Deutschlandradio Kultur Manuskript Kultur und Gesellschaft Reihe : Zeitreisen Titel : Kenner, Künstler, Kapitäne. Die "documenta" und die Metamorphosen des Kurators Autor : Frank Kaspar Redakteur : René Aguigah Sendung : 6. Juni 2012 / 19:30 Uhr Regie : Frank Kaspar Besetzung : Sprecherin; Sprecher; Autor Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 MUSIK 1+2 - J. Cage "Piano Concert" u "Tödl. Doris": "7 tödl. Unfälle" (TD 14/- 0:15) O-Ton 1 - Michael Glasmeier / Gedicht: "dazwischen" (DR 485 / 0:00ff.) und... und... und... / und reihungen und häufungen und verkettungen und einzelnes und... / und sprachen und dinge und diskurse und... O-Ton 2 - Käthe Wenzel (DR 490 / 2:00) Es ist ja oft so, wenn man irgendwo sitzt und denkt so: Was ist jetzt der Sinn meines Lebens? - dann ist immer schon die Antwort: Jetzt hör auf zu grübeln, steh auf und mach was! O-Ton 3 - Michael Glasmeier "dazwischen" (DR 485 / 1:14) ... und wir sitzen am ofen und es ist kalt und wir / besetzen den raum durch anwesenheit (...) / und ordnen ding für ding und wort für wort ... O-Ton 4 - Johannes Stüttgen (DR 492 / 1:43) Es handelt sich eigentlich überhaupt gar nicht mehr um das spezifische Kunstfeld. // (ca. 15:10) Durch diese Erweiterung des Kunstbegriffes sind ganz neue Spielregeln entstanden ... O-Ton 5 - Joseph Beuys / Dradio-Archiv: Beitrag 7000 Eichen (0:00ff.) Ich nehme nicht in Anspruch, ein Maler zu sein. Weil ich auf ein anderes Ziel los steuere. Ich steuere ja auf die Umgestaltung der Gesellschaft zu, und der Mensch selbst soll aktiviert werden zum Regenbogen sozusagen. Er selbst soll das Ding vollenden. O-Ton 6 - Michael Glasmeier "dazwischen" (DR 485 / 1:14) ... und die dinge erzählen ding für ding und wort für wort und zeile für zeile und ihre sprache ist roh und poetisch und ihre geschichte glaubhaft. O-Ton 7 - Mischa Kuball (42:04) Damit wird sich die Kunst verändern, damit wird sich die Rolle des Kurators, des Künstlers, des Museums und natürlich auch der Begriff selber von Gesellschaft verändern müssen. O-Ton 8 - Gong-Schlag: "Zeit im Funk" (7:47-7:52) SPRECHERIN "Nachholbedarf": Der Kurator als Kenner und Vermittler. O-Ton 9 - Dradio-Geräuscharchiv: Gewitterschlag O-Ton 10 - Dradio-Archiv / Reportage d 12: Zusammenbruch der Ai Weiwei-Skulptur Reporter - Das Gewitter dauerte nur wenige Minuten, danach stand das Gelände der documenta-Pavillons unter Wasser. (...) Etliche Kunstwerke mussten mit Planen geschützt werden. Am schlimmsten aber hat es die Außenskulptur des Chinesen Ai Weiwei erwischt, documenta-Chef Roger Bürgel: O-Ton - "Unser schöner antiker Tempel ist zusammengebrochen. // Wir hatten den Tempel ja abgesperrt, für's Publikum ohnehin, nicht, weil es klar war mit der Statik, dass es Probleme sind. Andererseits ist das ein Unwetter gewesen, was einfach auch jenseits unserer Mess-Skala lag. // Wir hatten hier einen sehr schönen Tempel, jetzt haben wir eine Ruine." Reporter - Zwölf Meter hoch war die Skulptur, // zusammengesetzt aus historischen Fenstern und Türen, gerettet aus abgerissenen chinesischen Häusern. Jetzt ist das Ganze wieder ein Trümmerhaufen. AUTOR Ein Wahrzeichen der Weltkunstschau in Trümmern: Die zwölfte Ausgabe der documenta in Kassel hat gerade erst begonnen, als sie im Sommer 2007 durch die Zerstörung eines ihrer Aushängeschilder Schlagzeilen macht. SPRECHER Der chinesische Künstler Ai Weiwei hat schon vor der Eröffnung der Ausstellung für Aufregung gesorgt, indem er ankündigte, tausendundeinen Reisenden aus China zur documenta zu bringen. Als seine Skulptur Template einstürzt, überrascht er die Öffentlichkeit ein weiteres Mal: Der Künstler verneigt sich vor der Macht der Natur und beschließt, sein Werk nicht wieder aufzubauen, sondern genau so zu belassen, wie der Sturm es zugerichtet hat. AUTOR "Zusammenbruch" und "Wiederaufbau" sind