Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 6. Februar 2010 / 11:05 - 12:00 Uhr Abano Terme - Strukturwandel in der Fangopackung mit Reportagen von: Kirstin Hausen am Mikrofon: Britta Fecke Musikauswahl: Babette Michel Eine Italienerin aus Abano Therme erinnert sich an die goldene Zeit des Kurorts: "Wenn jemand auf Thermalwasser stieß, war das als hätte er Öl gefunden. Ich erinnere mich noch, wenn aus dem Bohrloch das heiße Wasser sprudelte, dann gab es ein Fest, denn das hieß man wurde reich." Und ein Winzer aus der Nachbarschaft weiß, dass jedes Fest seinen Preis hat: "Der Ort hat seine Identität verloren. Daran ist die Gemeindeverwaltung schuld. Sie hat in den vergangenen 20 Jahren jeden bauen lassen. Die Gemeinde brauchte Geld und hat mit Baulizenzen Kasse gemacht." Gesichter Europas: Abano Terme - Strukturwandel in der Fangopackung Mit Reportagen von Kirstin Hausen. Am Mikrofon begrüßt sie Britta Fecke. Auf den ersten Blick ist es nichts als warmer Schlamm, aber schon die Römer wussten, dass es mehr ist: dass Fango Gelenkschmerzen und Entzündungen lindert und ein Bad in bromhaltigen Quellen die Sinne belebt. Und so pilgerten sie schon vor rund 2000 Jahren zu den Thermalquellen des Fons Apone, den Quelle des Gottes Aponus, der den Schmerz nimmt. Heute kommen die Kurgäste nach Abano Terme um Arthrose, Rheuma oder Osteoporose im Fangobad zu lindern. Für den Fango wird Tonerde aus den benachbarten euganeischen Hügeln im Umland herbeigeschafft und mit Thermalwasser angesetzt. Dieses Wasser kommt aus den Voralpen und fließt rund 30 Jahre durch Kalksteinformationen, bis es angereichert mit Brom, Jod und anderen Mineralien in der Provinz Padua aus dem Boden sprudelt. Tonerde und Thermalwasser werden vermengt und reifen so lange bis sich Algen und andere Mikroorganismen im Schlamm gebildet haben. Nach rund 60 Tagen ist der Fango bereit, die Heilwirkung optimal und schon vor dem Frühstück geht der Gast in die Kurabteilung seines Hotels, wo Luigi, Marco oder Lorella auf ihn warten, denn es ist angerichtet: Beitrag 1: Es wär dann angerichtet - Fango vorm Frühstück Acht Uhr morgens in der Fangoabteilung des Hotels Roma Terme in Abano. Rege Betriebsamkeit. Die Behandlungsräume zu beiden Seiten eines schlauchartigen Korridors sind besetzt, alle. Vor den Türen sitzen Männer und Frauen in Bademänteln und warten, warten auf Lorella, eine kleine, zupackende Frau mit Kurzhaarschnitt und großen, dunklen Augen. Sie rennt in ihrer leuchtend blauen Arbeitskluft den Korridor hinauf und hinunter. Dabei wirkt sie nicht gestresst, sondern ganz in ihrem Element. Hier ein Lächeln, dort ein Scherz, Lorella lässt niemanden links liegen. Sie versprüht nach allen Seiten Charme. Mit Erfolg. Keiner der Wartenden wird ungeduldig. Man vertreibt sich die Zeit plaudernd. Ein Mann um die 60 klagt über die Kürzungen des Krankenkassenanteils zur Fangotherapie und erwähnt, dass die Staatsbeamten die Kur noch voll bezahlt bekämen. Seine Banknachbarin beruhigt ihn: Auch die Staatsbeamten können ihres Wissens nach nicht mehr kostenlos in Abano kuren. Sie will gerade den Rat eines Nachbarn einholen, da steht Lorella plötzlich vor ihr. Und schon geht es in Behandlungsraum Nummer acht. Auf einer Liege häufen sich 50 Kilo Fango: eine zähe, zementgraue Masse, die Lorella mit kräftigen Strichen verteilt. "Das ist wie im Risotto rühren. So hat mein Lehrer es uns immer erklärt" Lorella ist diplomierte Masseurin mit Zusatzausbildung zur Fangotherapeutin. "Vor 20 Jahren gab es noch keine Ausbildung zum Fangotherapeuten, man schmierte halt so drauflos. Oft haben die Leute nachts gearbeitet, weil sie tagsüber ihre Felder bestellen mussten. Heute gibt es die Berufsbezeichnung Fangotherapeut, weil die Fangokur eine anerkannte Therapie ist. Dieser Schlamm ist der beste in ganz Italien gegen Gelenkentzündungen oder Osteoporose. Wir hatten hier schon Astronauten, die aufgrund ihrer Ausflüge ins All unter Osteoporose litten. Der Heilschlamm stammt aus zwei Seen bei Aqua Petrarca, wird hierher gebracht und in Wannen zwei Monate lang mit Thermalwasser angereichert, bis er reif ist. Die Patientin legt ihren Bademantel ab, löst die Armbanduhr. Es ist warm. Lorella hat Schweißperlen auf der Stirn und rollt die Ärmel ihres Kittels hoch. "Mir macht es großen Spaß. Ich habe früher in einem ganz anderen Bereich gearbeitet, in einer Bibliothek, aber das war mir zu langweilig. Hier geht es vor allem um Kontakt und Kommunikation. Ich muss die Patienten beruhigen, die ersten Male sind die meisten aufgeregt oder ängstlich. Da muss ich ihnen natürlich alles genau erklären." Mit einem Lächeln dreht sich Lorella nach ihrer Patientin um. Sie klopft auf die Kante der Liege, die