COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR 19.30 Kostenträger : P.6.2.11.0 Titel der Sendung : Auge in Auge mit dem Unbekannten - die Phantasiewelten des Henri Micheaux Autor : Hans-Jürgen Heinrichs Redakteurin : Sigried Wesener Sendetermin : 26. Mai 2009 Besetzung : 1.Sprecher 2. Sprecher (Zitate) Programmsprecher S. 12 Regie : O-Ton/ Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Hans-Jürgen Heinrichs "Auge in Auge mit dem Unbekannten? Die Phantasiewelten des Henri Michaux Autor: 1. Sprecher Zitate: 2. Sprecher Programmsprecher S. 16 Musik O-Töne: Dieter Hornig Musik (John Cage, "Sixteen Dances? oder "Music of Changes? oder "Twenty-eight? oder "Selkus? oder Organ? oder "ASLSP?, "Variations VIII?) 2. Spr.: "Ich schreibe, um mich zu durchqueren. Malen, Komponieren, Schreiben: mich durchqueren. Da liegt das Abenteuer, am Leben zu sein.? 1. Spr.: Henri Michaux: Dichter, Maler, Musikkenner, Reisender, Drogenforscher. Musik kurz hochziehen 1. Spr.: Einer, der es unternahm, ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen die Mythologie, die Geistesgeschichte und die Bedingungen menschlichen Seins zu überprüfen - und vielleicht sogar zu erneuern. In Michaux kreuzten sich viele Kulturen und Sprachen, Lebensentwürfe, Hoffnungen und Visionen . Seine Bücher haben ihn, wie er es einmal nannte, "hervorgebracht", und sie vermögen es, den Leser ständig neu "hervorzubringen", ihm eine erweiterte Sicht von der menschlichen Existenz und deren geheimnisvollen Schichten zu vermitteln. Oft muss man dabei den Blick des Autors - seinen Blick auf die Welt - erst wie eine Hieroglyphenschrift entziffern, sein Auge suchen, das wie das Auge des Gepards, "immer in die Ferne blickt, von der Ferne allein das Ereignis erwartet". 2. Spr.: "Es gibt mein Terrain und mich; und dann gibt es noch die Fremde.? Musik vom Anfang kurz hochziehen 1. Spr.: Einen guten Einstieg in sein Werk ermöglichen seine Bücher über das Reisen, zum Beispiel Ecuador und Ein Barbar in Asien. Beide Texte gehören zum Frühwerk des Schriftstellers und Künstlers. Michaux war aber auch zeitweise und nicht weniger professionell Seefahrer. Die Erfahrung der Unendlichkeit des Meeres nennt er selbst mit an vorderster Stelle, als er die Summe seines Lebens zieht. Zugleich macht er sich lustig über die klischeehafte Seefahrer- Leidenschaft: 2. Spr.: "Ist vom Atlantik die Rede, dann heißt es: Ja, der Ozean, der Ozean. Und man rollt die inneren Augen - und fährt dann fort im dürftigen Leben auf dem Land.? 1. Spr.: Mal ist es Michaux selbst, der in seinen Büchern als Held und als Verlierer auftritt, mal sind es literarische Figuren, an denen er eigene Leidenschaften durchspielt und sie sogleich unterläuft. 2. Spr.: "Das Reisen bringt keine Erweiterung ... Man findet seine Wahrheit genauso gut, indem man achtundvierzig Stunden irgendeine Tapete anstarrt.? 