Manuskript DEUTSCHLANDFUNK – Köln im Deutschlandradio Redaktion Hintergrund Kultur Essay & Diskurs Barbara Schäfer Essay & Diskurs Georgien im Blick Der dritte Weg der Kultur Von Marleen Stoessel Sprecherin: Susanne Flury Technik: Alexis Fritz Regie: Barbara Schäfer Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Donnerstag, 05. Mai 2016, 09:30 - 10:00 Ansage: Georgien im Blick. Der dritte Weg der Kultur. Von Marleen Stoessel. Sprecherin: Dies sind nur tastende Worte der Annäherung an ein Land, eine Stadt, Tbilisi, die sich mir vor allem im Hitzeschleier zeigte, in einer Dunstglocke, die ihre Farben dämpfte und ihr etwas von einem "panischen Schlaf" verlieh. Einem ewigen Mittag, dessen Pulsschlag ich für ein paar Tage im Juni mitträumte und dessen Traumbild jetzt Erinnerung ist. Aus dieser erinnerten Ferne, Monate später, der Versuch einer Annäherung an dieses Bild, mein Tasten nach dem Ton, dem Wort, das ihm entspricht. Sagt sich all das doch so leicht: "Mythos Georgien", die Elogen und Superlative, die Projektionen und Klischees, die uns jeder Reiseführer, jede Reisewerbung bietet. Mythos ist immer Erzählung, Legende, besungene, gefilterte Wahrheit und ebenso ihre verzerrte, historisch vielfach entstellte Wahrheit, die Lüge. Von beiden Arten hat dieses uralte Land, dessen westlicher Saum am Schwarzen Meer einst Kolchis hieß - Sehnsuchtsort der Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies - übergenug. Alter und Sprache, die keiner der großen bekannten Sprachfamilien angehört, tragen dazu bei. Mehr konsonantisch als vokalisch, wirkt ihr Klang wie aus Holz und kaukasischem Mineral gemeißelt, dem Auge aber präsentiert sich ihre runde ornamental geschwungene Schrift wie in Gold geprägt, oder wie das einstmals aus den Wassern "gevlieste" Gold. Dort, in Batumi, direkt am Ufer des Schwarzen Meers, ragt heute ein neun Meter hohes Kunstwerk, eine kinetische Skulptur der Künstlerin Tamara Kvesitadze, "Man and Woman" genannt. Zwei aus vielen schmalen Aluminiumringen bestehende Figuren, bewegen sich allabendlich aufeinander zu, verschmelzen ineinander und entfernen sich wieder. Allegorien all jener Differenzen, die unser Eigensein und Anderssein bezeichnen, ob geschlechtlich, rassisch, kulturell. "Ali und Nino" werden sie im Volksmund genannt, nach dem berühmten Roman von Kurban Said, der die Geschichte einer Liebe zwischen der georgischen, europäisch-christlich erzogenen Nino und Ali, dem muslimischen Sohn aus vornehmem aserbaidschanischen Haus in Baku erzählt. Eine Liebe, die alle kulturellen Kluften zu überbrücken scheint und doch an ihnen scheitert. Nicht zuletzt dieser Roman war es, der vor über 20 Jahren meine Sehnsucht nach diesen Ländern jenseits des Schwarzen Meeres weckte, der mir Ansätze für mein Verstehen fremder, muslimischer Sitten und Ehrbegriffe vermittelte und mir umso schärfer die westliche Überheblichkeit gegenüber dem Osten, dem "Orient" vor Augen führte. Diese tief dem Mythos "Orient" eingelagerten Schätze, die es endlich auch im Westen neu zu heben gilt - sie wären heute gleichsam das "goldene Vlies". Und förmlich wie ein Vlies im eurasischen Raum zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer erstreckt sich auch das kleine georgische Land, am nordwestlichen Ende beschnitten um das abtrünnige Abchasien und tief und wund eingerissen in der nördlichen Mitte durch das besetzte Südossetien, an den Grenzen von den Russen scharf bewacht. Vliesähnlich - das Wurzelwerk der Metapher reicht weit - auch die