Schlüsselbegriffe der documenta 13, die am kommenden Samstag in Kassel eröffnet. Mit einer Ruine als Kunst-Ort hat die Geschichte der Ausstellung 1955 begonnen. SPRECHERIN Im Herbst 1953 besucht Arnold Bode, Kunstprofessor und Gestalter aus Kassel, eine Picasso-Ausstellung in Mailand. Die Hängung der Bilder im ausgebombten Palazzo Reale erinnert ihn an die Zerstörungen in seiner Heimatstadt. Unter diesem Eindruck entsteht die Idee, eine Ausstellung moderner Kunst in das vom Krieg schwer getroffene Kassel zu holen, so der Kunsthistoriker Werner Haftmann, der Bode bei der Konzeption der ersten documenta unterstützt. O-Ton 11 - Werner Haftmann (Dradio-Archiv: "Kalenderblatt" / 1:09) Was mich persönlich anbelangt, so erinnere ich mich mit großer Freude an jenen Herbst im Jahre 1954, als mein Freund Arnold Bode in Venedig, wo ich damals lebte, auftauchte und mir eben von diesen prächtig-mächtigen Ruinen vorschwärmte (...) Wir machten uns denn also auch gleich auf den Weg, und so entstand das aus freundschaftlicher Beziehung, aus Gesprächen, aus ständigen Atelierbesuchen (...) und so ist damals die documenta Nummer 1 zustande gekommen. O-Ton 12 - Michael Glasmeier (DR 477 / 3:25) Wir können uns das heute gar nicht mehr vorstellen, weil, da hat es gezogen drin, in der Halle, die Fenster waren undicht und die Bilder hingen eigentlich relativ ungeschützt, und das waren damals Milliardenwerte - also heute sind es Milliardenwerte, damals wurde das noch nicht so erkannt ... AUTOR Der ersten documenta ist deutlich anzusehen, dass hier ein Künstler in die Rolle des Kurators geschlüpft ist, meint der Berliner Kunsthistoriker und Ausstellungsmacher Michael Glasmeier. O-Ton 13 - Michael Glasmeier (DR 477 / 2:40) Und Bode selbst hat dann für diese Ausstellung, die im damals halb zerstörten Fridericianum stattfand, ein hochinteressantes Ausstellungs- Design hingelegt, was wirklich sehr spannend ist, also auf Stelen, mit armen Materialien. (3:20) // (5:29) Also, letztendlich könnte man sagen, das war auch eine künstlerische Artikulation, die gesamte Inszenierung und Ausstellung. SPRECHERIN Mit seinem Talent zur Improvisation hat der Gestalter Bode sein Profil als Kurator geschärft, schreibt der Kunstwissenschaftler Harald Kimpel in seinem documenta-Buch "Die Überschau": SPRECHER "Nirgendwo wird vertuscht, was dem Bau im Weltkrieg angetan wurde (...), eingezogenes Backsteinmauerwerk und brandgeschwärzte Originalbausubstanz werden lediglich geweißt, auf Betonflächen bleiben die Verschalungsspuren sichtbar (...), lange, milchige Kunststoff-Folien bedecken die Fensterflächen und filtern den Einfall des Tageslichts. // Der fragmentierte Zustand des ausgebrannten Kasseler Museums bietet ideale Bedingungen für Arnold Bodes Kunst der Inszenierung." AUTOR "Die documenta ist die Idee eines Mannes", schreibt Harald Kimpel weiter, "aber sie ist das Resultat einer historischen Notwendigkeit." O-Ton 14 - Johannes Stüttgen (DR 492 / ca. 23:21) Dieser Impuls nach dem Krieg war ja auch ein Impuls, überhaupt, sagen wir mal, die Botschaft der Moderne als Kunst in die Diskussion rein zu bringen, insofern war das noch mal ein zusätzlicher Kick, der dieser documenta dann ja auch den, sagen wir mal, "Nimbus der Avantgarde" gebracht hat ... SPRECHERIN Arnold Bode füllte seine Kuratorenrolle eher zurückhaltend aus, sagt der Düsseldorfer Künstler und mehrfache documenta-Teilnehmer Johannes Stüttgen. Bode legte es nicht darauf an, sich zu profilieren. Er wollte die von den Nazis verfemte Kunst der Moderne, vor allem abstrakte Malerei, zurück nach Deutschland bringen, um die internationale Entwicklung wieder in den Blick zu bekommen. O-Ton 15 - Johannes Stüttgen (DR 492 / ca. 24:00) Ich meine, er hat natürlich dadurch auch ein Programm geprägt, aber man könnte durchaus sagen: das Programm des Dienenden... O-Ton 16 - Michael Glasmeier (DR 477 / 6:25) Eigentlich ging es damals noch um die Sache. Es ging wirklich um die Ideologie der Abstraktion - und (...) im Dienst dieser Sache, eben der Abstraktion, war das noch nicht so hoch gesetzt, wie es heute ist. Also, es war ein Event-Charakter, aber dieser Event-Charakter hat sich in der Sache selbst manifestiert. Der war nicht aufgesetzt. AUTOR Der Künstler-Kurator Bode war noch kein Traumschiff-Kapitän eines großen Event-Dampfers, wie die documenta sie später hervorgebracht hat. Er war kein Mann des glamourösen Auftritts wie Jan Hoet, kein Diskurs-Dandy wie Roger Bürgel, sondern er verstand sich ganz traditionell vor allem als Kenner und engagierten Kunstvermittler. SPRECHER 1972, anlässlich der documenta 5 bringt Arnold Bode den Bildungs- Auftrag auf den Punkt, den er sich von Anfang an auf die Fahnen geschrieben hat. O-Ton 17 - Arnold Bode / Archiv Blase ... (6:55) Ich glaube, das Publikum ist nicht so gebildet wie zum Beispiel die Fußballer auf dem Fußballplatz: Die kennen die Regeln und haben so tausend Mal die Regeln verfolgt und wissen, wo die großen Spieler sind. Und dasselbe verlange ich eigentlich von einem Publikum, das zur Ausstellung geht. Wenn man nicht informiert ist, kann man nicht urteilen. Darum müssen wir informieren // (ca. 8:00) und das ist, glaube ich, der Auftrag der ganzen documenta. AUTOR Die documenta sollte den Anschluss an das internationale Kunstgeschehen wieder herstellen und ist zu einer Institution von internationalem Rang geworden. Schon mit der zweiten Ausstellung 1959 hat sich gezeigt, vor welcher Herausforderung die documenta- Kuratoren seither jedes mal stehen, wenn sie sich immer wieder aufs Neue ihren Reim auf die Gegenwart machen. O-Ton 18 - "Die Zeit im Funk", 1959 (Dradio Archiv / ca. 11:45ff.) Keine unter den großen internationalen Kunstausstellungen nach dem Kriege hat annähernd so viel Aufsehen, Begeisterung und Diskussion in Deutschland und in der westlichen Welt hervorgerufen. Die erste documenta, die 1955 stattfand, war historisch orientiert und führte in die Entfaltung der Moderne. Die documenta '59 steht in der Gegenwart, wo die Kunst in Bewegung ist, wo der gesicherte Überblick fehlt, wo Wertungen und Akzentuierungen problematisch werden. MUSIK 3 - "Die Tödliche Doris": "Avon-Gard" (TD 016 / -1:12) Die Avon Beraterin im Gard-Haarstudio Lauscht unter der Trockenhaube Neuzeitlichen Klangstrukturen Avon-Gard! / Avon-Gard! / Avon-Gard! ... O-Ton 8 - Gong-Schlag: "Zeit im Funk" (7:47-7:52) SPRECHERIN "Ausstellungsmacher": Kuratoren als Künstler und Kapitäne O-Ton 19 - Loop: Tonband-Rauschen (TD 035 / 3:04ff.-3:24) O-Ton 20 - Bazon Brock / Archiv Blase ... (0:38) Die Frage nach einer sozialen Rolle würde ich etwas präzisieren, einschränken, nämlich die Frage nach der sozialen Identität des Künstlers. SPRECHER Bazon Brock, Künstler, Kunstvermittler und, an der Seite des künstlerischen Leiters Harald Szeemann, Vordenker der documenta 5. O-Ton 21 - Bazon Brock / Archiv Blase ... (ca. 1:20) Ich muss als Künstler vermehrt andere soziale Identitäten adaptieren können. Ich muss mich also auch als Wissenschaftler, als Politiker, als Agitator zum Beispiel betätigen, um bestimmte Aufgaben, die mir gestellt werden oder die ich mir selber stelle, zu erfüllen. // (2:56) Heute ist nicht mehr die Frage, wie gut oder wie schlecht wir unsere künstlerische Identität durchhalten, sondern wie gut oder wie schlecht wir eine große Zahl von sozialen Identitäten annehmen und ausfüllen können. AUTOR Die Konturen der Kultur-Akteure sind unscharf geworden, ihre Identitäten fragwürdig. Künstler wie Kuratoren lassen sich auf eine Rolle allein nicht länger festlegen. Darauf macht Bazon Brock bereits 1972 in Karl Oskar Blases audiovisueller Dokumentation der documenta 5 aufmerksam. SPRECHERIN "Kurator" ist freilich