Patientin setzt sich vorsichtig darauf. Die beiden Frauen kennen sich schon seit ein paar Jahren und sind per du. Lorella beginnt, den Heilschlamm auf Schultern und Nacken zu verteilen. Dann schmiert sie die Hüften ein, Kniegelenke und Füße. Bauch und Brust bleiben frei. Zum Schluss lässt sich die Patientin rücklings auf die Liege sinken, in den Schlamm. Eine feuchte, warme Umarmung. "Jetzt kommen noch die Decken drüber, erst ein Baumwolltuch, dann eine Wolldecke, damit du nicht frierst." Liebevoll steckt Lorella die Decke an den Ecken fest, streicht sie glatt und lächelt der so verpackten Dame beruhigend zu. Dann entschwindet sie während der Fango seine Wirkung entfaltet. Er trocknet auf der Haut, es kribbelt und die Durchblutung kommt in Gang. Damit ist es aber noch nicht getan. Nach 20 Minuten ist Lorella wieder da und lässt Wasser in eine geflieste Sitzbadewanne ein. Thermalwasser. "Dieses Wasser stammt aus den Dolomiten. Es braucht 30 Jahre bis es hier in Abano ankommt. Auf seinem Weg reichert es sich mit Mineralien, mit Brom, an. Es ist gut gegen Gelenkschmerzen und unterstützt die Regeneration der Zellen. Dieser Nebeneffekt interessiert vor allem die Frauen, weil es die Hautalterung verlangsamt. Diesem Wasser wird noch Ozon zugeführt, wodurch es so schön sprudelt. Das entspannt die Muskulatur ist aber weniger aggressiv als diese Massageduschen, die man sonst so kennt. Manchmal gebe ich auch noch ein paar Tropfen Ölessenz ins Wasser, das ist gut für die der Psyche." Diesmal soll Lavendel und Rosenholz der Seele schmeicheln, ein zwei tropfen Öl, dann dimmt Lorella das Licht und verabschiedet sich. "Gut, für heute sind wir fertig. Bitte keine Anstrengung unmittelbar nach der Behandlung, ruh dich einfach aus. " Jahrhunderte nach den Römern haben Dichter, Denker und Musiker Erholung und Heilung in Abano Terme gesucht; und vielleicht auch ein wenig Zerstreuung. Petrarca, Shakespeare, Mozart und Lord Byron badeten am Fuße der Euganeischen Hügel. Natürlich kam auch Goethe auf seiner Italienischen Reise an der Therme vorbei: "Der Weg von Verona hierher ist sehr angenehm, man fährt nordostwärts an den Gebirgen vorbei hin und hat die Vorderberge, die aus Sand, Kalk, Ton Mergel bestehen, immer linker Hand. Auf den Hügeln, die sie bilden, liegen Orte, Schlösser, Häuser. Rechts verbreitet sich die weite Fläche. Durch die man fährt. Der gerade, gut erhaltene, breite Weg geht durch fruchtbares Feld, man blickt in tiefe Baumreihen, an welchen die Reben in die Höhe gezogen sind, die sodann, als wären es luftige Zweige, herunterfallen. Hier kann man sich eine Idee von Festonen bilden! Die Trauben sind zeitig und beschweren die Ranken, die lang und schwankend niederhängen. Der Weg ist voll Menschen aller Art und Gewerbes, besonders freuten mich die Wagen mit niedrigen, tellerartigen Rädern, die mit vier Ochsen bespannt, große Kufen hin und wider führen, in welchen die Weintrauben aus den Gärten geholt und gestampft werden. Die Führer standen, wenn sie leer waren, drinnen, es sah einem bacchischen Triumphzug ganz ähnlich. Zwischen den Weinreihen ist der Boden zu allerlei Arten Getreide, besonders zu Türkischkorn und Sörgel benutzt." "Morgens Fango, abends Tango" so lautete das Motto der damals noch mondänen Abano Terme. In den 50er und 60er und auch noch in den 70er Jahren waren die Hotels in dem Kurort voll ausgelastet. Doch vom Fango allein kann Abano inzwischen nicht mehr leben, und der Tango scheint hier ebenso aus der Mode, wie das eine oder andere Hotel. Das Heilbad ist in die Jahre gekommen und noch schlimmer: Die Krankenkassen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz finanzieren nicht länger die Kur in Norditalien. Seitdem füllen sich die Hotelbetten nicht mehr von allein: Von 118 Hotels sind inzwischen 12 geschlossen, darunter auch das Grand Hotel Orologio aus dem 18. Jahrhundert, es war das Schmuckstück der kleinen Stadt. "Morgens Fango, abends Tango", der Werbespruch stammt von Flavio Gazza, und es war nur eine seiner vielen Ideen, die alle dazu dienten, den Tourismus in der Region auszubauen. Inzwischen denkt der Touristikfachmann weit über die Grenzen des Thermalbeckens hinaus: Flavio Gazza will die Natur der Umgebung - die Hügel der Eugenien und die Weinberge - in sein touristisches Gesamtkonzept mit einbeziehen. Doch neue Konzepte haben es nicht immer leicht im traditionellen Familienbetrieb: Ein gelb getünchtes Häuschen mitten auf der Wiese. Im Garten macht sich Flavio Gazza an seinem Mountainbike zu schaffen. Blaue Augen, weißes Haar, Bauchansatz, muskulöse Waden. Flavio trägt Radlerhosen, eine gefütterte Windjacke und sucht nach der Luftpumpe. Seine Hände sind rot vor Kälte. Doch seine