Manuskript Kultur und Gesellschaft Kostenträger : P 62120 Organisationseinheit: 46 Reihe : Zeitreisen Titel : Fetisch versus reale Gefühle Sexualität in Japan Autor/in : Michaela Vieser Redakteur/in : Kim Kindermann Sendung : 14.11.2012 / 19:30 Uhr Regie : Klaus-Michael Klingsporn Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Atmo G-Taste Kapitel 3, Teil 1: 1:26 - 2:20 oder 1:43 - 2:20 kurz stehen lassen, dann unter den Sprecher legen Sprecher: Das neue Dienstmädchen trifft im Palast ein. Bereits an der Pforte wird sie vom Schlosshund begrüßt, der seine Schnauze lechzend zwischen ihre Schenkel schiebt. Später findet sie Vergnügen am Rohrstock der strengen Aufpasserin, an den Stöckelschuhen der anderen Dienstmädchen und natürlich am Schlossherren. Atmo wieder hoch//GTaste/ kurz stehen lassen, dann weg Sprecherin: Der "Anime Porno G-Taste" ist Standard in Sachen japanischer Pornofilm: keine sexuelle Spielart, die nicht berücksichtigt wird. Atmo wieder hoch//GTaste/ kurz stehen lassen, dann weg Sprecherin: In Japan boomt die Sexindustrie: Sexvideos und Sextools überschwemmen den Markt. In der U-Bahn schauen sich Männer ohne Skrupel einen Porno-App auf ihrem Mobiltelefon oder Laptop an. Schulmädchen tragen ihre Schuluniform gerne auch am Nachmittag oder Abend, wenn sie ausgehen, um zu Männern mit vollen Geldbörsen freundlich zu sein. Es gibt spezielle Bars, die U-Bahnen nachgebaut sind, in denen Frauen schüchtern an den Haltestangen stehen und sich anfassen lassen. Und dann sind da noch Fun Onadle: Eine Dose, die von außen aussieht wie Nudelsuppenschnellgericht, in Wirklichkeit ist im Inneren der Dose eine Art Schwamm, in den der Mann seinen Penis stecken und sich penetrieren kann. Sexualität scheint allgegenwärtig und dennoch: echter Sex zwischen Paaren findet in Japan immer weniger statt. Sprecher: Eine aktuelle Umfrage des Japanischen "Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Soziales" ergab, dass 36,1 Prozent, also mehr als ein Drittel der interviewten jungen Männer zwischen 16 und 19 Jahren, kein Interesse an Sex haben. 83,7 Prozent der 20- jährigen Männer gaben an, keine Freundin zu haben - mehr noch sie haben nicht einmal Interesse daran eine zu finden. Bei den Frauen waren es immerhin 59 Prozent, die so fühlten. Sprecherin: Selbst den Verheirateten scheint in Japan die Lust am Sex abhanden gekommen: Sprecher: Über zwei Drittel der zeugungsfähigen Paare sagten, im Monat vor der Umfrage keinen Sex gehabt zu haben. Sprecherin: Erschreckende Zahlen, die sich mit den Erhebungen des Kondomherstellers Durex decken: der platzierte die Japaner mit durchschnittlich 36 Mal Sex im Jahr auf den auf den weltweit letzten Rang in Sachen Beischlaf. Atmo Musik "Brazil" von Cornelius Sprecherin: Die Libido der Japaner ist damit auch zu einem politischen Problem geworden. Kein Sex bedeutet auch weniger Kinder werden gezeugt. Schon jetzt gibt es statistisch gesehen zu viele Alte in Japan. Sprecher: Auf einen Rentner komme zurzeit nur 2,6 Arbeitnehmer. Im Jahre 2050 soll diese Zahl auf 1,5 Arbeitnehmer pro Rentner schrumpfen. Sprecherin: Eine paradoxe Situation. Einerseits herrscht Unlust. Andererseits boomt die Sexindustrie. Atmo Musik noch mal hoch "Brazil" von Cornelius 1. O-Ton : A lot of the sex in Japan is very cerebal, it is all about what happens in the mind more than what happens physically. Übersetzerin: Viel von dem, was in Japan sexuell passiert, findet im Kopf statt und es geht weniger um das, was körperlich abläuft. Sprecherin: Mary