KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR Titel der Sendung : Labor und Nische. Leipzig als Literaturstadt AutorIn : Tabea Soergel und Martin Becker Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 4.3.2012 Regie : Martin Becker Besetzung : Ulrike Krumbiegel, Barnaby Metschurat Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio SPRECHERIN Vorwort. ATMO Bahnhof ANKUNFT SPRECHERIN "Ich stopfe die Münzen in meine Tasche und laufe weiter in den Bahnhof hinein. Die Halle mit den Fahrkartenschaltern ist auf der unteren Ebene. Aber sind es die Fahrkartenschalter, die ich suche? Ich höre das Flattern von Tauben und blicke hoch zu dem Glasdach, das sich über die Bahnsteige wölbt. Da sind keine Tauben." O-TON MARYNA ZHDANKO Maryna 6, 00:36 - 01:52 "Manchmal denke ich, ich bin jetzt so leicht und packe einfach meine Sachen und gehe woandershin. Aber auf der anderen Seite passieren so viele Dinge, die so warm sind und so herzlich. Und da will ich gar nicht weg und kann mir gar nicht vorstellen: Wie kann das sein, wo kann ich denn sonst sein, wenn nicht hier? Und das lässt einen bleiben." ERZÄHLER Maryna Zhdanko, Illustratorin. O-TON MATTHIAS SENKEL Interview Matthias Senkel, 31:22 - 32:07 "Was mich vielleicht schon so ein bisschen angestachelt hat, war - Leipzig ist ja auch so ein bisschen eine Stadt mit einer Großmannssucht. Und das lädt natürlich auch zu einem Augenzwinkern ab und zu mal ein im Text." ERZÄHLER Matthias Senkel, Schriftsteller. O-TON MICHAEL HAMETNER Track 00, 06:49 - 07:25 "Ob ich in Berlin irgendwo als Schriftsteller doch aus dieser Anonymität nicht so rauskomme - ich kann zwar jeden Morgen in meinem Verlag eine Tasse Kaffee trinken, die würden die mir auch geben. Aber das ist ja noch keine Verwurzelung in einer Stadt." ERZÄHLER Michael Hametner, Literaturredakteur. SPRECHERIN "Schon lange sind keine Tauben mehr in unserem Bahnhof. Früher war das Glas dort oben dunkel und schmutzig und zerbrochen, so dass die Tauben ihren Weg hinein fanden. Aber wieso ist keine einzige mehr da? Die großen, stählernen Torbögen, durch die die Züge ein und aus fahren (Kopfbahnhof! Der größte Europas!, hieß es früher), sind offen." O-TON REINHILD BÖHNKE Böhnke2, 08:36 - 09:16 "Für uns ist Leipzig ein sehr guter Ort, um zu arbeiten und zu leben. Leipzig war ja schon immer kulturell sehr interessant, aber es hat natürlich auch was ein bisschen Kleinstädtisches und auch manchmal Miefiges und Spießiges. Das ist oft ein Kontrast und ein Konflikt, aber das belebt das ja auch ein bisschen. Es entwickeln sich ja auch Szenen, wo wieder was Neues entsteht, aber ich finde auch die Tradition sehr, sehr wichtig und fühle mich da wohl." ERZÄHLER Reinhild Böhnke, Literaturübersetzerin. O-TON RENÉ PÖLZING Pölzing1, 04:14 - 04:27 "Warum nicht Frankfurt/Oder. Könnte man dann auch fragen. Ja, ich lebe einfach mal hier. Klingt jetzt vielleicht komisch, wegen dem "ick". So ist das halt." ERZÄHLER René Pölzing, Buchhändler. O-TON SEBASTIAN WOLTER Wolter2, 02:15 - 02:58 "Die Diskussion, die öfter geführt wird, wo ich auch öfter eingeladen war, ist: Leipzig als Buchstadt. Das ist, denke ich, wirklich vorbei. Literaturstadt ist vielleicht das, was danach gekommen ist, weil es eben so viele Autoren hier gibt. In dem Sinne ist Berlin natürlich noch viel mehr eine Literaturstadt, aber wir haben das Literaturinstitut hier, wir haben diese sehr agile Untergrundszene mit sehr vielen Autoren, wo ich herkomme. Man sieht auch bei den Buchmessen, was für ein großes Interesse an Literatur überhaupt hier herrscht." ERZÄHLER Sebastian Wolter, Verleger. SPRECHERIN "Vielleicht kommen nachts, wenn der Bahnhof fast leer ist, die Taubenjäger, mit großen Netzen werden die Verirrten eingefangen, neben McDonald's ist eine kleine Tür, die führt direkt ins Fleischkühlhaus." ERZÄHLER Clemens Meyer, "Gewalten". MUSIK SPRECHERIN Kapitel eins. ERZÄHLER Halb verfallene Industriegebäude, daneben schick sanierte Wohnhäuser. Ehemalige Bürokomplexe, in denen sich Künstler ihre Ateliers eingerichtet haben. Breite Bürgersteige, das Rumpeln der alten Tatra-Straßenbahnen auf den lockeren Gleisen. Der endlose Blick an den Schienen entlang, die sich im Nirgendwo des Stadtrands verlieren. Die Melancholie und die Freiheit. Der Charme des Verfalls. Der Zauber der Möglichkeiten. Das sind die Straßen von Leipzig. O-TON SEBASTIAN WOLTER Wolter1, 04:37 - 05:11 "Ich würde nicht Metropole sagen zu Leipzig, sondern das als so eine klassische 'second city' quasi bezeichnen. Das ist genau dazwischen, das ist weder Provinz, noch ist es Großstadt. Und zum Leben ist es sehr angenehm, und auch, was so Freizeitaktivitäten, Musik, Lesungen, was auch immer, betrifft, kann man sagen, dass es ein sehr breites Angebot ist, auch viel breiter als in anderen Städten in Deutschland vergleichbarer Größe, aber man hat natürlich nicht in jeder Sparte soviel Auswahl wie in Berlin, wo es alles, sage ich mal leicht übertrieben, hundertfach gibt. Bei uns gibt es eben von dem zwei, von dem drei, von dem einen, eine Veranstaltung so im Monat." ERZÄHLER Plagwitz ist ein Stadtteil, über den viel geredet und geschrieben worden ist in den letzten Jahren. Ein industriell geprägter Ort. Von den meisten der Fabriken sind nur noch die Gebäude übrig geblieben. Die ehemalige Baumwollspinnerei beispielsweise ist heute der Hot-Spot der Leipziger Kunstszene: Die wichtigsten Galerien der Stadt präsentieren sich in den ehemaligen Fabrikhallen, Künstler wie Neo Rauch haben auf der Spinnerei ihr Atelier. Wohin man auch geht, überall in Plagwitz sieht man die Spuren des Umbruchs: der ehemalige Industriestandort ist längst zum angesagtesten Teil der Stadt geworden. O-TON SEBASTIAN WOLTER Wolter1, 08:20 - 08:49 "Ich weiß, dass das früher eine wirkliche Gewerbe- und Industriegegend war, Plagwitz und Lindenau, jetzt ist es wahrscheinlich eher Kleingewerbe und Kreativbranche. Das sieht man auch bei den ganzen Kantinen, die hier sind, wenn man da essen geht, wer da so hinkommt. Im Prinzip ist es vielleicht doch wieder, wie soll ich