COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft: 4.März 2010 Redaktion: Peter Kirsten Die Antwortautomaten Suchmaschinen der Zukunft Von Katharina Teutsch Atmo 1: Auszüge aus Quizshows (spannende, typische Momente zwischen Quizmaster und Ratendem): mit Joachim Kuhlenkampf, Hans Rosenthal und Jörg Pilawa (Ausschnitte sind vorhanden!) Sprecher: Es gibt sie schon lange, wahrscheinlich schon immer: die Lust am Suchen, am Raten und am Finden. In nur wenigen Jahren haben wir uns an die Dienste von Suchmaschinen gewöhnt. Sekundenschnell lassen sich Namen, Adressen, Fakten und Meinungen per Mausklick beschaffen. Suchmaschinen sind unsere Lotsen im Alltag. Sprecherin: Doch die digitale Datenmenge wächst! Jeden Tag um 15 Milliarden tausendseitige Bücher! 90 Prozent dieser Daten, das schätzen Experten, sind unstrukturiert; schon auf mittlere Sicht werden sie für niemanden mehr auffindbar sein. Semantische Suchtechnologien, Systeme also, die inhaltliche Beziehungen zwischen den einzelnen Informationen herstellen, sollen diese Datenlawine demnächst verarbeiten. "Brainlike" soll sie sein, die Suchmaschine der Zukunft. O-Ton 1_Wahlster ('34): Die Suchmaschinen der nächsten Generation müssen erheblich intelligenter werden, denn Sprache ist ja im wesentlichen das Medium, mit dem Wissen transportiert wird, das heißt, der Computer muss in die Lage versetzt werden, menschliche Sprache zu verstehen, er muss Bilder interpretieren können, aber darüber hinaus müssen wir mit Methoden der Künstlichen Intelligenz dafür sorgen, dass der Computer auch eigene Schlussfolgerungen über das Wissen, das ihm bereitsteht, ziehen kann, um menschliche Fragen dann auch wirklich gut beantworten zu können. Sprecher: Sagt Wolfgang Wahlster, Direktor des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz in Saarbrücken und Gründungsmitglied von "Theseus" ? einem bundesdeutschen Forschungsprogramm zur Entwicklung nationaler Wissensinfrastrukturen im Internet. Sprecherin: Suchmaschinen, die bekannteste ist Google, arbeiten bislang mit Schlagwörtern. Man gibt einen Begriff vor und die Maschine sucht per Textabgleich im Internet nach Dokumenten, in denen dieser Begriff eine Rolle spielt. Was die Suchmaschine Google nicht kann: Sie liefert keinen qualitativen Hinweis auf die Information. Sie ordnet nicht ein. Sie sortiert Wissen weder vor noch bereitet sie es auf. Google funktioniert in Schlagwörtern und nicht in Sätzen. O-Ton 2_Wahlster ('26): Die heutigen Suchmaschinen, die machen ja ganz einfache Buchstabenvergleiche. Davon müssen wir wegkommen. Wir wollen Antwortmaschinen haben, statt Suchmaschinen, die eine Frage, die ich ganz normal in deutscher Sprache formuliere, präzise beantworten und mir nicht einfach nur eine Liste von Referenzen auf irgendwelche Dokumente geben, die ich dann selber durchlesen muss, und in der ich vielleicht, wenn ich Glück habe, die eigentlich gewünschte Antwort finde. Sprecher: Der Weg von der Suchmaschine zum Antwortautomaten führt die Forschung heute über zwei wesentliche Fragestellungen: Wie kann ein System Ordnung ins Datenchaos bringen? Und: Wie können intelligente Suchmasken dem Menschen in Zukunft besser zuarbeiten? Computerlinguisten konzentrieren sich dabei auf die Ebene des inhaltlichen Verstehens von Sprache, wozu neuerdings auch die Erkennung von Bildern gehört. Ende des letzten Jahres hat der Suchmaschinen-Riese Google einen neuen Dienst namens "Google