Shutter, die anonym bleiben will und daher dieses Pseudonym trägt, hat über zehn Jahre lang in Japan gelebt. Ihr japanischer Ehemann arbeitete als Produzent in der Porno-Industrie. Sprecherin: Vor allem virtuell ist deshalb in Japan alles möglich. Die Bilder, die die Pornoindustrie über die verschiedenen Medien ins Land einspielt, sind überall bequem abrufbar. Auch weil man sich - ohne Anstrengung - in diese Scheinsexwelt hineinzuträumen kann. Die Medien verändern dabei aber auch unterbewusst den Umgang mit dem echten Sex. Die Diskrepanz zwischen dem Wunschbild und dem echten wird mit jedem herunter geladenen Clip, Comic oder Spiel immer größer. Die Vorstellung von Sex kann so plötzlich mit dem echten Akt nicht mehr mithalten. 2. O-Ton: Men get their idea how to be sexually and how they would like a girl to act with them sexually through magazines and films ... Übersetzerin: Die Männer bekommen ihre Vorstellungen über Sex und wie sie sich Frauen gegenüber verhalten sollen, hauptsächlich über Zeitschriften und Filme. Ich habe nicht das Gefühl, dass das ihre eigenen inneren Vorstellungen sind, dass es mit dem übereinstimmt, was sie sich selbst sexuell wünschen würden. Atmo noch mal hoch und dann weg Sprecherin: Ein Bild das fast schon symbolisch für japanische Pornofantasien steht ist "Tentacle-Rape". Es wurde bereits vor 200 Jahren von dem Künstler Katsushika Hokusai geschaffen und ist bis heute aus zeitgenössischen japanischen Videos nicht wegzudenken. Auf Hokusais Holzschnitt ist eine nackte Frau abgebildet, die von den vielen Armen eines Tintenfisches befriedigt wird. In heutigen Zeichentrick-Filmen oder in Manga-Porno-Magazinen wird das Thema variiert: Da wachsen Männern tausende von Penissen, mit denen sie über eine Horde Schulmädchen herfallen oder Bäume lassen ihre Äste in Frauen eindringen. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. 3. O-Ton: Die japanische Kultur - so ist meine Theorie - ist dank des Spiritualismus und des Animismus - eine Kultur, wo alles belebt sein kann, und ein Toaster und ein Computer auch einen Charakter besitzt, eine Seele, deshalb ist es ganz selbstverständlich, dass Dinge durch Charakters verkauft werden, anstatt durch typographische Logos, wie im Westen, das halt eine Schriftkultur ist. Sprecherin: Dr. Barbara Lippe ist Spezialistin für Computerspiele und promovierte an der Universität in Wien über geschlechterspezifische Spiele in Ost und West. Es sind die besonderen Grafikmethoden Japans, die dazu führten, dass sich die virtuellen Welten "echter" anfühlen, als die Realen - glaubt sie. 4. O-Ton Dr. Lippe: Die Phantasie wird halt immer weniger, je besser die Technik wird, im Sinne von graphischer 3D high Resolution, high Definition Technik. Was schade ist, weil es natürlich, wahrscheinlich Auswirkungen aufs reale Leben hat. Sprecherin: Als in Japan ein Manga-Porno-Magazin damit begann auch echte Fotos zu publizieren, beschwerten sich die Leser nach nur wenigen Ausgaben: Sie wollte keine echten Bilder. Sie wollten gemalte. Nur dort hat die Phantasie Platz sich zu entwickeln. Mittlerweile prägt eine Art Autoerotismus das Sexualleben der meisten jungen Japaner, sie bevorzugen eine perfekt modifizierte virtuelle Partnerin. 