im nächtlichen Anflug in warmen Lichtern blinkende, sich längs des Flusses Mtkwari dehnende Stadt, die bis heute als eine der schönsten des näheren Ostens gilt: Tiflis oder, in der Sprache ihrer Bewohner heute, Tbilisi. Von heißen Schwefelquellen, die in alten osmanischen, kuppelgedeckten Anlagen noch als Heil- und Wellnessquellen sprudeln, hat die Stadt ihren Namen. Nun lag sie vor mir im Sonnendunst, in den ich nach einer kurzen Ankunftsnacht erwachte. Geweckt wie jeden Morgen von der absteigenden Melodie eines Ausrufers, der wenn ich ans Fenster stürzte, grad mit seinen Tüten um die Ecke bog. Erst kürzlich erschloss sich mir sein Ruf, den ich mir rein phonetisch notiert hatte: Mazoni malaco! Joghurt und Milch, frisch aus den Bergen, wo auf holprigen Wegen Kühe und Schafe den Autos gelassen die Vorfahrt nehmen. Und aufwärts steigend, in gleißende Weite dehnt sich vor mir das Panorama der Stadt: darin die zahlreichen Türme der orthodoxen Kirchen, manche funkelnd in der Sonne, und jenseits des Flusses der wulstige Bau der neu errichteten Sameba-Kathedrale und der an den Berliner Reichstag erinnernde kuppelgekrönte Präsidentenpalast. Tief unter meiner Terrasse aber die Altstadt. In ihr schlägt das Herz der Stadt, in ihr wachte ich auf, dort bin ich stundenlang durch die staubige Hitze zwischen den verfallenden, windschiefen, zerrütteten Häusern gelaufen, wo nur einzelne schmiedeeiserne Gitter und Balkone, Ornamente und Dekor an einstige Pracht erinnern. Ein schweres Erdbeben 2002 hat den Verfall weiter befördert, dessen "Poesie" angesichts des Schocks der Verwüstung, die kaum eine schützende Maßnahme aufzuhalten scheint, nur noch stellenweise zu finden ist. Es ist wie bei den alten Fresken, die ich in den vielen uralten Kreuzbasiliken sah: Sind sie zu ramponiert, beschädigt, verblasst, bleibt nur noch wenig von ihrer Aura - leichtere Beschädigungen freilich wecken im Betrachter jene Imagination einer Schönheit, die in solcher Vollkommenheit vielleicht nie bestand. Ein Bild des Verfalls, verfallender Schönheit - ein Nachbild, das sich aus den Trümmern und Resten dieser Geschichte liest und sich zu einer Konstellation der Möglichkeiten fügt, von deren Art des Ergreifens mir das zukünftige Schicksal dieser Stadt, dieses Landes und seiner Menschen abzuhängen scheint. Hoch über der Altstadt ragend "Deda Kartli", eine mehr imposante als irgend schöne Statue der "Landesmutter" aus den 50er-Jahren, deren vormals demütig geneigtes Haupt der Künstler nach der Unabhängigkeit selbstbewusst hob und mit einem Lorbeerkranz schmückte. Darunter Reste eines uralten zoroastrischen Tempels - im angrenzenden Aserbeidschan hatten sich die Feuerkulte noch bis ins letzte Jahrhundert erhalten. Nur in der Vermengung mit dem kostbaren Öl ergeben Wasser und Feuer jene Flammen, die das Meer bei Baku in Brand zu stecken vermögen. Dies alles Zeichen, die für mich weit mehr als ihre touristische Beschreibung sind. So wie die Reste der Karawansereien, die an den lebhaften Transfer zwischen Ost und West erinnern, an die alte Seidenstraße, die quer durch die Altstadt führte. Darüber die Festung Nariqala, im 4. Jahrhundert als persische Zitadelle erbaut. Die Kirchen, alt wie neu, die Synagogen und die gerade eingerüstete Moschee nahe den Schwefelbädern - Indizien des Nebeneinanders der Kulturen und Religionen, das immer wieder auf lange und friedliche Dauer möglich war. Dazu die seit der Sowjet-Ära immer wieder umbenannten Straßen und Plätze, zusätzlich verwirrend