Goggles" vorgestellt. Darin vergleicht Google die von seinen Nutzern selbst geschossenen Fotos von Bauwerken oder Konsumgegenständen ? vielleicht auch bald von Menschen ? mit den Beständen seiner Datenbank. Das Magazin "Spiegel" notierte Anfang Dezember alarmiert: "Google baut den Weltscanner". Datenschützer fürchten: Sprecherin: Je mehr Menschen im Internet Details über sich preisgeben, desto größer könnte der Datenvorrat Googles eines Tages werden. Und es stellt sich die Frage: Was passiert mit diesen Daten? Sprecher: Doch gehen wir zunächst einen Schritt zurück: Egal ob es um Bilder geht oder um Sprache: Intelligente Suchmaschinen arbeiten mit Begriffssystemen. Komplexe Algorithmen gleichen Suchbegriffe und vorhandene Datenbestände miteinander ab und stiften so einen Rahmen, in dem sich Informationen zu einer sinnhaften Aussage verknüpfen lassen. Für Wolfgang Wahlster ist die Suchmaschine der Zukunft deshalb ein Intelligenzverstärker, vergleichbar einer Prothese des menschlichen Gehirns. Hier öffnet sich das weite Feld der Hirnforschung. Atmo: Musikakzent Sprecherin: Will ich wissen "wann fährt der nächste Zug von Berlin nach Frankfurt?", dann ist das auf neuronaler Ebene noch vergleichsweise einfach zu beantworten. Schwieriger wird es mit: "Wo kann ich einen Jaguar kaufen?". Eine Suchmaschine, die mit einer solchen Frage konfrontiert ist, muss nämlich zunächst die Raubkatze von der Automarke zu unterscheiden lernen. Das menschliche Gehirn löst solche Kategorienfragen in Sekundenbruchteilen. Es assoziiert, es sortiert, es verwirft ? und kommt simultan zu einem Ergebnis. O-Ton 3_Pöppel ('36): Meines Erachtens ist es so, dass in den ganzen Automaten die Grundoperation des menschlichen Geistes überhaupt gar nicht vertreten sind. Also zum Beispiel: Wie funktionieren wir beide? Wenn wir Wissen generieren oder wenn wir nachdenken oder eine Lösung brauchen, das erste ist, dass wir eine Kategorie definieren müssen: Was ist das eigentlich, worüber wir nachdenken wollen? Also die Identität von Etwas als Etwas zu bestimmen, das sind die Materialien des Denkens oder des Wissens. Witzigerweise gibt es dafür überhaupt kein Wort. Ich hatte mal vorgeschlagen das Wort "das Denk" zu erfinden. Sprecher: Ernst Pöppel hat das Wort "Denk" bislang nicht durchsetzen können. Der Leiter des Instituts für medizinische Psychologie der Ludwig Maximilian Universität in München ist jedoch überzeugt, dass die Hirnforschung wesentlich zur Lösung des Informationsproblems im Bereich der neuen Suchmaschinen beitragen kann. So wie das menschliche Gehirn sinnhafte Aussagen aus dem "Rauschen der Informationen" herausfiltert ? das hat uns das Jaguar-Beispiel gezeigt ? , so muss auch eine intelligente Suchmaschine einen Rahmen schaffen ? einen Rahmen, in dem eine Aussage gültig ist. Die Schwierigkeit dabei: Menschen denken nicht nur in sprachlichen, also algorithmisierbaren Kategorien, sondern auch in emotionalen, metaphorischen oder sozialen. Unmöglich also, einen derart komplexen Vorgang wie das Denken komplett zu simulieren. O-Ton 4_Pöppel ('42): Und ich glaube, man sollte gar nicht diesen hehren Anspruch haben, dass semantische Suchmaschinen alles können. Dass in einem engen Rahmen, in einem bestimmten Kontext, Wissen jeweils extrahiert werden kann, das glaube ich schon. Aber man soll um Gottes willen nicht meinen, dass man das in einer perfekten Weise tun kann. Weil zwischenmenschliche Kommunikation