5. O-TON Dr. Lippe: Und diese Entnaturalisierung der Geschlechterrollen führt natürlich zu kulturellen Auswüchsen, die für uns oft irre erscheinen. Warum dann ein ganz normaler Sex nicht mehr klappt, weil man sich die ärgsten Figuren vorstellt, weil man das vom Porno so kennt, oder vom Spiel oder von der virtuellen Welt und da das mit der normalen Welt überhaupt nichts mehr zu tun hat, denn da sind es dann Körperflüssigkeiten und es riecht komisch und es gibt Haut und überhaupt muss man dann auch noch reden mit der Frau und das kann dann überfordern. Sprecherin: Kunsthistorisch betrachtet kennt man dieses Phänomen aus anderen Bereichen der japanischen Kunst. Lange Zeit verzichtete man in Gemälden auf die Perspektive, damit sich der Betrachter auf die Seele der gemalten Figuren konzentrieren konnte oder man übermalte ganze Szenen auf Bildern mit Wolken, um den Betrachter anzuregen sich selbst vorzustellen, was darunter verborgen lag. Seit 2006 gibt es in Japan einen Begriff für Männer, die sich lieber mit virtuellen, als mit echten Partnerinnen beschäftigen. Musik Sprecher: Man nennt sie "Soushoku Danshi" - den Grasfressenden Mann. Sie haben kaum Lust auf realen Sex und auch kein Interesse daran, Karriere zu machen. Lieber verbringen sie ihre Zeit am Computer - und suchen dort nach dem perfekten Kontakt. Das Phänomen "Soushoku Danshi" ist mittlerweile so omnipräsent, dass Dating-Guides für Frauen herausgegeben werden, in denen sie Rat erhalten, wie sie Zugang zu diesen Männern finden können. Sprecherin: Echte Frauen sind auch deshalb uninteressant geworden, weil sie nicht ohne weiteres tun, was der Mann sich vorstellt. So verbringt der Japaner lieber Zeit mit einem Online-Dating-Spiel. Sein Ziel ist es, die virtuelle Frau dazu zu bringen, sich für ihn auszuziehen. Atmo hoch Sprecher: Die Männer laden ihre virtuelle Gespielin auf einen Kaffee ein, verstrickt sie in Konversation, geht mit ihr einkaufen und zum Dank entblößt sie sich tamagochi-gleich für jede Zuwendung ein wenig mehr. Sprecherin: Die Simulation ist hochstilisiert und so vollkommen auf die eigene Vorstellung abgestimmt, dass echter Sex nur noch ein schlechter Abklatsch ist. 6. O-Ton Dr. Lippe: Was aber interessant ist, was es im Westen nicht gibt, sind solche Spiele, bei denen die Männer sich ihre eigenen Frauen herrichten. "Princess Maker" ist eines dieser klassischen Spiele. Das ist auch schon sehr alt, aber das Prinzip, der Mann macht sich/ erzieht sich sein Mädchen so, wie er es haben will. Er zieht es so an wie er es haben will, er erzieht es sich auch im sexuellen Sinne, so wie er es haben will und hat dann diese perfekte Traumfrau, so wie er sie haben will, diesen Golem als Frau sozusagen. Das findet in jeder Kultur statt, aber dass sich Männer ihr Bild von Frau kulturell formen und hochhalten, sei es die Jungfrau Maria oder sei es die Geisha. In Japan. Findet es hier eben auf einer technologischen Ebene statt. Du kannst dir interaktiv diese Frau, diese "Princess" zusammenstellen. Es scheint einfach der Wunsch zu sein des Mannes, sich dieses Fantasiebild der Frau selber zusammenbauen zu können, sich als Schöpfer zu fühlen und deshalb sich Legitimität zu erwerben, mit ihr machen zu können, was er will. Sprecherin: Diese Vorstellung kann, wenn sie in die Echt-Zeit geholt werden soll, mit der entsprechenden Hardware bestückt werden. Männer können sich im "Do it Yourself" ihre Sexpartnerin nachbauen. Sprecher: Beim Anime-Figuren-Anbieter "Volks" zum Beispiel. Wie in einem Fachgeschäft für Modelleisenbahnen gibt es hier alles für die perfekte Puppenfrau: Soll sie lange Haare haben, braune oder blonde? Sollen ihre Augen violettfarben sein? Lieber einen Atombusen oder Lolitaknospen? Jedes Detail ist lieferbar. Die Sexpuppen haben dank neuester Materialforschung eine nahezu