1. Spr.: Und dennoch der Ausruf: 2. Spr.: "Fortgehn. Auf jeden Fall fortgehn.? Musik 1. O-Ton (Hornig) Michaux hat ja mit wirklichen Reisebüchern begonnen. Ein Barbar in Asien und die Reise nach Ecuador nach Südamerika, und die Fahrt mit der Piroge auf dem Amazonas, und hat bis Anfang der 30er Jahre dieses Reisen in der realen Geographie sehr, sehr aktiv betrieben. Er ist auch später sehr, sehr viel gereist. Aber irgendwann so Anfang der 30er Jahre beginnen dann auch diese Reisen in die imaginären Räume. Und ich denke, Michaux war sein ganzes Leben unterwegs, praktisch ohne Unterbrechungen. In späteren Jahren war er etwas sesshafter als früher, aber ich glaube, er war ständig unterwegs, ständig in Bewegung, sei es real in der Geographie, oder sei es in den Bewusstseinsschichten. Und ich glaube, dahinter steckt ein großer Wunsch, sich von seiner ganzen Vergangenheit, von allen Bedingtheiten frei zu machen: von der Familie, von der Herkunft, von allem, was ihn irgendwie [verwurzeln] will, also sich loszumachen, sich frei zu machen ständig, doch alle Zuschreibungen abzulehnen und zu verweigern. Er will weder Schriftsteller sein, noch Poet sein, noch Ethnologe, noch sonst etwas. Und ich glaub, diese ständige Bewegung, dieses ständige Reisen ist die Möglichkeit, sich alldem zu entziehen und ein Gefühl der Freiheit zu genießen. Der muss also ständig laufen, damit sie ihn nicht - sie ist ihm auf den Fersen. Aber Michaux möchte einfach kein Produkt all dessen sein, wo er herkommt, weder Belgien noch die Familie, noch die Gesellschaftsschicht, aus der er kommt. Er will auch nie Mitglied eines Kollektivs sein. Es ist ihm auch unmöglich, irgendwie in einem Chor mitzusingen, sondern als Einzelner einfach auf der Flucht zu sein ständig, vor diesem Kollektiv, das ja gerade in seiner Generation die entscheidende und prägende determinierende Erfahrung in Europa war. 1. Spr.: - beschreibt Dieter Hornig, der Henri Michaux ins Deutsche übertragen und einige Werke mit Nachworten versehen hat, das Spannungsverhältnis von Aufbruch und Skepsis gegenüber dem Reisen bei Michaux. Michaux' Werk macht uns vertraut mit der Erfahrung, dass jeder sein Leben im Kampf mit sich selbst lebt: mit "etwas,? wie er sagt, " das man erst noch machen muss?. Jeder nehme andere "Drogen? zu Hilfe: den Alkohol, das Rauschgift, die Arbeit, das Schreiben oder das Reisen. 2. Spr.: "Im Grunde genommen werde ich auf Reisen gewesen sein und Umgebungen kennengelernt haben, die mich zu anderen Ideen, zu neuen Begierden disponieren. Ich habe gegen meinen Vater gelebt (und gegen meine Mutter und gegen meinen Großvater, meine Großmutter, meine Urgroßeltern). Gegen noch entferntere Ahnen, da ich sie nicht kannte, habe ich nicht kämpfen können?, 1. Spr.: Dies notiert Michaux im Nachwort seines erstmals 1930 erschienenen Prosabandes Plume, der ihn berühmt gemacht hat. Wenn André Gide davon sprach, dass dieser Dichter eine verborgene Stelle des Herzens anrühre "wie der Gesang des Vogels", so versteht man sogleich, dass dieser Gesang ein erworbener, ein erkämpfter war, sich durchzusetzen hatte gegen die Prägungen seiner Kindheit. Man sei von "zu vielen Müttern" geboren und müsse sich gegen all die Gedanken anderer behaupten, die, so Michaux' besonders plastische Formulierung, "überall durch den Raum telefoniert werden?. Bei vielen hätte es deswegen nur dazu gereicht "zu blinzeln - und schon verschwanden sie". Jeder ist an einen Ort oder eine Zeit, an ein bestimmtes "Klima" gebunden - und doch kann er sich, in einem beständigen Wandel, schrittweise davon lösen. 2. Spr.: "Ein ganzes Leben reicht nicht aus zu verlernen, was du dir, leichtgläubig und unterwürfig, hast in den Kopf stecken lassen - du Einfalt! - ohne an die Folgen zu denken.? 