KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Ko Kostenträger : P 62 110 Titel der Sendung : "Der Dichter ist kein Lehrer der Moral" Das Woyzeck-Projekt der Theaterschule des Georg- Büchner-Gymnasiums Köln Autorin : Astrid Nettling Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 01.10.2013 Besetzung : Sprecherin (Kommentar), Sprecher (Kommentar, Zitate) Regie : Beate Ziegs Produktion : O-Töne, Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Deutschlandradio Kultur Literaturredaktion Dorothea Westphal "Der Dichter ist kein Lehrer der Moral" - Das "Woyzeck-Projekt" der Theaterschule des Georg-Büchner-Gymnasiums Köln von Astrid Nettling Sprecherin Sprecher O-Töne Atmos/Musik/Geräusch O-Ton (1) (Anna Kuretzky): Es macht Spaß mit Leuten zu spielen, die ganz neue individuelle und ganz schöne Sachen auf die Bühne bringen, und da ist so viel Energie, weil jeder Schüler, der hier mitmacht, so mit vollem Elan dabei ist, und das finde ich sehr schön. O-Ton (2) (Linda Ott): Was ich sehr schön finde, dass wir nicht ausschließlich mit Texten arbeiten, sondern auch sehr viel mit Bewegung machen, Bewegungsabläufen, mit fast schon Choreos, dass wir wirklich alles dabei haben und auch durch die große Gruppe viele Möglichkeiten haben, auch verschiedene Aspekte in Szenen zu beleuchten, und ich glaub', das wird ganz gut. O-Ton (3) (Imke Toksoez): Ich wollte auf keinen Fall das Stück ankündigen unter dem Titel "Woyzeck", weil das völlig falsche Vorstellungen bei den Zuschauern hervorrufen würde. Ich wollte trotzdem gerne, dass der Begriff 'Woyzeck' vorkommt, weil es schließlich, sagen wir mal, der Ursprung der Ideen ist. Sprecherin: Noch ist alles dunkel. Vom Bühnenhintergrund rollt eine gelbe Zitrone über die Treppen auf die Spielfläche. Ein blonder Knabe, barfuß und ganz in Weiß, folgt ihr langsam, hebt die Zitrone auf und hält sie fragend in den Raum. Atmo (1): Robin: "Mutter? Vater?" Sprecherin: Dann wendet er sich um und läuft nach hinten weg. Atmo (2): Auftritt der Schauspieler, lautes Stampfen, sofort nach Sprecherin, kurz allein, dann unter Sprecherin runterfahren und spätestens bei "Spielfläche hinunter" weg Sprecherin: Früher Nachmittag. Probe im "Theater-Forum" des Georg-Büchner-Gymnasiums in Köln. Geprobt wird der Auftritt der Darsteller: Zwei Reihen derber Schuhpaare stampfen von rechts und von links im Gleichschritt hintereinander die Stufen zur Mitte des halbrunden "Forums" - der eigentlichen Spielfläche - hinunter. Dann winkt die Regisseurin ab: Die Schritte, der Rhythmus, die Bewegung, all das sitzt noch nicht. Atmo (3): direkt nach Sprecherin einblenden, kurz allein und unter Sprecherin stehen lassen; Imke Toksoez: "Der rennt weg, und in dem Moment fangt ihr an. Tang, tang, tang, tang. Wer hat die lautesten Schuhe? Ich glaub' die Goldy. Du fängst an, die andern fallen ein. Und gehen. (...)" Laute Stampfgeräusche, Musik (Tom Waits), Einwürfe von Regisseurin etc. Sprecherin: Zwanzig Darsteller und Darstellerinnen der "Theaterschule in der Schule" proben 'ihr' Stück, proben 'ihre' Fassung von "Woyzeck". Seit rund vier Monaten arbeiten sie gemeinsam mit ihrer Regisseurin an diesem Projekt, das unter dem Titel "SCHäDELNeRVEN. woyzeck.folgen" zur Aufführung kommt. Sie - das sind Linda, Alesa, Saskia, Lena, Sophie, Anna, Nina, Ronja, Golsanam, Leyli, Janka, Sabrina und Greta, das sind Tobias, Lukas, Sebastian, Jan, Tristan, Phillip und Robin. Imke Toksoez ist die Regisseurin und Leiterin der Theaterschule. 