sagen, ja, ein Gewerbeviertel geworden, auf eine andere Art. Und sicherlich mit viel weniger Beschäftigten als früher. Das passt gut, da gibt es eine gewisse Tradition, glaube ich, hier." SPRECHERIN Einige hundert Meter Luftlinie von der ehemaligen Baumwollspinnerei entfernt findet man eine Leipziger Erfolgsgeschichte: den Verlag "Voland und Quist". Untergebracht in einem kleinen Raum in einem sachlichen Bürokomplex, dessen Flure nach Akten und Behörden vergangener Zeiten riechen. Hier arbeitet Sebastian Wolter. Verleger, Jahrgang 1980, Studium der Verlagswirtschaft in Leipzig und Edinburgh. O-TON SEBASTIAN WOLTER Wolter1, 01:04 - 01:44 "Ich glaube, dass es hier leichter fällt, sich nicht ablenken zu lassen. Hinzu kommt, dass auch die Lebenshaltungskosten und auch Büromieten zum Beispiel sehr günstig sind, das ist ja in Berlin mittlerweile nicht mehr so leicht zu finden. Man kann sich hier halt auch konzentrieren. Es gibt auch eine sehr agile literarische Szene hier in Leipzig, wo wir auch viel Inspiration geschöpft haben, wo wir am Ende auch herkommen. Während unseres Studiums haben wir ja Literaturveranstaltungen organisiert. Und einige der Autoren, die damals in so einem Studentenprojekt mitgemacht haben, sind jetzt in unserem Verlag als Autoren vertreten." SPRECHERIN Als alle Welt über das Leipziger Verlagssterben redete, als Verlage wie Reclam und Co. der ehemaligen Buchstadt den Rücken kehrten, da gründete Sebastian Wolter zusammen mit seinem Mitstudenten Leif Greinus "Voland und Quist". Als erstes Buch erschien ihre Kurzgeschichten-Anthologie "Die Surfpoeten", ein Band, mit dem der Verlag sich binnen kürzester Zeit einen Namen im literarischen Underground gemacht hat. Schon bei der Gründung war beiden Verlegern klar, dass sie niemals einen Provinzverlag zur Förderung der lokalen Autorenlandschaft aufbauen wollten. O-TON SEBASTIAN WOLTER Wolter1, 03:46 - 04:15 "Das war von Anfang an nicht so, weil wir immer schon viele Autoren hatten aus dem gesamtdeutschen Raum und vor allem aus Berlin. Und ich bin auch ganz froh, dass uns nicht so ein Ostverlag-Image anhaftet. Geographisch mag das stimmen, und Berlin ist im Grunde ja auch Ostdeutschland, aber das wäre so nicht richtig. Das ist ein Verlag, der junge urbane Literatur veröffentlicht, das ist im gesamten deutschsprachigen Raum angesiedelt." ERZÄHLER Heute ist "Voland und Quist" einer der wichtigsten Verlage in der jungen, deutschen Literaturszene. Fünf bis sechs Titel pro Halbjahr umfasst das Programm mittlerweile; Schriftsteller wie Jochen Schmidt und Ahne gehören zum Autorenstamm. Und wenn die Autoren des Verlags zu Veranstaltungen nach Leipzig kommen - sei es aus Berlin, sei es aus München -, dann lieben sie die Stadt. Weil es noch Orte gibt wie das Union-Theater in Connewitz, heute nur noch UT Connewitz genannt, eines der ältesten noch erhaltenen Lichtspieltheater der Republik. O-TON SEBASTIAN WOLTER Wolter1, 05:46 - 06:03 "Wir haben uns sehr gezielt schöne Veranstaltungsorte auch immer rausgesucht, auch schon, bevor es den Verlag gab, haben wir im UT Connewitz Veranstaltungen gemacht, später auch im Horns Erben, und die Autoren sind sehr begeistert. Eigentlich sagen alle: Das UT Connewitz ist der schönste Veranstaltungsort Deutschlands, so ungefähr. Und so 'ne Orte gibt's nicht viele in Deutschland. O-TON SEBASTIAN WOLTER Wolter1, 06:04 - 06:34 "Das ist auch so ein Vorteil an Leipzig, dass das halt so viele Off-Kulturprojekte gibt, als der UT Connewitz e.V. betreibt das halt nicht kommerziell, sondern will da halt einen guten Veranstaltungsort haben und vor allem das Gebäude sichern. Diese Freiräume, weiß ich nicht, das wird in anderen Städten halt immer weniger. Hamburg ist ein klassisches Beispiel, in Berlin geht das so langsam los, und es wird sicherlich noch einige Jahre dauern, aber die Gebäude werden dort auch alle saniert." ERZÄHLER Sebastian Wolter schaut aus seinem Fenster über die Dächer der Stadt. In den Büros nebenan arbeiten Grafiker, Webdesigner, Maler, Schriftsteller. Irgendwann am Abend wird er sein Büro abschließen, vermutlich eher später als früher, die Frühjahrstitel erscheinen schließlich gerade. Dennoch wird er Zeit haben für die einmalige Atmosphäre der Stadt, die mit den Jahren in Leipzig fast zu selbstverständlich zum Leben dazu gehört. O-TON SEBASTIAN WOLTER Wolter2, 00:45 - 01:19 "Ich hab immer wieder Momente, wo ich mich sehr wohlfühle. Wenn ich mit meiner kleinen Tochter und meiner Freundin im Park bin im Sommer, das ist sehr schön. Also, das ist ja auch nicht normal, dass man soviel Grün hier hat. Oder am See. Aber ich glaube schon, dass man das als Leipziger auch als gegeben hinnimmt leider. Es gibt viele Momente, wo mir das so bewusst wird, dass es hier schön ist oder dass ich gerade glücklich bin oder so. Aber ich setze das zu selten damit in Verbindung, dass das auch was typisch Leipzigermäßiges ist." ATMO STRASSENBAHNEN SPRECHERIN "Es ist schattig auf dem kleinen Fluss, Bäume wachsen bis an die Ufer auf beiden Seiten. Die Baumkronen berühren sich fast über uns, immer wieder müssen wir Äste und Zweige in Kopfhöhe umfahren. Der Zweier mit Ahab und meiner Frau ist kaum noch zu sehen, sie machen gute Fahrt. Wir haben mehr Tiefgang, mein Ruder stößt ab und zu auf Grund, wir setzen auf Sand- und Schlammbänken auf, müssen uns gemeinsam abstoßen. Ein großer Reiher flattert langsam vor uns her, als wollte er uns den Weg weisen in diesen halbtoten Dschungel, verschwindet dann im Dickicht. Im Uferschlamm stecken Autoreifen und runde steinerne Papierkörbe, die sind noch aus DDR-Zeiten, ein paar Jahre nach der Wende verschwanden sie allmählich aus dem Bild der Stadt, wer hat sie hierher gebracht?, ein verwitterter Pullover zwischen den Zweigen, halb im Wasser, vielleicht ist der Mensch, der ihn mal getragen hat, hier auch irgendwo." ERZÄHLER Im 19. und frühen 20. Jahrhundert galt Leipzig international als "city of books", als Buchstadt. Sie war Haupthandelsplatz des deutschen Buchgewerbes mit etwa 1500 Buchhandelsfirmen, Druckereien und Wirtschaftsverbänden. Große