2. O-Ton (Hornig) Die Biographie ist extrem spannend und extrem kompliziert zu überschauen. Und ich habe diese große Biographie von Jean-Pierre Martin mit wirklichem Vergnügen gelesen. Sie ist, glaub ich, fast 700 Seiten lang, aber man langweilt sich keine Sekunde, weil es extrem spannend ist, Michaux mitzuverfolgen. Er ist also tatsächlich ständig in Bewegung. Was die Entwicklung bei Michaux betrifft, man muss mitbedenken, dass Michaux - dass Aspekte seines ganzen Schaffens extrem seriöse Aspekte sind, die eines wirklichen Forschers, eines völlig ungebundenen und freien Forschers. Aber Michaux hat viel Zeit in Bibliotheken verbracht. Er hat unendlich viel gelesen, obwohl er das Lesen selbst als eine Kunst verstand, nichts zu verstehen und möglichst dumm zu sein beim Lesen. Michaux hat sich biographisch ebenfalls immer entzogen. Er war immer dort, wo man ihn nicht erwartet hat, und war immer ungreifbar, keine Interviews. Er hat absolut alle Interviews abgelehnt. Es gibt deshalb auch keine Aufzeichnungen von ihm, um sich diese Freiheit zu erhalten. Und er war extrem unabhängig in seinem ganzen Leben. Er hatte das große Glück, dass er in relativ jungen Jahren eine kleine Erbschaft gemacht hatte nach dem Tod seiner Eltern und nach dem Tod seines Bruders und dass ihm das erlaubt hat, in den ersten Jahren ohne allzu viele Jobs durchzukommen. Und später konnte er dann tatsächlich von seinem Schreiben leben, und vor allem von seiner Malerei, also eine große Freiheit - bis zum Ende eigentlich, bis 1984, immerhin 60 Jahre eines durchgehenden Schreibens und Zeichnens und Malens, und Reisens natürlich. 1. Spr.: "Vom Narziß zum Barbar", so überschreibt Brigitte Ouvry-Vial in ihrer Michaux-Biographie das Kapitel, das von den Reisen der Jahre 1927- 1932 handelt. Hier lernt man den Autor als einen unruhigen, nomadisierenden Geist (mit einem fragilen Körper) kennen, einen auf Selbsterkundung Versessenen, der sich Hermann Keyserlings berühmtes Wort zu eigen gemacht zu haben schien, wonach der kürzeste Weg zu sich selbst um die Welt führe. Und später dann über den Weg der Droge, aber nicht mißzuverstehen als Ersatz für aus-bleibende Inspiration, sondern verstanden als eine Erforschung, um das Grenzland zwischen Bewußtem und Unbewußtem besser kennenzulernen: 2. Spr.: "In die inneren Sehbilder versuche ich, Bilder der Außenwelt einzuführen.? 1. Spr.: Erst einmal aber begegnet dem Leser Michaux als der geborene Reisende, stets im Zustand des Aufbruchs. Sein Motto: 2. Spr.: "Reisen, um heimatlos zu werden.? 1. Spr.: Aber Reisen auch, 2. Spr.: "um ärmer zu werden.? 3. O-Ton (Hornig) Seine ersten Reisen waren tatsächlich wirklich ethnographische Reisen, Südamerika und auch ganz Asien, ethnographische Reisen, nach denen er monatelang in den Bibliotheken saß, um Bücher zu studieren, also wirklich ethnographische Herangehensweisen. Und er hat einige Zeit gebraucht, um dann seine eigene Herangehensweise zu finden an das Reisen, nämlich eine sehr spontane, unsystematische. Und Michaux hat sich kaum für Geschichte interessiert zum Beispiel, kaum für Politik auf diesem Gebiet. Für Geschichte insofern, wie sie damals, gerade in dieser Zeit, von den großen Historikern der Annales-Schule entwickelt wurde, nämlich für den Begriff der Longue durée, das hat ihn interssiert zum Beispiel. Aber sonst gibt es bei Michaux kaum Notizen über irgendwelche Bauten, Architektur, Museen, Malerei oder über Kultur ganz allgemein, so wie man es im westlichen Sinn versteht. Was ihn ganz besonders interessiert hat, das war immer eigentlich das Kreatürliche: Tiere, Insekten, Pflanzen, Bäume. Und natürlich auch das Kreatürliche am Menschen. 