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TAKE 3 (Dirk Niebel) ... und Sie können eines mir nicht vorwerfen: dass die Entwicklungszusammenarbeit in den vergangenen Wochen medial nicht in Erscheinung getreten wäre, und ich glaube, auch das tut dem Politikfeld gut. SPRECHERIN Ein Feature von Wolf-Sören Treusch. MUSIK (Spieluhr o.ä.) TAKE 4 (Martin Bröckelmann-Simon, Misereor) Das ist für mich tagespolitisches Geklingel und hat mir der Substanz von Entwicklungszusammenarbeit eigentlich wenig zu tun, ... TAKE 5 (Claudia Warning, EED) Das finde ich wirklich verfrüht, darüber ein Urteil abzugeben, was Herr Niebel ..., also ich würde lieber gerne mal den Entwurf seiner Entwicklungszusammenarbeit sehen: was macht er draus? MUSIK (Spieluhr o.ä.) kurz hoch und frei, dann weg AUTOR Wie Kai aus der Kiste tauchte er plötzlich am Ministerhimmel auf: Dirk Niebel, von 2005 bis 2009 Generalsekretär und Wahlkampfmanager der FDP, seit 28. Oktober 2009 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Es muss in der letzten Verhandlungsnacht auf dem Weg zur schwarz-gelben Koalition passiert sein: ein Ressort war noch zu vergeben, die FDP musste noch eines bekommen. SPRECHERIN "Ein besonders krasser Fall von Postengeschacher" ... AUTOR ... urteilte der ,SPIEGEL'. SPRECHERIN "Mehr Verlogenheit gab's selten". AUTOR Insider behaupten, es war immer klar, dass Dirk Niebel ein Ministeramt erhielte, es war nur nicht klar, welches. Dennoch gehört seine Ernennung zu den großen Überraschungen der Regierungsbildung. Der Grund für die teils harsche Kritik an der Personalie Niebel: als Wahlkampfmanager der FDP hatte er in der Vergangenheit immer wieder lautstark die Abschaffung des Entwicklungsministeriums gefordert. Jürgen Trittin, Fraktionsvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen in der ARD-Sendung ,Anne Will': TAKE 6 (Jürgen Trittin) Man kann natürlich darüber spotten, aber wenn jetzt das Entwicklungsministerium besetzt ist mit einem Vertreter, die das eigentlich abschaffen wollten, und wenn ich mir dann vorstelle, vor welchen Herausforderungen die Bundesrepublik Deutschland international auch und gerade bei der Bekämpfung des globalen Hungers, bei der Frage: Gerechtigkeit im Welthandel steht, dann das zu besetzen mit einem Vertreter, der dezidiert dieses Ministerium immer nur als Einsparstelle gesehen hat: insofern ist jetzt ganz einfach der Niebel als Entwicklungshilfeminister, da ist der Bock zum Gärtner gemacht worden. AUTOR Die Opposition und weite Teile der Medien spotteten schon, Dirk Niebel sei wohl der Abwicklungsminister. Der Angesprochene selbst gab sich zunächst kleinlaut: beim offiziellen Amtsübergabetermin mit der bisherigen Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul - der "roten Heidi" - gestand er gegenüber seinen neuen Mitarbeitern ein, Anfänger zu sein und bat darum, mit ihm zu kooperieren. Doch inzwischen, fast drei Monate später, gibt er sich auf die Frage, warum er das Amt angetreten habe, forsch wie eh und je. TAKE 7 (Dirk Niebel) Ganz platt könnte ich sagen: ich kann schalten und walten, ohne ein einziges Mal den Bundesrat zu brauchen, weil es kein zustimmungspflichtiges Gesetz gibt, aber faktisch ist es natürlich so, dass man eine ganze Menge gestalten kann. TAKE 8 (Claudia Warning) (lacht) Er ist so Vollblutpolitiker, ... AUTOR Claudia Warning, Vorstandsmitglied des Evangelischen Entwicklungsdienstes. TAKE 9 (Claudia Warning) ... dass er kein Abwicklungsminister in seinem eigenen Ministerium wird, sondern er wird sein Ministerium wahrscheinlich prägen wollen, müssen, aber er wird es auf keinen Fall auflösen. Wenn er als Minister sein eigenes Ministerium auflöst, ist er politisch tot. MUSIK (Spieluhr o.