Füße sind warm, sie stecken in speziellen Radrennschuhen. Füße ist perfekt. Mit diesen Schuhe ist es ideal. Man kann auch unter 10 Grad fahren. Und das macht Flavio Gazza auch. Zwei Mal die Woche, wenn ich schaffe. Zu viel zu tun. Die Kälte kann ihn nicht vom Mountainbiken abhalten, wohl aber die Arbeit. Flavio Gazza ist Direktor des Hotelkonsortiums TAS in Abano Terme. Die Hotelgruppe gibt es seit mehr als 30 Jahren. Es sind 14 Häuser, drei bis fünf Sterne, alle im Familienbesitz. Flavio Gazza wirbt für sie um Kunden. In Deutschland, der Schweiz, Österreich, aber auch in Moskau, Peking und Schanghai. Auf Messen, bei internationalen Touristikkonferenzen. Eine von vier Wochen ist er unterwegs, dann bleibt das rad im Keller, aber sonst wird trainiert. Seit 20 Jahren schwingt sich Flavio Gazza regelmäßig in den Sattel. Um Stress abzubauen und um die einzigartige Landschaft der euganeischen Hügel rund um Abano zu erkunden. Es gibt immer mehr Leute, dass die kommen mit seinem eigenen Fahrrad und manchmal auch mit Mountainbike. Flavio Gazza wittert einen Trend. Und wo ein Trend ist, ist auch ein Geschäft zu machen. Nur Golf hat eine Rolle gespielt bis jetzt, aber meiner Meinung nach man sieht immer mehr Fahrrad, das ist Zukunft. Zukunft ist eines seiner Lieblingswörter. Oft hebt er bedeutsam die Augenbrauen, wenn er es ausspricht. Und in der Zukunft kommen die Leute nach Abano Terme. In "seine" Hotels natürlich. Endlich - die Luftpumpe ist gefunden. Blacky, ein langhaariger Spitz, hatte sie in seiner Ecke des Gartens versteckt. Nun bekommt er einen freundlichen Klaps und wird ins Haus geschickt. Flavio Gazza öffnet das Gartentor, schwingt sich in den Sattel. Zügig geht es über einen Schotterweg Richtung Hügel. Ihre Kuppen ragen kegelförmig aus einem Nebelschleier hervor. Über den Feldern liegt Dunst. Es ist kalt und feucht. Flavio Gazza biegt auf eine wenig befahrene Straße entlang eines Wasserkanals ab, beschleunigt. Seine Beine kennen den Weg. Sie fahren ihn seit 20 Jahren. Immer die gleiche Parcour, weil: Es ist immer die Frage, man hat genug Zeit oder nicht. Heute reicht die Zeit für einen Abstecher nach Battaglia Terme am fuss der hügel. Der Ort wirkt verschlafen. Kein Vergleich zu der quirligen Fußgängerzone von Abano Terme. Flavio Gazza macht eine scharfe Linkskurve und fährt durch ein schmiedeeisernes, leicht verrostetes Tor in einen kleinen Park. Spazierwege, ein Spalier aus Bäumen, in der Mitte ein Springbrunnen in Jugendstilarchitektur. Er ist nicht in Betrieb, im Marmorbecken liegen zwei zerbeulte Getränkedosen. Flavio Gazza steigt vom Rad, streckt sich. Sein Blick gleitet hinüber zu einem Gebäude, das an den Park angrenzt. Ein altes, verlassenes Hotel, der Putz blättert von den Wänden. Man hat gesprochen, Araber wollte diese alten Hotels kaufen und ein schönes Superluxushotel machen, mit diesem Park wäre ideal. Früher es war oder gehört immer noch der INPS, das ist die italienische Krankenkasse. Das war sehr populär, die haben viele Kuren gemacht hier, kostenlos, dann die haben zu gemacht. Und das war das ende von Battaglia Terme. Dabei hätte es auch anders kommen können, meint Flavio Gazza. Entwicklungen voraussehen, vorbeugen, umschwenken - das predigt er seit 30 Jahren seinen Konsortiumsmitgliedern. Er war der Erste in Abano Terme, der eine Gratisbuchungshotline schalten ließ und Kuraufenthalt mit Billigflug im Paket offerierte. Nach ein paar Lockerungsübungen und einem Blick auf die Uhr geht es weiter. Weg aus Battaglia, hinauf in die Hügel. Man wird möglich machen, die ganze Strecke auf die Hügel zu gehen, ohne die Hauptstraße zu berühren. Das sind über 60 km, das ist sehr interessant. Noch ist es aber nicht so weit. Noch überholt ihn hin und wieder ein Auto, während sich Flavio Gazza einen langen Anstieg hinaufquält. Endlich oben lichtet sich der Dunst. Vereinzelte Häuser tauchen auf, Gehöfte. Hinter Hecken versteckt, mit langen Zufahrten. Flavio strampelt hinauf und hinunter, vorbei an Felder und Weinberge. Dann plötzlich hinter einer Kurve: ein Restaurant. Oder besser: ein kleines Lokal mit zwei Tischchen vor der Tür. Für die Raucher. Flavio Gazza lehnt sein Rad an die Hauswand, streift die Handschuhe ab und flüchtet ins Warme. Ein holzgetäfelter Raum, Regale mit Weinflaschen, Tische mit weiß-rot-karierten Tischtüchern, eine Tafel mit dem Tagesmenü, handgeschrieben. Es gibt Lasagne oder "Pasta e faggioli" Nudeln mit dicken Bohnen. Flavio Gazza zögert nicht lange. Er wählt die lokale Spezialität mit den Bohnen, ein deftiges Arme-Leute-Essen. "Das ist erste Mal dieses Winter, dass ich Pasta e faggioli esse. Es ist typisch von Veneto." Die Portion ist üppig, genau das Richtige für einen