echt wirkende Vagina aus Kunststoff: das hautfarbene Material ist Hautartig geriffelt und dehnbar. Sprecherin: In Tokio gibt es mittlerweile ganze Stadtteile, in denen sich solche Geschäfte häufen, diese Schöpferwerkstätten für die perfekte sexuelle Projektion. In den sogenannten "Maids Cafes" können die Männer Frauen erleben: Hier bedienen Mädchen in Dienstbotenuniform den männlichen Gast in einer Atmosphäre, die der aus seinem Video oder Computerspiel kennt. Der Mann wird einem Gott gleich zum Schöpfer der Frau. Dahinter steckt die Jahrtausendealte Hochstilisierung der Geschlechterrollen. Musik Sprecher: Schon zur Heian Zeit, also von 794 bis 1185, lebten in Japan Männer und Frauen der Hofgesellschaft in extrem verschiedenen Welten und kommunizierten durch vage Andeutungen mit Hilfe von Gedichten, Gerüchen und Blumen. Nur zum Beischlaf traf man sich. Später entwickelte sich daraus das Konzept der Geisha. Eine entrückte Weiblichkeit, die mit der Natur überhaupt nichts mehr zu tun hat. Weiß angemalt, in unzählige Lagen von Kimonos gekleidet, auf hohen Sandalen gleitend. Sprecherin: Die Geisha wird so zu einer Mischung aus Alien und Göttin. Sie ist stilisiert und strahlt dennoch - oder vielleicht auch gerade deshalb - Erotik aus. Sie ist nicht durch Geld alleine zu erreichen, sondern es erforderte Wissen um einen bestimmten Kodex, um eine Geisha für sich zu gewinnen. Man muss um sie werben, alles richtig tun, wie der bekannte Dichter Saikaku, Autor aus der Edo-Zeit, in seinem Buch "Das Leben einer liebenden Dame" erzählt. Hier tut ein Freier alles, um seiner angebetenen Geisha Dewa zu imponieren: Sprecher/Zitator: "Und so befahl er den hinteren Teil ihres Teehauses abzureisen, um dort eine Wiese aus Klee anzupflanzen. Dadurch verwandelte sich der Raum in ein wahrhaftiges Feld. Dann orderte er nachts die Leute aus den Bergen Tambas, sie sollen Rehe und Hirsche fangen und am Teehaus abliefern. Am darauffolgenden Tag konnte er diese Dewa präsentieren. Und danach ließ er das Teehaus wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzen." Sprecherin: Es sind aber nicht nur die japanischen Männer, die ganz eigene Vorstellungen davon haben, wie eine Frau beim Sex zu sein hat, auch die japanischen Frauen haben ein Idealbild vom Mann. Auch das geht zurück auf eine uralte Tradition, die des Prinz Genji. Eine Romanfigur des 11. Jahrhunderts erschaffen von der japanischen Hofdame Murasaki Shikibu, erklärt Barbara Lippe. 7. O-Ton Dr. Lippe: In diesem Roman beschrieb sie diesen ganz wunderbaren Mann, der parfümierte Liebesbriefe versendete, der wunderbare Gewänder trug, herrlich duftete, mit Frauen umzugehen wusste, einfach ein Papagallo, der richtigen Art, wie ihn sich die Frauen einfach wünschen würden, sehr weiblich allerdings. Aber auch in den heutigen Mangas für Frauen sieht man, wie sich die Frau den Mann eigentlich vorstellt. Es handelt immer von einer Liebesgeschichte zwischen zwei Männern, ein älterer und ein jüngerer, sehr weiblich, sehr androgyn, die sich emotional finden, natürlich auch ein bisschen Sex haben. Der Sex aber nie so bildlich dargestellt wird, dass es pornografisch in dem Sinne eigentlich genannt werden kann. Geschlechtsorgane sieht man nicht, es ist alles sehr romantisch, und auch leidenschaftlich, aber doch sehr gefühlvoll einfach. Es geht immer mehr um die Gefühle, als um den Körper. Sprecherin: In solch einem Manga wird dann zum Beispiel der neue Angestellte seinem Chef vorgestellt und von diesem anfangs kaum beachtet. Nach der