2006 hat die ausgebildete Theaterpädagogin und Lehrerin die Theaterschule mit dem Wunsch ins Leben gerufen, die Schüler gezielt ans Theater und ans Theaterspielen heranzuführen. Dieses Mal sind es Darsteller aus den Abiturklassen. Auch Ehemalige und der zwölfjährige Robin spielen mit. Atmo (3): weiter leise stehen lassen O-Ton (4) (Imke Toksoez): Hab' dann im Untertitel lange überlegt und bin dann auf diesen Begriff 'folgen' gekommen, weil ich dachte, wir haben Szenen, die aufeinander folgen, der Zuschauer soll dem Gedankengang folgen, er soll Woyzeck auf seinem Weg durch dieses Stück folgen, also, dieses Wort 'folgen' in der Mehrfachbedeutung fand ich schlussendlich am passendsten. O-Ton (5) (Saskia Holz): Ich kannte davor "Woyzeck" noch nicht und fand das jetzt sehr gut, an dieses Stück mal ranzugehen. Es war für mich sehr interessant zu sehen, wie dann eine Szene umgesetzt wird, und es wird bestimmt viele Situationen geben, wo man ganz toll was herauslesen kann. Atmo (3): unter oder nach O-Ton (5) ausblenden Sprecher: "Woyzeck" ist das letzte Werk Georg Büchners. Im Herbst 1836 hatte er mit ersten Entwürfen begonnen. Kurz zuvor war der junge Naturwissenschaftler von Straßburg nach Zürich umgesiedelt und hatte dort an der Universität mit seiner Probevorlesung "Über Schädelnerven" die akademische Lehrerlaubnis erhalten. Eine unruhige, doch fruchtbare Zeit liegt hinter ihm. Aufgrund seiner revolutionären Flugschrift "Der hessische Landbote" hatte er 1835 Deutschland verlassen und nach Straßburg fliehen müssen. In rascher Folge waren "Dantons Tod", die Novelle "Lenz" und sein Lustspiel "Leonce und Lena" entstanden. In den Wintermonaten 1836 arbeitet er in Zürich weiter am "Woyzeck". Am 2. Februar des folgenden Jahres erkrankt der Dreiundzwanzigjährige schwer an Typhus und stirbt am 19. Februar 1837. "Woyzeck" bleibt als Fragment zurück. Atmo (4): direkt nach Sprecher und bis zum Schluss allein stehen lassen; alle Spieler im Chor: "Friedrich Johann Franz Woyzeck, Wehrmann, Füsilier im 2. Regiment, 2. Bataillon, 4. Kompanie, geboren Mariä Verkündigung, den 20. Juli." O-Ton (6) (Imke Toksoez): Bei der Recherche zu dem Stück war mir aufgefallen, dass im Grunde keine wirklich feste Szenenfolge dieses Stückes existiert. Es gibt lose Szenen von Büchner selber, es gibt so drei, vier Fassungen, die sehr häufig gespielt werden, aber letztlich wissen wir bis heute nicht, wie er sich das genau gedacht hat. Und die Idee wollte ich aufgreifen, indem ich dieses Fragmentarische noch weiter zersplittere und sage, wir machen nicht unsere eigene fertige Geschichte draus, sondern wir setzen das noch mal zusätzlich frei. O-Ton (7) (Tobias Hakendahl): Ich find's schön, dass es auf der Bühne keine klare Abfolge geben wird, also das Stück wird ja dann jeden Abend unterschiedlich sein. Weil es ja auch in diesem Fragment keine festgelegte Reihenfolge gibt, find' ich den Versuch sehr interessant, das genau so auf der Bühne zu machen ohne 'ne Abfolge, die immer gleich bleibt. Geräusch (1): Glücksrad allein oder bis unter O-Ton (8) O-Ton (8) (Imke Toksoez): Es gibt im "Woyzeck" die Jahrmarktszene, wo ein