Verlage wie Baedeker, Brockhaus, Insel, Kiepenheuer oder Reclam hatten sich in Leipzig niedergelassen, fast ein Zehntel der Bevölkerung arbeitete in der Buchbranche. Der Zweite Weltkrieg verwüstete die Verlagslandschaft finanziell wie infrastrukturell. In der DDR bewahrte sich Leipzig seinen Ruf, doch nicht nur das Land, auch viele Verlage waren aufgeteilt in West und Ost und entwickelten sich unabhängig voneinander. SPRECHERIN "Der Laubwald um uns wird immer dichter, Vogelrufe, die ich nicht kenne, und kein Haus, kein Mensch zu sehen, als wären wir nicht mitten in der Stadt, alles verschwunden plötzlich, und wir in einem Urwald, der nicht endet, so lange wir auch rudern. Müsste nicht ein Arm der Elster vor uns liegen, ein größerer, breiterer Strom, der uns zwischen Kleingartenanlagen und steilen Hausfassaden durch den Westteil der Stadt tragen wird? Vorbei an Fabrikanlagen, Kanalmündungen, Industriekanälen, Häuserfronten mit Fenstern direkt über dem Wasser, verwilderten Gärten, unter S-Bahnbrücken hindurch; da sitzt ein Nutria unter einem Birnbaum, aufgerichtet auf den Hinterpfoten isst er einen Apfel, das müsste doch eigentlich eine Birne sein, aber vollkommen rund liegt die Frucht, an der er knabbert, in seinen Händen, ein Obstgarten mit verfallenen Häuschen, dort müssten wir an Land gehen und kampieren, bis der Winter kommt." ERZÄHLER Clemens Meyer, "Gewalten". MUSIK SPRECHERIN Kapitel zwei. O-TON RENÉ PÖLZING Pölzing3, 04:29 - 05:14 "Es gibt eine Idee, ja, aber eigentlich, einerseits, ist das eine total altmodische. So ein Versuch, so eine wirkliche inhabergeführte Buchhandlung noch mal zu machen, was wahrscheinlich wirklich irrsinnig ist, wenn man da 2011 anfängt. Und andererseits ist es natürlich so: Ich möchte natürlich mehr machen als Bücherverkaufen. Bücher sind eigentlich nur Mittel zum Zweck. Muss man einfach so sagen. Ich würde auch E-Books verkaufen, wenn ich wüsste, wie ich das machen soll." ERZÄHLER Am 29. August 1953 legt Walter Ulbricht in Leipzig den Grundstein für einen Gebäudekomplex, der das Gesicht der Stadt in den nächsten Jahrzehnten prägen wird - und noch bis heute prägt: Das Ring-Café. Der Stalinbau im Zentrum wird zum größten Café der DDR mit Platz für bis zu 800 Gäste. In den Räumen finden Modeschauen für Unterwäsche, Tanztees und Faschingsfeiern statt. Die Zeit des größten Kaffeehauses der DDR ist längst vorbei. Und auch der Laden des Herrenausstatters mit seinen prunkvollen hölzernen Einbauten, Regalen und Schubladen stand leer. Bis René Pölzing, seit rund einem Jahr Inhaber des "KAPITALDRUCK", ihn für sich entdeckte. O-TON RENÉ PÖLZING Pölzing1, 01:21 - 01:53 "Es war eine Verkettung von unglücklichen Umständen. Ich hab 2007 das Bücherverkaufen angefangen. Erst im Plattenladen, im 'Freezone' erst, da habe ich mit einem kleinen Regal angefangen, so mit zwanzig Büchern. Und darüber eigentlich wurde das Regal immer größer. Jetzt sind es so um die hundert Titel, die da stehen. Und dass da irgendwann mal ein Laden draus werden soll, das war auch 2007 schon klar." O-TON RENÉ PÖLZING Pölzing1, 03:12 - 03:49 "Buchhandel ist eine der wenigen Nischen noch, wo man als Quereinsteiger noch einsteigen könnte und aber vielleicht noch eine kleine Chance hätte, weil es vielleicht noch ein paar Grundvoraussetzungen gibt, die das Ganze ermöglichen, dass es eine Chance haben könnte. Gibt so was wie Buchpreisbindung und so. Die macht es ein bisschen einfacher, gegen Ketten zu bestehen. Wenn ich jetzt sagen würde: Ich möchte so einen kleinen feinen Lebensmittelnadel aufmachen, würde ich das noch irrer finden als einen Buchhandel." ERZÄHLER In den Auslagen des ehemaligen Herrenausstatters stehen heute Bücher. Vor den Schaufenstern sind Retro-Tische, Stühle und Sessel platziert - neben Literatur verkauft René Pölzing auch Kaffee, selbstverständlich nicht irgendwo geröstet, sondern in Leipzig. Man kann Bücher, Zeitungen und Magazine lesen - oder mit dem Inhaber ins Gespräch kommen. Von montags bis samstags, von morgens bis abends steht René Pölzing hinter der Theke seines Ladens. Und erzählt gern, warum genau hier der richtige Platz ist für einen Laden namens KAPITALDRUCK. O-TON RENÉ PÖLZING Pölzing3, 01:15 - 01:41 "Ich weiß gar nicht, wie man das nennen kann - vielleicht einfach Zufall, dass es hier wirklich mal Ende des 19. Jahrhunderts eine Druckerei gab, von der man heute natürlich gar nichts mehr sieht oder spürt oder irgendwie, weil es natürlich alles ganz anders aussieht. Aber dass es mal eine Druckerei gab, wo der erste Band gedruckt wurde von diesem Marx, 'Kapital', Band eins." O-TON RENÉ PÖLZING Pölzing3, 00:09 - 00:30 "Der Ort ist schon interessant. Also, der Ort hat mehr, als dass er einfach ein Ladengeschäft in einer Häuserzeile ist. Das war schon auch spannend. Aber das hat vielleicht auch damit zu tun: Jeder andere Ort hätte das eventuell auch. Du musst dich einfach damit beschäftigen, du musst das einfach wissen wollen." O-TON RENÉ PÖLZING Pölzing3, 00:43 - 01:11 "Man kann aber auch sagen: Warte mal, was ist das denn für ein Ort. Wie sieht der innendrin aus. Okay, das ist ein Stalinbau. Der hat glücklicherweise immer noch einen Teil dieser Originaleinbauten. Das ist ein Stück Geschichte. Möchte ich das mitnehmen, zum Beispiel. Ich persönlich sage: Ich möchte das gerne mitnehmen. Das heißt nicht, dass ich irgendwie die Zeit total super finde, aber ich finde den Ansatz einer Auseinandersetzung total gut." SPRECHERIN Seit dreizehn Jahren lebt René Pölzing in Leipzig. Längere Zeit hat er gekellnert und die Öffentlichkeitsarbeit für einen Club übernommen, und mindestens fünf weitere Jahre wird er bleiben, sagt er. Und lacht. Er will mit seinem KAPITALDRUCK einen kleinen, unabhängigen Ort schaffen: Ein Platz, an dem keine autistischen Wasserglaslesungen stattfinden, sondern wo das Publikum mit dem Gast und miteinander ins Gespräch kommt. Ein Laden, der Labor und Nische zugleich ist. O-TON RENÉ PÖLZING Pölzing 2, 00:41 - 02:05 "Was es interessant macht, ist: Das Einkommensverhältnis ist einfach