After-Work-Party landet der junge Mann aber im Bett seines Chefs und es beginnt eine Liebesgeschichte zwischen den beiden Männern. Sprecher: Die Sexszenen sind auf wenigen Bildern erzählt: das Gros der Zeichnungen zeigt in Momentaufnahmen die Gefühlswelten, in denen die Männer sich befinden. Das einsame Rauchen einer Zigarette im Büroflur, Nachdenken vor dem Computer. Es sind kleine intime Gesten, die mehr über die Beziehung verraten, als der schnell vergängliche Sex-Akt. Sprecherin: Diese Mangas bedienen vor allem eine weibliche Leserschaft: die Leserinnen fühlen mit dem jungen Angestellten und finden durch den Geschlechtertausch einfacheren Zugang zu ihrer Version von der Beziehung zwischen Mann und Frau. Diese Phänomen, also die homosexuelle Liebesgeschichte als Manga für Frauen, ist in Japan weit verbreitet. Durch die Loslösung der wirklich existierenden Welt und der Verschiebung des Plots können Probleme angesprochen werden, die anders nicht formuliert werden können. 8. O-Ton Dr. Lippe: Ja, es lieben sich immer zwei Männer, denn in einer japanischen Beziehung zwischen Mann und Frau kann die Frau dem Mann ja nie ebenbürtig sein. Was die Frau herausfinden will ist, wie wäre es denn, wenn ich dem Mann so ebenbürtig wäre, wie ein anderer Mann, denn nur dann würde ich die wahren Gefühle der Liebe fühlen können, denn sonst bin ich ja immer nur die Frau, die diese oder jene Rolle zu spielen hat. Darum gibt es immer zwei Männer, der eine ist immer der Schwächere, der Gefühlvollere, der Kleinere, der Blondere, der Zartere. Und der andere ist eher der Männliche, sodass man sich als Frau in die Rolle des Kleineren, des Schwächeren hineinversetzen kann, und trotzdem wird man so ernst und gleich genommen, wie ein Mann einen anderen Mann ernst nehmen würde. Sprecherin: Auch in den sogenannten "Otome Games" werden der Spielerin verschiedene Männertypen im Mangastil vorgestellt, die sie dann ähnlich einer Boy-Group beliebig miteinander kombinieren kann, um ihnen anschleißend bei erotischen Spielen, die meist nie zu explizit werden, zusehen zu können. Sprecher: Da ist etwa die Austauschschülerin in einem englischen Internat, die sich einen Freund sucht oder da ist ein Mädchen, das auf eine neue Highschool kommt und merkt, dass sie übernatürliche Kräfte hat: Sprecherin: Erst durch die richtige Stimmung erhält das Spiel die Faszination, die es braucht, um die Spielerin aus der Wirklichkeit heraus in eine für sie perfekte Fantasiewelt zu locken. Eine Fantasiewelt, in der dann ihre sexuellen Bedürfnisse gestillt werden. Atmo Musik japanische traditionelle Trommeln Sprecherin: Das Problem daran ist: die Bilder in den Köpfen der Männer decken sich nicht mit den Bildern in den Köpfen der Frauen. Einziger Ausweg ist eine Art "Autoerotismus". Der ist in Japan kein neues Phänomen. Bereits im Japan der Edo-Zeit, also von 1602 bis 1836, entstanden viele Holzschnitte erotischer Natur, sogenannte Shunga, Frühlingsbilder. "Durch die Schiebetür" heißt eins der bekanntesten. 1679 von Hishikawa Noronobu geschaffen: Sprecher: Eine in Kimono gekleidete Frau mit aufwendiger Frisur kniet nonchalant mit ihrem Hintern einer Papierschiebetür zugewandt. Die Schenkel sind sichtbar, der Kimono ist hoch gerafft. Auf der anderen Seite der Papiertür steht ein Samurai. Mit einem Schwert hat er ein Loch in die Tür gebohrt, auf Höhe der nackten Japanerin. Sein Glied ist durch das Loch in der Tür deutlich zu sehen. Sprecherin: Schon im Japan der Edo Zeit verdiente ein immer größer werdender Industriezweig an dem Geschäft mit der sexuellen Repräsentation: als Drucke wurden die Frühlingsbilder in Massen hergestellt und verkauft. Und fahrenden Leihbibliotheken boten Bücher mit erotischen Inhalten an. Die Bilder waren allgegenwärtig. Die Geschlechtsteile waren anatomisch äußerst präzise dargestellt. Fast so als dienten die Bilder zur Gebrauchsanweisung. 