ohnehin eine unklare Berufsbezeichnung, die zu Missverständnissen geradezu einlädt, meint Michael Glasmeier. O-Ton 22 - Michael Glasmeier (DR 477 / 9:15) Es gibt von mir einen ganz berühmten, viel zitierten Text, der relativ kurz ist, wo ich mal geschrieben hab, dass "Kurator" kein eingetragener Beruf ist. Im Gegensatz zum Fensterputzer. Jeder kann also Kurator sein, jeder kann sich zum Kurator irgendwie berufen fühlen und so weiter, das ist heute ein relativ breites Feld. (9:45) Und früher hießen die ja auch noch nicht Kuratoren, sondern das waren "Ausstellungsmacher". Harald Szeemann, der berühmteste von allen, war Ausstellungsmacher. Und das ist schon wieder ein ganz anderer Umgang eigentlich mit der Kunst: Also "Machen", "Handeln" und so weiter. - "Kurator" ist ja eigentlich ein Begriff, der aus dem Musealen kommt und eigentlich ja nichts anderes bedeutet als etwas zu bewahren. AUTOR Der Kurator im klassischen Sinn ist jemand, der Kunstwerke konserviert. Der Ausstellungsmacher versucht, sie zum Leben zu erwecken und lässt jedem sein Eigenleben. O-Ton 23 - Wolfgang Müller (Audio 1 / 1:00ff.) Der Harald Szeemannn hat eine documenta gemacht, (...) wo man sagen kann, er als Ausstellungsmacher wurde so etwas fast wie ein // Forscher und hat wirklich Sachen rein gebracht, die einzigartig waren... SPRECHER Wolfgang Müller, Künstler, Musiker, Autor und mit seiner Band "Die Tödliche Doris" documenta -Teilnehmer 1987. O-Ton 24 - Wolfgang Müller (DR 489 / 21:00) Alle Sachen, die dann zu sehen waren, alle Kunstwerke, alle Performances, die durften immer ihren Eigenwert entfalten. // (21:44) Der hat die Sachen wirklich ent-deckt, also für sich wahrgenommen und dann quasi ihr eigenes Aroma ausstrahlen lassen. Es ging nicht um Disziplinierung (...), und dadurch hat er auch so im Grunde Kuratieren wie eine Kunstform gemacht, also war dann quasi gleichzeitig Künstler - Kurator und gleichzeitig Künstler. SPRECHERIN Harald Szeemanns documenta 5 fällt in eine Zeit, in der die Kunst selbst einen gewaltigen Evolutionsschub durchmacht. O-Ton 25 - Michael Glasmeier (DR 477 / 27:54) In den siebziger Jahren, Sie müssen sich das vorstellen, entwickelte sich eine völlig neue Kunstsprache - jenseits der Abstraktion, durch Pop, Minimal, Konzept und so weiter // (DR 478 / 1:10) plötzlich gab es auch Realismus, es gab Aktionismus, es gab Fluxus, Happening - es gab also eine völlig neue Idee von Kunst. AUTOR Die documenta des Kuratoren-Künstlers Harald Szeemann war 1972 hoch umstritten und ist bis heute legendär. Vor allem, weil Szeemann viele Bilder und Objekte zeigte, die nicht als ernst zu nehmende Kunstwerke galten, und weil die Ausstellung die Grenzen zwischen "Kunst" und "Leben" offensiv in Frage stellte. SPRECHER Als "Trainingsfeld für Wirklichkeitswahrnehmung am Beispiel der Kunst", wollte Bazon Brock sie verstanden wissen. "Die Veranstalter wollten (...) weniger das Bild als die Realität in Frage stellen", schrieb die Süddeutsche Zeitung in einem Rückblick. SPRECHERIN "... die Realität, in der auch die ,Kunst' ihren Platz hat: als Abbild, als Objekt, als Spur, als Idee, als Erfindung, als Spiel, als organischer Prozess, als Vehikel von Kritik und Mythos, als Protest und als Mittel zur Revolution und als Selbstdarstellung mit großen Worten auf Plakaten, aber auch als Möglichkeit des Teilhabens an gemeinsamer Aktion, als Definition von Raum und als Motivation menschlichen Tuns, als Element zur Verwirklichung von Demokratie, als Anreiz zum Konsum und als Möglichkeit zum Selbstverständnis. (...) Beim ersten Rundgang [hatte man] nach zirka sieben Stunden das Gefühl, in einem Trümmerfeld sich auflösender Konventionen und zugleich vor einer ungeordneten Welt von heterogenen Möglichkeiten zu stehen. AUTOR "Besser sehen durch documenta 5" lautet der Slogan, mit dem die Schau an den Start