extrem niedrig. Das heißt, dass deine Lebenshaltungskosten auch nicht extrem oben sind. Das hat einerseits ein paar Chancen, andererseits hat es auch zur Folge, dass es manche Sachen vielleicht nicht gibt. Das bedeutet wiederum, wenn es manche Sachen nicht gibt, hast du natürlich selber die Chance zu sagen: Warum soll ich's nicht machen." O-TON RENÉ PÖLZING Pölzing2, 02:06 - 02:23 "Dann gibt es auch wieder bloß zwei Möglichkeiten. Du kannst dann entweder sagen: Ich entscheide mich jetzt dafür und versuch's. Oder du sagst: Ich hab den Arsch jetzt nicht in der Hose und versuch's nicht. Dann wirst du aber auch die Frage nicht beantwortet kriegen, also, jedenfalls nicht für dich." ERZÄHLER Die Chancen für sein Projekt stehen nicht schlecht. Das Publikum wächst. Denn Leipzig ist schon längst mehr als nur ein Geheimtipp, legendär für seine Atmosphäre, die Freiräume. Das bringt frischen Wind in die Stadt - und neue Einwohner: Leipzig hat die 500.000- Einwohner-Marke längst wieder überschritten, Tendenz steigend. Die andere Seite dieser Entwicklung: In manchen Bezirken sind die Mieten schon rapide gestiegen. Aus unsanierten Schmuckstücken sind gehobene Wohnhäuser mit standardisiertem Echtholzparkett und Fußbodenheizung geworden. Gentrifizierung heißt das Wort, welches auf Podiumsdiskussionen in den einst linkesten und alternativsten Stadtteilen Leipzigs gegenwärtig diskutiert wird: Die Verdrängung alter Bevölkerungsschichten durch wohlhabendere, jüngere Zuzügler. René Pölzing kommt aus Berlin. Und er hat gesehen, wie der Hype eine Stadt verändern kann - im Positiven wie im Negativen. O-TON RENÉ PÖLZING Pölzing1, 05:26 - 05:43 "Ich weiß ja auch, warum ich da weggegangen bin. Eigentlich ist es so ein bisschen, ich bin da weggegangen, weil was jetzt gerade hier passiert - eigentlich müsste ich bald auch wieder hier weggehen. Aber da Leipzig eine langsamer tickende Stadt ist, habe ich, glaub ich, noch Zeit." SPRECHERIN "Wenn ich in der Stadtbahn neben dir sitze, wir mit lachenden Knien uns verständigen, ich den schmutzigen Aschenmast betrachte, der mir aus der Zigarre wächst, bis er zerstäubt ... so zeichne ich dich doch immer in die Lüfte, als flöge Venus in schwarzen Strumpfhosen über den Kuben der Häuser, die Elfenbeinbrüste frei, blendendes Weiß und blendendes Schwarz - Hinter den gläsernen Wänden auf durchschimmernden Treppen steigst du, bis der Gruß deiner Schritte verklingt ... Und immer zeichne ich dich in die Lüfte noch über dem Stoß meiner ungelesenen Bücher." ERZÄHLER Georg Maurer, "Wenn ich in der Stadtbahn" MUSIK/ATMO SPRECHERIN Kapitel drei. O-TON REINHILD BÖHNKE Böhnke3, 02:15 - 02:40 "Das war nicht unsere Absicht, im vornehmsten Viertel zu wohnen. Wir haben so ein bisschen die Stadtteilbücherei, sagen die Leute, hier in unserem Haus. Und davon möchten wir uns auch nicht trennen. Also, ich habe schon aussortiert, aber mehr wird es auch nicht. Es ist auch sehr schön. Coetzee zum Beispiel zitiert ja sehr viel aus allem Möglichen, und auch andere Autoren tun das. Und dann gehe ich an mein Regal und gucke, und dann ist angenehm." O-TON REINHILD BÖHNKE Böhnke3, 02:41 - 03:00 "Abgesehen davon, dass das unser Interesse und Sammelgebiet seit unserer Jugend war. In vielen Büchern sind auch Widmungen drin, sowohl von DDR- Autoren als jetzt auch von vielen englischsprachigen Autoren, die wir hier eingeladen haben von der 'Fähre'". ERZÄHLER Reinhild Böhnke kann aus ihrem Arbeitszimmer auf die alten Laubbäume und Lehmwege des Clara-Zetkin-Parks blicken, der sich durch ganz Leipzig zieht. Seit 1971 übersetzt sie englischsprachige Literatur: unter anderem H. G. Wells, Mark Twain, Henry James, Margaret Atwood. Aber vor allem den Einen: J. M. Coetzee. Sie ibt dem Literaturnobelpreisträger eine deutsche Stimme. Ihre Übersetzungen sind alle hier entstanden, in der letzten unsanierten Gründerzeitvilla der Straße im sogenannten Musikviertel, in dieser großzügigen Wohnung mit Stuckdecken, Flügeltüren und altem Parkett. Im Wohnzimmer dämmert ein grüner Kachelofen, davor steht eine elektrische Heizung. O-TON REINHILD BÖHNKE Böhnke3, 03:02 - 03:32 "Wir haben immer in großen Räumen gewohnt, weil wir auch sehr viele Gäste immer hatten. Zu DDR-Zeiten hatten wir so eine Art Lese- und Diskutierzirkel, was nicht ganz unproblematisch war, weil man da erwarten musste, dass irgendjemand da das stört. Waren alternative Leute dabei. Wir haben zum Beispiel mal Erich Loest eingeladen, als der Leseverbot hatte und sehr darunter gelitten hat." SPRECHERIN Reinhild Böhnke ist 1944 in Krostau geboren, einem kleinen Dorf bei Bautzen. Anfang der 50er wurde ihr Vater nach Leipzig versetzt: als Pfarrer an die Thomaskirche. Sie hat hier die Oberschule besucht und studiert. Anglistik und Germanistik, eine Lehrerausbildung. Doch ihr war bald klar, dass sie in der DDR nicht unterrichten wollte. Oder konnte. Sie habe, sagt sie, politisch nicht ganz auf der Linie gelegen. Was später auch ihre Aufnahme in den Schriftstellerverband erschwerte. O-TON REINHILD BÖHNKE Böhnke1, 00:38 - 01:03 "Und dann habe ich natürlich versucht, irgend etwas Artgerechtes zu machen, und hatte dann wirklich große Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu bekommen. Ich habe also zehn Ablehnungen bekommen, alle aus politischen Gründen, und hab jetzt auch die Anerkennung dafür, dass ich da also Berufsbehinderung hatte zu DDR-Zeit. Das ist nicht so ganz einfach, so etwas zu bekommen. Das ist also offiziell bestätigt." SPRECHERIN Schon früh erkannten auch Westverlage die Qualität von Reinhild Böhnkes Übersetzungen und veröffentlichten sie in ihrem Programm. An diese alten Verbindungen konnte Böhnke nach dem Ende der DDR anknüpfen - ein großes Glück, denn viele ihrer Kollegen waren nach 1989, als traditionsreiche Häuser wie der Berliner Verlag "Volk und Welt" oder "Reclam Leipzig" verschwanden, mit einem Mal arbeitslos. O-TON REINHILD BÖHNKE Böhnke1, 02:47 - 03:11 "Man musste sich dann eben melden und sehen, dass man irgendwo ankam. Und die Konkurrenz ist ja sehr viel größer gewesen. Mich haben