Radfahrer. Flavio Gazza fährt sich über das gerötete Gesicht. Seine Arbeit hat mit den Jahren immer mehr zugenommen. Denn früher verkaufte sich das Reiseziel Abano Terme praktisch von selbst. Das war wie ein Paradies. In den 60 er Jahren hat man hier keine Werbung gemacht. Man hat angefangen, die Schwimmbäder zu bauen. Alle hatten schon damals ein Hallenbad und ein offenes, man kann auch im Winter draußen schwimmen. Heute ist das nichts Besonderes mehr. Wir haben mehr Konkurrenz als vorher. Ein Seufzer. Dann hebt er die Hand und bestellt einen Kaffee. Schwarz, stark und bitte schnell. In einer Stunde muss Flavio Gazza wieder im Büro sein. 1927 wurde Abano Therme offiziell als eine der ersten Städte Italiens zum Heilbad erklärt. Nur 20 Jahre später wurden viele neue Hotels gebaut, um die zahlreichen Gäste beherbergen zu können. Fast jedes Hotel hatte die Fangoabteilung direkt im Haus, eine heiße Thermalquelle sowieso. Bis in die 90er Jahre kamen rund 2 Millionen Erholungssuchende in den Kurort, jedes Jahr. Seitdem sind die Zahlen rückläufig, allein aus Deutschland kommen 30 Prozent weniger Gäste, als noch vor 20 Jahren. Zwei Millionen Menschen arbeiten in Italien in der Tourismusbranche und tragen so zehn Prozent zum Bruttoinlands-Produkt bei. Doch diese Werte werden wohl sinken, weil die Gewinne wegbrechen. Allein im Januar des letzten Jahres haben 4,5 Prozent der Bediensteten im Hotelbereich ihre Arbeit verloren, bei Mitarbeitern mit befristeten Arbeitsverträgen waren es sogar 10 Prozent. In nur einem Monat! In Abano Terme werden die Zahlen zur konkreten Bedrohung, denn die goldenen Zeiten der Therme liegen Jahrzehnte zurück. Vorbei die Zeit, als die Gäste in großer Garderobe über die Kurpromenade flanierten und sich danach im Walzertakt unter prunkvollen Lüstern wiegten. Die Bälle sind Vergangenheit und die Gäste gehen eher im Bademantel, als in der großen Robe zu Tisch. Das Mioni Pezzato wird in der dritten Generation geführt, ein gehobenes Mittelklassehotel, das schon bessere Zeiten gesehen hat, und genau diese Zeiten in Ehren hält. Beitrag 3: Dino - Ein Oberkellner mit Klasse und Wehmut Ein Lächeln, eine angedeutete Verbeugung, dann zückt Oberkellner Dino den Stift und notiert: Spaghetti mit Venusmuscheln für die Dame, Gnocchi mit Käsesoße für den Herrn. Und schon ist er beim nächsten Tisch. Nummer 18. Drei füllige Italienerinnen mittleren Alters. Starkes Make-up, viel Schmuck. Sie mustern ihn vom Scheitel bis zur Sohle. Dino rückt seine Fliege zurecht. Akkurat gekämmtes Haar, weißes Hemd, cremefarbenes Jackett mit passender Hose, schwarze glänzende Schuhe, ein Kellner wie aus vergangenen Zeiten. "Wir müssen den Gästen gegenüber tadellos auftreten. Sauber, ordentlich und mit einem Lächeln auf den Lippen, das sage ich meinen jungen Kollegen immer wieder. Wenn da jemand mit heruntergezogenen Mundwinkeln ankommt, da würde mir auch der Appetit vergehen. Berufsethos eben. Oberkellner Dino ist noch kein einziges Mal mit Flecken auf der Jacke zur Arbeit erschienen. Morgens ab sieben, mittags ab 12, abends ab halb acht Uhr bittet die Hotelleitung die Gäste zu Tisch. Vorspeise, erster Gang, Hauptgang, Nachtisch. Jeweils drei Gerichte zur Auswahl. "Als ich hier anfing, war ich 20, heute bin 56 Jahre alt und immer noch hier, im gleichen Hotel. Mir gefällt es hier, warum sollte ich wechseln?" Der hell erleuchtete Speisesaal ist längst sein zweites Zuhause. Kristalllüster an der Decke, Goldbordüren an den schweren Vorhängen, cremefarbener Teppichboden. Ein elegantes Ambiente. Früher kleideten sich die Gäste dementsprechend, die Herren kamen rigoros im Anzug, die Damen in Abendgarderobe. Das waren noch Zeiten. Dino nickt wehmütig. "Heute ist das mehr so Standardgarderobe." Soll heißen: Jeans und Pullover tun`s auch. Nur die Kellner sind so elegant wie eh und je. Die drei Damen an Tisch 18 warten mit aufgefalteten Servietten auf den ersten Gang. Dino unterhält sie, bis der Servierwagen mit der Pasta aus der Küche kommt. Er trägt ihnen auf. Noch etwas Parmesankäse? Die angesprochene Brünette wehrt zögernd ab, aber Dino hat schon verstanden und schippt kräftig Käse auf den Teller. Dann entfernt er sich mit einem entschuldigenden Lächeln. "Manche tun so, als ob sie nichts mehr wollen, aber in Wirklichkeit wollen sie wohl. Das kann ich spüren. Ich leg dann noch nach, diskret natürlich." Diskretion ist Ehrensache. Und die Wünsche der Gäste sind heilig. "Wunder können wir keine vollbringen, aber wir geben uns die größte Mühe, unsere Gäste zufriedenzustellen. Manche haben ja auch Lebensmittelallergien, beispielsweise dieses Kind dort drüber. Das verträgt keine Mehlspeisen, da müssen wir die Gerichte drauf abstimmen." Dino versteht