ist beliebig kompliziert. Man redet permanent aneinander vorbei. Wobei Männer und Frauen sowieso immer aneinander vorbeireden. Also, den gemeinsamen Kern des Wissens, des Verstehens, zu erarbeiten im sprachlichen Bereich ist beliebig schwierig und ist sowieso unerfüllbar. Deswegen sollte man auch gar nicht erst den Anspruch an Maschinen erheben, dass sie noch besser sind als Menschen. Das geht gar nicht. Sprecherin: Das Denken ist also weder eine einfache noch eine einsame Tätigkeit. Und genau das haben innovative Suchdienste wie Theseus, die semantische Suchmaschine Wolfram Alpha oder der auf Assoziationsketten beruhende EyePlorer heute erkannt. Denkinhalte können durch einen einfachen heuristischen Trick besser denn je identifiziert werden: nämlich im Dialog. Suchdienste entwickeln sich deshalb zunehmend weg von bloßen Stichwortgebern hin zu echten Gesprächspartnern des Menschen. Atmo: Musikakzent Sprecher: Dazu passt: Google hat gerade einen neuen Dienst vorgestellt, der alle einschlägigen sozialen Netzwerke wie Facebook oder Twitter auf einer einzigen Seite zusammenführt. Nutzer, die einen Mail-Account bei Google besitzen, können sich in Echtzeit über die Onlineaktivitäten Ihrer Freunde und Bekannten informieren. Google fasst alles bequem zusammen ? nicht einmal eine Anmeldung ist nötig, wirbt das Unternehmen. Sprecherin: Google will also in Zukunft nicht nur eine Supersuchmaschine sein, sondern auch ein soziales Supernetzwerk. Durch die Art, wie es genutzt wird, lernt Google eine Menge über die persönlichen Vorlieben und Eigenschaften seiner Nutzer. Dieses Wissen kann bei einer künftigen Google-Suchanfrage berücksichtigt werden. In dieser geschickten Kombination aus Hochleistungsmathematik und kluger Netzwerkführung könnte sie liegen: die Zukunft des Wissens im digitalen Zeitalter. Der Hirnforscher Ernst Pöppel: O-Ton 5_Pöppel ('33): Es ist so, dass der Sucher und der Besuchte, vielleicht also das Netz, auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren. Das geschieht bisher ja nicht. Das heißt, dass Angebote gemacht werden, die auch verworfen werden können. Dass man sich eigentlich miteinander unterhält. Wie in einem menschlichen Gespräch, wenn man zum Beispiel ein gemeinsames Problem erarbeiten will. Und das ist, glaube ich, die wirkliche Herausforderung: also das Netz, das Wissen sozusagen, nicht als eine Bibliothek zu nutzen, die nur rumliegt, in der ich irgendwas aus dem Regal ziehe, sondern, gemeinsam es zu erarbeiten. Atmo: Musikakzent Sprecher: Ist Denken also eine Dienstleistung des Wissens? Wenn das Internet seinen Benutzern nicht mehr nur als Bibliothek dienen soll, sondern auch als einordnende Instanz, was genau denkt die Maschine dann? Sprecherin: Der Hirnforscher Martin Hirsch von der Marburger Gesellschaft für interaktive Medien "Interactivesystems" ist Erfinder einer alternativen Suchmaschine. Mit dem schon erwähnten "EyePlorer" hat der Enkel des Nobelpreisträgers Werner Heisenberg ein System entwickelt, das Informationen durch intelligente Rückfragen an seine Benutzer und durch Assoziationen zu neuartigen Aussagen verknüpft. O-Ton 6_Hirsch ('26): Das kann man sich etwa so vorstellen: Ich will verstehen wie Autismus und Impfung bei Kindern zusammenhängt. Ich gehe also zu Google, gebe ein "Autismus" und "Impfung". Und dann krieg ich eine Liste von Verweisen auf Dokumente, englische, deutschsprachige und ich ahne: ja, irgendwas hat das