich will sich der hoch betuchte Golfer mit 200 Tausend Euro Jahreseinkommen nicht neben dem kleinen Bauer hinsetzen und dort eine Tasse Kaffee trinken. Was er aber macht, Herr Deutschländer, er kommt in die Region rein, indem er jetzt in Pasewalk die Fleisch- und Wurstwaren GmbH übernommen hat. Das ist ein Aspekt, der mir persönlich sagt, er will in der Region etwas darstellen und sich in der Region etablieren. Aber der Dorfbezug zum Hotel ist wie eine große Mauer. Autorin: Eine kleine, nicht repräsentative Umfrage aus Krugsdorf - einem ruhigen Ort in der Nähe von Pasewalk, gelegen an einem romantischen See. Zwei Hauptstrassen, links und rechts Häuser - und ein ehemaliges LPG-Gelände, auf dem heute ein imposant renoviertes Schlosshotel mit Restaurant und einem 18-Loch Golfplatz stehen. Der frühere Inhaber ging damit bankrott. Das Anwesen wird seit eineinhalb Jahren von dem Geschäftsmann Detlef Deutschländer und seiner Familie betrieben. O-Ton 26: Detlef Deutschländer Um ehrlich zu sein, wir sind schon ein bisschen verrückt. Wir haben eine Vision und haben die Herausforderung gesehen. Meine Frau sagte immer: Von Nürnberg her ist es zur Adria näher als zur Ostsee. Im Lotto haben wir nicht gewonnen. Wir hatten am Anfang Riesenprobleme, weil der ehemalige holländische Investor viele Lücken hinterlassen hatte. Man muss sehen, fast halb Krugsdorf hat für den Investor gearbeitet. Fast 50-60 Prozent der Mitarbeiter haben nie Geld gesehen von dem Holländer, er hat Millionen in den Sand gesetzt. Wir hatten am Anfang Situationen, wenn holländische Gäste mit Autos hier übernachteten, dann hatten sie am nächsten Morgen vier platte Reifen. Das ist Wirklichkeit in dieser Region gewesen. Autorin: Das Ehepaar Deutschländer packt selbst mit an, 16 Stunden am Tag. Viele Gäste halten auf der Durchreise Richtung Ostsee an. Manche wollen dort gar eine Hochzeit feiern. Die seltensten Gäste im Schloss sind aber die Dorfbewohner selbst. Obwohl die Deutschländer einiges in die Gegend investieren, wie zuletzt eine insolvente Traditionsfleischerei in Pasewalk aufgekauft, bleibt das Dorf auf Distanz. O-Ton 27: Detlef Deutschländer Wir müssen eigentlich einschätzen, das Objekt wird von den Krugsdorfern nicht angenommen. In keiner Weise. Wir haben versucht, als wir es übernommen haben, mit Krimidinner, mit Leseabend, mit kulturellen Veranstaltungen, aber es ist unheimlich schwierig. Es hängt sicher damit zusammen, dass die wirtschaftliche Lage schwer ist, eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht und die Jugend weg. Obwohl ich muss sagen, wir unternehmen im Golfverein viel für die Jugend. Wir haben Veranstaltungen mit der Euro-Schule Torgolow, wo Abiturienten Golf spielen lernen, innerhalb des Schulsportes, was auch mit den Gymnasien in Pasewalk erfolgt. Also wir bemühen uns schon in Richtung Nachwuchsarbeit, gerade junge Leute für den Golf zu engagieren und zu finden. Autorin: Ein kühnes Vorhaben in einer Region mit 20 Prozent Arbeitslosigkeit. An Visionen fehlt es den Deutschländern kaum. Beide Eheleute wuchsen in Mecklenburg-Vorpommern auf. Direkt nach der Wende gingen sie nach Bayern, arbeiteten sich hoch und gründeten ein mittelständiges Pharmaunternehmen, das sich auf Sportergänzungsmittel spezialisiert. Jetzt kommen sie zurück und treffen auf die gleichen Probleme, die damals schon da waren, als sie gingen. O-Ton 28: Detlef Deutschländer Wir haben eine Arbeitslosigkeit von über 22, 23 Prozent in der Region, wir haben sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit und müssen einschätzen, dass viele Fachkräfte dorthin gegangen sind, wo es die Arbeit gibt. Wir versuchen mit den