sich als Vermittler zwischen Gast und Küche. Schnell findet er heraus, wem welche Speisen schmecken und gibt die entsprechenden Empfehlungen ab. "Viele Gäste sind ja auch Stammgäste, die kenne ich schon, wenn sie zur Tür herein kommen." Zum Beispiel das deutsche Ehepaar, das an Tisch Nr. 27 Platz genommen hat. Er trägt ein dezent gemustertes Hemd, Tennisschuhe. Sie eine dunkle Bluse und Bleistiftrock. Die beiden sind Mitte 50 und wirken sehr entspannt. "Mir sin vom Chiemsee und sin eben nur n paar tage da, man kann sich kurz erholen und das ist einfach super." "Genau. Wir kommen schon seit 25 Jahren hierher und fühlen uns also wirklich immer wieder wohl." Heute Abend rät Dino dem Ehepaar zu den Spaghetti mit Venusmuscheln. Ein einfaches Gericht, aber sehr authentisch. Die Soße besteht nur aus Olivenöl, einem Schuss Weißwein, etwas Knoblauch und Petersilie. "Die Deutschen und ausländische Gäste überhaupt lieben unsere Nudeln. Die Italiener vermeiden sie eher. Vielleicht, weil sie auswärts lieber etwas Raffiniertes essen als die bewährten Nudeln, die in fast jedem italienischen Haushalt täglich auf den Tisch kommen? Oberkellner Dino schüttelt den Kopf. "Die Leute gucken immer mehr auf die Kalorien. Das war früher anders, da wurde noch richtig zugelangt. Heute beschränken sich viele." Zum ersten Mal an diesem Abend schaut Dino betrübt. Ihm tut es leid, wenn seine Gäste einen Gang ausfallen lassen oder das Dessert ablehnen. Früher hat er Gästen, denen es schmeckte, immer noch einen Nachschlag aus der Küche gebracht. "Früher fuhr man in ein Hotel mit Halbpension, um zu essen, gut zu essen." Dino lacht und schaut zu Tisch Nr. 18. Die drei Damen löffeln ihr Dessert, dunkel glänzender Schokoladenpudding mit warmer Orangensoße. Viele Portionen hat er davon heute Abend nicht herumgebracht. Die Zeiten sind wohl definitiv vorbei. Literatur 2 auf Musik: Horst Smutek, hat 20 Jahre lang in Abano Terme gekurt. Mindestens einmal im Jahr tauchte der Österreicher seine Knochen in Fango. Er ist dabei immer demselben Hotel treu geblieben, und hat von vertrautem Posten unter anderem der Damenwelt gehuldigt. Seine Erlebnisse hat er in dem autobiografischen Roman "Morgens Fango, abends Tango" festgehalten. Die italienische Übersetzung "Fangotango" erschien 1990 im venezianischen Verlag Edizioni Helvetia. "Verliebt! Ganz klar verliebt! Verzeihen Sie mir meine Offenheit, verehrte Dame, aber es war so deutlich zu sehen. Einem geübten Beobachter wie mir ist die Art, wie Sie in den Speisesaal geschwebt sind, nicht entgangen. Mit dieser neuen Frisur, so sorgfältig geschminkt, diesem wunderschönen Kleid, dass ihre weiblichen Formen betont. Ich muss Ihnen beichten: auch ich war ganz verzaubert, als Sie den Raum betraten und ich war nicht der Einzige. Davon konnte ich mich überzeugen und auch Ihnen wird es nicht entgangen sein. Wie, meinen Sie das ernst? Sie möchten behaupten, von alldem nichts bemerkt zu haben? Die Aufregung, von der die Herren plötzlich ergriffen wurden durch Ihre Anwesenheit? Sie müssen wissen, hier wird jeder neue Gast sogleich registriert, und genau betrachtet. Schließlich sind wir hier an einem Ort der Muße, fern von all den hässlichen Dingen, die uns im Alltag ständig begegnen. Und dann haben wir hier Zeit, das ist der große Unterschied. Wir haben Zeit, viel Zeit und können uns unseren Fantasien, unseren Träumen hingeben. Wir sind hier, um unseren Körper und seine Leiden zu kurieren, aber wir pflegen hier auch unsere Seele. Kurieren, ja das klingt seltsam an diesem Ort. Es lässt an schwere Krankheiten denken, an Schmerzen und Diätvorschriften, an eine triste Atmosphäre. Wissen Sie, meine Freunde lassen immer ein gewisses Mitleid mit mir durchblicken, wenn ich ihnen sage, dass ich zur Kur fahre. Ich mache das regelmäßig, schon seit 15 Jahren. Ja, Sie haben richtig gehört, seit 15 Jahren fahre ich regelmäßig zur Kur nach Abano, wenigstens ein Mal pro Jahr. Abano ist für mich eine Oase des Friedens, ein kleines Paradies im Herzen Europas, einmalig. Ich kann das ruhigen Gewissens behaupten, ich bin viel herumgekommen. Und Sie, meine liebe Dame? Ich nehme an, Sie sind zum ersten Mal hier? Das habe ich sofort gesehen. Wenn man soviel Zeit zur Verfügung hat, wird man ein guter Beobachter, dem fast nichts entgeht. Ich sage fast, weil es natürlich immer kleine Geheimnisse geben wird. Was wäre das Leben ohne diese kleinen Geheimnisse, die wir nur dann und wann, wenn sich die richtige Gelegenheit ergibt, offenbaren? Zum Beispiel dann, wenn wir verliebt sind und Sie sind verliebt. Als Sie gestern im Speisesaal erschienen, sahen Sie bezaubernd aus und niemand war in der Lage, ihrem Charme zu widerstehen, auch ich nicht. Als