ganze miteinander zu tun, aber man muss halt Wissenschaftler sein, um sich durch diese Originalliteratur zu lesen und das dann zu verstehen. Sprecher: Um bei der Suche die ermüdenden und vor allem oft ergebnislosen Zwischenschritte zu sparen, setzt Martin Hirsch auf ein anderes Prinzip: O-Ton 7_Hirsch ('33): Unsere Maschine wird es eines Tages so machen: in dem einen Dokument hat sie diese Information gelesen, in einem zweiten Dokument hat sie eine andere Information gelesen, in einem dritten Dokument hat sie noch eine andere Information gelesen. Und wenn ich jetzt diese drei unterschiedlichen Informationen aus diesen drei unterschiedlichen Dokumenten herauslöse und neu zusammenstöpsle, hintereinander schalte, dann entsteht ein neuer Sinnzusammenhang. Und dieses dokumentübergreifende Zusammenführen von Information zu neuem Wissen, das ist für mich Denken. Sprecherin: Schaffen wir also bei der Entwicklung eines Antwortautomaten zwangsläufig auch eine Denkmaschine? Ist die Supersuchmaschine der Zukunft ein Superhirn, das Informationen nicht nur auffindet, sondern auch bewertet? Eine Maschine, die ihren Benutzer beobachtet, die Rückschlüsse zieht auf sein Alter, sein Geschlecht, seinen Bildungsgrad, seine Interessen? Ging es im sogenannten Web 2.0 noch darum, sich über Foren, Plattformen oder Videoportale aktiv an der Gestaltung des Internets zu beteiligen, beteiligt sich das Internet der Zukunft an unserem Leben. Es unterbreitet uns Vorschläge für unsere Freizeitgestaltung oder ? der Online-Buchhandel tut dies schon heute ? gibt uns Hinweise auf Produkte, die uns interessieren könnten. Martin Hirsch: O-Ton 8_Hirsch ('27): Das Web 3.0 ist der Übergang vom e- Business zum me-Business. Das heißt, ich gehe nicht mehr aktiv irgendwo hin, um dort etwas zu bekommen, sondern ich stelle nur noch mein Bedürfnis ins Internet und dann kommen die Angebote von alleine. Das heißt, es gibt Services im Internet, denen ich nur noch mein Problem schildere und die Services lösen dieses Problem für mich. Sprecher: In Zukunft werden die Angebote aus dem Internet durch die massenhafte Verbreitung der neueren Touchscreen- Technologien noch besser nutzbar. Die Forschung geht davon aus, dass allein zehn Prozent unserer Gehirnleistung auf den Pinzettengriff zurückgeht ? also auf den Kontakt über das Auge, zur Hand, zum Gegenstand. Wie die neuen Suchmaschinen kennen auch Geräte wie das iPad von Apple oder sämtliche Telefone der Produktpalette "Smartphone" nur ein Ziel: den barrierefreien Austausch zwischen Mensch und Maschine. O-Ton 9_Hirsch (41'): Wenn ich also heute etwas google, dann bin ja immer ich derjenige, der die Intelligenz da reinbringt. Ich werfe Google was zu; er schmeißt mir einen Stapel Dokumente vor meine Füße und dann muss ich weitersehen. Was mir vorschwebt ist ein Device, dem ich mein Problem schildere. Er fragt mich 2,3 Mal zurück, dann sagt er: ok, ich glaub' ich hab's verstanden. Dann meldet der sich nach kurzem wieder und erzählt mir eine Geschichte. Sei es, dass er mir das über meinen Kopfhörer ins Ohr erzählt oder auf meinem kleinen I-phone-Device als Film präsentiert oder als so eine Art Mischung aus all dem. Er erzählt mir eine Geschichte zu meinem Aufenthaltsort, zu meinem Thema, das mich gerade interessiert. Atmo: O-Ton 10_Hirsch ('55): Die Bedeutung von Google selber wird gar nicht mal so viel kleiner werden, als sie es heute ist. Vielleicht kriegen die noch Konkurrenz