Marktschreier auftritt, und Jahrmarkt - Glücksrad hingen für mich sehr eng zusammen, und es soll so ablaufen, dass eine Person diese Rolle des Jahrmarktschreiers übernimmt, das Glücksrad dreht, den Szenenzettel, der durch das Glücksrad entschieden wird, herunternimmt, den Titel der Szene nennt, und diese Szene wird dann gespielt, was aber auch natürlich beinhaltet, dass jeden Abend eine komplett neue Szenenfolge entsteht. Atmo (5): direkt nach O-Ton (8) und bis Ende allein; Glücksrad, Ansage von Leyli: "Im dunklen Land" - "Der Mensch ist nur eine Marionette, ein Gefangener seiner selbst. Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, wissen wir nicht mehr, dass wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Mund." Sprecherin: Abermals hat das Glücksrad eine Spielszene ausgewählt: "Im dunklen Land". Ein Darsteller nach dem anderen erhebt sich während der Ansage von seinem Platz, bis alle oberhalb der Stufen dicht beieinander stehen - neunzehn Gestalten in wahllos zusammengewürfelten Kleidungsstücken aus fahlen, vergilbten Weißtönen. Mit ihren bleichen Gesichtern und den dunklen Augenschatten sehen sie müde aus und verloren. Langsam und wie in Trance führen sie jeweils die rechte Hand vor die Augen, dann ein leises "Ach" und - Atmo (6): bis zum Ende allein; alle Spieler im Chor: "Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte zu ruhn, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab." O-Ton (9) (Imke Toksoez): Die Figur Woyzeck ist ja sozusagen ein Geworfener, der in vielen Situationen seines Lebens nur damit befasst ist, auszuführen, was andere von ihm erwarten, dem das Leben begegnet als ein ständiges Auf-ihn-Eindringen. Was sich ja auch spiegelt in diesen Visionen, die er hat, in den Stimmen, die er hört, also, dass er im Grunde ein Ausgelieferter ist, und insofern finde ich diese Schicksalsentscheidung für die Szenen durch das Glücksrad auch passend. Sprecher: Woyzeck, ein Soldat auf der untersten Stufe der militärischen Hierarchie, hat sich für die medizinischen Versuche eines Arztes zur Verfügung gestellt. Er will etwas Geld für Marie, seine Geliebte, und ihr gemeinsames Kind hinzuverdienen. Als alleiniges Nahrungsmittel verordnet der Doktor ihm grüne Erbsen, was seine körperliche wie geistige Befindlichkeit zusehends ruiniert. Währenddessen beginnt Marie eine Liebschaft mit dem Tambourmajor des Regiments. Als sich Woyzecks aufkeimender Verdacht bestätigt, vernimmt er Stimmen, die ihn zum Mord an Marie auffordern. Während eines abendlichen Spaziergangs ersticht er sie am Ufer eines Sees. Atmo (7): direkt nach Sprecher und allein; alle Spieler laut: "Stich!" stampfen, "Stich zu!" stampfen Sprecherin: Zehnmal dreht sich an jedem Abend das Rad, zehnmal entscheidet es, welche Szene gespielt wird. Zehn Spielszenen sind es insgesamt mit zehn thematischen Schwerpunkten. Geräusch (1): Glücksrad allein oder bis unter O-Ton (10) O-Ton (10) (Sophie Marx): Wir haben Grundthemen uns ausgesucht und haben dann zu jedem Grundthema langsam Szenen entwickelt, ja, da hat Imke immer sehr gute Ideen gehabt, die wir dann auch mit reingenommen haben, aber wir haben es dann eigentlich alles zusammen entwickelt. Ja, es hat ganz gut geklappt. O-Ton (11) (Alesa Gottwald): Zur Gestaltung des Stückes kann ich nur sagen, dass ich es super finde, wie