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Außer einer Handvoll Visionäre, die die prächtigen Baudenkmale vor dem Abriss retten, ein ganzes Viertel wiederbeleben und die bald stillgelegte S-Bahn- Trasse in einen grünen Parkbogen verwandeln wollen. Wie geht das zusammen? Was bestimmt den Alltag der Menschen im Osten? Und wie lebt es sich eigentlich rund um die Eisenbahnstraße? Ein Länderreport von Stefanie Müller-Frank über den Leipziger Aufbruch Ost. Atmo 1 Regen und Atmo 1b Verkehrslärm Autorin Es dämmert, als ich am hinteren Ende der Eisenbahnstraße ankomme - dort, wo sich die Tram gabelt und die Gründerzeitfassaden in Schrebergartenkolonien übergehen. Die letzten Schaufenster vorm Torgauer Platz sind mir nach vier Tagen seltsam vertraut: Erst der Fanfarenzug TSV Leipzig-Nordost, daneben ein mit Plakaten zugeklebter An- und Verkauf, und an der Ecke dann die Kneipe, in der das kleine Bier bis 18 Uhr nur 70 Cent kostet. Auf dem Bürgersteig harrt stumm eine gelbe Telefonzelle ihrem Abriss - die Kabel wie Eingeweide ausgeschlachtet. Atmo 2 Tram rattert vorbei Autorin Vier Tage bin ich jetzt schon im Leipziger Osten mit dem Mikrofon unterwegs - aber niemand will mit mir reden: Weder die türkischen Einzelhändler auf der Eisenbahnstraße - ihr Geschäft wartet - noch die sorgsam geschminkten Kundinnen im russischen Lebensmittelgeschäft, sie lächeln verlegen zur Entschuldigung. Nicht die Trinker vom Ernst- Thälmann-Platz: "Zu kalt für ein Interview". Und auch nicht die Bewohner aus der Plattenbausiedlung dahinter. Sie schütteln nicht mal den Kopf, gehen einfach weiter - das Gesicht leer, der Handkarren voll beladen. Atmo 3 Ponys wiehern, dann Atmo 4 Futter holen Autorin Ich friere und bin kurz davor, wieder in die Tram Richtung Zentrum zu steigen, als ich die drei Shetlandponys auf einer Brachfläche entdecke. Sie stehen stoisch im Regen, in einer Abrisslücke zwischen zwei verfallenden Gründerzeithäusern direkt am Torgauer Platz. "City Farmers" steht auf einem Schild am Gatter, direkt daneben ein improvisierter Holzverschlag mit Kaninchenställen. Zwei Schaukeln, eine Grillstelle. Ein Mann Anfang 40 kommt mir durch das nasse Laub entgegen und ist sofort bereit, mir beim Füttern ein paar Fragen zu beantworten. Regentropfen rinnen ihm übers Gesicht. O-Ton 1 Andreas Bölke Im Juli haben wir hier angefangen. Das war hier alles komplett zugewuchert. Das war richtiger Urwald, wie dahinten. Da haben wir erstmal anderthalb Monate mit der Kettensäge den ganzen Wildwuchs weggemacht, anderthalb Container waren hier dabei, die wir hier entsorgt haben. Autorin Andreas Bölke hat sich mit ein paar Eltern aus dem Wohngebiet zusammengetan und an einer der lautesten Kreuzungen Leipzigs eine Art Kinderbauernhof aufgebaut. Atmo 5 zu den Ponys Autorin Spielplätze, erzählt der Vater einer neunjährigen Tochter, sind hier im Viertel entweder nicht vorhanden - oder komplett zugemüllt. Also haben sie die Stadt gebeten, ihnen ein Grundstück zur Zwischennutzung zu vermitteln. Pacht müssen die 15-20 ehrenamtlichen Helfer nicht bezahlen, die einzige Auflage des Besitzers: Das komplette Gelände aufräumen und sauber halten. Atmo 5b Ponys vorstellen Autorin Unter