durch Bing, was ich mal vermute, aber das spielt alles gar keine große Rolle. Die werden ihre Rolle haben, nämlich die Rolle des Bibliothekars. Die Rolle desjenigen, der mir zeigt, wo ich weitere Informationen finde. Aber neben Bing und neben Google werden Wissensmaschinen kommen. Das ist für mich so sicher, wie das Amen in der Kirche. Das sind aber Maschinen, die haben einen anderen Anspruch, mit denen kann ich mich unterhalten, die benutze ich nicht dafür, um irgendwelche Dokumente zu finden, sondern die benutze ich, um unmittelbar neue Informationen zu bekommen, wie ich mich mit einem anderen Menschen unterhalte. Und das ist einfach eine neue Generation von Maschine, eine neue Kategorie von Service, die im Internet entstehen wird. Und die wird ganz parallel zu Google existieren. Sprecherin: Wenn die Maschine mich demnächst besser versteht als mein bester Freund es jemals könnte; wenn sie vorgibt, was ich zu wissen und zu wollen habe: steckt darin nicht die Gefahr, dass der denkende Mensch überflüssig wird? Wolfgang Wahlster: O-Ton 11_Wahlster ('19): Wir wollen ja keinen biologischen DNA- Computer bauen und keinen Homunculus und keinen Frankenstein. Menschen gibt's ja zum Glück genug, manche sagen zu viel und das wäre nun Quatsch, wenn wir die würden komplett nachbauen wollen. Wir wollen ja in der Wissenschaft Dinge bauen, die etwas können, was der Mensch nicht kann. Sprecher: ... und das ist Rechnen ? rechnen mit unendlichen Datenmengen, rechnen mit unbegrenzten Möglichkeiten, rechnen mit vielen Variablen. Die Forschung hat hier schon viel erreicht. Nur der Mensch, meint Hirnforscher Ernst Pöppel, der lässt sich nun mal nicht berechnen. Also auch an dieser Front ? Entwarnung. O-Ton 12_Pöppel ('31): Es ist zwar im Prinzip möglich, und das sind Ergebnisse der modernen Hirnforschung, dass man feststellen kann mit modernen bildgebenden Verfahren, ob jemand, was weiß ich, sieht oder hört, aber es ist nie möglich ? und zwar im Prinzip nicht möglich ?, die genauen Inhalte des Mentalen eines anderen Menschen zu berechnen. Und damit ist eine Simulation meiner selbst oder ihrer selbst nicht möglich. Ich bin nicht berechenbar, sie sind nicht berechenbar. Wir bleiben sozusagen in diesem Sinne immer eine Insel. Atmo: Musikakzent Sprecherin: Und dennoch bleibt die Frage, wie sich unser Umgang mit dem Wissen verändern wird. Welchen Stellenwert werden Lehrbücher, Enzyklopädien und Fachbücher in Zeiten der Echtzeitsuche im Internet noch haben? Detailwissen könnte schon bald der Vergangenheit angehören, Mnemotechnik ? Gedächtnisleistung ? zu einer aussterbenden Kulturtechnik werden. Sprecher: Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho von der Humboldt-Universität in Berlin unterscheidet bei der Bewertung dieses Phänomens zwei epistemische Grundformen: unser Alltagswissen, das im Internet durch praktische Impulse bereichert wird. Und unser Reflexionswissen, das im Internet eher selten Verbündete findet. Damit sind von Journalisten bis hin zu Wissenschaftlern all diejenigen betroffen, die professionell mit Wissen zu tun haben. O-Ton 13_Macho (01'06): Da geht's um Recherche und da gibt's ein Problem, das durch diese Formen von intelligenten Suchmaschinen nicht gelöst wird, nämlich das Problem der Authentifizierung. Also, wenn mir das Handy sagt, da drüben ist ein McDonalds und der hat jetzt gerade deine Wopper, die du so gerne isst, wie ich aufgrund meiner Rechungen