auch sehr viele Leute gefragt: Wieso denn aus dem Englischen, warum übersetzen Sie nicht aus dem Russischen? Das war da so ein Bild da. Und es ging auch das Gerücht, dass das Ostdeutsch etwas plüschig sei. Das habe ich oft mal gehört." ERZÄHLER Eines der ersten Angebote, die sie im wiedervereinigten Deutschland bekam, war die Übersetzung eines Romans von J. M. Coetzee. Sie hatte schon einen anderen Vertrag und musste schweren Herzens absagen. Bereits damals kannte sie Coetzees Werke und schätzte sie sehr. O-TON REINHILD BÖHNKE Böhnke1, 03:51 - 04:06 "Zum Glück ist der Übersetzer, der da eingesprungen ist, nicht so angekommen beim Verlag, sodass ich beim nächsten Mal wieder gefragt wurde. Und seitdem übersetze ich ihn, und das ist natürlich ein ganz großes Glück und eine Herausforderung." O-TON REINHILD BÖHNKE Böhnke1, 04:38 - 05:28 "Von Coetzee sind alle Texte aufregend und auch immer wieder überraschend, aber ich wähle schon seit langer Zeit die Sachen aus, die ich übersetzen möchte, wobei ich da nicht so eng bin. Ich habe auch kulturgeschichtliche Sachbücher übersetzt, und da kommt man dann in ganz neue Gebiete, das ist sehr spannend. Zum Beispiel eines über das Thema 'Lügen' und eines über Frauen, die in der Geschichte etwas Besonderes für die Menschheit geleistet haben von einem britischen Historiker, also, solche Sachen. Oder von einer jüdischen Frau, die ihre Überlebensgeschichte erzählt hat, das mache ich auch gerne. Sogar ein Kochbuch. Ein Kochbuch nach der Bibel, das war sehr spannend, und ich habe auch schon viel gekocht dann danach." O-TON REINHILD BÖHNKE Böhnke1, 10:51 - 11:06 "Nichts kennt man so gut wie ein Buch, das man übersetzt hat. Und das begleitet einen natürlich dann und hat Auswirkungen aufs Leben. Wenn es wirklich wertvolle Literatur ist, und darum bemühe ich mich eben." ERZÄHLER Reinhild Böhnke arbeitet hauptsächlich in ihrer Wohnung, vor allem abends und nachts, wenn es still wird auf den Straßen. So wie ihr Mann, der auch über die Leipziger Stadtgrenzen hinaus bekannte Kabarettist und Übersetzer Gunter Böhnke. 1992 hat sich hier in Leipzig "Die Fähre" gegründet, der "sächsische Verein zur Förderung literarischer Übersetzung", dem heute etwa 30 freie Übersetzer angehören. Jeden ersten Dienstag im Monat treffen sie sich zum Stammtisch im Café der Alten Nikolaischule. Vis-à-vis der vielleicht zweitberühmtesten Leipziger Kirche, der Nikolaikirche, wo Ende der 1980er etwas seinen Lauf nahm, was bald nicht mehr aufzuhalten war. O-TON REINHILD BÖHNKE Böhnke1, 16:24 - 16:40 "Wenn ich eine Übersetzung habe, dann mache ich mir schon einen Plan - eine längere Übersetzung - und habe ein Pensum pro Tag, und wenn ich mal einen Tag das nicht geschafft hab, dann muss ich eben den anderen Tag oder muss auch sonntags arbeiten auf alle Fälle. Dafür kann man dann mal einen längeren Urlaub machen." SPRECHERIN Von Leipzig aus unternimmt Reinhild Böhnke immer wieder Reisen in die Länder, deren Literatur sie übersetzt. Landeskundliche Studien, sagt sie verschmitzt. In Leipzig hat sie die nötige Ruhe, um sich in Übersetzungen zu vertiefen. Sie arbeitet für die Großen der Branche, doch auch nach dem Verlagssterben existieren hier wieder kleine Häuser, die Aufträge zu vergeben haben. Auch wenn sie oft keine hohen Honorare zahlen können. Reinhild Böhnkes Verwurzelung in Leipzig reicht mehrere Generationen zurück. O-TON REINHILD BÖHNKE Böhnke2, 09:17 - 09:30 "Meine Großeltern haben schon hier gelebt, und mein Großvater war sehr verbunden mit verschiedenen Musikern, der war befreundet mit Nikisch und mit dem Gewandhaus sehr eng verbunden." O-TON REINHILD BÖHNKE Böhnke2, 09:44 - 10:01 "Ich habe noch einen Blüthner-Flügel von meinen Großeltern hier stehen. Musik ist mir zum Beispiel auch sehr wichtig. Und Bach, das war auch eine ganz enge Verbindung zu Coetzee, wo wir sofort ins Gespräch gekommen sind, weil er ja auch Verehrer von Bach ist." ERZÄHLER Einmal hat der Südafrikaner J. M. Coetzee, der mittlerweile in Australien lebt, überraschend Leipzig besucht. Seine Übersetzerin hat ihn durch die Stadt geführt, die einst eines der kulturellen Zentren Deutschlands war. Ihr gemeinsamer Gang endete, wo für Reinhild Böhnke alles begann: in der Thomaskirche. O-TON REINHILD BÖHNKE Böhnke 2, 10:02 - 10:31 "Als er hier war, da habe ich ihn natürlich in die Thomaskirche geführt. Zu der Zeit wurde gerade die Barockorgel eingebaut und war auch überhaupt nichts an Konzert, und man kam auch nur schwer rein. Da habe ich den Pfarrer Wolf noch persönlich gebeten, dass wir da rein konnten, und habe dann organisiert, mein Sohn war Thomaner, dass er mit einigen seiner Thomanerfreunde da eine Bach-Motette am Grab singt, extra für Coetzee." SPRECHERIN "Wir stehen auf dem großen Steinbalkon. Hinter uns, aufgetürmt aus Kriegsschutt, der Berg, der früher das alte Stadion war, von Treppen und Zwischenebenen durchbrochen, und halb im Berg, wie in den Krater eines Vulkans gebaut, das neue Stadion, nur halb so groß, aber immer noch viel zu groß, 45 000 könnten dort brüllen; vor uns und unter uns die Wiese, in Bewegung. Es ist nicht genau überschaubar, was dort unten passiert. In der Mitte der Wiese fünf, sechs Polizeiwagen, Sixpacks, die im Kreis fahren. Relativ schnell fahren sie im Kreis, schneller als Schritttempo. Lange können die Fahrer das nicht durchhalten, ich begreife auch nicht den Grund. Wie eine Wagenburg in einem Westernfilm sieht das aus, sich gegen die Angreifer schützend. Aber wer greift wen an? Vor wenigen Minuten stürmten die Gelben die Böschung hinunter, ergoss sich ihr Strom auf das Grün dieser großen Wiese, auf der die Grünen, so schien es zumindest von hier oben, Richtung Haltestelle liefen. Wir sind die Grünen, Grün-Weiß, Chemie Leipzig, zweifacher DDR-Meister, 1951, 1964, jetzt Sachsen Leipzig, und die Gelben, Lokomotive Leipzig, Lok, Klo, Blau-Gelb, stürmten urplötzlich in diese Phalanx, Verwirrung stiftend, pöbelnd, um sich schlagend." ERZÄHLER Nach 1989 wurden die in Leipzig ansässigen Verlage geschlossen oder verkauft, mittlerweile hat