ging. Science Fiction-Serien, Werbekampagnen und das Design von Banknoten erweiterten den Blick der Ausstellung. Religiöse Andachtsbilder hingen neben Zeichnungen von Geisteskranken. SPRECHERIN Harald Szeemanns documenta 5 hat Maßstäbe gesetzt - auch für die Rolle des Kurators -, schreibt der documenta-Archivar Harald Kimpel. SPRECHER "Seit Harald Szeemann wird jede Ausstellung mit ihrer Galionsfigur gleichgesetzt. Darüber, wie das Stück beim Publikum ankommt, entscheidet also bereits die Besetzung der Hauptrolle." (Kimpel "Die Überschau", S. 93) AUTOR Das starke Rampenlicht hat den Kuratoren nicht immer gut getan. Als Kapitäne kultureller Flaggschiffe und Luxusyachten riskierten sie immer weniger eigensinnige Manöver. Auf der Kommandobrücke der documenta und anderswo. O-Ton 26 - Michael Glasmeier (DR 477 / 24:15) Wenn wir von heutigen Kuratoren sprechen, so haben wir das Problem, dass durch die finanzielle Situation der Museen, aber auch des Kapitalismus und des Kunst-Marktes, wir eine unglaubliche Ausrichtung auf "Event" haben. Diese Ausrichtung auf "Event" führt dazu, dass man große Namen immer wieder abhandelt - es gab im letzten Jahr, glaube ich, zehn Beckmann-Ausstellungen, und davor gab es zehn Picasso- Ausstellungen, jetzt gibt es hier die Richter-Ausstellung. Und diese Event-Ausstellungen sind völlig ungefährlich. Es gibt keine Skandale, es gibt keine Diskussionen, alle sind einverstanden, wunderbar, wir können Schlange stehen, und alles bestens. // Dass das übrigens so ist, ist ein Verdienst auch von Bode. Dass die zeitgenössische Kunst so anerkannt wird, wie sie im Moment anerkannt wird, das war noch nie der Fall. Und deswegen können auch diese Event-Ausstellungen funktionieren. SPRECHER Der Kurator als Event-Manager verkörpert im Großformat einen Typus, der unter dem Erfolgsdruck der letzten Jahre immer häufiger zu beobachten ist. Indem er selbst die Hauptrolle spielt, droht er den Künstlern die Schau zu stehlen, sagt der Künstler Wolfgang Müller. O-Ton 27 - Wolfgang Müller (DR 489 / 5:55) Das Problem der Kuratoren, glaube ich, das später aufkam, ist, dass sie glauben, dass sie die eigentlichen Künstler sind, dass sie also immer mehr geglaubt haben, einige, dass sie eigentlich die Kunst machen: (...) Ich hab irgendwie eine Theorie und dann suche ich die passenden Künstler, so wie ein Künstler die passenden Früchte früher gesucht hat für sein Obst-Stillleben, das er dann abmalen wollte, so suchen sich Kuratoren verschiedene Früchte, die dürfen nicht zu geschmacksintensiv sein, nicht zu sperrig, die müssen möglichst irgendwie gut passen, aussehen - und da entsteht eine Menge langweiliges Zeug, das dann vielleicht ganz lecker aussieht aber ein bisschen fade schmeckt. MUSIK 4 - "Doris": "Krieg der Basen" (TD 018 /-0:18//1:54-2:23//4:15ff.) Ölmaler! - Szene-Macher! - Kritische Poeten! - Musiker! Würzen sich und lassen sich zu Leberwurst verarbeiten ... O-Ton 8 - Gong-Schlag: "Zeit im Funk" (7:47-7:52) SPRECHERIN "Schwarmtaktik": Der Künstler als Katalysator O-Ton 28 - Proteste gegen Beuys' 7000 Eichen (Dradio-Archiv / 2:52) Was will denn Herr Beuys? Also, ich spreche im Namen Vieler. Herr Beuys will die Leute für dumm verkaufen, denn was man hier sieht, das ist keine Kunst, die Steinhalde, sondern das ist mehr oder weniger verkrachte Kunst! SPRECHER Kassel, im Sommer 1982. Vor dem Museum Fridericianum hat der Künstler Joseph Beuys zur Vorbereitung seines documenta-Projekts 7000 Eichen einen großen Haufen Basaltblöcke aufschütten lassen. O-Ton 29 - Michael Glasmeier (DR 478 / 11:55) Dieses riesige Feld, das da damals lag, mit diesen ganzen Steinen vor den documenta-Toren, das war natürlich auch erst mal wieder ein Skandal. Das musste ja irgendwie weg geräumt werden oder irgendwas, kein Mensch wusste, was damit passiert, diese Basaltsteine. Dass da jetzt im Nachhinein