und meiner Recherchen weiß, dann ist das ja eine Information, die mir hilft, an irgendein Lieblingsessen zu kommen und in dem Sinn automatisch authentifiziert wird. Das heißt, ich habe dann nicht das Problem, dass ich überprüfen muss, ob McDonalds das wirklich anbietet, weil ich im Zweifelsfall, wenn ich Hunger habe, über die Straße gehe und mir den besagten Wopper kaufe, und dann weiß ich's eh. Bei Informationen, die mir jetzt zum Beispiel sagen, irgendwelche Naturwissenschaftler haben außerirdisches Leben entdeckt, da habe ich ein anderes Problem: Da habe ich das Problem, woher kommt diese Nachricht, wie kann ich feststellen, ob sie authentisch ist oder wie kann ich feststellen, ob sie überhaupt nur seriös ist oder wie kann ich feststellen, dass ich nicht irgendeinem Esoterikquatsch aufgesessen bin? Sprecherin: Der Professor teilt also ein Problem mit seinen Studenten. Er muss nämlich etwas betreiben, das man Quellenkritik nennt. Das Risiko heute ist groß, Wissen durch schnelllebige Informationen und Meinungen zu ersetzen, eine Hausarbeit etwa auf Wikipedia zusammenzusuchen oder ganze Absätze aus gescannten Fachbüchern einfach herauszukopieren. Kevin Kelly, der Herausgeber der amerikanischen Zeitschrift für Netzkultur "Wire", schreibt dazu passend: Zitator: "Die Entstehung von Blogs und Wikipedia geht genau auf diesen Impuls zurück: erst zu handeln (schreiben), dann zu denken (filtern)" Sprecher: ? wenn dann überhaupt noch Zeit dazu bleibt, könnte man hinzufügen. Denn es wäre ja durchaus denkbar, dass angesichts mobiler Wissensspeicher in Zukunft nur noch dünne intellektuelle Bretter gebohrt werden. Da das Wissen im Internet ja immer vorhanden ist ? Google hat bereits 10 Millionen Bücher gescannt ? wird es in Zukunft nicht einmal mehr nötig sein, sich für die Beschaffung von Informationen in eine Bibliothek oder ein Archiv zu bequemen. Verflacht das Wissen des Einzelnen in diesem Szenario also zu Gunsten eines im Kollektiv vor sich hinwachsenden Weltwissens? Thomas Macho blickt trotz der immer horizontaleren und weniger tiefen Ausbreitung des Wissens optimistisch in die Zukunft. O-Ton 14_Macho ('42): Also dieser horizontalere Wissensbegriff, das ist ja auch heute schon bemerkbar und vorstellbar, das greift jetzt schon ein bisschen um sich und das ist ein Risiko. Aber auf dieses Risiko kann man natürlich reagieren, genauso wie man auf die Beobachtungen der Klimaforschung reagieren kann. Ob man jetzt ausreichend und angemessen darauf reagiert, das ist dann eine andere Frage. Aber man antwortet darauf. Das wird da auch passieren, also da bin ich eigentlich ganz optimistisch ? in dem Moment, wo jemand draufkommt, dass unser Problem nicht mehr die Frage ist, wie komme ich an Informationen, vielleicht auch irgendwann nicht mehr die Frage ist, wie komme ich an authentifizierbare seriösen Information, sondern die Frage ist, wie bewerte ich sie, wie baue ich sie in etwas ein, was man früher altmodisch Weltbild nannte? Sprecherin: Tatsächlich wird uns die Bewertung von Wissen in Zukunft wohl stärker beschäftigen müssen als die Frage nach seiner bloßen Bereitstellung. Ein Weltbild beruht nämlich weniger auf schnöden Fakten. Es beruht auf den Erfahrungen, die mit diesen Fakten gemacht wurden. Kurz gesagt: Um ein Schillergedicht im Netz zu suchen, muss man überhaupt erst ein Bewusstsein von der Existenz eines Schillergedichts haben. O-Ton 15_Macho ('45): Die setzen immer