Sergio, der Oberkellner, Ihnen dann den Tisch neben dem Meinen zugewiesen hat, begann mein Herz heftig zu klopfen. Natürlich war das kein Zufall, sondern ein Tribut an die Treue, die mich mit diesem Hotel verbindet. So hatte ich also die Gelegenheit, Sie aus der Nähe zu betrachten und ich war sehr erfreut, Sie auf Deutsch mit dem Kellner sprechen zu hören. Ich habe eine Schwäche für deutsche Frauen, ach was Schwäche, ich liebe deutsche Frauen. Entschuldigen Sie die Offenheit, aber nach 15 Jahren Urlaub in Abano darf ich eine solche Behauptung durchaus wagen." Wer von Venedig nach Mailand fährt, der hat die Colli Euganei schon einmal gesehen. Kurz vor Padua erheben sie sich majestätisch aus der Ebene. Die Hügel sind vulkanischen Ursprungs und bilden auch deshalb eine hervorragende Grundlage für rote Rebsorten. Das machte sich allerdings lange niemand zunutze, um im großen Umfang Wein anzubauen. Erst 1980 setze Lucio Romrio hier die ersten Stöcke, um Qualitätswein zu produzieren, inzwischen stehen rund 55 Hektar unter Reben! Das Ergebnis - sein Wein - wurde schnell berühmt, allerdings nicht in Italien, sondern in Amerika. Dort hatte Romrio zuvor die erste Radicchio-Farm der Welt aufgebaut. Der Sprung vom Salat zum Wein ist ihm geglückt, denn die Bedingungen vor allem für den Rosso Riserva könnten bei Abano besser nicht sein. Regelmäßig sind die Moste der einzelnen Lagen so balanciert, dass sich der Winzer im Keller eine "minimalistische" Strategie leisten kann, keine Filtration, keine Anreicherung, keine Tricks: Beitrag 4: Neuer Wein auf altem Stein Ein Bauernhaus mitten im Wald. Liebevoll restauriert und modern eingerichtet. In der großen Stube: ein freistehender Küchenblock wie aus dem Katalog, mit allem, was das Herz eines leidenschaftlichen Koches begehrt. Rechts davon ein Tisch aus Massivholz, lang genug für eine Menge Gäste, auf ihm steht -bereits entkorkt- eine Flasche Rotwein. Lucio Romiero und seine Frau Katia sitzen beim Mittagessen. Es gibt Risotto alla parmigiana, dazu ein Glas "Rosso riserva", dunkelrot, mit einem violetten Schimmer fließt der Wein ins Glas. Lucio Romiero nimmt einen Schluck und nickt befriedigt. Es ist sein Wein, hier aus den Euganeischen Hügeln, gekeltert im Keller des Weingutes VIGNALTA, das ihm und einem Teilhaber gehört. "Hier auf dem Etikett steht Euganeische Hügel, Rosso riserva und darunter: die "Hügel von Venedig". Man kann es abziehen und die Informationen auf der Rückseite lesen, wo wir die geologischen Charakteristika des Bodens, auf dem unser Wein wächst, erklären. Die Hügel sind vulkanischen Ursprungs und es ist ein besonderes Weinanbaugebiet, einzigartig in Italien." So überschwänglich wird Lucio Romiero nur, wenn es um Wein geht. Ansonsten ist er eher bedächtig. Der Mann mit Bart und grün-braunen Augen reibt langsam. Er ist groß und kräftig. Aber schon als Junge war er von der Natur der Hügel fasziniert. Aufgewachsen in Abano erkundete er schon bald mit seinem Moped die Gegend. Kaum erwachsen, zog es ihn dann in die Welt hinaus. Afrika, Amerika. Der Junge wurde Unternehmer und er kam zurück. "Ich kenne hier jeden Winkel. Auch wenn ich als Outsider gelte und von meinen Kollegen "der Amerikaner" genannt werde. Ich weiß genau Bescheid über die Beschaffenheit der Böden, die Erträge der Weinberge, hier gibt es keine Geheimnisse für mich." An Selbstbewusstsein mangelt es dem erfolgreichen Geschäftsmann nicht. Auch nicht an Appetit. Hingebungsvoll widmet er sich dem zweiten Gang: Fenchelsalat mit einem dicken Stück Schinken, selbstgekocht, natürlich in Wein. An den Wochenenden nimmt er sich Zeit zum Kochen. Hinunter in die Ebene, nach Abano zieht es ihn dann nicht. "Der Ort hat seine Identität verloren. Daran ist die Gemeindeverwaltung schuld. Sie hat in den vergangenen 15, 20 Jahren jeden bauen lassen, wie und wo er wollte. Die Gemeinde brauchte Geld und statt die kommunalen Abgaben zu erhöhen, hat sie mit den Baulizenzen Kasse gemacht. Mich hat das dazu gebracht, in die Hügel zu flüchten wie ein Eremit." Vergnügt zwinkert Lucio Romiero seiner Frau Katja zu, die sich einen Espresso macht. Ihrem Mann stellt sie kein Tässchen hin, er ist bereits in seinen Mantel geschlüpft. Heute Nachmittag werden die Jahrgänge 2008 und 2009, die noch in den Eichenholzfässern ruhen, probiert, da darf kein Kaffee die Geschmacksnerven irritieren. "Von meinem Haus sind es nur 5 Minuten bis zum Weinkeller und ich fahre dabei durch eine fast unberührte Landschaft." Von der ist heute wenig zu sehen. Die Hügel hüllen sich in Nebel. Weiß und dicht. "Mich erfasst ein tiefer Frieden, ich fühle mich im Einklang mit der Natur, wenn ich hier durch den Wald fahre. Es gibt kaum Häuser, kaum Menschen, nur Wald