1. Spr.: 1921 muss sich Michaux, wider Willen, vom Leben auf dem Meer verabschieden; die weltweite Verschrottung der Schiffe hatte die Chancen anzuheuern, drastisch verringert. Er kehrt in die französische Provinz zurück, publiziert gelegentlich und beginnt schließlich zu malen - eine lebenslange Leidenschaft, eine Möglichkeit, sich immer wieder zu erneuern: Musik unterlegen 2. Spr.: "Ich male, wie ich schreibe. Um zu finden, um mich wiederzufinden ... Um (zuerst mir selber) die Verstrickungen zu zeigen, die ungeordnete Bewegung, die äußerste Lebendigkeit des 'Ich weiß nicht was', das sich in meinen Fernen regt und sucht, auf dem Gestade Fuß zu fassen. Um darzustellen: Nicht Geschöpfe, selbst unwesenhafte und soeben erfundene, nicht ihre Gestalt, selbst eine ungewöhnliche, aber die Linie ihrer Kraft, ihre Begeisterung. Um das Löschblatt zu sein der unzähligen Durchquerungen, die in mir (wie sicherlich in andern Träumern meiner Art) unaufhörlich zusammenströmen. Um sie für einen Augenblick festzuhalten, und für mehr als einen Augenblick. Um einige festzuhalten ... Um auch die vitalsten Rhythmen hervorzuholen, und (falls dies möglich ist, und im Meskalin ist es möglich) die Schwingungen des Geistes selbst.? Musik kurz hochziehen 1. Spr.: Michaux malt so, wie er schreibt. Und doch sind in seinem Verständnis beide Tätigkeiten verschiedene "Rangiergleise", "Auswahlweichen"; man sieht malend und schreibend durch andere Fenster auf die Welt. 2. Spr.: "Jede Kunst hat ihre eigene Versuchung und ihre Geschenke. Man muss nur kommen lassen, gewähren lassen.? Musik noch einmal kurz hochziehen 1. Spr.: Im Dezember 1927 schifft sich Michaux in Amsterdam ein und reist über Panama nach Ecuador, begleitet von seinem Freund Alfredo Gangotena, einem mysteriösen Dichter aus Ecuador. Es sei, so Michaux, zwar der reale Mensch aus Fleisch und Blut, der an Bord gehe und den Ozean überquere, aber: 2. Spr.: "Es ist die Seele, die davoneilt, allein.? Musik kurz hochziehen 1. Spr.: Michaux' ganzes Werk ist ein Umspielen der inneren und äußeren Aufbrüche und des Wunsches, am Leitfaden des eigenen Körpers, den Bewegungen mit dem Stift oder dem Pinsel in der Hand zu folgen, um so die Hüllen und Masken abzulegen und Gelerntes zu verlernen, wenn es sich als überholt erwiesen hat. 2. Spr.: "Stehe deine Irrtümer ganz durch, zumindest einige, damit du gut beobachten kannst, von welcher Art sie sind. Andernfalls, wenn du auf halbem Weg aufgibst, wirst du blindlings dieselbe Form von Irrtümern immerfort wiederbegehen, dein ganzes Leben lang, was dann gewisse Leute dein 'Schicksal' nennen werden. Dein Feind, nämlich deine Struktur - zwinge ihn, sich zu zeigen. Hast du dein Schicksal nicht herumkriegen können, bist du nur eine gemietete Wohnung gewesen.? "... ich gehe bloß spazieren, ich hole Murmeln aus der Tasche hervor und spiele?. 1. Spr.: Aber Michaux fügt sogleich hinzu, dass er dabei so gar nicht in einem Zustand der Ausgeglichenheit sei, sein Leben viel mehr einer Schlaflosigkeit gleiche und sein Herz immerfort einen Anlaß finde, heftig zu schlagen. 