auch er zwischenzeitlich zurückgekehrte Insel-Verlag seine Büroräume Richtung Berlin verlassen. Gleichzeitig haben sich seit der Wiedervereinigung viele Kleinverlage gegründet, von denen jedoch nur die wenigsten, etwa der Klett-Verlag, die Connewitzer Verlagsbuchhandlung oder Voland & Quist, auch überregionale Bekanntheit erlangt haben. Die Leipziger Buchmesse, die Deutsche Nationalbibliothek mit ihren weithin sichtbaren Büchertürmen und ihrem Buch- und Schriftmuseum oder das Museum für Druckkunst sind Relikte aus einer Ära, als Leipzig noch die unbestrittene Hauptstadt der Bücher war. SPRECHERIN "Ich fahre mit dem Fahrrad nach Hause. Da ich nicht entlang kann, wo ich entlang will, fahre ich neben dem Fluss durch den Wald. Ich nehme eine Abkürzung, so glaube ich zumindest, schattig im Dickicht, im Auenwald, das Wehr rauscht hinter mir. Ich muss abbremsen, denn es hängt etwas in Kopfhöhe in der Mitte des Weges an einem weißen Faden. Das pulsiert und schimmert blau. Ich fahre sehr langsam drauf zu. Strahlen, fächerförmig durch meinen Kopf. Tribüne, Alfred-Kunze-Sportpark, 20 000 Zuschauer, Bauchspieß und Scherbarth wirbeln unten auf dem Rasen, und, heilige Scheiße, der alte Alfred Kunze, unser Urvater, unsere Legende, steht plötzlich an der Seitenlinie! 'Keiner wird es wagen, keiner wird es wagen, unsre BSG zu schlagen, keiner wird es wagen ...' Tribüne, Paris-Longchamp, Prix de l'Arc de Triomphe. Unser deutscher Galopper Wüstenfuchs kämpft sich nach vorne, 500 Euro hab ich in seine Satteltaschen gepackt, Sieg!, Sieg!, Sieg!, und ich brülle mir die Seele aus dem Leib in diesen Handlungssträngen meines Albtraums." ERZÄHLER Clemens Meyer, "Gewalten". MUSIK/ATMO SPRECHERIN Kapitel vier. O-TON MICHAEL HAMETNER Track 00, 08:27 - 08:56 "Leipzig ist attraktiv für jemanden, der Literatur macht. Und dann ist es ja sicherlich auch so, dass durch das Literaturinstitut viele Autoren nach Leipzig gekommen sind, die am Schluss ihres Studiums vor der Frage stehen: Bleiben oder gehen? Juli Zeh ist einige Zeit geblieben, irgendwann hat die Stadt ihr nicht mehr genügt. Sie hat dann ja nicht den Weg in eine Metropole genommen, sondern aufs Land, wenn man so will." ERZÄHLER Michael Hametner, Jahrgang 1950, kennt die Leipziger Literaturszene so gut wie kaum ein anderer. Er ist Literaturredakteur beim Mitteldeutschen Rundfunk und organisiert das "Lesecafé", eine Autorenlesung mit Gespräch vor Publikum, die im Radio übertragen wird. Er muss es also wissen: Es gibt die Verleger, es gibt die Leser, es gibt die Buchhändler - aber was ist mit den Schriftstellern? Gibt es ihn, den Leipziger Autor - den neuen Leipziger Autor; neben der Riege der alten, die mit ihren Texten fest in der Stadt und ihrer Geschichte verwurzelt sind: von Georg Maurer, längst verstorben, über die 1926 geborenen Erich Loest oder Werner Heiduczek bis hin zum Dichter Andreas Reimann, mittlerweile auch im Rentenalter. O-TON MICHAEL HAMETNER Track 00, 02:17 - 03:05 "Die anderen Schriftsteller, die hier in Leipzig leben, die nach dem Literaturinstitut in Leipzig geblieben sind oder noch am Literaturinstitut sind, so richtig wahrnehmbar sind sie nicht. Sie sind offensichtlich, klar, gut vernetzt und brauchen Leipzig offenbar nicht mehr so sehr als einen Lebensort, sondern es ist eben der Ort, in der ihre Wohnung ist, in der sie täglich ein- uns ausgehen, aber mehr auch nicht. Das hat nachgelassen. Während die Anderen, Helmut Richter, und wen ich genannt habe, für die war Leipzig immer eine Materialquelle, ein Stofffeld, in dem sie sich bewegt haben." O-TON MICHAEL HAMETNER Track 00, 05:18 - 05:57 "Denke ich zum Beispiel an eine von mir sehr geschätzte Autorin wie Angela Krauß, dann weiß ich, dass sie ein Drittel des Jahres gar nicht in Leipzig ist. Sie schwärmt dann immer von Leipzig aus in die Welt und kehrt mit ihrem Stoff nach Leipzig zurück. Selbst wenn man bei Angela Krauß noch sagen muss, dass von wo sie wohnt, ein Fensterblick auf den Leipziger Zoo möglich ist. Das hat sie ja in vielen ihrer Prosaarbeiten benutzt. Aber das ist eine Ausnahme, das ist auch nicht erkennbar der Leipziger Zoo. Muss es auch nicht sein." O-TON MICHAEL HAMETNER Track 00, 05:58 - 06:22 "Jedenfalls denke ich, diese Verwurzelung und Verbindung mit einer Stadt, mit Leipzig, findet so nicht mehr statt. Ich meine, auch Clemens Meyer kommt jetzt gerade nach vier Monaten New York zurück, dann noch einen Monat Serbien. Also, sie holen sich die Welt nach Leipzig und haben zu Leipzig ein eher kontemplatives Verhältnis." ERZÄHLER Heute liebt Michael Hametner diese Stadt. Als er vor Jahrzehnten zum Journalistikstudium hierher kam, als er später als Schauspieler und Regisseur arbeitete und das Theater der Universität leitete, war Leipzig eine graue, schmutzige Stadt, ein Dreckloch, die Luft verpestet von Industrieabgasen und dem Rauch aus zahllosen Kohleöfen, den man noch heute in den winterlichen Straßen wittern kann. Im Südraum der Stadt wurde exzessiv Braunkohle gefördert, dort hatten sich in der aufgerissenen, zerfressenen Landschaft, zwischen den Halden und Kippen des Tagebaus, Brikettfabriken, Kraftwerke und Schwelereien angesiedelt. Heute entsteht dort die größte Seenlandschaft Europas. O-TON MICHAEL HAMETNER Track 00, 07:57 - 08:22 "Für mich persönlich ist Leipzig deshalb so attraktiv, weil es eine spannende Stadt ist. Leipzig hat Energien. Es ist bei weitem nicht überall eine schöne Stadt. Es gibt Dreckecken nach wie vor oder hässliche Teile dieser Stadt, aber es ist eine Stadt voller Energie. Und die kann man als Schriftsteller auch absaugen. Deshalb muss der Roman gar nicht in Leipzig spielen." ERZÄHLER Eine ewige ergebnislose Debatte, ein Dauerkonflikt der Stadt mit sich selbst: Ist Leipzig nun eine Provinzstadt mit Großstadtambitionen oder doch eine bloß etwas zu klein geratene Metropole? Und erhebt Leipzig auch heute noch den berechtigten Anspruch, nicht mehr die "city of books", aber eine Literaturstadt zu sein - oder sind auch diese Zeiten endgültig vorbei? O-TON MICHAEL HAMETNER Track 02, 00:38 - 00:52 "Der Gedanke, etwas zu verpassen, der mag den Einen oder Anderen dazu bewogen haben, nach Berlin zu gehen. Er wird aber sicher über kurz oder lang feststellen, dass das nicht so ist. Er hatte alles, vielleicht zwei Schuhgrößen kleiner, auch in Leipzig. Er hätte es nur sehen müssen." ERZÄHLER Michael Hametner hat es sich zur Aufgabe gemacht, Leipziger Schriftstellern ein Forum zu bieten. 