9. O-Ton Screech: There is an enormous paraphernalia of auto-eroticism in premodern Japan ... Übersetzer: Wir wissen heute, dass im vormodernen Japan eine unglaubliche Menge an Auto-erotischer Mitgift für die Braut gab, erotische Bücher und Bilder etwa. Sprecherin: Timothy Screech. Der Kunsthistoriker von der Londoner "School of Oriental and African Studies" beschäftigt sich seit über 10 Jahren mit der sexuellen Geschichte Japans. 10. O-Ton Screech: It wasn´t difficult to get hold of them, it wasn´t embarassing or - today it might be... probably hundreds of them, and they never see a man. So they would need other sorts of outlets. Übersetzter: Es war nicht schwierig, dieser Werke habhaft zu werden, es war auch nicht peinlich - nicht so wie heute...es war nicht so, dass man an einen besonderen Ort gehen musste, um Einblick in diese Art von Büchern zu erhalten. Dann hätten nicht viele davon gewusst. So war das in Japan damals nicht. Sondern: Ganz normale Leihbibliotheken führten erotische Bücher. Selbstbefriedigung und Masturbation waren eindeutig Teil eines subkulturellen Verhalten-Kodexes. Und dann liefert uns diese Zeitspanne auch noch eine Erklärung, warum das so war. Zum Beispiel gibt es aufgezeichnete Gespräche über den Harem des Shoguns, über die Frauen dort, wahrscheinlich hunderte an der Zahl, und sie hatten so gut wie keinen Kontakt zu Männern. Also brauchten sie irgendetwas, um ihre sexuelle Energie abzulassen. Sprecherin: Man muss sich die Welt der japanischen Edo-Periode so vorstellen. Edo, das heutige Tokio, war zu dieser Zeit bereits eine Millionenstadt, die vor allem von Männern bewohnt war. Die feudalen Herrscher Japans mussten für sechs Monate jedes Jahr in die Stadt reisen - sie kamen nicht allein, sondern mit einem Heer von Soldaten. Zu viele Männer und zu wenig Frauen. Die Männer befriedigten sich deshalb mit Hilfe dieser Shunga, der Frühlingsbilder, oder mit Sex- Spielzeug. Wie normal das war, zeigen etwa die Bilder von Katsushika Hokusai. 11. O-Ton Screech: There is a sort of a dildo, a phallus-shaped object, sometimes made out of ivory or glass or wood, probably depending on prize, and hawkers would take them around houses and sell them to the ladies ... Übersetzer: Da gibt es ein Art Dildo, ein phallusförmiges Objekt, das entweder aus Elfenbein, Glas oder Holz gefertigt wurde, das hing vom Preis ab, den man dafür bezahlen wollte. Händler gingen damit von Haus zu Haus und verkauften diese Dildos an Frauen, wahrscheinlich konnte man sie aber auch in Geschäften finden. Man nannte sie "harigata" - das Wort ist auch heute noch in Gebrauch. Und dann gibt es noch diesen Beutel mit einem Loch drin, für Männer. So ein Beutel wird scherzeshalber "azumagata" genannt. Azuma bedeutet hier "der Osten". Gemeint ist damit etwas, was aus Edo, also aus Tokio, der Stadt im Osten Japans kommt. Sprecherin: Dazu kamen Bücher und Gemälde mit entsprechenden Motiven: Es gab sie in allen möglichen Ausstattungen, billige in schwarz weiß gehalten oder aber auf Seide gemalte Kunstwerke. Anders als heute bedienten diese Fantasien sowohl Männer als auch Frauen gleichermaßen. 