viel Freiheit wir auch haben. Klar haben wir vorgegebene Themen, aber wir dürfen eigene Texte schreiben, wir dürfen Gedichte mit reinbringen, also, das ist eigentlich eine super Plattform, die eigene Kreativität zu entfalten. O-Ton (12) (Imke Toksoez): Jemand hat mal den schönen Satz gesagt: Der Text ist für mich nur ein Steinbruch. Und das find ich gerade in Bezug auf Schülertheater einen ganz, ganz wichtigen Satz, weil Dramentexte eben für Schauspieler gemacht sind und nicht für Laien, und die Schüler sind Laien, egal wie gut sie vielleicht manchmal spielen. Und da ist mir wichtig, dass die Schüler die Möglichkeit haben, Texte aus ihrem Umfeld, die ihnen zu diesem Text passend scheinen, mit einzubringen, um auch eine größere Vertrautheit und größere Nähe zu dem Ursprungstext herzustellen. Die Schüler haben Texte eingebracht, ich bringe Texte ein, wir haben den Ursprungstext, dann wird das gebündelt unter einem dieser Schwerpunkte. Es geht einerseits um die emotionale Seite, da unterschieden in Leidenschaft, in Eifersucht, in Einsamkeit, und es geht um soziale Verhältnisse in Form dieser militärischen Hierarchie, also Ohnmacht-Hierarchie, Unfreiheit, es geht auch weiter um Themen wie Armut, sozialen Niedergang usw. Atmo (8): unter O-Ton (12) bei "Die Schüler haben Texte" leise einblenden; Gesang von Saskia: "Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal saßen einst zwei Hasen fraßen ab das grüne, grüne Gras fraßen ab das grüne, grüne Gras bis auf den Rasen. Als sie sich nun satt gefressen hatt´n (...)" Dann Woyzeck/Tobias und Andres/Lukas frei stehen lassen, Saskia singt weiter: Woyzeck/Tobias: "Ja, Andres, der Platz ist verflucht. Siehst Du den lichten Streif da über das Gras hin? Da rollt abends der Kopf. Es hob ihn einmal einer auf, er meint', es wär ein Igel: drei Tag und drei Nächt, er lag auf den Hobelspänen. Andres, das waren die Freimaurer! Ich hab's, die Freimaurer!" Andres/Lukas: "Saßen dort zwei Hasen, fraßen ab das grüne, grüne Gras..." Woyzeck/Tobias: "Still". O-Ton (13) (Tobias Hakendahl): Also, ich hab' mich generell hauptsächlich für Szenen entschieden, in denen Woyzeck auch direkt beteiligt ist, weil ich diese Figur Woyzeck sehr interessant finde in seinem fortschreitenden Wahnsinn, aber gleichzeitig eben relativ vielschichtig, weil er arbeitet ja viel und lässt diese Versuche mit sich machen, um Geld zu verdienen für sein Kind, um seiner Marie irgendwie was bieten zu können. O-Ton (14) (Linda Ott): Mich interessiert besonders die Person Woyzeck in Kombination mit der geistigen Verwirrtheit, dass er am Ende wirklich in der Lage ist, seine Frau umzubringen. Das Stück endet dann. Und mich hat aber noch die Frage interessiert, was passiert danach. Wie geht es Woyzeck mit dem Mord an seiner Frau, wie kommt er damit klar mit dieser geistigen Verwirrtheit. O-Ton (15) (Lena Porzelt): An Maries Figur hat mich interessiert die Zwiegespaltenheit, weil sie den Woyzeck ja lieben gelernt hat und mit ihm ein Kind hat und ihn dann mit dem Tambourmajor betrügt, und man sich selbst die Frage stellen kann, kann man das nachvollziehen. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich das nachvollziehen kann, das muss ich noch innerhalb des Stücks rausfinden. Atmo (9): Atmo nur als Hintergrund; unter O-Ton (15) etwa bei "kann man das nachvollziehen" leise einblenden, leise unter O-Ton (16) stehen lassen und unter O-Ton (17) ausblenden Gesang/Klavier Jan/Lukas: "An jenem Tag im blauen Mond September Still unter einem jungen Pflaumenbaum Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe In meinem Arm wie einen holden Traum. Und über uns im schönen Sommerhimmel (...) O-Ton (16) (Lukas Janczik): Wir hatten uns dazu entschieden, zu diesem Gedicht von Brecht "Erinnerung an die Marie A", weil wir fanden, dass gewisse Parallelen da waren zu "Woyzeck", da ja sowohl in dem Gedicht es um eigentlich 'ne Liebe geht, die nicht mehr wirklich real ist und nicht mehr existent, und es ja auch im "Woyzeck" dieses Gescheiterte gibt. O-Ton (17) (Alesa Gottwald): Ich hab' mich besonders für einen Nebencharakter des Dramas interessiert und zwar das Kind. Und dann hab' ich mir eine Szene ausgesucht, wo Marie am Fenster steht und sehr sehnsüchtig auf den Tambourmajor schaut, und dabei hat sie ihr Kind auf dem Arm, ist aber sehr geistesabwesend. Dann hab ich einen eigenen Text geschrieben aus der Sicht des Kindes, wie das ist, Eltern zu haben, die zwar körperlich da sind, aber geistig ganz woanders. O-Ton (18) (Saskia Holz): Für mich war wichtig, dass wir diesen altbekannten Stoff mit neuen Ideen, neuen Texten verknüpft haben bzw. mit anderen Texten. Ich glaub', das macht das Ganze interessant, weil es auch noch mal ganz andere Perspektiven eröffnet und neue Blickwinkel. Zum Beispiel auf die ganze Doktorengeschichte, das wurde mit Geschichten über Medizin im Nationalsozialismus verwoben, und ich glaube, das gibt einen interessanten Blick darauf. Atmo (10): unter O-Ton (18) einblenden, dann allein und vor Sprecherin ausblenden; Lukas: "Heinrich Eufinger, Facharzt für Frauenheilkunde, an Durchführung von Zwangssterilisationen beteiligt, SS-Obersturmbannführer. Nie verurteilt." Janka: "Ernst Holzlöhner, Dr., Physiologe, Leiter der Kälteversuche in Dachau, Suizid." Greta: "Georg Renno, Arzt, stellvertretender ärztlicher Leiter der Tötungsanstalt Hartheim, 1961 Untersuchungshaft. 1975 Einstellung des Verfahrens aufgrund ärztlichen Attests. Nie verurteilt." Sprecherin: Vieles ist in ihr Stück, ist in "SCHäDELNeRVEN. woyzeck.folgen" eingeflossen. Neben den Texten aus der NS-Zeit Texte unter anderen von Hölderlin, La Mettrie, Hugo von Hofmannsthal, Mark Twain, Sylvia Plath, Else Lasker-Schüler, Ingeborg Bachmann, Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Heiner Müller. Texte, die weit in den Spielraum der Moderne hineinreichen. O-Ton (19) (Imke Toksoez): Dazu kommt ja, dass die Szenen nicht die eigentlichen Stückszenen sind, sondern auch diese Szenen nur als Fragmente auftauchen, sodass das fortweist und weitergeht in literarische Bezüge, persönliche Assoziationen, geschichtliche Bezüge usw., die dann jeweils eingebracht werden. Sprecherin: So werden aus dem Woyzeck Büchners verschiedene Woyzecks, die ihr Schicksal in den unterschiedlichen Spielszenen in Einzel- oder Gruppenauftritten durchspielen: In der Szene "Grüne Erbsen" ist er der Ausgelieferte in den Händen einer menschenverachtenden und politisch dienstbar gemachten Wissenschaft, in "Fleisch und Blut" der verächtliche Auswurf der Gesellschaft, in "Immerzu, immerzu" der von seiner Eifersucht Gequälte, in "Steinschatten" und "Roter