ä.) TAKE 10 (Guido Westerwelle, Bundesaußenminister) Es ist ja nicht richtig, als hätte irgendjemand vorgeschlagen, dass man die Entwicklungshilfe einstellt. Es ist uns wichtig, dass im Entwicklungshilfeministerium keine Neben-Außenpolitik stattfindet. (Raunen) Sondern dass das Ganze synchronisiert wird. (Lachen) Ich sehe, wir verstehen uns. - Merkel: Dann können wir die Sache ja mal gut beobachten. AUTOR Womit sich Außenminister Guido Westerwelle unfreiwillige Lacher der Pressevertreter und eine schnippische Bemerkung der Kanzlerin einhandelte, ist tatsächlich Teil des neuen schwarz-gelben Politikkonzepts. In den vergangenen elf Jahren stand im Koalitionsvertrag an zentraler Stelle des Kapitels zur Entwicklungszusammenarbeit immer der Satz: SPRECHERIN "Die Entwicklungspolitik ist ein eigenständiger Teil unserer gemeinsamen deutschen Außenpolitik." AUTOR Unter schwarz-gelb sucht man einen solchen Satz im Koalitionsvertrag vergeblich. TAKE 11 (Dirk Niebel) Wir haben natürlich ein eigenständiges Politikfeld, aber es ist Bestandteil des gesamtdeutschen Außenauftritts, und das war in der Vergangenheit nicht so, das war oft schädlich und hat im Übrigen auch dazu geführt, dass meine Partei im Wahlprogramm gefordert hat, beide Ressorts zusammenzufügen, nicht wissend, dass wir die Möglichkeit haben, beide leiten zu können, so ist es natürlich sinnvoller, zwei Ministerien zu haben, denn das Außenministerium kann aufgrund diplomatischer Vorgaben nicht mit jedem Land kooperieren, wohingegen wir gegebenenfalls über Nichtregierungsorganisationen immer noch einen neuen Zugang finden können, den man den offiziellen Diplomaten so vielleicht nicht zubilligen würde. AUTOR Das war zwar vorher auch schon so, aber Dirk Niebel geht es vor allem um eines: Schluss mit den Alleingängen. Wie beispielsweise die seiner Amtsvorgängerin Heidi Wieczorek-Zeul, die den Dalai Lama traf und damit ihren Parteifreund, Außenminister Steinmeier, verärgerte oder Nahrungsmittelhilfen nach Nordkorea schicken wollte. Vorbei ist es aber auf alle Fälle mit der Entwicklungshilfe für Schwellenländer wie China. Wenige Tage nach seinem Amtsantritt kündigte Dirk Niebel an, sämtliche Hilfen für China in Höhe von 27,5 Millionen Euro zu streichen. TAKE 12 (Dirk Niebel) Das heißt nicht, dass es ein Fallbeil gibt, das alles beendet, wir werden keine Entwicklungsruinen hinterlassen, sondern alle Maßnahmen und alle Zusagen und alles, was besprochen wurde, wird natürlich ordnungsgemäß zu Ende geführt, aber China gibt 10 Milliarden Euro Entwicklungshilfe nach Afrika, also zwei Mal soviel wie mein gesamter Haushalt für Entwicklungszusammenarbeit darstellt, da muss man schon davon ausgehen, dass unsere Zusammenarbeit in der Entwicklungshilfe in der Vergangenheit so erfolgreich war, dass sie auch dann übergeleitet werden kann in Außenwirtschaftsförderung. Und Dinge, die bei uns von größerem Interesse sind, wie zum Beispiel der Rechtsstaatsdialog, den werden auch wir überwiegend weiterhin betreiben, sei es durch den Etat meines Hauses oder des Bundesjustizministeriums, weil es da nicht nur um Menschenrechte geht, sondern auch um Urheberrecht, Handelsrecht und ähnliche Dinge, und andere Dinge, wo das größere Interesse auf chinesischer Seite ist, die müssen die Chinesen dann halt einkaufen. AUTOR Doch gleich diese erste Entscheidung seiner Amtszeit traf bei deutschen Entwicklungsexperten auf großes Unverständnis. Zum Beispiel beim Evangelischen Entwicklungsdienst EED, der selbst 48 Projekte in China betreibt mit einem Finanzvolumen von jährlich etwas mehr als drei Millionen Euro. Vorstandsmitglied Claudia Warning. TAKE 13 (Claudia Warning) Es gibt nach wie vor 600 Millionen