durch die mindestens fünf verschiedenen Schreibweisen, wie auch sonst aller Namen. Oder die Reihe der Bettler, Roma und andere, die in regelmäßigen Abständen den Rustaveli-Boulevard säumen, dazwischen die Kioske mit dem Folklore- und Andenken-Kitsch. Und ebenso, neben, hinter oder zwischen den Museen, der Oper, dem Justizpalast, auch die prätentiös ins Stadtbild geklotzten Gebäude der Saakashvili-Ära, der sich nicht zuletzt aber der Wiederaufbau des Landes und seiner Infrastruktur verdankt. Nicht weit entfernt wiederum, am Zusammenfluss von Mktvari und Aragvi, an der Kreuzung von großer Heer- und alter Seidenstraße, die historische Altstadt Mtskheta, auch sie zum UNESCO-Welterbe erklärt, überragt von der aus dem 6. Jahrhundert stammenden Klosterkirche in Djvari. Die in der Sowjetzeit hoch renommierte und noch nach der Unabhängigkeit in den 90er-Jahren mit dem Nationalpreis dekorierte Malerin Natela Iankoshvili hat diese kleine stein- und standfeste Kirche auf der Spitze des Bergs in einem Gemälde verewigt, so wie noch viele andere Orte und Stätten. Sie alle erscheinen wie kleine Bühnen der Erinnerung an volkstümliche Bräuche, an die alten Kloster, Mauern und Ruinen, der Verschmelzung überschwänglicher Natur und überlebender Kultur. Ihr Markenzeichen aber, mit dem die Malerin ihr großes Vorbild Pirosmani, gleichsam der Nationalheilige der georgischen Malerei aus dem 19. Jahrhundert, beerbte: die Explosion der Farben, der Natur auf schwarzem Grund. Als blühte dort die Sonne in der Nacht, als ließe dort erst die Nacht die Natur sich in ihrer Pracht entfalten. Und wo Pirosmani, dessen Bilder das Nationalmuseum zeigt, noch statuarisch seine volkstümlichen Figuren reihte, bilderbuchhaft, in kontrastreichen Farben den Jungen auf dem Esel ins Bild setzte, da durchweht Iankoshvilis Bilder eine Dynamik des dick auftragenden Pinsels, die alle Realität ins Surreale, Traumhafte, Allegorische treibt. Doch auch bei ihr die Anklänge an die alten Traditionen, die Feste, mit denen ihr zugleich jener Spagat gelang zwischen der Wahrung ihrer künstlerischen Autonomie und den ideologischen Forderungen der Sowjetzeit, die sie wirksam unterläuft. Anders als Stalin es vorsah und gegen ihn, hat ihr wahrer Gehalt überlebt. Mit dem Wandel indessen verändern sich auch die Perspektiven. Die Arbeitslosigkeit im Lande ist hoch. Sie betrifft vor allem die Mittelschicht, die Renten sind gering, und Armut bedroht heute die mittlere und ältere Generation, die Verlierer des Wandels. Anders als zu Sowjet-Zeiten wird außer Wein nichts Nennenswertes produziert, die Läden quellen über von russischen Produkten und anderen Importen, doch wird kaum in neue Industrien und den Aufbau der Landwirtschaft investiert. Die Jugend freilich, die Englisch spricht, genießt die Freiheit, das Reisen und ist überwiegend europäisch-westlich orientiert. Den jungen Leuten vor allem scheint noch die Hoffnung zu winken, die sich für sie mit den westlichen Standards verbindet, ohne die Kehrseite von deren Versprechungen zu erleben, wie es das Schicksal der Älteren ist. Doch Künstler und Lebenskünstler sie alle, mehr oder weniger am Rande tätig, mehr oder weniger erfolgreich, und manchmal Oasen behutsamer Erneuerung bildend. Da ist Zurab, der aus dem westlichen Gurien stammt - sein heller, prononcierter, wie in vielen eifrigen Glöckchen klingelnder Dialekt, der sogar von meinem ungeübten Ohr zu unterscheiden ist, ergänzt sein rundlich-heiteres und überaus patentes Wesen. Nach einem Gärtnerei-Studium