4. O-Ton (Hornig) Das Zeichnen und Malen bei Michaux ist eigentlich keine Verlängerung des Schreibens. Es gibt einen visionären Aspekt dabei, nämlich einfach Gesichter, Fratzen vor sich zu sehen, ja, auftauchen zu lassen. Und dann hat das Malen bei Michaux eine sehr starke gestische Komponente wie auch bei Jackson Pollock viel später, ja. Es ist ein wirkliches Experimentieren mit dem Körper bei ihm. 2. Spr.: "Achtung vor den sprühenden Einfällen! Schreiben heißt vielmehr, Kurzschlüsse herzustellen.? 1. Spr.: Es ist nicht die "Literatur", und es ist nicht das "Werk", worauf Michaux hinaus will: als man nach Erscheinen von Wer ich war meinte, das sei keine Literatur, antwortete Michaux "Zum Glück". 2. Spr.: "Reisen und Schreiben, um etwas auszufragen und auszuhorchen, um sich dem Problem des Seins zu nähern.? 1. Spr.: Das Unendliche - das war letztlich Michaux' Thema. Das Schreiben verkörperte für ihn auf einzigartige Art und Weise die gesamte geistige Beweglichkeit. Der Schriftsteller Helmut Heißenbüttel hat in einem Aufsatz von 1962 versucht, die Faszination von Michaux' Schreibweise zu erklären, und sie dabei vom Surrealismus unterschieden. Michaux bringt den Leser auf den Pfad ganz normaler Mitteilungen und setzt sich doch gleichzeitig, nahezu unmerklich, von den Inhalten der Mitteilung ab, überlässt die Sprachlogik sich selbst und konfrontiert somit den Leser direkt mit der Vielfalt der Bezugsmöglichkeiten. Auf diese Weise spaltet er, in einer Folge von Exerzitien, das Sprachbewußtsein. So gesehen ist dann eine Figur wie Plume (in der gleichnamigen Erzählung) keine in sich geschlossene, gelebte Figur, sondern ein "rudimentäres Demonstrationsobjekt", selbst Teil von "Demonstrationsparabeln". Oder wie Michaux (im Nachwort zu Plume) schreibt: 2. Spr.: "Zeichen, Symbole, Aufschwünge, Abstürze, Fahrten, Beziehungen, Widersprüche, alles ist nur da, um davon fortzuspringen, um Neues zu suchen, um weiterzukommen, um etwas anderes zu machen.? 1. Spr.: Michaux' Sprache ist von großer Klarheit. Die Sätze wirken oft ganz schlicht. Darf man aber dieser Schlichtheit vertrauen? Warum gilt er als ein schwieriger experimenteller Autor? In einem Text wie Ideogramme in China ist es sicher die Anlehnung an ein uns fremdes Universum der Zeichen und Chiffren, die dem Leser Schwierigkeiten bereitet. Dagegen ist zum Beispiel die Syntax in dem Band Ecuador recht einfach, und auch die Wortwahl, von einigen Ausnahmen abgesehen, ist nicht besonders exotisch. Es sind in diesem Fall fast unmerkliche Erschütterungen, die Michaux dem Französischen zufügt, Infiltrationen eines anderen Tons, eines anderen Rhythmus'. 6. O-Ton (Hornig) Michaux zu übersetzen ist etwas ganz Besonderes, eine sehr eigentümliche Erfahrung. Bei Julien Gracq zum Beispiel arbeitet man oft stundenlang an einem Satz, an einer Syntax, und man feilt und schleift und arbeitet daran. Bei Michaux geschieht das Übersetzen extrem spontan. Es hat auch hier eine sehr körperliche Seite. Man muss also die Rhythmen heraushören, die Erschütterungen. Es ist immer sehr schwer, über das Übersetzen zu sprechen, weil die verschiedenen Jargons, die man entwickelt hat, eher dazu dienen, das zu verschleiern, was beim Übersetzen