und Weinberge. Und hier ist mein Weinkeller, hier arbeite ich." Im Weinkeller wartet bereits Michele, einer der wenigen Angestellten bei Vignalta und Herr über Hunderte Weinfässer. Er hält zwei Gläser in der Hand und folgt seinem Chef in die hinterste Ecke. "Hier herrscht eine typisch italienische Ordnung, das bedeutet komplettes Chaos, aber wir wissen genau, wo welches Fass ist." Mit einer Art Spritze und einer Pipette macht sich Michele an der Öffnung eines der 500-Liter-Fässer zu schaffen. Es ist der Gemola Wein von 2008, benannt nach dem Hügel, auf dem er wächst. Lucio Romiero zieht den Wein durch die Zähne, bläst die Backen auf, bewegt ihn im Mund herum. Er hat eine feine Pfeffernote, das wird ein eleganter Wein, sagt er zufrieden. Beim nächsten Fass ist er dagegen kritischer. Zu holzig. Michele nickt, führt den Eindruck aber weniger auf das Fass als auf die tiefere Temperatur des Weines zurück. Jedes Fass wird regelmäßig kontrolliert, im Schnitt alle drei Monate. "Kleine Geschmacksfehler lassen sich durch einfaches Umfüllen von einem Fass ins andere beheben. Wenn man nichts tut, bekommt man sie später allerdings nicht mehr weg. Das ist sein Job, darauf zu achten, dass das nicht passiert." Lucio Romiero schlägt Michele freundschaftlich auf den Rücken. Er schätzt die Arbeit des ruhigen, zurückhaltenden Mannes sehr. Es ist auch sein Verdienst, dass Vignalta inzwischen als das beste Weingut der Euganeischen Hügel gilt. Drunter würde er es auch nicht machen. "Für mich ist Wein eine Leidenschaft. Am Anfang war es ein Hobby, aus dem dann ein Geschäft wurde. Aber mir ging es von Anfang an um Qualitätswein. Das Schönste ist, wenn ich in Weinanbaugebiete im Ausland fahre und man mir dort sagt, wie gut mein Wein schmeckt, das geht mir runter wie Öl. Die anderen Winzer hier aus der Gegend waren skeptisch, weil unser Wein von Anfang an das Doppelte kostete und sie dachten, das könne nicht lange gut gehen. Aber das Gegenteil ist passiert. Der Markt hat sehr positiv reagiert. Inzwischen gibt es kein Restaurant mehr hier in der Gegend, das es sich leisten kann, kein Etikett aus dem Haus Vignalta im Keller zu haben." Deshalb denkt er inzwischen auch darüber hinaus. Gemeinsam mit drei anderen Weingütern der Gegend hat er einen Verein gegründet. "Wir wollen diese Gegend hier bekannt machen, das ist das Ziel unseres Vereins und das steht auch so in unserem Gründungsstatut. Wir wollen Touristen anlocken und zwar mit einem Paket an Vorschlägen." Der Unternehmer und Winzer macht eine ausladende Handbewegung. Die schöne Landschaft, der gute Wein, die Thermalquellen - drei Punkte, die für Abano und die umliegenden Hügel sprechen. Aber auch drei Welten, die erst noch miteinander vernetzt werden müssen. Dass das kein leichtes Unterfangen ist, hat Lucio Romiero bereits in ersten Gesprächen mit den Hoteliers gemerkt. "Ihre Antwort war: wir müssen unsere Zimmer voll kriegen und zwar heute, nicht morgen. Der Wein und der damit verbundene Tourismus sei Zukunftsmusik und dafür hätten sie jetzt keine Zeit." Abano Therme liegt am östlichen Fuß der Euganeischen Hügel, rund 10 km südwestlich von Padua. Die Stadt hat zwei Zentren: den alten Stadtkern und zwei Kilometer davon entfernt das neue Zentrum - angelegt für den Kurbetrieb mit Hotels, Grünanlagen und Einkaufszone. Wo heute die Gäste kuren, waren früher Felder, bis 1866 die Bahnlinie Padua- Bologna ihren Betrieb aufnahm und Abano für die Gäste aus ganz Europa besser erreichbar wurde. Der wahre Bauboom begann allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu Zeiten des Wirtschaftswunders. Hotels schossen wie Pilze aus dem Boden, genauso schnell wie planlos. Der alte Stadtkern blieb von solchen Maßnahmen unberührt, profitierte aber dennoch vom Tourismus. Damals: Beitrag 5: Die alte Dame allein unter Knöpfen Zwei Frauen mittleren Alters: Luisa, dunkelblond, zuvorkommend, immer in Bewegung und Gabriella, brünett, etwas mollig, skeptischer Blick. Zwischen ihnen steht ein Karton mit Nylonstrümpfen. Prüfend hält Gabriella einen gegen das Licht, der Farbton gefällt ihr nicht. Zu dunkel, murmelt sie während Luisa bereits einen weiteren Karton herbeiholt. Ihr liegt viel daran, Gabriella zufriedenzustellen, immerhin ist sie eine langjährige Stammkundin. "Ich kaufe alles, was ich brauche, hier in Abano ein", sagt Gabriella und es klingt wie ein politisches Statement. In gewisser Weise ist es das auch, die Läden hier im kleinen Stadtzentrum gegenüber des Doms sind fast alle leer, kaum jemand ist unterwegs, und das an einem Samstag." "Die meisten fahren nach Padua oder in die Shoppingcenter auf der grünen Wiese" sagt Gabriella und Luisa pflichtet ihr bei. Seit Jahresbeginn hält sie ihr