Leipzigern ist die Eisenbahnstraße schon deshalb als Ghetto verschrien, weil sich hier Migranten mit ihren Läden angesiedelt haben. Andreas Bölke kennt die Reaktion, wenn er erzählt, woher er kommt. O-Ton 3 Andreas Bölke Aus Ost. Und wenn sie dann fragen, wo denn? Dann weiß jeder hier in Leipzig: Dönerallee. Autorin Der Osten ist sein Zuhause. Aber seit Andreas Bölke eine Tochter hat, ist er von den Problemen des Viertels noch unmittelbarer betroffen. O-Ton 4 Andreas Bölke Wenn man an der Bahnhaltestelle steht und die ihre Drogenpäckchen verschieben oder sich an der Telefonzelle die Spritze setzen - und du stehst mit dem Kind an der Haltestelle oder an der Ampel, dann fragen die Kinder schon, was hier los ist. Atmo 6 Verkehr Autorin Und wenn seine Tochter aufs Gymnasium wechseln will, muss sie den Schulweg in ein anderes Viertel einplanen. Denn rund um die Eisenbahnstraße gibt es bislang keines. Was zeigt, wie sehr der Osten von der Politik vernachlässigt wurde, meint Andreas Bölke. O-Ton 5 Andreas Bölke Wir haben hier viele Probleme im Viertel. Ich kann mich noch daran erinnern, als wir hier die Schönefelder Brücke eröffnet haben, dass der Bürgermeister und seine Kollegen hier mit der Straßenbahn eingefahren sind. Da haben sie drei Tage vorher im ganzen Wohngebiet angefangen, Razzien zu machen, sind selbst in die Häuser rein und haben die Drogenabhängigen rausgeholt. Und nachdem der Bürgermeister das Bändchen durchgeschnitten hat und wieder weg war, ist der Alltag wieder eingekehrt. Atmo 7 in Tram Autorin Fünf Kilometer lang erstreckt sich die Eisenbahnstraße vom Zentrum immer weiter nach Osten raus bis hin zum S-Bahn- Bogen. In der Tram stadtauswärts erfährt man viel über den Alltag jenseits der Visionen: Plastiktüten wechseln - betont unauffällig - die Besitzer, Kinderwagen werden rein- und rausgewuchtet, es wird laut und gestenreich gestritten. Noch zu DDR-Zeiten war die Straße mit ihrer prächtigen Gründerzeitarchitektur eine beliebte Einkaufsmeile, in den Neunzigern siedelte sich hier das Rotlichtmilieu an, heute gammeln viele Fassaden vor sich hin, Türen und Fenster sind mit Brettern zugenagelt, die Schaufenster oft mit Werbeplakaten überzogen. Wer es sich leisten konnte, zog nach der Wende weg. Und so stehen heute ganze Straßenzüge leer. Vor allem in den Seitenstraßen. O-Ton 6 Uwe Lotan Man läuft Straßen entlang, die hohen Leerstand haben - und plötzlich springen Leute aus dem Fenster im Erdgeschoß mit einem Rucksack drauf. Oder verschwinden in Häusern. Metalldiebe, die in den Häusern sich vergreifen und alles mitnehmen, was noch zu haben ist. Oder generell: Man geht an Häusern vorbei und es kommt so ein Geruch von Tod heraus. So ein ganz fauliger Geruch von Kellern, von unangenehmen Schwämmen und Verwesung. Wie so ein Grabgeruch, der einem gerade in Nebenstraßen entgegenweht. Autorin Uwe Lotan lebt seit einem Jahr an der Wurzner Straße, einer lauten Verkehrsachse parallel zur Eisenbahnstraße. Der angehende Architekt hat die vergangenen Jahre in Berlin und Tel Aviv verbracht, hier im Leipziger Osten fühlte er sich anfangs zurückversetzt in seine Jugend. O-Ton 7 Uwe Lotan Es hat mich an Chemnitz erinnert in den neunziger Jahren. Die