Kassel wirklich begrünt ist, dass es da Straßen gibt, Straßenzüge voll mit Eichen, das ist wunderbar, sein Ding ist aufgegangen, ich halte das mit für die größte soziale Plastik, die je gemacht worden ist. Diese Begrünung dieser doch tristen 50er Jahre Stadt Kassel durch einen Künstler. AUTOR "Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung" lautet Beuys' Motto für die Aktion. SPRECHERIN Durch langwierige Verhandlungen mit den zuständigen Ämtern und mit Hilfe zahlreicher Unterstützer, Spender und Sponsoren gelingt ihm das Kunststück, im Kasseler Stadtgebiet innerhalb von fünf Jahren siebentausend Bäume pflanzen zu lassen und den Steinhaufen vor dem Museum allmählich abzuschmelzen: Neben jedem Baum wird ein Basaltstein als Zeichen aufgestellt. Die letzte Eiche pflanzt Beuys' Sohn Wenzel im Sommer 1987, ein Jahr nach dem Tod des Vaters, auf der documenta 8. O-Ton 30 - Johannes Stüttgen (DR 492 / ca. 2:00 // 15:10 // 30:38) Beuys' Idee war ja, den Begriff der Kunst zu transformieren und zu bezeichnen als die Bestimmung des Menschen schlechthin. // Durch diese Erweiterung des Kunstbegriffes sind ganz neue Spielregeln entstanden ... AUTOR Im Namen eines "erweiterten Kunstbegriffs" sind Künstler ihrerseits zu "Ereignis-Machern" geworden. Sie haben begonnen, Aktionsräume jenseits des traditionellen Kunstfeldes zu erproben. SPRECHER Johannes Stüttgen, Meisterschüler von Joseph Beuys, hat das Projekt 7000 Eichen mit organisiert. O-Ton 31 - Johannes Stüttgen (DR 492 / ca. 16:35) Beuys hat dieses Feld ja eigentlich nur benutzt wie so eine Art von Schaltstelle. Um aus diesem Feld heraus zu gehen. (16:40) Aber nicht etwa jetzt - das haben auch viele immer falsch verstanden, die haben den erweiterten Kunstbegriff als eine Verwässerung aufgefasst, so nach dem Motto: Wenn ich aus der Direktive des Kunstfeldes heraus trete, verlasse ich damit auch die Kunst und provoziere sowas wie ein sozialpädagogisches Engagement usw. - das ist ein Missverständnis, weil Beuys eben aus dem Kunstfeld den Kunstbegriff als Substanz, als Essenz mitgenommen hat. O-Ton 32 - Käthe Wenzel (DR 490 / 2:15) Die 7000 Eichen sind ja ein Projekt, das gleichzeitig eine Performance ist, eine kollektive Skulptur, und dann gleichzeitig auch eine lebendige Sache: Diese Bäume müssen gepflegt werden, man muss gucken, ob die Steine noch da sind, und so weiter. (2:35) Das ist ja ein Eingriff in die Stadtstruktur und in die gesellschaftliche Struktur. Also es gibt ja dazu sogar einen Verein, der dann sich um diese Bäume kümmert, damit es eben auch in die Zukunft hinein länger bestehen soll. SPRECHERIN Die Künstlerin und Kunstwissenschaftlerin Käthe Wenzel untersucht die Spielregeln einer neuen Kunst, die auf Beteilung hinaus will und die Rolle des Künstlers neu definiert. In Beuys' documenta-Projekt sieht sie eine Übergangsform, die den Künstler in spannende Widersprüche verstrickt. O-Ton 33 - Käthe Wenzel (DR 490 / 7:56) Beuys ist in der Struktur weg gegangen von der Idee von dem fixen, einen Kunstwerk, das nicht lebendig ist und das möglichst fixiert in der Zeit ist, hin zu etwas, das existiert durch die Pflege und Sorge einer umgebenden Gruppe, die sich identifiziert mit der Sache, weil sie sie mit geschaffen hat, // (4:25) andererseits steht natürlich überall Beuys' Name drauf. Ich meine, wer weiß schon von irgendeinem von diesen Leuten, die da was gemacht haben oder die sich darum kümmern, den Namen? Oder: Hatten die irgendeinen Einfluss auf das, was da passiert? Nein! Das Design, die Entscheidungen sind ja von Herrn Beuys! AUTOR Ein Künstler, der es darauf anlegt, Mitspieler an Bord zu holen, muss sich wie ein "Ausstellungsmacher" fragen lassen, wie weit er selbst die Fäden in der Hand behalten will und wie viel Freiraum er den Teilnehmern zugesteht. O-Ton 34 - Reportage: 1001 Chinesen in Kassel / Dradio-Archiv Autor - Ein Tross von rund fünfzig Journalisten schiebt sich durch das Treppenhaus der ehemaligen Zeltfabrik. Im ersten Stock ist eine alte Produktionshalle zum Schlaflager umfunktioniert. Von der Decke hängen weiße Stoffbahnen. So sind kleine Wohnzellen abgeteilt, jeweils 10 Feldbetten, ein weißer Tisch, zwei Bänke. Hier sind die Frauen untergebracht - eine von ihnen: ... [chin. Name, Schreibweise unklar]: O-Ton Teilnehmerin - "Some people told me: you can go abroad, go to Germany ..." Übersetzung - Einige Leute sagten mir: Du kannst nach Deutschland gehen. Ich dachte, das kann nicht sein, ich werde das nicht bezahlen können. Erst dachte ich, es ist unmöglich. Aber am Ende, als ich am Flughafen ankam, da war klar: Das ist kein Traum. SPRECHER Fairytale hieß das spektakuläre Projekt, das im Rahmen der documenta 12 vor fünf Jahren erneut eine lebendige kollektive Skulptur nach Kassel brachte. Die Teilnahme von 1001 Chinesinnen und Chinesen hat dieses Märchen wahr gemacht. Aber in den Zeitungen war nur ein Name zu lesen: der des Künstlers Ai Weiwei. SPRECHERIN "Über seinen Blog lud Ai zur Teilnahme an einer ,Massen'-Performance ein, die 1001 Chinesen aus allen Gesellschaftsschichten zur documenta 12 nach Kassel bringen sollte. Fairytale sollte die größte je veranstaltete Performance sein, ein gedankliches Labyrinth sozialer und kultureller Wechselbeziehungen, die sich in ihrer Wirkung exponentiell vervielfachten und die ganze Gesellschaft erfassten." (Ai Weiwei "Der verbotene Blog", S. 28f.) SPRECHER Fairytale war "in gewisser Weise eine Manifestation der Macht des Internets", schreibt die amerikanische Kunstwissenschaftlerin Lee Ambrozy in dem von ihr herausgegebenen Buch "Der verbotene Blog", einer Auswahl von Essays, Interviews und politischen Kommentaren, die Ai Weiwei publizierte, bevor seine regierungskritische Website im Mai 2009 von den chinesischen Behörden gesperrt wurde. AUTOR Wenn Beuys' Aktion 7000 Eichen eine der größten sozialen Plastiken war, die je realisiert wurden, dann war Ai Weiweis Fairytale der wahrscheinlich aufwändigste Flashmob der Kunstwelt. O-Ton 35 - Mischa Kuball (23:15) Das Projekt von Ai Weiwei hatte ein hohes Maß an Vorbereitung, an Logistik, es war extrem kompliziert für ihn in dieser Zeit damals, für die 1001 chinesischen Bürgerinnen und Bürger die Ausreisebedingungen zu bewältigen. (...) Und das ist natürlich dieser Rollenwechsel, aber das sehe ich nur als Erweiterung // (23:55) das musste Beuys auch lösen, als er gesagt hat: zu jedem Basaltstein muss eine Eiche bzw. eigentlich ein Baum, der an diesem Ort wachsen kann, errichtet werden, und dann erst kann dieses Basaltfeld abgetragen werden. Das sind natürlich die Bedingungen, die er schafft. SPRECHERIN Die schieren Dimensionen einer solchen Aktion verwandeln den Künstler in eine Art Event-Manager, sagt der Düsseldorfer Lichtkünstler Mischa Kuball, der seine Projekte selbst im öffentlichen Raum und mit vielen Beteiligten realisiert. AUTOR Aber Ai Weiwei kokettierte damit, als Kapitän den Dingen ihren Lauf zu lassen. Trotz des organisatorischen Kraftakts war er davon überzeugt, dass sich bei Fairytale das Entscheidende seiner Kontrolle entzog und im Verborgenen stattfand. O-Ton 36 - Käthe Wenzel (DR 490 / 40:14) Ich glaube, der Kern der 1001 Chinesen ist dieser Kulturschock bei möglichst vielen Leuten, und der lässt sich schwer messen und schwer visualisieren. SPRECHER Der gewöhnliche documenta-Besucher hat die Gäste aus China im allgemeinen Gedränge kaum bemerkt, und konnte an ihren Erfahrungen kaum Anteil nehmen. Ist die Kunst der Teilnahme am Ende vor allem eine Kunst für die Teilnehmer? O-Ton 37 - Mischa Kuball (28:54) Natürlich, das wäre aber doch auch das erste Recht (...), dass sie selber durch ihre Partzipation nicht nur Handelnde sind, sondern dass sie auch sozusagen in der V.I.P.