Menschen in China, die unter der 2-Dollar-Grenze am Tag leben, also die internationale Armutsgrenze, insofern gar kein Problem zu sagen: es gibt hinreichend Zielgruppen, aber wir haben es mit einem aufstrebenden Schwellenland zu tun, wir haben es mit einem relativ reichen Land zu tun, was die Frage der Einkünfte aus dem internationalen Handel angeht, und für mich stellt sich die Frage: wie können wir intelligent mit der chinesischen Regierung darüber reden und verhandeln, dass diese Mittel tatsächlich auch für Armutsbekämpfung und für Demokratieentwicklung eingesetzt werden. Wenn man sich aber völlig zurückzieht aus dieser Zusammenarbeit, dann kann man diesen Dialog so nicht mehr führen. AUTOR Egal, sagt der neue Bundesentwicklungsminister. Im Wahlkampf habe man ständig als Textbaustein 25 das Ende der Entwicklungshilfe für China gefordert, jetzt müsse man damit auch mal ernst machen. Im Übrigen könne man ja gemeinsam mit China trilaterale Projekte in Afrika anstreben, das "business first" der Chinesen und die nachhaltigen Entwicklungsziele der Deutschen miteinander kombinieren. Dirk Niebel: TAKE 14 (Dirk Niebel) Wir bleiben ausdrücklich im Dialog, die Stelle an der Botschaft in Peking wird ausdrücklich neu besetzt, nur dass unser Entwicklungszusammenarbeiter dort mehr und mehr die Funktion eines Scouts, eines Pfadfinders haben wird, um Kontakte knüpfen zu können. Der Dialog wird ja nicht abgebrochen dadurch, dass wir Entwicklungszusammenarbeit als erfolgreich beendet ansehen, sondern er geht auf einer anderen Ebene weiter. Auf einer viel höherwertigen Ebene für die chinesische Seite, weil man hier als Partner auf Augenhöhe wirtschaftlich zusammenarbeiten kann in Zukunft. MUSIK (Spieluhr o.ä.) wird abgelöst/unterbrochen/gebrochen von GERÄUSCH (Trommeln) AUTOR Der neue Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist noch keine hundert Tage im Amt, aber nach einer kurzen Aufwärmphase versucht er nun, wo er nur kann, auf sich aufmerksam zu machen. Aus dem anfangs "blassen" wird immer mehr der "dreiste Dirk". Beispiel Afghanistan. Dazu veranstaltete Dirk Niebel seine erste offizielle Pressekonferenz Ende November des vergangenen Jahres, wenige Tage nach dem Besuch seines Parteifreundes und Außenministers Westerwelle beim wieder gewählten afghanischen Staatspräsidenten Karsai. TAKE 15 (Dirk Niebel) Deutschland ist bereit, diese neue afghanische Regierung zu unterstützen, und deshalb habe ich beschlossen, weitere 52 Millionen Euro aus dem laufenden Etat des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gezielt für die Stabilisierung und Entwicklung Afghanistans zur Verfügung zu stellen. Mit dieser Zusage gehen wir deutlich in Vorleistung und erwarten, dass die neue afghanische Regierung das Ihre dazu beiträgt mit einer Verstärkung der afghanischen Sicherheitskräfte, mit konsequenter Korruptionsbekämpfung und einer besseren Regierungsführung den Stabilisierungs- und Entwicklungsprozess in Afghanistan zum Erfolg zu führen. AUTOR Und wo werde das zusätzliche Geld eingesetzt, fragte ein Pressekollege, schließlich würden die zivilen Hilfskräfte, sogar auch Mitarbeiter des BMZ den Kontakt zu deutschen Soldaten inzwischen meiden, weil sie damit selbst in Gefahr gerieten. TAKE 16 (Dirk Niebel) Es wird keine Militarisierung der deutschen Entwicklungspolitik geben, auf der anderen Seite ist auch völlig klar, dass es keine wie auch immer geartete Distanz zu anderen Ministerien der Bundesrepublik Deutschland in den Einsatzgebieten geben wird, die dort Hilfe leisten, und es wird dort ausdrücklich auch eine gute Zusammenarbeit mit der Bundeswehr geben, weil ich es in meiner Amtszeit ausdrücklich nicht haben möchte, dass parallel