Geschäft für Strümpfe und Wäsche samstags nur noch bis mittags auf, und auch das lohnt sich eigentlich nicht. "Das Geschäft hier haben wir seit 1950, aber in meiner Familie hat der Handel mit Stoffen und Strickwaren Tradition. Mein Großvater war das, was man einen Lumpensammler nennen würde: er ging von Haus zu Haus und sammelte Altkleider ein, die dann recycelt wurden. Mein Vater hat dann als fliegender Händler Stoffe und Pullover verkauft und wir Kinder haben dieses Geschäft eröffnet, das wir mit Herzblut führen." Luisa Brunino zupft an ihren schulterlangen Locken. Sie trägt ein beigefarbenes Strick-Twin-Set, dazu einen dunkelbraunen Wollrock und flache Schuhe. Geduldig wartet sie bis Gabriella sich für ein paar Nylonstrümpfe, Farbton Amber, entschieden hat. 14 Euro, die erste Einnahme des Tages. Luisa tritt ans Schaufenster, schaut auf den menschenleeren Platz hinaus. "Wir sind hier alle reich geworden mit dem berühmten Fango, aber die Zeiten sind vorbei. In dieser Straße gibt es kaum einen Lebensmittelladen, keinen Bäcker. Den Hoteliers ist ihre Stadt egal, sie sehen nur ihren kleinen Bereich, das hat auch mit der Mentalität hier in Venetien zu tun. Die Menschen arbeiten hart, aber nur für sich selbst, den Anderen sehen sie gar nicht und das ist schlecht." Die Hotels liegen außerhalb des alten Stadtkerns von Abano, ein bis zwei Kilometer entfernt. Dort gibt es eine schön gestaltete Fußgängerzone mit Geschäften und Cafés und eine Grünanlage. Für die Touristen. "Das sind zwei verschiedene Welten. Ich habe schon oft mit den Politikern über diese Zweiteilung gestritten, habe Petitionen geschrieben und Unterschriften gesammelt. Hat alles nichts genutzt." Luisa runzelt die Stirn. Sie ordnet die Schaufensterauslage, entfernt drei Paar gestreifte Wollsocken und geht auf der Suche nach repräsentativeren Artikeln in ihren kleinen Lagerraum. Hier stapeln sich die Kartons bis zur Decke. Alle von Hand beschriftet, einige ziemlich angestaubt. Den mit der Aufschrift "Tahiti" zieht sie hervor. Luisa hebt den Deckel. Auf kleinen Samtpolstern ruhen Knöpfe aus Perlmutt. Sie leuchten wie das Karibische Meer, blau-grün mit einem Stich rosa. 20.000 Lire kostete so ein Knopf früher, das sind umgerechnet circa zehn Euro. Luisa hat seit Jahren keinen Knopf mehr verkauft. Trotzdem kann sie sich nicht von der Ware trennen. Sie für ein paar Cent zu verramschen kommt überhaupt nicht infrage. Da behält sie die Kartons lieber im Lager. Voller Begeisterung öffnet sie weitere Kartons, streicht über handgefertigte Holzknöpfe, Knöpfe aus Glas und aus funkelndem Kristall. "Diesen Knopf habe ich vor vielen Jahren einer Frau vom russischen Konsulat verkauft. Er ist handgemacht und ein wahres Schmuckstück. 48.000 Lire kostete er, das sind heute 24 Euro, meine Güte, wenn ich heute jemandem einen solchen Knopf anbiete, hält er mich für verrückt. Wer gibt denn noch so viel Geld für Knöpfe aus?" Luisa wird nostalgisch. Damals, als die Leute noch Knöpfe kauften, ging es gerade erst so richtig los mit dem Tourismus in Abano. Wo heute die Hotels stehen, waren damals Felder. "Wenn jemand auf Thermalwasser stieß, war das als hätte er Öl gefunden. Ich erinnere mich noch, wenn aus dem Bohrloch das heiße Wasser sprudelte, dann gab es ein Fest, denn das hieß, man wurde reich. Der Wert des Grundstücks schoss in die Höhe. Wer das Glück hatte, im eigenen Garten auf Thermalwasser zu stoßen, hat sein Haus in eine kleine Pension verwandelt. Und schon war er Unternehmer. Das ging alles furchtbar schnell, in den Sechziger Jahren kam auch noch der Wirtschaftsboom hinzu, die Leute fuhren plötzlich in den Urlaub." Goldene Zeiten. Luisa ist so in ihre Erinnerungen versunken, dass sie die Kundin im Verkaufsraum gar nicht bemerkt. Die Dame nähert sich neugierig, aber Knöpfe will sie dann doch nicht kaufen. Sie sucht eine Strumpfhose aus Wolle. Für ihre Tochter. Die weigert sich nämlich, Leggings unter`m Rock zu tragen. Leggings? Neumodisches Zeug. Luisa schüttelt den Kopf. Ein dunkles Grau soll es sein. Luisa hat das Modell nicht in der passenden Größe da und holt ein anderes hervor, Mikrofaser blickdicht und sehr warm. Die Dame bleibt bei Wolle und kauft die Strumpfhose eine Nummer größer. 15 Euro. Die zweite Einnahme an diesem Samstagvormittag. Gesichter Europas: Abano Terme - Strukturwandel in der Fangopackung Mit Reportagen von Kirstin Hausen. Die Musikauswahl traf Babette Michel. Die Literaturauszüge stammen aus Goethes Italienischer Reise, und aus Fangotango dem autobiografischen Roman von Horst Smutek, die Musikauswahl traf Babette Michel. Und die Moderation hatte Britta Fecke. Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. - unkorrigiertes Exemplar - 15