vielen traurigen oder verschlossenen Gesichter sind mir aufgefallen. Zum Teil auch ausgefegte Straßen. Quartiere, wo man sich schon sehr einsam fühlt - manchmal wie auf einem anderen Stern. Oder wie in einem Film. Ich habe mich auch hier im Haus anfangs unwohl gefühlt. Ich habe draußen geguckt: Werde ich beobachtet? Wie ist die Nachbarschaft? Aber dann habe ich mich entspannt und konnte mich darauf einlassen. Autorin Uwe Lotan wollte auch selbst dort wohnen, wo er als Architekt gebraucht wird. Der 35-Jährige arbeitet für "HausHalten" - einen Verein, der sich für den Erhalt von Leipzigs Gründerzeitarchitektur einsetzt. Viele dieser repräsentativen Eckhäuser mit Stuckfassaden, Erkern und Giebeln liegen an den großen Ausfallstraßen - oft in vernachlässigten Vierteln wie dem Leipziger Osten. Die Mieten hier sind niedrig - es lohnt sich für die Eigentümer nicht, ihre Häuser zu renovieren. Deshalb verfallen sie immer weiter - können irgendwann nur noch abgerissen werden. Um das zu verhindern, hat sich der Verein "HausHalten" Ende 2004 das Modell der sogenannten Wächterhäuser ausgedacht: Wer sich verpflichtet, eine Wohnung wieder halbwegs in Stand zu setzen und nach ihr zu schauen, darf sie gegen Zahlung der Betriebskosten für fünf Jahre zwischennutzen. überblenden in Atmo 8 auf Eisenbahnstraße Autorin Vor allem unter Studenten ist das Modell beliebt, erzählt Uwe Lotan, die Wartelisten sind lang. Nur in den Osten wollte lange niemand. O-Ton 8 Uwe Lotan Es war schwierig für uns, Mietinteressenten bzw. Nutzer von Wächterhäusern im Osten zu finden. Das war so der Trend in den vergangenen fünf bis sechs Jahren. Und es hat sich jetzt eigentlich umgekehrt. Autorin An den Häuserfassaden erkennt man diese Trendwende noch nicht. Aber man hört immer wieder mal von Leuten, denen die Mieten im Westen zu teuer werden, von Wohngruppen, die sich ein Haus im Bülowviertel - am ruhigen Ende der Eisenbahnstraße suchen - ja von einem ganzen Häuserblock, in den Ateliers einziehen sollen. Der Osten entwickelt sich im Verborgenen, meint Uwe Lotan. O-Ton 9 Uwe Lotan Weil sie meistens in ihren Häusern wirtschaften, sich da ihre Wohnungen einrichten. Gerade in den Häusern, mit denen ich in Kontakt bin. Das ist nach außen nicht sichtbar, die Häuser sind außen nach wie vor unsaniert, grau. Man denkt, da passiert nichts, aber trotzdem werkeln da drin so an die 20, 25 Leute an ihren Wohnungen, sanieren ihre Öfen und schleifen ihre Fußböden ab. Da ist eine ganze Menge im Gang, aber das merkt man auf der Straße nicht unbedingt. Es gibt also noch keine Clubs oder Bars. Autorin Uwe Lotan zeigt auf ein Ladenlokal, an dem sich gut erkennen lässt, welche Entwicklung die Flaniermeile in den letzten zwanzig Jahren durchgemacht hat: Das offizielle Ladenschild verspricht noch Saat- und Pflanzgut von Walter Blume, die Einrichtung deutet auf ein ausgezogenes Spielcasino hin, heute beherbergen die Räume einen Spätverkauf. Atmo 8b an der Kasse Autorin Trotz der Kälte stehen die Betreiber vor ihren Geschäften, preisen ihre Waren an oder stecken die Köpfe zusammen. O-Ton 10 Uwe Lotan Das mag ich an der Eisenbahnstraße: Dass dort vor allem die Neuankömmlinge - vor allem Migranten - rausgehen aus ihren Wohnungen und die Straße als Einzige beleben. Sie sind diejenigen, die sich dort vor ihren Läden versammeln und mit Freunden treffen. Was auch immer da geschieht, will ich nicht hinterfragen. Aber es findet dort überhaupt mal ein Straßenleben statt. Während sich die deutsche Urbevölkerung hier eher vor dem Fernseher tagsüber die Zeit verbringt. Atmo 9 beim Einkaufen Autorin Unter Leipzigern ist die Eisenbahnstraße als Drogenumschlagplatz berüchtigt. Als Asena Kahraman 2006 aus dem Leipziger Süden hierhin zog, waren ihre Freunde schockiert. O-Ton 11 Asena Kahraman Das passiert mir jetzt noch: Wenn ich sage, ich wohne in der Eisenbahnstraße. Was? In der Eisenbahstraße? (lacht) Ehrlich? Das ist doch gefährlich. Autorin Die studierte Medizinerin lacht laut, der Verkäufer im türkischen Lebensmittelladen schaut sich verstohlen nach ihr um. Asena Kahraman ist zum Islam konvertiert, hat in eine türkische Familie eingeheiratet und leitet heute zwei Baufirmen. Die Sächsin mit Kopftuch liebt alte Häuser. All der Abriss - ist doch schade um die Bausubstanz, sagt sie. Zusammen mit ihrem Mann und dessen Bruder wollte sie ein Haus kaufen - und im Leipziger Osten brauchte sie dafür keinen Kredit von der Bank. Die Eisenbahnstraße findet sie nicht gefährlich, eher etwas schmutzig. O-Ton 12 Asena Kahraman Die Stadt hat das ein bisschen verbummelt. In den Süden oder Westen ist schon was reingesteckt worden - und plötzlich hat man festgestellt: Hups, im Osten, den haben wir ja ganz vergessen, hier ist ja keiner mehr, die ziehen alle weg. Und da war dann halt die Idee: Warum siedelt man nicht finanzstarke Leute mit Migrationshintergrund vor allem in die Geschäfte der Eisenbahnstraße an? Weil die Straße war als Einkaufsstraße tot. Autorin Heute kann Asena Kahraman den Trinkjoghurt Ayran für ihre Tochter beim Türken nebenan kaufen. Auch iranische, russische oder vietnamesische Lebensmittelgeschäfte haben genau dort aufgemacht, wo sich die muttersprachlichen Kunden niedergelassen haben. Atmo 10 mit Tochter im Laden Autorin Im Osten der Stadt leben nicht nur die meisten Migranten von Leipzig, sondern auch die meisten Kinder. 20 Prozent der Bevölkerung ist hier unter 18. Und wenn ihre Tochter zum Ballett will, dann fährt sie Asena Kahraman eben mit dem Auto hin. O-Ton 13 Asena Kahraman Kurioserweise fahre ich desöfteren auch mit meiner Tochter auf den Spielplatz in den Süden. Ich komme ursprünglich aus dem Süden, ich habe also auch noch Bekannte dort, und dann treffen wir uns dort auf dem Spielplatz. Autorin So viel die 46-Jährige bewegt im Viertel, so sehr sie das bunte Leben auf der Eisenbahnstraße mag - manchmal braucht Asena Kahraman auch mal eine Verschnaufpause vom Osten. An Wegziehen hat sie aber nie gedacht. O-Ton 14 Asena Kahraman Es bewegt sich ja nur was, wenn die Menschen, die hier leben, was gemeinsam machen. Und wenn dann die, die sagen, mir gefällt es nicht so, wenn die als Konsequenz nur wegziehen - dann wird es ja auch nicht besser. Atmo 11 Krähen und Atmo 12 Schritte Autorin Das neue Lieblingsprojekt der Visionäre heißt: Parkbogen Ost. Seit die Deutsche Bahn angekündigt hat, die östliche S- Bahn-Trasse im Dezember 2012 