1995 hat er den mdr-Literaturpreis ins Leben gerufen, einen Short-Story- Wettbewerb, den er bis heute als Organisator, Juror und Moderator betreut. O-TON MICHAEL HAMETNER Track 01, 06:09 - 06:35 "Am Anfang gab es, ich weiß es noch genau, 223 Zusendungen. Heute sind es 2200 Zusendungen. Das hängt jetzt mit vielen Dingen zusammen, weil der Wettbewerb anonym ist, was attraktiv ist, und manchem anderen mehr. Aber zunächst war der Wettbewerb einfach eine zusätzliche Bühne für neue Literatur. Ein zusätzliches Forum." SPRECHERIN "Streckt euch, Zweige, erwacht! Ich habe ein Ei gegessen und weißes Brot. Mein ganzer Leib lacht. Die Nachtsorgen sind tot. Ich bin aus den Nachtsorgen gekrochen wie ein Vogel aus dem Ei. Ich habe die Schale durchbrochen und spaziere jetzt frei. Ich weiß jetzt, was die Hühner wissen, wenn sie picken. Ich weiß, wen die Raben grüßen, wenn sie mit dem Kopfe nicken." ERZÄHLER Georg Maurer, "Froher Morgen". MUSIK/ATMO SPRECHERIN Kapitel fünf. O-TON MATTHIAS SENKEL Interview Matthias Senkel, 21:55 - 22:13 "In Leipzig habe ich gar keine Kontakte. (Lacht.) Also, jetzt zu Autoren! In Leipzig kenne ich witzigerweise mehr bildende Künstler als Literaten." O-TON MATTHIAS SENKEL Interview Matthias Senkel, 18:32 - 18:58 "Er ist auf jeden Fall ein guter Ort zum Wohnen. Und Leben. Er ist sehr günstig. Er bietet ein sehr angenehmes Umfeld mit den vielen Parks. Das Kulturangebot ist groß genug, auch wieder im Vergleich zur Kleinstadt. " O-TON MATTHIAS SENKEL Interview Matthias Senkel, 18:59 - 19:09 "Ansonsten fürs Schreiben ist mir die Stadt eigentlich ziemlich gleichgültig, die blendet sich da ja sehr stark aus." ERZÄHLER Matthias Senkel, Jahrgang 1977, sitzt im obersten Stock der Hochschule für Grafik und Buchkunst, hinter ihm verfärbt sich der Himmel über Leipzig zu einem matten Nachtblau. Dem imposanten Gebäude der Kunsthochschule mit seinem Säulenportal gegenüber liegt eine kompakte weiße Gründerzeitvilla: das Leipziger Literaturinstitut. Dort hat Senkel von 1998 an Literarisches Schreiben studiert, anschließend Interkulturelle Europa- und Amerika-Studien in Halle an der Saale. Sein Geld verdient er heute in einem Leipziger Unternehmen, das sich auf Sicherheitsdatenvernichtung spezialisiert hat. O-TON MATTHIAS SENKEL Interview Matthias Senkel, 17:21 - 17:41 "Also, es war eher zufällig. Und da ich mir da meine Arbeitszeit sehr flexibel einteilen kann und jetzt auch nicht soviel arbeiten muss, um über die Runden zu kommen, ist es einfach das geworden." SPRECHERIN "Frühe Vögel" heißt das Romandebüt von Matthias Senkel: eine Familienchronik vor dem Hintergrund der Geschichte der Luft- und Raumfahrtentwicklung. Er hat sie in seiner Wohnung im Eisenbahnstraßenviertel geschrieben. Die Gegend hinter dem Hauptbahnhof rund um die Eisenbahnstraße in Leipzig-Neustadt hat nicht den besten Ruf. Die Gerüchte von Messerstechereien auf offener Straße und Jugendlichen, zugedröhnt mit Crystal Meth, halten sich. Fest steht, dass die Armut hier groß ist. MATTHIAS SENKEL Interview Matthias Senkel, 29:27 - 30:10 "Das Raue des Viertels ist, glaube ich, sehr stark eine mediale Konstruktion. Ist vielleicht auch sehr unterschiedlich, das ist ja eine kilometerlange Straße, und ich würde die Südvorstadt sozusagen auch nach hinten hin als sehr rau bezeichnen. Das ist jetzt nicht so der Unterschied. Ich hab das Viertel eigentlich als sehr angenehm immer empfunden, weil es auch ein stärkerer Rückzugsort ist als die Südvorstadt, in der es doch ein bisschen mehr brummt auch." ERZÄHLER In "Frühe Vögel" experimentiert Matthias Senkel mit verschiedenen Textsorten, der Roman ist kein reiner Fließtext. Ein Kapitel etwa hat die Form eines Comics. Senkel hat dazu eine Art Drehbuch geschrieben, das eine Illustratorin danach in Bilder umgesetzt hat. O-TON MATTHIAS SENKEL Interview Matthias Senkel, 09:32 - 10:33 "Die Idee geht darauf zurück, dass in dem Buch eben auch, chronologisch gesehen, die zweite Hauptfigur, die ist auch Illustratorin. Und da kam der Gedanke das erste Mal auch auf, dass das ein Element sein könnte, damit auch zu arbeiten im Buch." MUSIK/ATMO O-TON MARYNA ZHDANKO Maryna 1, 00:57 - 01:30 "Er ist auf mich zugekommen und meinte, er würde ein Buch schreiben, und er möchte gerne ein Kapitel aus dem Buch als Comic verfassen. Er hat sich meine Sachen angeschaut und fand das alles sehr gut und fragte mich, weil ich auch vorher keinen Comic gemacht hatte in dem Sinne, also: im klassischen Sinn, ob ich das auch könnte. Und ich meinte: Ja, klar, ich kann alles!" O-TON MARYNA ZHDANKO Maryna 1, 02:59 - 03:39 "Ich war schon aufgeregt, weil sonst sehe ich immer Bilder und male sie, aber in dem Fall: Er sieht die Bilder, er ist der Kopf. Und ich bin sozusagen die Hand, die das ausführt. Ich musste seine Gedanken verbildlichen. Und wie er sich das vorstellt. Aber die Zusammenarbeit war wirklich sehr gut und sehr spannend, weil so nah mit einem Autor habe ich auch vorher gar nicht gearbeitet." O-TON MARYNA ZHDANKO Maryna 2, 01:27 - 02:10 "Ich habe das Comic gezeichnet, und eigentlich bin ich raus. Ich habe mein Honorar bekommen, und das war's. Das ist das bittere Schicksal von Illustratoren." ERZÄHLER Maryna Zhdanko hat Illustration an der Hochschule für Grafik und Buchkunst studiert. Seit Herbst 2011 ist sie dort Meisterschülerin. In den letzten Jahren hat sie mehrere Kinderbücher bebildert und die Wände eines fünfstöckigen Krankenhausneubaus in Basel künstlerisch gestaltet. Geboren ist Maryna Zhdanko 1980 auf der Krim in einer kleinen Stadt am Meer, mit vierzehn ist sie mit ihrer Mutter nach Sachsen gekommen. O-TON MARYNA ZHDANKO Maryna 4, 03:43 - 04:37 "Im Jahr 2000 bin