13. O-Ton Screech: But there seems to be a fairly even split between the use of erotica for masturbation and the use of erotica for couples to stimulate each other ... . Übersetzer: Es gab kaum eine Unterschied darin, ob man diese Erotika zur Selbstbefriedung nutze oder als Stimulation für Paare. Das finde ich besonders interessant, nämlich dass Paare sich nicht genug stimuliert fühlten, einfach indem sie zusammentreffen und sich berühren, vielleicht miteinander scherzten - je nachdem wie so ein Vorspiel eben aussieht. Sondern sie benutzten diese Bilder, um sich gegenseitig anzumachen. Man nannte sie warai-e, was so viel heißt wie Lach-Bilder oder vielleicht besser Kicher-Bilder. Mit der Zeit wandelte sich der Begriff zu warau - "kichern". Gemeint war damit aber "masturbieren". Wenn dann also jemand sagte: "Neulich sah ich durchs Fenster jemanden in seinem Zimmer kichern", dann wussten alle, dass damit eben nicht kichern gemeint war, sondern dass jemand sich selbst befriedigt hatte. Sprecherin: Oft wurden solche Bilder auch Frauen in ihre Heiratskiste gepackt, wenn sie bei ihrem Ehemann einzogen. Ganz wichtig: In Japan kannte man den Jungfräulichkeitskult damals nicht. Mädchen durften Liebhaber haben. Sie wurden zum Teil sogar dazu ermuntert, um wichtige Erfahrungen zu sammeln. Doch vom Moment der Heirat an, war ihnen der sexuelle Umgang nur noch mit ihrem Ehemann erlaubt. Schließlich sollten die Frauen dessen Kinder gebären. Die warai-e dienten also entweder als Ventil, um sich selbst zu befriedigen, oder man sah sie sich gemeinsam an, um Lust zu entwickeln oder neue Ideen zu bekommen. Sprecher: Immer wieder finden sich zwischen diesen warai-e, also diesen Masturbations- bzw. Lachbilderbüchern, leere Seiten. Sie dienten dazu: eine Pause einzulegen und das zu tun, was einem in den Sinn kam. Sprecherin: Wenn man heute Bücher mit warai-e betrachtet, fällt auf, wie oft eine Seite ausgerissen oder befleckt ist. Sie waren also wirklich in Gebrauch. 13. O-Ton Screech: One would sort of guess that it is more likely to be for men than for women, but then that might simply be our prejudice that makes us think that: ... Übersetzer: Man würde wahrscheinlich annehmen, dass solche Bücher eher für Männer, als für Frauen gedacht waren. Aber das wir so denken, mag an unser heutigen Vorurteilen liegen. Es gibt kein Beispiel in der Literatur dieser Zeit, das sagt "pass bloß auf, dass deine Tochter so was nicht in die Finger bekommt" oder "zeig das bloß nicht deiner Frau." Es scheint eher so, als ob alle Lust darauf hatten. Natürlich kann es sein, dass wir auch hier einen Handlungsbedarf aus männlicher Sicht haben, denn, wenn eine Frau sich durch Erotika befriedigen kann, benötigt sie keinen Liebhaber - es war ja damals so, dass Männer nicht viel Zeit zu Hause verbrachten. Es war damals keine Welt wie heute, die von 9 Uhr bis 5 Uhr gearbeitet wurde. Die Elite des Landes war mit administrativen Aufgaben im Hinterland beschäftigt. Oft sahen sie ihre Familien bis zu zwei, drei Jahre lang nicht. In so einem Fall ist der Gedanke, dass die Frau zu Hause sitzt und Erotika konsumiert, ein angenehmer. Atmo Musikeinspielung: Meiko Kaji: Urami Bushi Sprecherin: Mit Sexspielzeugen oder erotischen Darstellungen gesehen zu werden, galt schon im alten Japan nicht als peinlich und erklärt vielleicht auch, warum Männer heute noch Sexdarstellungen öffentlich betrachten. Die Bilder zeigten eine heile Welt, in der die Geschlechter auf gleicher Ebene zusammenfanden, erklärt Professor Drew Gerstle von der Londoner "School of Oriental and African Studies". 