in Bonn hat er vor ein paar Jahren ein kleines Stück Land erworben und dort einen Betrieb mit 35 Mitarbeitern aufgebaut: eine große Gärtnerei, alles in eigenem Anbau: Obst, Gemüse, Kräuter, Wein und Blumen, eine Rosenzucht. Darüber hinaus sammelt er auf Flohmärkten und von überall her Traditionelles aus dem Land: Geschirr, alte Krüge, Kleidung, Trachten, Hüte und Stoffe. Denn er gärtnert nicht nur, sondern schneidert, webt und stickt auch, nach alten Mustern, und sein Ort ist hier alles auf einmal: Sammlung, Museum, Arbeitsbetrieb und ebenso ein kleines Paradies, eine Oase der Fröhlichkeit. Natürlich sind wir auch hier zu einem herrlichen Essen, der supra eingeladen, alles aus eigenem Anbau versteht sich, begleitet von Zurabs eilig-klingelndem Erzählen und dem vielen Lachen der Gäste. Dazwischen geht das erste große Gewitter hernieder - Vorbote jenes anderen, das am Ende meines Aufenthalts den Zoo verwüstete und zahlreiche Opfer kostete, bei Menschen und Tieren. Und da ist Nodar, der polyglotte Althumanist, der nicht weit von meinem Quartier in der Altstadt ein kleines Café besaß mit Getränken und Wein, Apfelkuchen, Chips und Internet. Die Wände sind mit Plakaten und Zeitungsartikeln aus "historischer" Zeit gepflastert, darunter die Meldung von der Ermordung Kennedys oder die Rede Martin Luther Kings "Rights of War to Human Rights" aus einer Zeitschrift. Hier trafen sich Menschen von überall her, kamen schnell miteinander ins Gespräch, meist auf Englisch, während Nodar gern seine deutsch-französisch-italienischen Kenntnisse präsentiert. Hier treffe ich Scott, einen kanadischen Geologen, der zur Literatur hinübergewechselt ist und übersetzt und Erzählungen schreibt. Jetzt, ein paar Monate nach meinem Aufenthalt, erfahre ich, dass Nodar, der zwischenzeitlich sein Glück in London versuchte, das Café schließen musste und an einen Getränkevertreiber vermietet hat. Eine bestimmte Klientel aus den iranisch-arabischen Nachbarländern war wegen der veränderten Visaregelungen ausgeblieben. Das Café war umso mehr eine Oase als es in einer Straße lag, die in jeder Hinsicht ein Alp für mich war: die völlig ramponierte, schmal den Hang hinaufkriechende Asatiani-Straße, in beiden Richtungen von wüstem Autoverkehr durchrattert, Trottoirs nur stellenweise, meist nur als fußbreiter Absatz vorhanden, für Fußgänger nur in hüpfendem Auf und Ab und zwischen den Autos in Lärm und Hitze begehbar. Die Riemen zweier Schuhpaare waren im Nu gerissen, was mich wiederum zu einem armenischen Schuster weiter unten in der Straße führte, wo auch ein koscheres Restaurant und am Ende die Synagoge lagen, anders als in Deutschland völlig unbewacht. In einem kaum sichtbaren, aber wegen der Hitze offenen Kellerladen entdecke ich die beiden Armenier, Vater und Sohn, letzterer für englische Sprachbrocken zuständig, während der Vater verständnisvoll lächelnd meine kaputten Riemen und die geschundenen Sohlen betrachtet. Nach zwei Tagen konnte ich meine rundum erneuerten, mit der Hand umnähten Espadrilles abholen, zu einem Preis, der mich beschämte. Ich legte ein paar Lari dazu - und alle Scham erlosch in dem lächelnden Kauderwelsch, das den dunklen Laden zu erhellen und seine Troglodyten, anders als in Platons Höhle, weniger durch den schmalen Lichtstreif vom Eingang her als durch ihren eigenen warmen Glanz zu befreien schien. "In diesen neuen Städten", so etwa sagte es einmal der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld, "sind die alten Häuser nur noch in