aneinander vorbei gearbeitet wird, sondern ich möchte, dass Hand in Hand Synergien genutzt werden, und auch aus diesem Grund ist das Engagement ausdrücklich auf den Schwerpunkt Nordafghanistan gerichtet, wo Deutschland schon für die Sicherheit Verantwortung trägt und wo durch einen Entwicklungsschub für die Bevölkerung zusätzliche Friedens- und Sicherheitsdividenden für die Menschen geschaffen werden sollen, ich glaube, beides gehört unmittelbar zusammen, und deswegen wird es mit Sicherheit - noch nicht vom ersten auf den zweiten Tag, aber im Rahmen dieser Legislaturperiode - eine deutliche Verbesserung der Zusammenarbeit geben. AUTOR Damit trat Dirk Niebel auf die ihm eigene forsche Art eine Debatte los, die seit dem Jahreswechsel richtig Fahrt aufnimmt. Seitdem der Minister in verschiedenen Interviews deutlich gemacht hat: zivile Hilfsorganisationen in Afghanistan erhalten nur Geld vom BMZ, wenn sie bereit sind, mit der Bundeswehr zu kooperieren. TAKE 17 (Dirk Niebel) Deswegen haben wir gerade bei diesen Ergänzungsmitteln von 52 Millionen dafür gesorgt, dass sie auch nur durch unsere Durchführungsorganisationen tatsächlich verwaltet werden, das heißt unsere Durchführungsorganisationen GTZ oder KfW vergeben die Aufträge, machen die Ausschreibungen, wenn das Volumen so groß ist, dass ausgeschrieben werden muss, überprüfen die Ergebnisse der Ausschreibung, vergeben die Aufträge, vergeben die Mittel, überprüfen den Fortgang des Projektes und rechnen dann hinterher selbst ab, kein anderer kriegt das Geld in die Hand. AUTOR Bundesdeutsche Nichtregierungsorganisationen kritisieren den Vorstoß Niebels. Beispiel ,Grünhelme e.V.', eine unabhängige Friedensinitiative. Ihr Mitbegründer ist Rupert Neudeck, der vor 30 Jahren mit der Cap Anamur erstmals Nothilfe leistete. Die ,Grünhelme' helfen in Afghanistan beim Bau von Schulen, sie sind im Westen des Landes aktiv, also genau dort, wo die Bundeswehr nicht stationiert ist. TAKE 18 (Rupert Neudeck, Grünhelme) In dieser Provinz sind wir die einzigen, die übrig geblieben sind. Es gibt nicht einen mehr, mit dem wir uns verständigen können, das sage ich auch traurig: wir hatten im Westen vor vier Jahren eine ganz grandiose Sache vom Auswärtigen Amt hingebaut bekommen, nämlich eine Außenstelle der deutschen Botschaft, die hat sehr viel getan damals für die kulturelle Entwicklung, für den Universitätsbereich, für den Schulbereich, aber das ist alles abgebaut worden, wir sind die einzige deutsche Organisation, die dort tätig ist. AUTOR Rupert Neudeck sagt, ein radikaler Politikwechsel sei in Afghanistan nötig. TAKE 19 (Rupert Neudeck) Zum Beispiel reicht es auch überhaupt nicht, 52 Millionen für Organisationen hinzublättern, die dann mit der Bundeswehr zusammen etwas zu machen. Das ist für mich auch eine bedenkliche Sache, nicht weil ich gegen die Bundeswehr bin, ich habe überhaupt keine Berührungsängste. Aber wir müssen sehen, dass die alte Grundlage der Genfer Konvention eingehalten wird. Das ist die Magna Charta aller Nicht-Regierungsorganisationen. Und diese Genfer Konventionen verlangen von uns gebieterisch, dass wir nichts zu tun haben mit Waffenträgern und dass wir nicht einen Soldaten in eine Klinik reinlassen mit seiner Knarre und dass wir in ein Auto, das von unserer Organisation ist, niemanden reinlassen dürfen mit einem Gewehr. Das sind ganz wichtige Grundsätze, die im Moment in Afghanistan wie mit einem Federstrich außer Kraft gesetzt werden. AUTOR Neudeck, dessen Organisation selbst keine staatlichen Hilfsgelder in Anspruch nimmt, findet den Tonfall von Minister Niebel bedenklich. Mit dem Ende der finanziellen Unterstützung zu drohen, falls man nicht mit der Bundeswehr kooperiere, das