stillzulegen, sind Uwe Lotan und seine Mitstreiter vom Netzwerk für Stadtnatur und der Stiftung Bürger für Leipzig mit ihrer Idee an die Öffentlichkeit getreten: Den ausgedienten Bahndamm in ein grünes Band zu verwandeln. In ein begrüntes Rückgrat, das die auseinander gerissenen Stadtteile und Grünanlagen zusammenbindet. Also nicht einfach eine Baumreihe auf dem Bahndamm, sondern Radstrecken entlang der ausgedienten Schiene oder Spazierwege über alte Industriedächer hinweg. Atmo 12b S-Bahn Autorin Karsten Gerkens, den Leiter des Amts für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung, hat die Idee sofort überzeugt. Er steht auf dem S-Bahnhof Sellerhausen am Ende der Eisenbahnstraße und blickt über die Dächer und Kleingärten bis zum Völkerschlachtdenkmal. O-Ton 15 Karsten Gerkens Das ist wie so eine Perlenschnur: Die Perlen fliegen in der Gegend rum und ergeben keinen Sinn, wenn man sie nicht auffädelt. Wenn man sie nicht in Beziehung setzt und verbindet und der Parkbogen ist diese Schnur, auf der man diese Perlen aufziehen kann. Autorin Auf dem ausgedienten Bahndamm ließe sich ins Zentrum radeln, ohne dem Verkehr auf der Eisenbahnstraße ausgesetzt zu sein. Und noch wichtiger: Die Perlenschnur eines Parkbogens könnte dem Osten zu einer neuen Identität verhelfen. O-Ton 16 Karsten Gerkens Da haben wir hervorragende Erfahrungen gemacht, dass quasi das Drehen von der alten Rückseite zu einer ganz neuen Wertigkeit, zu einer Vorderseite, mit dem Wasserthema in Leipzig: Das waren früher die Kloaken, da wollte kein Mensch hin. Das ist heute absolut beliebt. Atmo 13 Eisenbahnstraße O-Ton 17 Jens Kluge Es ist das bunteste und am meisten unterbewertete Viertel. Wir haben hier einen riesigen Migrationshintergrund - gerade in der Straße hier. Deshalb von vielen Leipzigern gemieden. Nicht so hip wie Connewitz oder Südvorstadt. Und damit auch noch gut, weil authentisch. Autorin Wenn es nach Jens Kluge ginge, müsste der Osten nicht aufgehübscht, sein Ruf nicht getunet werden. Lockt nur die Falschen an, meint er. Der 43-Jährige ist an der Eisenbahnstraße aufgewachsen und betreibt hier seit August 2011 einen Boxclub. Atmo 14 vor Boxclub O-Ton 18 Jens Kluge Sie kriegen heute kaum noch Deutsche zum Sport: Es ist anstrengend, es wird eine Leistung abgefordert, die über dem Schulsportbereich liegt, und dann haben Sie bei den Deutschen eine viel zu große Freizeitauswahl. Und bei den Jungs hier - Migrationshintergrund, 26 Jahre - die wollen mit ihrem Sport was erreichen. Das ist eine sehr gute Grundkonstellation fürs Boxen. Atmo 15 Seilchenspringen Autorin Jens Kluge kann sich noch gut an die Zeit vor der Wende erinnern, als die Eisenbahnstraße noch eine beliebte Flaniermeile war - sogar zwei Kinos gab es damals. O-Ton 19 Jens Kluge Also Sie haben zum Beispiel hier auf der linken Seite diesen großen türkischen Lebensmittelladen gesehen? Das war ein Stoffe- und Knopfladen. Also das war für ein Kind sensationell: Hundert verschiedenen Schubkästen, Knöpfe. Zum Beispiel dieser Optiker Maul, der war schon in der DDR hier. (Aber das ist eine Ausnahme, oder?) Es ist jetzt in der Eisenbahnstraße der letzte Laden, der noch von damals ist. Ansonsten ist hier