Mond" der Gefangene seiner wahnhaften Innenwelt und in "Menschmaschine" das machtlose Rädchen im Getriebe einer den Menschen verdinglichenden Wirklichkeit. Atmo (11): nach Sprecherin ein Stück allein, unter O-Ton (20) runterfahren und leise stehen lassen Woyzeck/Anna: "Ich habe meine Arbeit getan." Chor: "Tu deine letzte." Woyzeck/Anna: "Ich habe einen Fehler begangen." Chor: "Du bist der Fehler." Woyzeck/Anna: "Ich bin ein Mensch." Chor: "Was ist das? Saskia: "Die Menschmaschine Halb Wesen und halb Ding." Chor: "Maschinen aus Fleisch Die Körper aus Stahl Perfektes Geflecht Aus Leistung und Qual Sie laufen präzis Sie laufen exakt (...)" O-Ton (20) (Imke Toksoez): Der Begriff "Menschmaschine" kam aus Sekundärtexten und auch der Hinweis auf Mettrie, diesen Philosophen, der mit diesem Begriff bekannt geworden ist. Und in dieser Szene ging es darum, den Woyzeck zu zeigen als Minirädchen in einer Maschinerie, die er selber nicht durchschaut, die ihn auch völlig überwalzt, ohne dass er die Chance hat, das inhaltlich zu durchdringen, und so kam es zu der Formation von dem großen Chor, der nach vorne walzt durch die choreographische Bewegung, und im Grunde so ein Bild entsteht: "Wir machen dich platt". Atmo (11): bei O-Tonende im Track auf 0'51 springen, hochziehen und bis Schluss allein: "Denk nicht diene Los Maschine! Denk nicht diene Denk nicht diene Menschmaschine!" Sprecherin: An der Stirnwand der Bühne hängen die Requisiten. Die weiße Weste ist für Woyzeck, der Arztkoffer und der helle, lange Mantel sind für den Doktor, der Stock und der grüne Offiziersmantel gehören dem Hauptmann, die Uniformjacke nebst Käppi dem Tambourmajor. Und das schwarze Wolltuch ist für Marie - ist für die fünf Maries dieser Aufführung, deren Rolle wie die aller Figuren mehrfach besetzt ist. Diesmal hält das Schicksalsrad bei der Szene "Die Nacht der Verlorenen". Es ist die Nacht vergeblicher Leidenschaft, die Nacht verzweifelter Lust, die Nacht unerfüllter Umarmungen. Und Lena ist Marie, ist eine moderne Marie mit längst verlorenen Illusionen. Am Ende bleibt sie - das schwarze Tuch fröstelnd um ihre Schultern zusammengezogen - auf ihrem kargen Lager allein zurück. Worte dafür hat sie in einem Gedicht von Ingeborg Bachmann gefunden. Musik (1): Tom Waits, Blood Money, The part you throw away, Track 10, unter Sprecherin bei "Und das schwarze Wolltuch" leise einblenden und bis etwa "allein zurück" ausblenden Atmo (12): bis Ende allein; Lena/Marie: "Ein Mond, ein Himmel und das dunkle Meer. Nur, dunkel alles. Nur weil es Nacht ist. Und nichts Menschliches dies Feingewirkte auch durchwebt. Was wirfst du mir noch vor und solche Bitterkeit Tu's nicht. Ich hab nichts Besseres gewußt als dich zu lieben, ich hab nicht gedacht, dass durch den Schweiß der Haut..." Geräusch (1): Glücksrad allein oder bis unter Sprecher Sprecher: Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten, und die Leute mögen dann daraus lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht. Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, dass sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Tun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt. Sprecherin: Heißt es in einem Brief Georg Büchners aus seiner Straßburger Zeit an seine Familie. - Was aber hat es mit dem blonden Knaben aus der Anfangsszene auf sich? Dem barfüßigen, weißgekleideten Kind, das der gelben Frucht gefolgt war, sie aufgehoben und fragend in den Raum gehalten hatte? Atmo (1): Robin: "Mutter? Vater?" O-Ton (21) (Imke Toksoez): Die Figur des Kindes in den Woyzeck-Szenen ist im Grunde sehr blass. Das Kind dient mehr oder weniger dazu zu zeigen, wie unfrei sich Marie fühlt und wie auf der anderen Seite Woyzeck moralisch sich angreifbar gemacht hat, indem er dieses Kind in die Welt setzt. Gleichzeitig ist das Kind die Figur, die am Anfang da ist, die während des Stückes da ist, und die auch am Ende noch da ist. Marie wird ermordet, bei Woyzeck ist es unsicher, es gibt Szenen, die andeuten, dass er Selbstmord begeht. Und diese Figur des verlorenen Kindes, das eigentlich diese ganze Sache miterlebt und am Ende allein dasteht, hat mich unheimlich interessiert. Unter anderem deswegen, weil ich durch meinen Beruf leider mit sehr viel verlorenen Kindern konfrontiert bin und mich immer gefragt habe, wie können sie so was aushalten, wie stehen diese Kinder da. Sprecherin: Drei ausgestopfte Stoffpuppen aus weißem Leinen - Alesa, Ronja und Saskia halten sie auf ihrem Schoß. Während der blonde Knabe hinter ihnen stumm zuhört, leihen sie abwechselnd ihre Stimme diesem verlorenen Kind, das mit einem Text von Alesa wohl zum ersten Mal in einer Woyzeck-Inszenierung zu Wort kommt. Atmo (13): ab Musik (Tom Waits) unter Sprecherin einblenden, ab Text allein und bis "aus dem Fenster wandert" frei; Musik im Hintergrund und Kind/Ronja: "Was bringt es einem, jemanden zu haben, der scheinbar immer da ist, aber doch nie wirklich. Dessen körperliche Existenz zwar fühlbar und zweifellos vorhanden ist, dessen Geist und Aufmerksamkeit jedoch in anderen Sphären sind? Mir vorzugaukeln, dass sie da sind, macht mich nicht weniger einsam. Ich brauche niemanden, der mich in den Arm nimmt und mich hin- und herwiegt, während ich merke, wie sein Blick zusammen mit seinem Geist aus dem Fenster wandert." Sprecherin: Dann ist der zwölfjährige Robin das verlorene Kind. Er befindet sich allein auf der Spielfläche mit seinem umgeworfenen hölzernen Schaukelpferd. Es ist ein Geschenk seines Vaters, ein Geschenk Woyzecks, das er aber unwillig zurückgestoßen hat. Zögernd zieht er es nun an sich heran und rollt sich hinter ihm auf den Boden zusammen. Atmo (14): Knabe/Robin; "Und dann lieg ich da, über mir der Himmel, der Himmel schwarz-blau, der leuchtet, der kalt glüht, wenn ich im Dunkeln da lieg, ich hab' keine Angst, hör hinein und hör hinaus, hinauf hinauf in den Himmel schwarz-blau ... und dann lieg ich da, und dann schlaf ich ein." Sprecherin: Alle Darsteller kommen nacheinander die Stufen des "Forums" herab. Ein jeder hält in der rechten Hand eine gelbe Zitrone und legt sie behutsam um das schlafende Kind. Musik (2): Tom Waits, Blood Money, Lullaby, Track 8, unter Sprecherin "und legt sie" einblenden, etwa bis 0'08 allein und unter O-Ton (22) langsam ausblenden O-Ton (22) (Imke Toksoez): Als ich den "Woyzeck" gelesen habe, ist der erste Satz, der mich sofort angesprungen hat, der Satz des Hauptmanns, der an einer Stelle sagt: "Ich sehe sie schon stehen mit Zitronen in den Händen." Ich fand den Satz sofort sehr bildhaft, sehr stark, hatte aber überhaupt keine Ahnung, was das eigentlich heißen sollte, und hab' dann