passiert. Denn es passieren sehr viele Dinge, die aber sehr schwer zu beschreiben sind, dabei. Vielleicht könnte ich es metaphorisch so sagen: Es gibt bei Michaux ganz verschiedene Sprach- Zustände. Es gibt zum einen diese Sprache der Erfahrung wie in den Drogenexperiementen zum Beispiel in den frühen Reisebüchern. Dann gibt es natürlich auch eine andere Ebene, das ist eine - die imaginäre, der imaginären Ethnographie und der Vorstellungskraft. Dann gibt es diese hämmernde musikalische Sprache des Exorzismus, der freien [Verse] und der neuen Wörter. Dann gibt es noch diese etwas getragenere poetische Sprache, die rhythmisch freier ist und auch etwas feierlicher und getragener im Ton. Und dann gibt es einen fünften Aspekt vielleicht, das ist also dort, wo er die französische Sprache einfach zerlegt in ihre Bausteine und neu kombiniert. Und dahinter steckt also die Idee, es gibt vielleicht eine Sprache vor der Sprache, eine archaische Sprache, die man auffinden könnte durch diese Erschütterungen, durch diese Eruptionen und diese neuen Rhythmen. 1. Spr.: Michaux' Texte zeichnen sich durch feine Überlagerungen aus, Überlagerungen des Realen und des Irrealen, des Konkreten und des Imaginären; einerseits die Repetition des leidenden Ichs, andererseits die Öffnung auf eine andere Ebene, die des Seins. Das ichbezogene Sprechen wird also von ihm weitgehend aufgelöst. Das macht Michaux' Modernität aus: sich von den Chimären des Ichs ein Stück weit gelöst zu haben, dem Fetisch "Werk" und der Chiffre "Literatur" nicht länger blind gehuldigt zu haben. 1. Spr.: In manchen von Michaux' Schriften sind einzelne Teile noch nicht zur Reife gelangt und nicht immer so ineinander verwoben, dass ein einheitlicher Text daraus entstanden wäre. Aber dies ist nicht nur ein Mangel. Indem der Text seine Offenheiten, Brüche und auch Blößen vorführt, hält er den Spielraum flexibler, in dem sich der Leser in dieses Reisen-Schreiben-Spiel einmischen kann. Die äußeren und inneren Reisen, das bei sich selbst empfundene Fremdartige und die Fremdheit in den Dingen, Menschen und Kulturen, denen er begegnete und denen er sich aussetzte - das war Michaux' Thema. Die Sprache, die er dabei ausbildete, reiht ihn ein in die Tradition einer konzentrierten Prosalyrik, neben René Char und Francis Ponge. Bei aller Strenge verbietet sich doch Michaux keinen Ausflug in die Phantasie, in den schwarzen Humor und in die Verspieltheit. Dies gilt ebenso für seine Visionen: auch sie werden schnörkellos vorgetragen, atmen die größte spielerische Freiheit und sind doch im Kern spröde. So notiert er im Reisejournal Ecuador, unter dem Datum vom 1.2.1928: Musik unterlegen 2. Spr.: "Wenn wir es in hundert Jahren nicht geschafft haben, mit einem anderen Planeten in Verbindung zu treten (aber wir werden so weit sein), ist die Menschheit verloren ... "Allein aus dem Schwarz sehe ich das Leben hervorgehen.? 1. Spr.: Octavio Paz hat in seiner Einführung zur Michaux-Retrospektive 1978 im Centre Pompidou diese dunkle Zone, das Schwarz, in den Mittelpunkt gestellt. Programmsprecher: "Michaux' Bilder sind nicht so sehr Fenster, die uns eine andere Wirklichkeit sehen lassen, sondern vielmehr Schlitze und Löcher, die von den Mächten der anderen Seite gebohrt wurden.? 