halt nichts mehr. Autorin Die Einzigen, die fast geschlossen im Viertel blieben, erzählt Jens Kluge, waren die Bewohner der Plattenbausiedlung rund um den Ernst-Thälmann-Platz. Ende der Achtziger, kurz vor der Wende war das Neubaugebiet zwischen Eisenbahn- und Wurznerstraße fertig geworden. Wer hier in die Wohnungen mit beheizten Innenbädern einziehen durfte, war privilegiert in der DDR. Nur 25 Jahre später wirken die Plattenbauten runtergekommen und trostlos. Atmo 16 auf der Straße Autorin Nach Einbruch der Dunkelheit laufe ich mit Felix Lefrank durch die Plattenbausiedlung. Der Kunststudent ist im Sommer um die Ecke in eine Altbauwohnung vom Verein "HausHalten" gezogen, die er jetzt gegen eine kostengünstige Miete selbst ausbaut. O-Ton 20 Felix Lefrank Das sind tote Ecken hier. (Weil es nur Wohnen ist? Du gehst hier sonst nie durch?) Doch. Unser Netto ist da, doch. Also wir gehen immer in den Ghetto-Netto, der da um die Ecke ist und in so einen Plattenbau integriert ist. Aber ansonsten hat man hier überhaupt nichts verloren. Die Straßen sind hier noch leerer, als man es sonst so kennt im Osten. Autorin Felix Lefrank liebt es, durch den Leipziger Osten zu streifen und sich verlassene Gebäude anzuschauen. In den ersten Monaten, erzählt er, hatte sich sein Schlafrhythmus vollkommen verkehrt, weil er ständig nachts unterwegs war. O-Ton 21 Felix Lefrank Wenn ich irgendwas finde, was leersteht, dann gehe ich rein. (Warum?) Weil das steht meistens noch voller altem Zeugs. Also so alte Möbel oder Fotos. Überraschung - was man da drin finden kann. Und natürlich die Locations selbst. Also wer in so einer riesigen Fabrikhalle mal war - ist wild, was man davon so mitnimmt. Außerdem ist es ein Spieltrieb. (Hast du eine Lampe?) Ja. Atmo 17 an Bauzaun vorbei Autorin Mitten in einem Plattenbaublock stehen wir plötzlich vor einem Bauzaun, dahinter modert eine alte, zugewucherte Fabrik wie eine Burg aus dem Mittelalter vor sich hin. Felix Lefrank ist schon mehrmals hier gewesen - weiß, wo ein Kellerfenster offensteht. Atmo 18 in Keller klettern Autorin Mit dem Aufnahmegerät um den Hals zwänge ich mich über nasses Laub in das Kellerloch. Ein süßer Geruch von Kot und Verwesung kommt mir entgegen. Felix Lefrank leuchtet die Tür an: Sie ist mit Holz zugenagelt. Zu spät. Vielleicht ist das bisher das untrüglichste Signal dafür, dass hier etwas passiert. Aufbruch Ost? Dem Kunststudenten Felix Lefrank klingt das zu optimistisch. Die Stadt, meint er, hat gesehen, wie es im Leipziger Westen funktioniert hat - und versucht jetzt mit allen Mitteln, diese Entwicklung auch für den Osten anzuschieben. O-Ton 22 Felix Lefrank Also man hat so das Gefühl, dass man Teil eines größeren Spiels ist, das die Stadt lange am Reißbrett geplant hat. Weil man natürlich auch sieht, wie die Stadt aufgewertet wird durch so eine Gentrifzierung. Also wenn man sich den Westen anschaut: Komplett beschildert mit Westkultur. Die Stadt legt so viel Wert auf diese Subkultur, die da entstanden ist, dass die Leute sich permanent davon distanzieren und wegwollen sozusagen wieder. Also die, die das initiiert haben, haben die Schnauze voll, weil sie merken, dass die Stadt das eben ausnutzt. 2