DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Leben koscher light. Die Schriftstellerin Barbara Honigmann und ihr Straßburg. Von Nicoletta Torcelli und Annegret Karstens Sprecher: Marianne Rogeé, Sigrid Burkholder, Susanne Barth und Stefan Barmann. Redaktion/Regie: Ulrike Bajohr Ton und Technik: Michael Morawietz und Petra Pelloth URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? DeutschlandRadio Sendung: 13. Februar 2009 Erst Glocken des Straßburger Münsters, dann m1: M. Stockhausen/CD Symbiosis/ Anf. IVb 14" frei, dann unter o-Ton 01 Oton Honigmann Ich hatte keine Vorstellung von Straßburg. Wir sind hier angekommen, ohne jemals dagewesen zu sein. Ich kannte Straßburg natürlich aus Dichtung und Wahrheit, und hatte die Stelle gelesen, wo Goethe (also) vor dem Münster steht und in Tränen ausbricht, weil's so schön ist, das war das Einzige, was ich überhaupt von Straßburg wusste - und wir hatten den Ort praktisch mit dem Finger auf der Landkarte ausgesucht - und kamen halt hier an und wir kannten niemanden, konnte kein Wort Französisch, und das war natürlich 'n ganz schöner Hammer. m1 hoch : M. Stockhausen/CD Symbiosis/ Anf. II, kurz frei, dann unter Text Sprecherin Honigmann (Damals, dann und danach, 39) Manchmal fahren wir mit den Fahrrädern zum Rhein hinunter, das ist ja nur eine Viertelstunde von unserem Haus entfernt. Da gibt es einen Park und einen Weg immer am Rhein entlang, auf der deutschen Seite kann man ihn sogar bis Basel hinaufwandern oder Rad fahren, aber auf der französischen Seite verliert er sich irgendwo in einer Steppe vor einer Industrieanlage.... Kurz vor der Steppe haben wir uns auf eine Bank gesetzt und über den Fluss geschaut. aber Peter hat geantwortet, das ist auch nicht so wichtig, wir gehören eben an unseren Schreibtisch. Sprecher LEBEN KOSCHER LIGHT. Die Schriftstellerin Barbara Honigmann und ihr Straßburg. Ein Feature von Nicoletta Torcelli und Annegret Karstens BH1 (B. Honigmann liest selbst) Ich habe zu Peter gesagt, eigentlich wissen wir gar nicht mehr so recht, wo wir nun hingehören, aber Peter hat geantwortet, das ist auch nicht so wichtig, wir gehören eben an unseren Schreibtisch. m1 hoch und weg 02 Oton Honigmann ... naja, klar, da fang ich an - ich schreib' immer so in Hefte, und dann nummerier' ich die Seiten erstmal durch ... Sprecherin Kommentar über 02 Barbara Honigmann an ihrem Schreibtisch - in der Straßburger Wohnung, in der sie seit 1984 mit ihrem Mann Peter Honigmann lebt, dem Leiter des deutschen Zentralarchivs für jüdische Geschichte. Sie ist auch Malerin. An der Wand neben dem Schreibtisch hängt eines ihrer Gemälde: Die beiden Söhne. Sie sind inzwischen erwachsen. 02 Oton Honigmann Allererste Ordnung, genau ... . zuerst ist alles chaotisch, und dann muss man irgendwie die Struktur, die Ordnung finden, und das geht so parallel in Mappen, im Heft ... schscht! Und so sieht' dann aus. Und wenn ich es dann in so einem Zustand überhaupt nicht mehr durchsehe, da gebe ich es dann in den Computer. Sprecherin Kommentar über Oton Sie trägt Jeans und einen lockeren Pulli; ihr dickes, schulterlanges Haar ist von grauen Strähnen durchzogen. In ihren dunklen Augen blitzt immer wieder eine Begeisterung auf, die sie mit ausladenden Gesten untermalt. 