voraus, dass ein Bewusstsein wie unseres, das noch sozusagen ein Althirn, wie die Max-Planck-Leute das vor einigen Jahrzehnten genannt haben, dabei ist, etwas zu suchen im Internet, was man noch vor einigen Jahren anders gefunden hat. Also, sie haben ein Gedicht in Erinnerung, dann geben sie die Gedichtzeile ein und dann kriegen sie die Info, wo sie das finden können. Und sie gucken: Ist die Quelle verlässlich, damit ich mich darauf verlassen kann, dass das Gedicht nicht falsch zitiert ist? Reflexionswissen heißt, dass sie mit dem Gedicht was anfangen können müssen, und Reflexionswissen heißt aber auch, dass sie wissen müssen, dass es da einen Kontext von Gedichten gibt, dass es einen Kontext von Autoren gibt, dass sie was wissen müssen über die Zeit, in der das produziert wurde. Und das ist nicht mehr nur Informationswissen, sondern ein Stück weit mehr. Sprecher: Doch Bildungsreformer verfolgen im Moment, ganz im Sinne der neuen Mediennutzung, eher pragmatische Ziele. Der Schwerpunkt der Pisa-Tests liegt weniger auf der Vermittlung kreativer Prozesse, als auf dem virtuosen Umgang mit Fakten. Gleiches gilt für die Frage "Wo finde ich was?". Um Metawissen also geht es an Schulen und Universitäten. Um Wissen über die Orte des Wissens ? ohne Zweifel ein Wettbewerbsvorteil in einer zunehmend vom Takt der Informationsemissionen gesteuerten Arbeitswelt. Der Hirnforscher Ernst Pöppel teilt diese Auffassung: O-Ton 16_Pöppel ('36): Durch die Externalisierung von Gedächtnissen brauche ich in der Tat nicht mehr so viel Detailwissen speichern, und dass dieses Orientierungswissen ? dieses Suchwissen, die Pfade zu erkennen, die ich gehen muss ? dass das wichtiger wird, das funktioniert aber nur dann, wenn ich tatsächlich ein Orientierungswissen habe. Und die Herausforderung der Zukunft, auch an den Schulen wird sein, dass dieses Orientierungswissen stärker gelehrt wird und zwar nicht im Detail, sondern: "Wo könnte ich was wissen?" "Wo könnte ich suchen?" Also mentale Landkarten zu erzeugen, innerhalb derer ich dann tiefe Löcher bohren kann und dann lokales Wissen extrahiere. Sprecherin: Aber ob es in Zukunft noch Menschen geben wird, die bereit sind, die tiefen Löcher, von denen Ernst Pöppel spricht, zu bohren? Andererseits: Bereits Platon verurteilte die Einführung der Alphabetschrift mit dem Argument, seine Zeitgenossen würden sich nichts mehr merken. Er hatte zwar recht mit dieser Diagnose, aber nicht mit der Annahme, dass damit auch das Wissen verschwindet. Anders gewendet: Der kulturgeschichtliche Erfolg der Schrift lässt die im Moment noch nicht abschätzbaren Folgen der Digitalisierung auch in einem durchaus positiven Licht erscheinen. In dem Moment, wo Information als solche inflationär wird, könnte der "kluge Einfall zur Information" an Bedeutung gewinnen. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass Kreativität und eigenständiges Denken mehr denn je gelehrt werden müssen. Der Hirnforscher Martin Hirsch: O-Ton 17_Hirsch ('43): Ich glaube, dass sich unsere Vorstellung von Intelligenz verschieben wird. Intelligenz wird nicht mehr daran festgemacht, wie viel jemand weiß, weil jedes Device in der Hosentasche weiß heute mehr als ich. Nicht mehr die Menge des Wissens und die Bereitstellungsgeschwindigkeit von Wissen wird die Menschen auszeichnen, sondern was sie aus dem Wissen machen, wie sie das Wissen weiterverarbeiten. Die Individualität, die in diesem kreativen Prozess