ich nach Leipzig gezogen. Und es ist eine Hassliebe zwischen mir und Leipzig. Auf einer Seite ist es alles sehr entspannt und heimisch, aber auf der anderen Seite ödet es mich dann irgendwann an, und ich kriege Fernweh, und alles ist doch gleich, und es passiert ja nichts! Aber auf der anderen Seite - es passieren schon wahnsinnig tolle Sachen, ja. Es ist halt immer dieser Zwiespalt zwischen: Ich will hier bleiben, und: Ich will gehen. Und sobald ich weggehe, habe ich Heimweh, habe ich ganz große Sehnsucht. Das lässt einen irgendwie nicht los." O-TON MARYNA ZHDANKO Maryna 5, 01:13 - 02:42 "Die Kunsthochschule spielt natürlich eine sehr große Rolle, weil ich wollte immer hin. Das Gebäude an sich, wie es dort riecht, und wie die Lampen aussehen... Das ist schon in meinem Kopf drin. Aber was Leipzig für mich ausmacht - die Menschen sind anders. Als überall sonst. Es ist so eine Gelassenheit von Leipzigern. Und deswegen kommt man auch hier so zur Ruhe, dass es alles nichts ausmacht. Die Leute leben und kämpfen immer wieder auf Neue, und das gibt so eine gewisse Sicherheit in Unsicherheit." ERZÄHLER Maryna Zhdanko ist gut im Geschäft, was es für sie in Leipzig manchmal auch schwierig macht: Ihr Marktwert entspricht nicht mehr ganz dem durchschnittlichen Honorarniveau der Stadt. Viele Absolventen der Kunsthochschule bleiben nach dem Studium hier, die Konkurrenz unter freien Grafikern ist groß. In Leipzig gibt es im Zweifelsfall immer jemanden, der dieselbe Arbeit auch für weniger Geld machen würde. O-TON MARYNA ZHDANKO Maryna 5, 03:44 - 04:36 "Das ist schon auch das Verlockende an Leipzig. Man hat zwar irgendwie Angst, dass man finanziell nicht klarkommt, aber auf der anderen Seite weiß man: Man kommt auf jeden Fall irgendwie klar. Und man wird sich auch nicht scheiße fühlen, wenn man keine schicken Sachen anhat. Man fühlt sich sogar viel wohler in irgendwelchen alten Jacken und zerrissenen Hosen. Es ist ganz entspannt. Man kann wirklich fast im Schlafanzug durch die Straßen gehen, und es ist verständlich. Manche würden dich schon angucken, aber es wäre nicht schlimm. Man würde dich dafür nicht einweisen." SPRECHERIN Maryna Zhdanko teilt sich mit einer befreundeten Malerin und Fotografin eine große, spottbillige Wohnung in einem verwitterten Fünfziger-Jahre-Bau an der Windmühlenstraße, sehr zentral, in Sichtweite des historischen Bayrischen Bahnhofs. Im Erdgeschoss betreiben ehemalige Kunststudenten ein erfolgreiches Café, viele Maler und Designer haben hier im Haus und im Innenhof ihre Wohnungen und Ateliers. Einer der letzten günstigen Wohnräume im Herzen der Stadt, der bald verschwinden wird: Die Wohnungen sollen von Grund auf renoviert und anschließend zum doppelten Preis weitervermietet werden, Ende 2011 haben trotz massivem Protest der Hausbewohner die Sanierungsarbeiten begonnen. Es regne zwar hinein, sagt Maryna Zhdanko, aber von ihrem Haus aus könne man wunderschöne Sonnenuntergänge beobachten. O-TON MARYNA ZHDANKO Maryna 5, 08:01 - 08:49 "Wenn man das braucht, diesen etwas weinerlichen inneren Zustand, um zu arbeiten, dass man sich ein bisschen abschottet von der Außenwelt, ist es in Leipzig genau richtig. Man wird auch in Ruhe gelassen, wenn man das will. Es ist auch dieses Zweiseitige: Wenn man möchte, kann man Spaß finden in der Stadt, aber wenn man das nicht möchte, kann man sich zurückziehen, und man findet auch ein Schlupfloch, wo man wirklich allein sein kann und arbeiten kann oder einfach für sich sein kann." ERZÄHLER Wer lange in Leipzig lebt, insbesondere wer einmal zum Studium hierher gekommen ist, der sieht im Laufe der Jahre viele gehen. Die meisten bleiben solange wie möglich, doch dauert das oft nicht allzu lange in einer Stadt, die ihre Bewohner nur mit Mühe und Not ernähren kann. Wer trotzdem bleibt, das sind häufig diejenigen, die auch nirgendwo sonst eine gesicherte Existenz hätten. Bildende Künstler, Schriftsteller, Lebenskünstler. Sie können auch gleich hier bleiben, wo man immer weniger gebraucht hat als anderswo - und den steigenden Mieten zum Trotz auch immer weniger brauchen wird. Sicherheit in der Unsicherheit. O-TON MARYNA ZHDANKO Maryna 6, 01:58 - 02:21 "Ein guter Freund von mir sagte, als er Leipzig verlassen hat: Maryna, eigentlich ist Leipzig wie eine ausgesaugte Titte. Und sehr oft denke ich, er hat Recht. Für Leute, die wirklich lange dran gesaugt haben, ist es dann irgendwann vorbei, und dann müssen sie weiterziehen. Und Reisende soll man eben nicht aufhalten." O-TON MARYNA ZHDANKO Maryna 6, 02:36 - 03:26 "Ich bin ein ganz schlimmes Gewohnheitstier. Und ich kann mir alles vorstellen, wo ich hingehen könnte, aber ob ich mutig genug bin, ist eine andere Frage. Gehen oder bleiben, ist immer so von jemandem, der ungebunden ist, weder beruflich noch privat, steht immer zur Debatte, die Stadt zu verlassen oder hier zu bleiben. Kann sein, dass ich morgen wegfahre." SPRECHERIN Nachwort. ATMO Bahnhof ABFAHRT SPRECHERIN "Und dann verschwindet der Zug in dem Schneetreiben, draußen wird es langsam dunkel, obwohl es erst zehn vor halb vier ist, 15 Uhr 18, anderthalb Minuten ist er zu spät losgefahren, habe ich die Lautsprecheransage gar nicht gehört, das war nun mal wirklich ein pünktlicher Zug, wo es doch seit Monaten Probleme gibt mit den Radachsen einer ICE-Serie und jede Menge Züge ausgefallen sind, aber es scheint besser zu werden, je näher der Frühling rückt. Und als die letzten Wagen des Zuges durch den Torbogen fahren, weht plötzlich ein sehr kalter Wind hinein und beißend über den Bahnsteig, und ich habe großen Appetit auf ein torfiges Glas Lagavulin, sechzehn Jahre alt, und wie der mich wärmen würde und wie ich diese von innen kommende Wärme in meinem Pelzmantel konservieren könnte für Stunden, aber zwei Gläser müssten es dann schon sein. Wenn er nicht kommt, denke ich, und wenn er sich nicht meldet, das Telefon halte ich wieder in der Hand, werde ich in diese kleine Bar neben der Treppe gehen, die haben zwar keinen Lagavulin, aber ein Johnny Walker tut es zur Not auch, wenn es so kalt ist." 1