14. O-Ton Gerstle: Some people have this image of Shunga is all about pleasure quarters, but it is not. ... Übersetzer: Die meisten Menschen denken, Shunga spielt sich nur in der Welt der Vergnügungsviertel ab. Aber so ist das nicht. Fast alle darauf abgebildeten Menschen sind normale Männer und Frauen. Selbst wenn eine Kurtisane abgebildet ist, dann ist sieht man sie auf dem Bild zusammen mit ihrem Liebhaber und nicht mit einem Kunden. Denn es geht hier um Gefühl und um das Vergnügen, mit jemandem zusammen zu sein, den man mag. Oft sind auch ehebrecherische Situationen abgebildet. Aus dem einfachen Grund, dass das - damals wie heute - eine der häufigsten sexuellen Phantasien ist. 15. O-Ton Screech: The pictures virtually always show the man and the woman, or the two men or the two women having equal fun. ... Übersetzer: Auf so gut wie allen Bildern haben Mann und Frau, oder die beiden Männer oder die beiden Frauen, gleich viel Spaß. Und das finde ich interessant, denn normalerweise sagt man ja über Pornografie, sie sei der Frau gegenüber verletzend. Sprecherin: Ein amerikanischer Geschäftsmann, der sich 1859 in Yokohama aufhielt, berichtete davon, wie eine Japanerin plötzlich "Shunga" vor ihm ausbreitete und diese zu erklären begann. Der Amerikaner war schockiert. Den japanischen Diplomaten entging diese Wirkung nicht. Japan sollte westlich werden, in allen Bereichen! Einige Wissenschaftler vertreten deshalb die These, dass sich die sexuelle Freiheit in Japan ihr Ende fand, als sich Japan 1856 mit der "Meiji Reform" begann dem Westen öffnete. 16. O-Ton Gerstle: It just went on to extremes. ... Übersetzer: Es hat sich ins extreme Gegenteil gekehrt. Alle Länder, die im Begriff waren eine Nation zu werden, in einer Zeit also, in der das Polizei-System aufgebaut wurde, in der man versuchte eine nationale Identität zu entwickeln, in der die Bildung und so viele andere Dinge neu definiert wurden - in all diesen Ländern wurde innerhalb dieses Prozesses versucht auch die Sexualität zu kontrollieren. Das war auch Europa im 19. Jahrhundert nicht anders. Sprecherin: War Japan bis dahin ein Land, in dem gelebte Sexualität eine Steigerung der Lebensqualität bedeutete, begann man nun die Sexualität aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Sie wurde privat - allerdings mit dem bis heute zu beobachtenden Verhalten: 19. O-Ton Screech: That´s probably a deeper issue of the japanese privacy. Übersetzer: Befindet sich jemand in seinem Raum, hat man nicht das Recht, ihn zu stören. Wenn also ein Mann ein Pornomagazin liest und neben ihm eine Frau sitzen sollte, dann ist das für eine Frage der Privatsphäre. Wir im Westen würden sagen, dass er das nicht vor ihren Augen tun sollte, da es peinlich sei für sie oder sie verletzt. Aber in Japan würde man sagen, was er in seiner Privatsphäre tut, ist seine Sache. Sie sitzen eben nur zufällig nebeneinander. Sprecherin: Mittlerweile aber ändert sich das Sexualleben der Japaner wieder. Fast so als hätte das große Erdbeben im März 2011 auch den Umgang mit Sex erschüttert; als fänden die Geschlechter auf einer neuen alten Ebene wieder zueinander. Dating-Agenturen haben in Japan plötzlich Hochbetrieb. Heiratsinstitute erleben einen deutlichen Zuwachs. Kaufhäuser, die Heiratsartikel verkaufen, vermelden einen 20 Prozent Zuwachs. Vielleicht hat das Erdbeben gezeigt, dass virtuelle Welten zwar auf hohem Niveau befriedigen, dass aber Geborgenheit nur ein echter Mensch geben kann. 1