1. Spr.: Auge in Auge mit dem Unbekannten, der dunklen Zone, den Spalten und Lücken, in die seine Bilder hineinstürzen und das Ungreifbare für einen Augenblick festhalten. Der seelische Raum, der andere Schauplatz, und der Bildraum sind über Spiegelungen, Überblendungen, aufs engste, und doch von Grund auf brüchig und fragmentarisch, miteinander verwoben. Musik 1. Spr.: Zuweilen findet sich der Leser bei der Lektüre von Michaux inmitten ungeheurer Turbulenzen wieder. Exemplarisch bei dem Band Erkenntnisse durch Abgründe. Stillstand und rasende Geschwindigkeit wechseln einander ab. Es ist ein kaum zu überbietendes Dokument einer inneren Reise, einer Selbsterforschung und seelischen Tiefen- Archäologie. Der Band schließt an Unseliges Wunder von 1956 und Turbulenz im Unendlichen von 1957 an: Dies waren Erfahrungsberichte über die Wirkungen der Droge Meskalin, Warnungen vor deren "Verwüstungen". Die Drogen Meskalin, Psilocybin und Hanf waren für Michaux niemals Hilfsmittel fehlender Imagination. Sie dienten vielmehr einer Erforschung, um das Grenzland zwischen Bewußtem und Unbewußtem besser kennenzulernen. Er setzte alles daran, um die Drogen zu entmystifizieren, um sie genauer zu bestimmen als Wunder und als Gefängnis der Unendlichkeit. Von Anfang an hatte er sich dagegen gewehrt, als Drogenschriftsteller festgelegt zu werden: 2. Spr.: "Bedaure sehr. Ich bin eher vom Typ des Wassertrinkers. Nie Alkohol. Keine Exitantien, und seit Jahren keinen Kaffee, Tabak, Tee. Hin und wieder Wein, aber nur wenig. Seit jeher, nur wenig, das gilt von allem, was man nehmen kann. Nehmen und sich enthalten. Hauptsächlich sich enthalten ... Vergessen wir nicht, dass hier ein Gift geschluckt wurde.? 1. Spr.: Michaux überläßt sich immer wieder einem poetischen Fließen, gleichsam mit Wildwasser-Geschwindigkeit, versucht den Aufbrüchen und Eruptionen Ausdruck zu verleihen, verweigert dann wieder den Ausdruck, durch das Setzen von Pünktchen und Strichen und endet schließlich erneut beim Stillstand. 8. O-Ton (Hornig) Das Werk von Michaux lässt sich ja mit den traditionellen Kategorien kaum irgendwie einordnen. Erstens ist es kein Werk im üblichen Sinn, es gibt auch keine Gattungen darin. Es gibt keine Romane, man kann auch nicht sagen, dass es Lyrik ist, ein Wort, das Michaux also hassen würde. Natürlich gibt es lyrische Elemente, es gibt Gedichte und Poesie darin, aber im Grunde genommen gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Prosa und Poesie. Und es gibt vor allem - Raymond [Bellur/Bellour] hat die ersten Begriffe, die er gefunden hat, um das Werk von Michaux irgendwie zu kennzeichnen, das ist Multiplicité und Fragmentation - extreme Vielfalt und Fragmentierung dabei. Michaux ist jemand, der ständig experimentiert. Er beginnt mit einem Fragment, wobei der Einsatz immer sehr wichtig ist, als würde er ein Musikinstrument ganz neu ausprobieren und versuchen, ihm neue Töne zu entlocken. Und sobald diese neuen Töne aufhören und bekanntere, traditionellere plötzlich auftreten, dann bricht er einfach ab. Den Rest erspart er sich, es interessiert ihn einfach nicht mehr. Dadurch dieses ständige Neuansetzen und Neuversuchen, und zwar in allen Bereichen, sei es jetzt beim Schreiben selbst, wo alle möglichen Tonarten ausprobiert werden, alle möglichen Einsätze. Und das Gleiche auch natürlich beim Malen, denn er beginnt immer