vorhandenen Mitabeitern etwas zu machen. Diese Stabilität, die man sich als Arbeitgeber wünscht, ist in den seltensten Fällen vorhanden. Wir müssen einschätzen, dass die Leute mit großer Einsatzbereitschaft anfangen und dann enorm nachlassen. Wir haben große Probleme mit Krankheitserscheinungen, wie „burn out“, dass die Leute mit gewissen Stressfaktoren, die im normalen Berufsleben vorkommen, überhaupt nicht klarkommen. Das macht die wirtschaftliche Entwicklung und die Mitarbeiterführung unheimlich kompliziert. Wir haben es in vielen Bereichen der Unternehmung, wo wir denken, dass der eine oder andere überhaupt nicht den Ernst der Lage erkannt hat. Autorin: So kommt es, dass die Betreiber des Schlosses Krugsdorf immer häufiger in Stettin nach Arbeitskräften suchen. Einer, der schon länger hier arbeitet, ist Marek Grodek – ein schlaksiger Oberkellner im Schlossrestaurant. Jeden Tag fährt er 35 Kilometer von Stettin nach Krugsdorf und wieder zurück. Die tägliche Fahrt nimmt der zweifache Familienvater auf sich, denn in Stettin steht sein kleines Haus, das noch nicht abbezahlt ist. O-Ton 29: Marek Grodek Übersetzung: Ich mag diese Arbeit und bin schon seit 15 Jahren im Beruf. Kellner war meine bewusste Berufswahl. Aber jetzt arbeite ich in Deutschland, weil ich in der polnischen Gastronomie niemals so viel verdienen kann wie hier. Für Deutsche ist es zu wenig, weil es die niedrigsten Sätze sind, aber für mich sind sie immer noch höher als in Polen. Autorin: Aber nicht nur die, die im Schloss arbeiten, kommen oft aus Polen. Auch manche Gäste stammen von dort – so zum Beispiel die Golfer. Mittlerweile ist jedes dritte Mitglied im Golfclub Pole. O-Ton 30: Detlef Deutschländer Ja, als wir dieses Objekt übernommen haben, haben wir eine Marktrecherche gemacht und festgestellt, es gibt auch in Stettin, in Pinowo ein Golfplatz, wo viele Polen spielen gehen. Wir haben uns den Platz angeschaut, die Mitgliedstruktur uns angeschaut und dann haben wir uns marketingmäßig was einfallen lassen und viele dieser Golfspieler für uns gewonnen, weil wir attraktivere Bedingungen geschaffen haben. Wir sehen es perspektivisch. Wenn in Polen in 2-3-4 Jahren der Euro eingeführt wird, dann wird eine Sogwirkung aus Stettin entstehen auf die Region und sich positiv auswirken. Viele unserer polnischen Gäste kommen aus dem klassischen Business. Es fängt bei dem zweiten Bürgermeister an, über Ärzteschaften, Rechtsanwälte, Polizeipräsidenten, bis zu Banken, und wir können mit einem ausgewogenen Preis-Leistungsverhältnis einen hohen Standard anbieten. 04 MUSIK Titel: Life is real Interpret: Ayo Komponist: J.0. Ogunmakin Label: Polydor, LC 00309 O-Ton 33: Mathias Enger Stettin ist eine der spannendsten Städte, die ich mir vorstellen kann. Spannend, weil obwohl es eine Stadt mit 420 Tausend Einwohnern ist, eine relativ kleine Stadt ist. Räumlich braucht man vom Zentrum keine 10 Minuten und man steht mitten im Wald. Das ist eine Lebensqualität, die nicht jede Großstadt hat. Man hat viel Wasser. Ein Drittel der Stettiner Stadtfläche ist Wasser. Für alle die, die kein Wassersport betreiben, sich aber daran erinnern, dass Wasser in der Stadt auch Leben ist, den Charakter einer Stadt prägt.1992/93 sagte der damalige Wojewode Marek Tarasiewicz zum ersten Mal einen Satz in der Geschichte dieser Stadt, der ganz wichtig war: Die Steine dieser Stadt reden nicht nur Polnisch. Das war der Startschuss für viele junge Stettiner, in dieser Stadt geborene Stettiner, sich mit der Geschichte der Stadt auseinander zu setzen. Autorin: Mathias Enger, der seit 20 Jahren in Stettin lebt, ist der ständige Grenzgänger. Der Reiseführer begleitet