habe sich keiner seiner Amtsvorgänger getraut. Auch das katholische Hilfswerk Misereor ist in Afghanistan aktiv. Neben einer Kinderklinik in Kabul unterstützt die Hilfsorganisation mehrere Kliniken in den abgelegenen Bergregionen Zentral-Afghanistans mit Medikamenten. Geschäftsführer Martin Bröckelmann-Simon. TAKE 20 (Martin Bröckelmann-Simon) Es hat bisher nicht funktioniert, dass man die enge Kombination von militärischem Handeln und zivilem Aufbau derart vorangetrieben hat, dass es sozusagen in einer Hand passierte. Wir als Nichtregierungsorganisation - da sind wir uns mit allen einig - wir pochen auf Unabhängigkeit und auf größtmögliche Distanz von militärischem Handeln, das folgt einer anderen Logik, und alles, was uns in die Nähe bringen würde, würde auch uns und unsere Kollegen dort gefährden. Insofern halte ich nicht sehr viel davon, die Dinge miteinander zu verknüpfen, und ich glaube, man muss Afghanistan insgesamt in den Blick nehmen und nicht nur die einzelnen Konfliktregionen. Sonst haben Sie nachher ein wachsendes Spannungsverhältnis zwischen denen, die sagen: bei uns gehen die Dinge voran und wir werden nicht unterstützt, und dort, wo es knallt und brennt, fließt viel Geld hin, und vieles von dem kann dann doch nicht sinnvoll umgesetzt werden. AUTOR Misereor ist zusammen mit weiteren 117 kirchlichen und privaten Entwicklungsorganisationen im Dachverband VENRO organisiert. Dessen Vorsitzender Ulrich Post hat den Vorstoß Dirk Niebels zur Kooperation zwischen Hilfsorganisationen und Bundeswehr in Afghanistan besonders energisch zurückgewiesen: das sei lebensgefährlich, was der Entwicklungsminister da fordere. - Dirk Niebel: TAKE 21 (Dirk Niebel) Ich kenne diese Kritik von Venro, ich teile sie nicht, ich habe sie in der Vergangenheit nicht geteilt, tue es auch in der Zukunft nicht, und deswegen gehe ich davon aus, dass wenn deutsche Stellen sich engagieren, egal welches Ministerium dafür federführend ist, dass wir das gemeinsam zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels in die gleiche Richtung tun, und das wird auch so passieren. AUTOR Was bei dem ganzen Wirbel um die neuen entwicklungspolitischen Leitlinien des Ministers für Afghanistan völlig untergegangen ist: die 52 Millionen Euro, die er der Regierung in Kabul öffentlichkeitswirksam versprach, waren schon unter seiner Amtsvorgängerin im Etat des BMZ ausgewiesen. Die Freigabe der Gelder groß zu kommunizieren, sei deshalb, so die Opposition, eine "klassische Niebelkerze". MUSIK (Spieluhr o.ä.) AUTOR Entwicklung - wohin? Und wofür das Ganze? Es wird wieder debattiert darüber, was Entwicklungspolitik leisten kann und soll. Auch das ein "Verdienst" des neuen Ministers, denn eines, das hat Dirk Niebel schon gleich klar gestellt, eines will er auf keinen Fall sein: Weltsozialhilfeminister. Die Bestandsaufnahme ist bitter: mehr als eine Billion US-Dollar, so schätzt man, hat der Norden dem Süden in den vergangenen fünf Jahrzehnten gegeben, um die Armut zu bekämpfen. Doch viele Arme sind arm geblieben, Not und Hunger sind kaum weniger geworden auf der Welt. Von der Hilfe profitiert haben Diktatoren, Kleptokraten - und die Helfer selbst. Rupert Neudeck ist Mitinitiator des so genannten ,Bonner Aufrufs'. Darin haben sich Entwicklungsexperten zusammengefunden und verschiedene Vorschläge für den radikalen Umbau der Entwicklungspolitik vorgelegt. Ihre Hauptthese: TAKE 22 (Rupert Neudeck) Mehr Geld ist nicht immer gleich mehr Entwicklung. Denn wir wissen ja: es gibt für die Absorption solch großer Summen in diesen Ländern kaum entsprechende Möglichkeiten, das anzuwenden. Und wir haben herausgefunden, dass das Unglück der Entwicklungspolitik immer dann begonnen