wieder von Neuem und hat eine enorme Produktion, wo er eigentlich sehr, sehr viel wegwirft, weil es ihm dann einfach zu banal erscheint und er nur sehr, sehr wenig beibehält von diesen Dingen. Es müsste jetzt auch die Musik dazukommen, die Michaux ja auch immer praktiziert hat, vor allem in Form von Schlagzeuginstrumenten und rhythmischen Instrumenten, also das ständige Neueinsetzen versuchen. Es gibt vielleicht Beispiele dafür in der modernen Zwölftonmusik, bei Webern oder bei Alban Berg: ganz, ganz kurze, extrem intensive Stücke, die plötzlich abbrechen. 1. Spr.: Was Michaux mit den Drogen erlebt, bringt ihn zeitweise eher vom Schreiben weg, nährt die Vermutung, dass das Erfahrene nicht beschreibbar, nicht in Zeichen faßbar ist und wenn schon, dann mit der Malerei vergleichbar ist. Kaum einem anderen Schriftsteller gelingt es, derart unterschiedliche Vorgehensweisen wie die Recherche, die Forschung und die Poesie, die Malerei und die Meditation miteinander zu verbinden. Musik unterlegen 1. Spr.: Michaux hat Erkenntnisse zumeist aus der Perspektive des Ausnahmezustands beschrieben. Es war sein Ziel, die feste Position des erkennenden Subjekts aufzuweichen. Er wollte hinter die Phänomene schauen und die Ebene der verfestigten Sprache unterlaufen, um das Eruptive direkt aufzuspüren. So versuchte er den Erfahrungen und Wahrnehmungen beschreibend, poetisch und analytisch gerecht zu werden. Es ist eine grenzgängerische Philosophie, die hier ausprobiert wird und die versucht, von der Peripherie her in das Zentrum unseres Denkens und Vorstellens, unserer Wissenschaften und Künste vorzudringen. Im Zuge dieser Neuorientierung werden bislang von der Wissenschaft vernachlässigte Elemente der Erkenntnis und der Wahrnehmung, der Existenz und der Erfahrung - wie der Eros, die Begierde, die Ekstase und das Lachen - in die Theorie grundlegend mit einbezogen. Und auf besonders eindringliche Weise rückt dabei Michaux dieses bewußt-unbewußte Wechselspiel von Sperrung und Hemmnis, von Stillstand und Rasen in das Zentrum menschlicher Erfahrung. 9. O-Ton (Hornig) Michaux hatte immer einen Kreis von Lesern. Er wollte nie einen großen Kreis haben. Dieser Kreis hatte sich nach 1945 bis in die 70er Jahre extrem vergrößert, weil Michaux eine der ganz großen Figuren der modernen Poesie war. Es ist auch kein Zufall, dass Celan sich sehr für ihn interessiert hat und auch viele Texte von ihm übersetzt hat. Ich glaube, Michaux und Celan sind beide emblematische Figuren dessen, was heute in der Poesie noch möglich ist. Ich glaube, dass Michaux noch immer eine sehr große Zukunft hat. Ich glaube, dass er für die neuen Generationen ein Weg ist, aus dieser traditionellen Poesie herauszufinden und aus dem, was die traditionelle Literatur ist. Diese subversive Sprengkraft bleibt noch immer in seinen Texten vorhanden. Musik kurz hochziehen Zitatnachweise: Die Zitate auf den Seiten 1-3 sind den Bänden "Ecuador" und "Ein Barbar in Asien" entnommen. S. 1-3 "Ein Barbar in Asien", Droschl 1991, Übers. Dieter Hornig S.4 + S. 9: Plume, S. Fischer Verlag 1966, Übers. Kurt Leonhardt S.5-6+ S. 11 : Ecuador, Droschl 1994, Übers. Dieter Hornig S.6-7 : Unseliges Wunder, Hanser 1986, Übers. Kurt Leonhardt S.7-9 + S.13: Wer ich war, Droschl 2006, Übers. Dieter Hornig DLR-Michaux.rtf 3 DLR-Michaux.rtf