Deutsche auf die polnische Seite und Polen auf die deutsche. Dass Stettin zunehmend an Bedeutung in der Region gewinnt, sieht er als eine natürliche Entwicklung. Es wächst eben zusammen, was zusammen gehört. Bis 1945 war es eine deutsche Stadt. Viele bekannte Musiker, Künstler, gar die Zarin Katharina die Große wurden hier geboren. Nach dem Krieg wurde es zuerst sowjetisches exterritoriales Gebiet. Dann, in den 50er Jahren, wurde Stettin polnisch. Einige Jahrzehnte wurde in der Stadt über die deutsche Vergangenheit geschwiegen. Zumal die neuen Bewohner, die aus dem Osten Polens kamen, Stettin bis dahin nicht gekannt hatten. Erst in den 90er Jahren fing die Spurensuche an, die bis heute anhält. KIRCHENGLOCKEN ATMO: Kaffee Rösterei O-Ton 35: Jarek Malajewski, polnischer Kaffee-Verkäufer (O-Ton in Deutsch) Stettiner Kaffee aus Stettiner Rösterei, sehr gut geröstet. Heute ich habe einen Touristen aus Niederlanden und aus Norwegen. Stettin ist eine touristische Zeit. Autorin: Jarek Malejewski ist Anfang 30 und oft selbst ein Tourist in Deutschland. Vor allem als Fahrradfahrer. Auch seine kleine Kaffeerösterei ist ein Fahrradgeschäft. Eine Idee, die er von seinen Deutschlandtouren mitgebracht hatte. Vieles gefällt ihm dort gut: O-Ton 36: Jarek Malajewski Übersetzung: Ganz ehrlich - ich liebe deutsche Heringe. Heringsbrötchen gibt es bei uns so nicht. Und die Heringe schmecken in Deutschland viel besser. Gerade vor kurzem habe ich wieder 12 Kilo Heringe aus Wismar geholt. Ich kaufe dort immer etwas mehr ein, auch für meine Freunde, denn in Stettin kriegt man so gute Heringe nicht. Atmo: Fahrradklingel O-Ton 37: Mathias Enger Was suchen die Deutschen eigentlich, wenn sie nach Stettin kommen? - Günstige Einkaufsmöglichkeiten, Zigaretten, Käse, das ist der erste Schritt. Die Polen fahren nach Prenzlau einkaufen, weil es dort billiger ist. Jeder sucht das, was auf der anderen Seite attraktiver ist, exotischer, anders. Das ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist, vielleicht suchen sie die Wurzeln ihrer Familie, vielleicht suchen sie das deutsche Stettin, die deutsche Tradition dieser Stadt. Selten, dass sie versuchen, sich auch mit der polnischen Gegenwart der Stadt auseinanderzusetzen. Das ist dann eher die Gegenwart des Einkaufens, aber nicht die Gegenwart der Polen, die heute in der Stadt leben. ATMO: Café Autorin: An dem Kaffeestand auf den Stettiner Auen erfährt man, was diese Stadt ausmacht. Jeder, der vorbeikommt, hat seine Vision. Doch in einem Punkt ist man sich einig: Die Umgebung brauche mehr gemeinsame Identität. Das meint auch Tadeusz Michalski, gebürtiger Stettiner. O-Ton 40: Tadeusz Michalski Übersetzung: Die regionale Identität ist etwas, was nur sehr mühsam wieder zu beleben ist. Zig Jahre Kommunismus hinterlassen in den Köpfen der Menschen Spuren. Lange Zeit war der Nachbar eher Feind und jetzt soll er Freund sein – der Wechsel gelingt nicht immer schnell. Man muss noch viel Arbeit leisten, damit nächste Generationen anders denken. Aber es macht Sinn – denn bei der Jugend funktioniert es. Es müsste aber mehr gemeinsame Schulen geben, dann könnte man vielleicht in zehn Jahre so etwas, wie eine neue Einstellung sehen. Autorin: Über Jahrzehnte war die Identitätsfrage in dieser Grenzregion ein Tabu. Auf beiden Seiten. Polen als traditionell zentralistisches Land spielte bis in die 90er Jahre die Frage nach regionaler Identität runter. Die DDR auch. O-Ton 41: Mathias Enger Es gab kein Stettiner Haff – es war abgeschafft. Die „Deutsche Dramatische Republik“ hatte beschlossen, dass alle Namen, die an die deutsche Vergangenheit in heute polnischen Gebieten