hat, wenn es an das Geldschenken gegangen ist. Und deshalb meinen wir, dass es einen schon gibt, der das Ei des Kolumbus gefunden hat, nämlich Muhammad Yunus für die Hungerbekämpfung in der Welt. AUTOR Muhammad Yunus aus Bangla Desh, Wirtschaftswissenschaftler, Gründer einer Bank für Mikrokredite, 2006 für seine Finanzidee mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Neudeck und andere fordern deshalb: Schluss mit den Geldgeschenken, Entwicklungshilfe bitte nur noch als Kredit. Dass der neue Entwicklungsminister Niebel wenige Tage nach Amtsantritt sogleich Muhammad Yunus zu einem Gespräch empfing, ist für Rupert Neudeck ein Hoffnungsschimmer. TAKE 23 (Rupert Neudeck) In der Geschichte des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit war es überhaupt nicht selbstverständlich, dass man mit Muhammad Yunus und seiner Mikrokreditidee auf engem und vertrautem Fuß stand. Der alte Minister Spranger hat mir noch mal erzählt, jüngst, dass er ganz große Schwierigkeiten hatte, diesen Yunus damals zu seiner Ministerzeit zu empfangen, er musste es fast über die Hintertür machen, weil: diese Mikrokreditidee ist natürlich eine, die im Wortsinn unsere Arbeiten und unsere Bataillone an Entwicklungshelfern und Consultants auch auf Dauer überflüssig macht. TAKE 24 (Dirk Niebel) Wir sprachen sehr lange über die Lücke, die es jetzt zu füllen gibt, nämlich die zwischen dem Mikrokredit auf der einen Seite und dem Bankkredit auf der anderen Seite, also der Bereich, der für den Mikrokredit zu groß, für den Bankkredit zu klein, zu unattraktiv ist, wo der erste, zweite oder dritte Arbeitsplatz vielleicht gefördert wird, und wir sind im Gespräch mit der KfW, ob wir hier eine Lösung hinkriegen, diese Lücke zu schließen, und ich glaube, dass das ein ganz wichtiger Beitrag wäre, selbst tragende wirtschaftliche Strukturen in unseren Partnerländern zu entwickeln, die es auch ermöglichen, dann dauerhaft Armut zu bekämpfen. AUTOR Entwicklungshilfe nur noch in Form von Krediten? Das ist nicht die Lösung, findet Bartholomäus Grill, Korrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT und seit vielen Jahren Afrika-Experte. TAKE 25 (Bartholomäus Grill) Das hat man nun auch schon in den 70er Jahren gemacht, und das hat nun auch die Weltbank schon gemacht, und wozu es geführt hat, das wissen wir, wenn wir uns die Schuldenkrise genauer ansehen, das würde im Grunde nur noch die nächste Schuldenkrise bewirken. Außerdem: selbst wenn dann das Geld da wäre, ist immer noch nicht gewährleistet, dass man vernünftige Dinge damit macht. Das ist doch das Problem. Es scheitert doch auf dieser Welt nicht am Geld. Schon gar nicht, wenn man sieht, was zur Rettung von Banken und sonstigen Finanzbanditen ausgegeben wird: am Geld scheitert es zuallerletzt. AUTOR Es scheitere am Willen, sagt der ZEIT-Autor, am Willen, einen allumfassenden Masterplan zu entwickeln. Vernünftige Einzelprojekte gäbe es zur Genüge. TAKE 26 (Bartholomäus Grill) Ich war gerade in Kenia, im Massai-Land, ich habe Dutzende von Rindern gesehen, die nur noch als Kadaver herumliegen, und ich finde es absolut sinnvoll - ich war unterwegs mit der Deutschen Welthungerhilfe -, da Wasserauffangbecken zu bauen, die Wasserversorgung sicherzustellen, das ist absolut sinnvolle Hilfe, das kann man auch abmessen und direkt sehen. Und sie fließt auch direkt in die Kommunen. Da steht eben dann vor der armseligen Schule mitten im Busch ein guter Wassertank, wo die Leute sich versorgen sollen, das ist durchaus sinnvoll, solche Dinge zu machen. AUTOR Gerade wenn es um globale Strukturpolitik geht, sind die Konzepte und Konferenzen zum Scheitern verurteilt. Denn die Summe der Einzelinteressen ist immer