den Menschen zu finden". Ihre echte, alte, nicht-kosmetische Schönheit fand sich auch hier vor allem in der Liebenswürdigkeit der Menschen wieder, auf die ich noch in jedem kleinen Laden stieß. In meinem "panisch" flimmernden Traumbild ist diese gastfreundliche Offenheit die tiefere sonnenwarme Tönung, die es grundiert. Was mich am meisten erstaunte, bewegte und mir die stärkste Hoffnung eingab, eine Hoffnung mit gleichsam ängstlich klopfendem Herzen, war der Eindruck einer völligen Abwesenheit von Gier, bei Jung wie bei Alt. Zumindest hier, in den Straßen der alten Stadt, wo der nach jener Wende wild gewordene Kapitalismus mit seinem Profitstreben noch nicht die Herzen der Menschen erreichte, auch wenn solche Gier bereits drohend in den Türen und Häusern der reicheren Viertel stehen mag und fraglos auch die politischen Wechselspiele mit Korruption und Oligarchenunwesen beherrscht. Stephan Wackwitz, Leiter des Goethe-Instituts in Tiflis, hat in seinem schönen Essay das heutige Georgien mit jenem Italien verglichen, das Fellini 1963 in seinem Film "81/2" festgehalten hat. Mit jener Nostalgie und Poesie, die aus dem Zwischenstadium kommt, bevor es im Machtzugriff des Neuen, im Namen von Fortschritt, Kapitalismus und Moderne verloren ist. Ich weiß nicht, ob dieser Vergleich ganz stimmt, genauer: die von Wackwitz empfundene Poesie des Verfallenden erfuhr ich selber mehr als Schock, als dessen absurd-ironische Boten die vielen Beauty Salons auf den zermürbten Mauern grüßten. Nie fühlte ich hier in Tbilisi auch nur einen Moment der Unsicherheit, der Sorge, der Angst vor Dieben. Als kennten die Menschen keinerlei Gier, nur ihre Freude am Geben und Schenken. Wie lange noch wird sich das erhalten? Oder wäre es wirklich ein besonderes Gen, das diese Menschen auszeichnet und sie über alle Tragödien der Geschichte hinweg diesen Charakterzug ausbilden ließ? Ein Gen, das auch die Gesetze ihrer Gastfreundschaft formte? Das ihre Lust an Fülle und Verschwendung prägt, am reich gedeckten Tisch, am üppig fließenden Wein, der noch heute zu den besten und reinsten gehört und früher in tief in die Erde eingegrabenen Amphoren gären konnte? Heute übt man sich, wie beispielhaft auf Schloss Mukhrani nördlich von Tbilisi, in einer geschickten Verbindung dieser alten Verfahren mit neuerer Technologie. Wie bei uns, so klafft auch in Georgien eine Schere zwischen Arm und Reich, aus den gleichen und doch anderen Gründen. Die Gier der Reichen freilich bleibt sich überall und immer gleich. Der westliche Kapitalismus hat auch hier längst seine Tentakeln ausgestreckt, vom Norden her drohen die alten russischen Machtgelüste. Das Schicksal Georgiens, dessen Geschichte geprägt ist von unterschiedlichsten Einflüssen, Kulturen, Religionen und Diktaturen, das aber doch so sehr einen eigenen Charakter bewahrt hat, wird sich daran entscheiden, ob ein dritter Weg zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen dem europäisch-amerikanischem Westen und dem alten facettenreichen Osten möglich ist, unabhängig von Putins Drohgebärden. Wie es die in meinem Traumbild fixierten Möglichkeiten ergreift. Und wofür jene neu-alte Weinkultur à la Mukhrani ein analoges Vorbild darstellen kann. Wie überhaupt wohl einzig die Kultur es vermag, die schlechte Alternative zu überwinden und diesen dritten Weg zu bahnen. Sind es doch gerade junge Künstler, Schriftsteller und Musiker, die wie die fulminante Pianistin Kathia Buniatishvili weltweit auf sich aufmerksam machen. Und wie auch die (noch) nicht dem Profit verfallene Kunstszene. Sie alle könnten solche Brücken sein. Oder Tamara Kvesitadze, die die kinetische Skulptur "Ali und Nino" schuf und deren Kunst ebenfalls weltweit gezeigt wird. Gerade auch in ihrem vielschichtigen Werk wird der Bezug zu den alten Traditionen des Landes deutlich, aus denen sie schöpft und sie mit immer neuen Mitteln erweitert, mit neuen Technologien kombiniert und konfrontiert. Mit ihrem Sohn Constantin, genannt Coco, 20 Jahre alt und literarisch tätig, verbringe ich einen Abend in intensivem Gespräch über Dichtung und Musik und all die Dichter, die wir lieben. Und ich weiß: Es ist nicht primär das Europäische, das uns, die wir uns auf Englisch unterhalten, dabei verbindet, sondern schlicht die Liebe zur Kunst, zu all den über die Welt verstreuten Dichtern, über die wir sprechen. Diese Liebe ist das einzige, was eine gemeinsame "Identität" jenseits aller nationalen und sonstigen Grenzen zu schaffen vermag. Wie anders vermöchten noch Jahrtausende alte Felszeichnungen oder die antiken Reste von den Höhlen Uplistsikhe nahe Gori, zu uns sprechen? Ein "dritter Weg", jenseits der schlechten Alternative zwischen stagnierender Tradition und gnadenlosem Fortschritt, kann nur, so wurde mir erneut in den alten zerschundenen Straßen von Tbilisi klar, über die Kultur gefunden werden. Im Moment scheint es ruhig im Land. Der Gipfel des Kazbeg, zu dem wir die große holprige Heerstraße hinauf fahren, liegt mit seinen Schneespalten da wie ein Khinkali. Das sind geriffelte Teigtaschen, die innen nicht nur mit Fleisch, sondern auch mit der Brühe gefüllt sind. Man packt sie mit den Fingern beim "Gipfel", beißt sie auf und schlürft die köstliche Brühe. Mit den gebratenen Badrijani, Auberginen in Walnussauce, sind sie meine Lieblingsspeise, weshalb angesichts des Faltenwurfs des Kazbeg sich mir diese genüssliche Assoziation aufdrängen mag. Auch dieser Berg ein Mythos - eben jener Berg im Großen Kaukasus, an den man sich Prometheus gefesselt dachte. Als Strafe für sein blasphemisches Vergehen, indem er, der mit den Göttern tafeln durfte, ihnen das Feuer für die Menschen stahl - als erste Kulturtat, Protest und Initiation humaner Kultur. Die Sage ist bekannt: nicht nur musste er an einem Felsen hängen, sondern ein Adler fraß ihm die immer neu nachwachsende Leber, bis ihn Herakles von seiner Qual befreite. Irakli, Erekle sind häufige georgische Vornamen. Doch auch Stalin, georgischer Sohn aus Gori, geboren als Josseb Dshughashvili, in jungen Jahren noch als Dichter tätig, mochte sich als Prometheus und zugleich als sein Befreier, Erlöser fühlen, bis dieser gefälschte und brutal missbrauchte Mythos zerbrach. Selten frisch, also trocken-heiß ist es, als wir nach Norden zu dem mythischen Berg aufbrechen, die alte, teilweise völlig zerschundene, von Geröll übersäte, immer wieder von Kühen oder Schafen gekreuzte Heerstraße hinan. In Ananuri, wo sich der Aragvi teilt und zu einem See ausbreitet, ein erster Halt. Auf ca. 1.500 m Höhe eine uralte Festungsanlage, eine weitläufige Ruine mit einem gewölbeartigen Verlies, aus dem man einen fantastischen Blick auf den Aragvi-See und die ansteigenden Berge rundum genießt. In der kleinen wohl ebenso steinalten Kirche noch sichtbar die Spuren vergangener Barbarei: Die antiken Fresken wurden in der Sowjetzeit dick übermalt, nur teilweise konnten sie freigelegt werden, die Übermalungsschichten sind noch deutlich unterscheidbar. Die Mauern, Kirche, die Verliese - alles ist im