erinnern, auch im deutschen Sprachgebrauch verändert werden, und so wurde aus dem Stettiner Haff das Oder Haff. Auch auf der deutschen Seite fehlt die eigentliche regionale Identität. Dazu wurde jegliche Art der regionalen Identität von den Kommunisten versucht zu unterbinden. Es ist versucht worden, eine komplett neue eigene Identität zu schaffen. Autorin: Heute sucht das Grenzland nach Gemeinsamkeiten. Stettin braucht das Umland und das Umland braucht Stettin. Firmen und Menschen siedeln um, weil sie sich von der engeren Nachbarschaft mehr versprechen. Neuerdings ziehen viele Polen nicht nur wegen billigerer Mieten nach Deutschland, sondern sie kaufen auch das Land. Der Kaffeeverkäufer Malejewski sieht die Entwicklung mit Selbstironie: O-Ton 42: Jarek Malajewski Übersetzung: Ich muss darüber lachen, weil ich mich an die ganze Panikmacherei erinnere, kurz vor dem Beitritt Polens in die EU. Es hieß damals, dass die Deutschen unser Land und unsere Städte kaufen werden, dabei ist es genau umgekehrt. Die Polen fahren über die Grenze und kaufen Häuser und lassen sich dort nieder. 05 MUSIK Titel: W moim magicznym domu Interpret: Hanna Banaszak Text/Komposition: J.Strobel/M.Czapinska Label: Polskie Nagrania Muza, SX 2205 Autorin: Rosow ist ein 150 Einwohner kleines Dorf. Verträumt und ordentlich. Die alten hohen Bäume verraten, dass die Siedlung schon seit Jahrhunderten steht. Bis zur polnischen Grenze sind es nur zwei Kilometer. Zuerst lief es in Rosow genauso wie in den meisten ostdeutschen Dörfern nach der Wende: Die Jugend wanderte ab, die Bewohnerzahl schrumpfte. Bis vor ein paar Jahren junge Polen das stille Dorf hinter der Grenze entdeckten. Heute hat jeder dritte Rosower einen polnischen Pass. Diese Zugereisten haben meist gute Studienabschlüsse in der Tasche und einen Job in Stettin. Sie unterscheiden sich schon von den Polen, die in den Löcknitzer Plattenbauwohnungen leben. Vor allem dadurch, dass sie gebildeter und reicher sind. Fast jeden von ihnen führte der Bürgermeister Karl Lau persönlich durch das Dorf und stellte ihn den Nachbarn vor. O-Ton 43: Karl Lau, Bürgermeister von Rosow Sicherlich sind es studierte Leute, haben nen guten Job, arbeiten garantiert nicht auf der deutschen Seite, sondern in Stettin. Sie haben eine gewisse Ausbildung und ich glaube schon, dass es die Elite ist, ja. Autorin: Für das Dorf heißt es: Die Bewohnerzahl steigt, der Altersdurchschnitt sinkt, alte Häuser werden renoviert. Und es kommen wieder Kinder ins Dorf. O-Ton 44: Karl Lau Wir hatten bis zur politischen Wende einen Kindergarten im Dorf gehabt, der aber geschlossen werden mussten, weil nicht mehr genug Kinder da waren und die Zahl der Bevölkerung rückläufig war. Jetzt haben wir eine Tagesmutti im Dorf, die deutsche und polnische Kinder betreut. So kann man sich vorstellen, dass eine gewisse Entwicklung nach oben wieder da ist – das hätte ich vor zehn Jahren noch nicht geglaubt. Aber jetzt ist die Tatsache so, dass sich eine neue Qualität entwickelt. Autorin: Im Nachbarort entstand sogar ein ganz neuer Kindergarten – so etwas hat es seit der Wende nicht mehr gegeben! Viele polnische Familien machen aber der Dorfgemeinschaft auch „private Freizeitangebote“: Musikalische Erziehung oder Malkurse für die Kinder. Darunter ist auch die Familie Popiela. Nach Rosow kamen sie vor sechs Jahren. O-Ton 45: Radek Popiela Übersetzung: Wir hatten eine schöne Wohnung in Stettin, aber als das zweite Kind auf die Welt kam, wurde es zu eng. Also suchten wir nach einer größeren und merkten, dass die Preise inzwischen sehr gestiegen waren. Da sagte meine Frau: Lass uns nach Deutschland ziehen. Für mich kam