recherchiert und dabei herausgefunden, dass sie noch bis in Büchners Zeiten hinein beim Beerdigungsritus 'ne große Rolle gespielt hat. Sei es als Sargbeigabe, sei es als Gabe an die Teilnehmer der Beerdigung, zum Beispiel trugen auch Sargträger unter ihrem Zylinder Zitronen. Dass das Kind in der Szene "Gelbe Zitronen" von allen Schauspielern im Schlaf mit Zitronen umlegt wird, hatte den Grund: Das Kind ist ja die Person, die mit dem Tod extrem konfrontiert ist, immer umgeben ist von dieser Situation des drohenden Verlustes, und der sollte durch die Zitronen symbolisiert werden. Geräusch (1): Glücksrad allein oder bis unter Sprecherin Sprecherin: Verloren wirken sie alle, wie sie auf den Stufen oder auf Stühlen am Rand der Bühne Platz nehmen. Sie, die gerade nicht am Geschehen beteiligt sind und darauf warten, welche Szene das Schicksalsrad als nächste auswählen wird. Verloren in der stumpfen Monotonie ihrer Bewegungen, die sie endlos und wie in Zeitlupe wiederholen. Eine faltet ihre Jacke zusammen, legt sie auf ihren Schoß, faltet sie auseinander, legt sie erneut zusammen, einer schnürt seine Stiefel auf, stellt sie weg, zieht sie wieder an, schnürt sie zu und wieder auf. Schließlich hat das Rad seine letzte Wahl getroffen, und die letzte Szene ist gespielt. Zum allerletzten Mal wendet sich Leyli an diesem Abend an das Publikum. Ihr Epilog endet mit einer Zeile Büchners aus seinem Stück "Dantons Tod", die das ganze Bühnengeschehen in der Wucht einer einzigen Frage zusammenfasst und an die Zuschauer weitergibt: Atmo (15): Epilog von Leyli: "Und weit ist die Welt und frei ist die Welt und böse ist die Welt und Hass ist in der Welt und voller Gewalt ist die Welt. Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?" dann stampfende Schritte und Musik (Tom Waits); kurz allein, unter Sprecherin runterfahren und langsam bis "zu Boden" ausblenden Sprecherin: Wie zu Beginn stampfen zwei Reihen derber Schuhpaare zur Spielfläche hinunter. Unten angekommen wiederholen die neunzehn Weißgekleideten mechanisch und in simultaner Körpergestik das karge Bewegungsrepertoire Woyzecks, wie es Büchner als Regieanweisung in seinem Fragment notiert hatte: die Hacken zusammenschlagen, erschöpft zittern, in die Gegend starren, heftig auffahren, das Messer ziehen, weglaufen, es suchen und weiter wegwerfen. In einer letzten Bewegung sinkt einer nach dem anderen entkräftet zu Boden. - Unsicheren Schritts nähert sich das Kind, setzt seinen Fuß auf die liegenden Gestalten und hält mit einer fragenden Geste die gelbe Frucht ins Publikum. Dann wird es auf der Spielfläche dunkel. O-Ton (23) (Nina Neumann): Ich finde das ziemlich einzigartig, allein die Idee, dass am Abend selber entschieden wird, in welcher Reihenfolge wir das Stück aufführen. Ich finde, es entstehen einfach sehr schöne eindrucksvolle Bilder, es kommen einfach so ganz verschiedene Stimmungen rüber, ja, das ist irgendwie im Großen und Ganzen ein sehr gelungenes Stück geworden. O-Ton (24) (Saskia Holz): Ich glaub', das Überzeugende ist, dass wir diesen fragmentarischen Charakter des Stückes sehr gut aufgearbeitet haben, das macht auch den Reiz des Stückes aus. Wir haben sehr viele Aspekte des Stückes mit aufgegriffen, und dieser Machtgedanke oder Machtkampf, der ja immer mitspielt, kommt auch gut zum Tragen. 2