gleichen Felsstein ineinander geschichtet, wie aus einem einzigen Fels gehauen, der sie konspirativ zu einen scheint, zur Abwehr des Feindes und zum Schutz der Menschen, und im Vertrauen auf die göttliche Macht. Ein weiterer Halt am Pass, wo eine hässliche Rotunde aus der Sowjetzeit überdauert, mit Marktständen und Touristen von überall her. An solchen verschandelten Orten wird immer auch deutlich, wie eine derartige Absage an Kultur und damit auch Schönheit den Keim der Selbstvernichtung in sich trug. Im Hinauffahren aber, das Paata, unserem Fahrer, virtuose Steuerkünste abverlangt, das gleichsam "fallende Grün", das uns rings umgibt, eine Ekstase in Grün, wie sie in allen Nuancen auf Iankoshvilis Bildern wieder erglüht. Manchmal wie Kostüme, Gewänder und Teppiche, mal glatt, mal faltenreich über die Felsen gebreitet, später, höher hinauf, von leuchtendem Ginster überstrahlt, bis die Felsen kahler werden, in den Spalten Reste von Schnee neue Khinkali-Ornamente bilden und in den ausgetrockneten Flusstälern die von Mineralien rostrot gefärbten Bahnen sichtbar werden, welche die Frühjahrsüberschwemmungen hinterlassen haben. An einer Zapfstelle machen wir halt und füllen unsere Flaschen mit dem kaukasischen Elixier - es schmeckt, klar und gut. Unterhalb des Kazbeg, auf 2.047 m Höhe machen wir Pause, in einem nach dieser Zahl benannten Lokal, nehmen draußen Platz unter duftenden Fliederbüschen, die hier ihre späte Blüte haben, den schneebedeckten Gipfel des prometheischen Bergs vor Augen. Dann wieder, nach entspannt beflügelter Ruhe, denselben Weg zurück. Derselbe Weg? Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss, und so ist auch derselbe Weg zurück niemals derselbe: das veränderte Licht, die neuen Perspektiven, das fallende Grün feuchter und dunkler, die Berge wieder höher in unserem Hinab, die Wolken in neuen barocken Formationen, der Himmel tiefer. Und die Erinnerung an die schon bekannten Stellen, die Aussichtspunkte - Wiederholung des nur scheinbar Gleichen, die neue Wahrnehmung und neuen Sinn erschließt. Und wieder die Rückkehr in die Stadt, von eben ihrer ältesten Stätte, von Mtskheta her, im Abendlicht. Einen Tag vor meiner Abreise gelingt es mir, in dem kleinen Teppichladen gegenüber der Ruine einer für die Renovierung eingerüsteten Karawanserei, die ich beide etliche Male umkreist hatte, einen kleinen Teppich zu erstehen. Ein kleines blau schimmerndes Stück hing aus dem aufgetürmten Haufen der Kelims und Brücken und Kasacks heraus - und mein Blick, mein Gespür wurde fündig: eine aus dem östlichen Georgien, nahe dem aserbeidschanischen Grenzbereich stammende kleine Brücke aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, blaugrundig, in abgestuften Tönen mit schon persisch anmutendem rost- und ockerfarben ornamentiertem Innenfeld - ein seltenes Exemplar. An einer Stelle der Bordüre ist ein kleines Stück herausgerissen, sonst aber intakt und in den Farben so leuchtend und gut erhalten wie einige der alten Fresken, die ich sah. Wegen des Schadens erwarb ich das antike "Vlies" günstig, das einzige Erinnerungsstück, das mich, zurück in Berlin, mein Hoffnungsbild nachträumen lässt, in dem Pans Flötenton mit dem der Duduki und der Salamuri verschmilzt. Die Reise ostwärts hat erst begonnen, die Worte tasten weiter nach ihrem Ton und Halt. Der Teppich ist flugbereit. Absage: Georgien im Blick. Der dritte Weg der Kultur. Von Marleen Stoessel. Mit Susanne Flury. Technik: Alexis Fritz. Regie und Redaktion: Barbara Schäfer. 12