zum Ausdruck kommt, auf die wird sich viel mehr verlagern, als auf das reine Nachbeten von Wissen, was ich irgendwo gelesen habe. Sprecher: Der Universitätsprofessor Thomas Macho geht noch einen Schritt weiter und prophezeit ein goldenes Zeitalter des Wissens: O-Ton 18_Macho (42): Man könnte es auch anders sagen. Man könnte sagen, es gibt eine neue Zukunft für sowas wie die Geisteswissenschaften, - das meine ich umfassender und nicht nur im wissenschaftlichen Bereich, sondern auch in den Zeitungen und im Feuilleton ? die jetzt noch gar nicht absehbar ist. Weil, wenn man ernst nimmt, dass in diesem geisteswissenschaftlichen, künstlerisch- kulturellen Bereich auch Reflexionswissen geschult werden muss, damit man sich da überhaupt bewegen kann, dann wird das sicher etwas sein, was man sowohl in der Schule als auch im Bildungssystem der Universität stärker als bisher bewähren muss. Dann könnte sich allerdings herausstellen, dass gerade die Studienreformen, die wir pisa-analog gerade durchgeführt haben, kontraproduktiv sein werden. Atmo: Musikakzent Sprecher: "Heute sind wir erschaffende Mütter", sagt der Medientheoretiker Friedrich Kittler, "Geburtshelfer, die unsere Computer heranwachsen sehen. Die Technik lernt, die Natur wird wissend." Doch ihr fehle das, was den Menschen zur Selbsterkenntnis befähigt: der Logos. Sprecherin: So werden wir vorerst wohl keine Denkmaschinen bekommen, sondern nur stumpfe Antwortautomaten, die immer wieder kritisch auf ihre Glaubwürdigkeit überprüft werden müssen. Diese Kontrolle lässt sich nicht an Maschinen delegieren, sie muss von Menschen besorgt werden ? von neugierigen, von fühlenden, von handelnden Menschen. Und dennoch: Die Antwortautomaten der Zukunft werden unsere Gesellschaft nachhaltig verändern. Sie sind der neue Schlüssel zum Wissen, der für viele auch ein Schlüssel zur Welt ist: empathiebegabt, zuverlässig und unnachahmlich schnell. Wolfgang Wahlster: O-Ton 19_Wahlster ('23): Ich habe schon erlebt, in Diskussionen gerade im Urlaub, jeder zückte sein Internethandy, und brachte in seiner Argumentation noch wirklich wichtige Fakten auf den Tisch. Ich glaube, es ist ein ganz großer Fortschritt in der menschlichen Diskussionskultur möglich, durch mobilen Internetzugang und durch das semantische Web und die Antwortmaschinen der nächsten Generation. Sprecher: "Hirnforscher", schreibt der F.A.Z.-Herausgeber und Buchautor Frank Schirrmacher über die Digitalisierung, "Hirnforscher haben gezeigt, dass sich die neuronalen Verschaltungen in unseren Gehirnen verändern, ohne genau sagen zu können, ob noch die Glühbirne am Ende des Stromkreises angeht oder schon die Müllpresse." Sprecherin: Wie auch immer diese Frage von Hirnforschern, Informatikern und Philosophen zu entscheiden sein wird. Etwas lässt den Menschen innehalten... Ein Instinkt vielleicht, sein Wissensdurst, sein eigener Körper, der ihn zwingt, die nächste Ausfahrt von der Datenautobahn zu nehmen und wieder einmal einen klaren Gedanken zu fassen. Ernst Pöppel stellt für diesen Fall etwas Überraschendes in Aussicht: O-Ton 20_Pöppel ('16): Wenn Deutschland eine Stunde lang mal nicht kommunizieren würde, ja von 10 bis 11 die Telefone und das Internet abstellt, und man selber nachdenkt und das mal reflektiert, was man jetzt sozusagen gemeinsam erarbeitet hat, es in dem eigenen Gehirn mal kristallisieren lässt, hätten wir einen ungeheuren Kreativitäts- und Innovationsschub. 1