-Lounge sitzen, wenn es darum geht, auch Rezipienten zu sein. Sie sind sozusagen Produzenten und Rezipienten und sind vielleicht sogar am Ende dann auch ein Stück weit Katalysator für andere Geschichten, die an anderen Stellen erzählt werden, die aber dann nicht aufgenommen, nicht transkribiert und nicht veröffentlicht werden. AUTOR Mischa Kuball hat für sein jüngstes Projekt hundert Gespräche mit Menschen aus hundert Nationen geführt, die im Ruhrgebiet leben. Ein selbst verordneter Kulturschock und der Versuch zu verstehen, wie man in der Fremde heimisch wird. O-Ton 38 - Mischa Kuball (ca. 25:45) Ich habe sogar erlebt, dass Leute, die mit ihren Partnern zusammen diese Gespräche geführt haben, dass die Partner reagiert haben und gesagt haben: Das hast du mir eigentlich in dieser Weise bisher noch nicht erzählt. Das heißt, über jemand Dritten - und das ist die Rolle des Künstlers in meinem Fall, des Katalysators - entsteht etwas, was in dem normalen Sprechen nicht vorkommen kann - oder in einem Sprechen, was sozusagen in einem festen Rollenkonstrukt ist, innerhalb von Familie, Partnerschaft oder Verwandtschaft. SPRECHERIN Der Ertrag des Gesprächs-Marathons ist in Kuballs Katalog "New Pott" nachzulesen. Der Nachfolgeband "New Relations in Art and Society" erweitert den Blick auf Positionen von Franz Erhard Walther, Thomas Hirschhorn oder Gregor Schneider und fragt nach dem gesellschaftlichen Ort und nach den Wirkungsmöglichkeiten einer Kunst, die von Beteiligung lebt. AUTOR Bazon Brocks Beobachtung, dass Künstler zwischen Praxis und Theorie, Ästhetik und Politik in wechselnden Rollen unterwegs sind, hat sich längst bestätigt. Ein Künstler erforscht heute ganz selbstverständlich den Alltag, setzt soziale Prozesse in Gang und arrangiert, wenn man so will, als Kurator gesellschaftliche Panoramen. Es beginnt sich gerade erst abzuzeichnen, worauf es dabei ankommt. O-Ton 39 - Käthe Wenzel (DR 490 / (41:23) Es gibt die These, dass wir sowieso nur aus eigener Erfahrung lernen können. Also, wir können keine Erfahrung übertragen. Wir können nur ermöglichen, dass Leute eine Erfahrung machen. Und darum geht es bei diesen interaktiven, kollektiven, partizipatorischen Aktionen, es geht darum, die Erfahrung zu machen. SPRECHER Und der Kurator als "Ausstellungsmacher"? Eine Kardinaltugend können wir, ungeachtet aller Metamorphosen seit der ersten documenta, für ihn festhalten, sagt Michael Glasmeier. O-Ton 40 - M. Glasmeier / Gespräch "dazwischen" (DR 484 / 10:23) Wenn er die Dinge richtig gut klärt, und wenn er Sichtbarkeit herstellt, also eine Sichtbarkeit, die von Außen nach Innen und von Innen nach Außen geht, dann ist er perfekt. SPRECHERIN Wenn er seine Sache gut macht, ist er ein ordentlicher Fensterputzer. O-Ton 41 - M. Glasmeier / Gespräch "dazwischen" (DR 484 / ca. 9:50) Wenn die Fenster geputzt sind, ergibt sich eine total neue Klarheit. Alles fällt von einem ab. Gut geputzte Fenster sind das A und O eines vortrefflichen Lebens, würde ich sagen. MUSIK 5 - "Tödl. Doris": "Chöre und Soli" (1:55-2:15) Die Sonne wirft Strahlen auf uns / Ich werfe Strahlen auf dich, mein Kind / Fängt dich der Strahlen Lauf Fährst du zur Sonne auf / Opfer des Sonnenscheins / Werden wie Sonnen sein. *ENDE* Zitierte Literatur: Glasmeier, Michael: "und zwischen dazwischen und dazwischen und ... Poetische Hefte und Zyklen 1979-1987" Hamburg: Textem Verlag, 2011. Kimpel, Harald: "documenta: Die Überschau. Fünf Jahrzehnte Weltkunstausstellung in Stichwörtern." Köln: DuMont, 2002. (ISBN 3-8321-5948-7) Ai Weiwei: "Macht euch keine Illusionen über mich. - Der verbotene Blog" Hg. von Lee Ambrozy Berlin: Galiani Verlag, 2011. Schmidt, Doris: "Perfektion, Protest und Traum. Kunst und Leben auf der documenta 5 - Ein Rückblick" In: Süddeutsche Zeitung vom Sa/So, 14./15. Oktober 1972 21