das nicht in Frage, aber als sie unser Haus im Internet fand und wir es uns anschauten, dachte ich, warum eigentlich nicht. Es sind zehn Kilometer nach Stettin und der Preis war super. Dann ging alles ganz schnell. Und als wir renovierten, kamen ständig Leute vorbei: Polen, die auch etwas suchten und Deutsche, die etwas verkauften. Manchmal konnte ich helfen und so kam ich darauf, dass ich als Makler arbeiten könnte. Autorin: So fing es an. Doch es dauerte lange, bis sich die junge Stettiner Familie an das Leben in der Grenzprovinz gewöhnte. O-Ton 46: Radek Popiela Übersetzung: Für jemand, der in Stettin oder Warschau lebte, ist das zuerst etwas Neues, dass ein Amt nur zwei oder dreimal in der Woche öffnet. Ebenso wie die obligatorische Mittagspause des Beamten, obwohl die spanische Siesta in dieser Gegend nicht dringend nötig ist. Jetzt haben wir uns schon dran gewöhnt, dass man zwischen 12 und 13 Uhr nichts erledigen kann. Interessant ist auch, dass man in der Provinz für alles ein Termin braucht – ob die Bank oder das Amt, ohne Termin läuft nichts. Das war schon gewöhnungsbedürftig. Es dauerte auch, bis wir verstanden haben, dass im Grenzgebiet immer noch alles über das heilige Faxgerät geht und kaum jemand eine Notwendigkeit verspürt auf elektronische Anfragen zu antworten. Das alles war schon eine Umstellung. Autorin: Popielas Kunden kommen zu 90 Prozent aus Polen. Der Grund: Eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Stettin kostet 80 Tausend Euro. Dafür kann man in der deutschen Grenzregion ein Haus mit Garten kaufen. Was die Integration etwas schwierig macht, ist weniger die Kriminalität sondern eher das Thema „Generationen“. Die zugezogenen Polen sind meist jung, während die eingesessenen Dorfbewohner älter sind. Die Nationalität spielt weit weniger eine Rolle als der Altersunterschied. ATMO Begrüßung Gerade eben bringt eine Polin ihre Tochter zum wöchentlichen Malunterricht bei Familie Popiela. Dafür revanchiert sich diese bald mit einem Ausflug zur Stettiner Philharmonie und zum Puppentheater. O-Ton 47: Polnische Mutter Übersetzung: Es geht darum, dass die Kinder eine lebendige polnische Sprache lernen. Manchmal schauen uns deutsche Mütter etwas verwundert an, als wären wir zu ambitioniert. Aber wir sehen ja, dass sich die Mühe lohnt. Autorin: So wächst fast unbemerkt eine neue Generation heran. Das Grenzland ist ihr Zuhause. Für die Deutschen und die Polen ist es auch eine Art Spielwiese. Was woanders kaum vorstellbar ist, wird hier ausprobiert. Mit der neuen Generation entsteht auch eine neue, gemeinsame Identität. Dafür steht die fünfjährige Michalina, die erst vor kurzem nach Rosow zog. O-Ton 48: Unterhaltung in Deutsch - Michalina, hast du deutsche Freunde? – Ja. – Wen? – Laura und Duell. – Kannst Du genauso Polnisch wie Deutsch? – Nein. - Was kannst Du besser? – Auf Deutsch oder auf Polnisch. Ich weiß es nicht. – Was ist leichter für dich? – Polnisch. - Erzähl von deinen deutschen Freunden. Was gefällt Dir am besten an deinen Freunden? - Die Haare und die Pullovern. - Hast Du Geschwistern? – Nein, aber einen Bruder. - Weißt Du eigentlich, dass Du in zwei Länder zuhause bist? – Klar. In Polnischland und in Deutschland. - Und wo gefällt es dir besser? – In Polnischland. Weil da kenne ich mehr Ecken, als in Deutschland, im Polnischland. Kennmelodie Spr. V. Dienst: Grenzgänger der Uckermark Der deutsche Speckgürtel um das polnische Stettin Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Rosalia Romaniec Ton: Alexander Brennecke Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2013 Manuskript und Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 1