größer als das große Ganze. Letztes beeindruckendes Negativ-Beispiel: der Klimagipfel in Kopenhagen. Claudia Warning vom Evangelischen Entwicklungsdienst. TAKE 27 (Claudia Warning) Ich bin tief enttäuscht darüber, was da gelaufen ist, wir sind alle zusammen unserer Verantwortung nicht gerecht geworden. Und das bedeutet für die Ärmsten der Armen, die ja nicht mit zu den Verursachern der Katastrophe zählen, dass die nach wie vor diesen Preis zu zahlen haben. Ich weiß auch nicht genau, wie man das wieder gutmachen will. Ob man mit einem ,Weiter so', sprich im Sommer Bonn, im Herbst Mexiko das wieder einfangen kann. Denn die Vorbereitung für Kopenhagen war so lang, so intensiv, und es war jedem klar, dass was passieren musste, und es ist nichts passiert, dass man geradezu sprachlos ist angesichts der Ergebnisse. AUTOR Der Verhandlungsführer der G77, ein Sudanese, ereiferte sich besonders über die von den reichen Industrienationen diskutierten zehn Milliarden US-Dollar Klimahilfe für die armen Länder pro Jahr. Das reiche nicht einmal aus, ... SPRECHERIN ... "um genug Särge für die Menschen in den Entwicklungsländern zu kaufen". TAKE 28 (Bartholomäus Grill) Letztendlich geht es immer nur ums Geld, und es ist vermutlich in bestimmten Kreisen der Hilfsindustrie nicht angesagt, da offen Kritik zu üben. Denn mir wird manchmal angst und bange, denn wenn die Gelder tatsächlich fließen sollten, die der Norden oder die Industrieländer als Kompensation zahlen sollten, wenn sie tatsächlich fließen sollten, dann habe ich heute schon Angst über die Verwendung dieser Gelder. Ob die tatsächlich für Klimaschutzmaßnahmen eingesetzt werden oder zu einer weiteren Selbstbereicherung der herrschenden Eliten in Afrika verwendet werden. AUTOR Entwicklung - wohin? Und wofür das Ganze? Die Fragen bleiben. Doch trotz aller Kritik sollte man nicht vergessen, dass die Transferleistungen des Nordens in den Süden, die manche Experten in den vergangenen 50 Jahren auf insgesamt eine Billion US-Dollar schätzen, dass diese Hilfsgelder gerade einmal so hoch sind wie die weltweiten Rüstungsausgaben ... pro Jahr. MUSIK (Spieluhr o.ä) AUTOR Keine Entwicklungshilfe mehr für China, Hilfsgelder in Afghanistan nur für die, die mit der Bundeswehr kooperieren: das sind die ersten konkreten Maßnahmen, die der neue Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel eingeleitet hat. Was ist noch von ihm zu erwarten? Im schwarz-gelben Koalitionsvertrag steht, man wolle die Schlagkraft der deutschen Entwicklungspolitik erhöhen. Dazu will Dirk Niebel die Vorfeldorganisationen der so genannten Technischen Zusammenarbeit - GTZ, DED, DIE und wie sie alle heißen - reformieren und Doppelstrukturen beseitigen. Häufig überlappen sich deren Programme, buhlen die Organisationen um das gleiche Haushaltsgeld. Grundsätzlich ein vernünftiger Ansatz, findet der ZEIT-Autor Bartholomäus Grill. Aber: TAKE 29 (Bartholomäus Grill) Es geht da um sehr starke Organisationen und Interessensvertretungen, wenn man nur dran denkt: die KfW, GTZ, der DED usw. und die lassen sich nicht so schnell ihre Pfründen und Positionen wegnehmen, und die Versuche, in diese Richtung zu bündeln und neu zu strukturieren, sind ja unter Wieczorek-Zeul zwar immer wieder erklärt worden, aber jämmerlich gescheitert. Und ich nehme an, dass auch ein Herr Niebel, der ja nun in diesem Feld nicht als Experte gelten kann, scheitern wird. Der Versuch ist ehrenwert, aber er wird sich vermutlich genauso die Zähne ausbeißen wie alle anderen Reformer, die das versucht haben. AUTOR Der neue Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung will vor allem den ersten Teil seiner Amtsbezeichnung mit Leben füllen: die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Er will sein Ministerium vom Image des "Armutsministeriums" befreien und sieht seine Tätigkeit an der Schnittstelle zwischen Außenpolitik und Außenwirtschaftsförderung. TAKE 30 (Dirk Niebel) Es ist auch kein Fehler, wenn deutsche Entwicklungszusammenarbeit ein Stück weit wieder in deutsche Wirtschaft zurück fließt. Ich bin weit davon weg als jemand, dem der Wettbewerb wertvoll ist, an bestimmte Projekte bestimmte Bezugsnotwendigkeiten knüpfen zu wollen, aber ich sehe mich schon auch als Türöffner für die deutsche Wirtschaft, wenn ich irgendwohin reise und darauf aufmerksam mache, dass auch wir gute Produkte und Dienstleistungen haben, die man durchaus im Rahmen eines wettbewerblichen Verfahrens mit in Erwägung ziehen könnte einzukaufen, und dann fließt auch ein Stück weit des Geldes, das unsere Steuerzahler für Entwicklungszusammenarbeit finanzieren, wieder in die Bundesrepublik zurück und ermöglicht es, mit der Schaffung neuer Märkte nicht nur andere Länder zu entwickeln, sondern auch unsere Wirtschaft so aufzustellen, dass wir weiterhin genügend Steuereinnahmen für Entwicklungszusammenarbeit generieren. TAKE 31 (Martin Bröckelmann-Simon) Nach Untersuchungen aus der Universität Singapur fließen von zehn Dollar Entwicklungszusammenarbeit acht ohnehin wieder in Form von Aufträgen, Verwaltungsgebühren, Beratungshonoraren etc. an die Geberländer zurück. AUTOR Martin Bröckelmann-Simon, Geschäftsführer des katholischen Hilfswerks Misereor. TAKE 32 (Martin Bröckelmann-Simon) Also so schrecklich generös und wohltätig sind wir dann in unserer Entwicklungszusammenarbeit am Ende doch nicht, die Eigeninteressen spielen schon immer eine riesengroße Rolle, und das kritisieren wir an manchen Stellen, weil wir sagen: Armuts- und Armenorientierung kann man nicht einfach aufgeben, und Außenpolitik folgt einer anderen Gesetzmäßigkeit, sonst haben wir eine Situation, dass wir mit den Händen vorne der Entwicklungszusammenarbeit mühsam etwas aufbauen, und mit der Außenwirtschaftsförderung oder der Handelspolitik schmeißen wir es mit dem Hintern wieder alles um. TAKE 33 (Claudia Warning) Das ist eine große Frage, die nach wie vor im Raum steht, ... AUTOR Claudia Warning, Vorstandsmitglied des Evangelischen Entwicklungsdienstes. TAKE 34 (Claudia Warning) ... was heißt es, dass im Koalitionsvertrag drin steht: die deutsche Entwicklungszusammenarbeit müsste stärker die Interessen der deutschen Wirtschaft berücksichtigen? Was ist also die Kompassnadel: die Bedürfnisse der Armen oder die Bedürfnisse der deutschen Wirtschaft? Aber: Das Entwicklungsministerium ist das Ministerium, das für die weltweite Armut und Ungerechtigkeit zuständig ist. TAKE 35 (Dirk Niebel) Insgesamt muss ich Ihnen sagen: wir werden nach Ende dieser Legislaturperiode in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Durchführung wie in Ausführung effizienter, erkennbarer und zielorientierter sein. AUTOR Und da bricht er dann doch wieder durch: der Wahlkampfmanager in Dirk Niebel, der seit vielen Jahren mit markigen Sprüchen darum bemüht ist, Profil zu zeigen. Wie viel Gestaltungswille und -kraft er als Entwicklungsminister hinter dieser Fassade verbirgt, wird sich erst noch erweisen. TAKE 36 (Claudia Warning) Ich würde lieber gerne mal den Entwurf seiner Entwicklungszusammenarbeit sehen, jenseits der China-Frage, jenseits der Außenwirtschaftsförderungsfrage zu sehen: was macht er draus? MUSIK (Spieluhr o.ä.) SPRECHERIN Von der "Roten Heidi" zum "Blassen Dirk". Wohin steuert die deutsche Entwicklungspolitik? Eine Sendung von Wolf-Sören Treusch. Es sprach: der Autor Ton: Bernd Friebel Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 19 19