02 Oton Honigmann Das ist die eigentlich Arbeit ! Dieses Ordnen. An Stoff, glaub ich, an mangelt's nicht. Sprecherin Kommentar Der Stoff, aus dem die Romane und Essays von Barbara Honigmann sind, ist ihr eigenes Leben. Roman von einem Kinde, Eine Liebe aus Nichts, Soharas Reise. Am Sonntag spielt der Rabbi Fußball, Damals, dann und danach. Das Gesicht wiederfinden, Ein Kapitel aus meinem Leben. Das überirdische Licht. Sie schöpft aus dem Fundus ihrer Erinnerungen und Alltagserfahrungen. Rein autobiographisch sind ihre Werke nicht. Schreiben ist immer auch Fiktion. Sprecherin Honigmann (Das Gesicht wiederfinden, 39) ... und es ist nicht nur deshalb Fiktion, weil alle Verwandlung von Wirklichkeit in Schreiben Fiktion ist, sondern auch, weil sein Projekt der Selbsterforschung, Selbstentdeckung und Selbstoffenbarung immer auch Selbstinszenierung, Selbstfiktionalisierung, Verwandlung des Lebens in einen Roman, manchmal sogar Selbstmythologisierung ist. Und noch das intimste Tagebuch ist Rollenspiel, da es oft aus einer dialogischen Beziehung zwischen den verschiedenen Anteilen der eigenen Persönlichkeit entsteht. Kapitelzäsur: m3 kurz frei... darauf: HS 11/1: Junge sagt: Das nächste Jahr in Jerusalem ...m3 unter folgendem Text (M. Stockhausen/CD Symbiosis/ II orig.) Sprecherin Kommentar Geboren wird Barbara Honigmann im Februar 1949 in Ostberlin. Ihre Eltern sind Juden, doch zum Judentum haben sie keinen direkten Bezug. Nach dem Krieg, den sie unter anderem im englischen Exil überlebten, hatte es sie, die Antifaschisten und Kommunisten, in die sowjetische Besatzungszone gezogen. Einige Jahre nach Barbaras Geburt lassen sie sich scheiden, die Tochter wächst in Ostberlin bei der Mutter auf. Die Eltern gehören zur Kulturelite: Der Vater ist Chefredakteur der Berliner Zeitung und leitet das Kabarett "Die Distel"; später heiratet er die Schauspielerin Gisela May. Die Mutter arbeitet als Synchronregisseurin bei der DEFA. Sie hüllt sich über ihre Vergangenheit in Schweigen, erst recht über ihre kurze Ehe mit dem legendären Doppelagenten Kim Philby. Die Mutter hebt nichts auf. Sie entledigt sich aller Erinnerungen. Sie lebt nur in der Gegenwart. O4 Oton Honigmann Sie hat das so stark behauptet; ich lebe in der Gegenwart und ich lebe nur in der Gegenwart, dass ich mir im Nachhinein, also wenn ich mir jetzt darüber Fragen stelle, mir das ein bisschen übertrieben vorkommt, weil es doch eigentlich sehr ungewöhnlich ist. Das war zu sehr behauptet, ... als dass es glaub' ich hätte wahr sein können." (kleines Lachen) Sprecherin Kommentar Umso mehr beschäftigt die 15-jährige Barbara die verdrängte Vergangenheit: auch der Holocaust, der zu Hause fast vollständig ausgeblendet wird. Sie beginnt, das autoritäre politische System der DDR zu hinterfragen- befördert von Besuchen bei einer Freundin ihrer Mutter in Moskau; in deren Wohnung treffen sich die Dissidenten der frühen 60er Jahre, der später ausgewanderte Historiker Sascha Niekritsch zum Beispiel. Und die große Frage nach ihrer Herkunft treibt Barbara um, die Frage nach ihren jüdischen Wurzeln. 05 Oton Honigmann Vielleicht war es auch eher sowas, was man das Familiengeheimnis nennt,... es war kein Aufbegehren, Auflehnung, sondern da war so ein Familiengeheimnis (lacht.) Das blieb eben im Dunkeln, irgendwie. ... Da war keine Klarheit, keine wirkliche Realität irgendwie - und das ist aber ein Phänomen dieser Generation, das ist überhaupt ein Phänomen der Zeit, der jüdischen Geschichte, und dieser jüdischen Epoche auch, und die ist inzwischen hundertmal beschrieben worden. Es gibt so 'n Satz, von Joshua Leibowitz, der eben sagt : Zum ersten Mal in der Geschichte der Juden gibt es Juden, die in keinem Detail ihres Lebens anders leben als Nichtjuden, und sich trotzdem als Juden fühlen. Und das ist sozusagen nicht mal ein Problem meiner Eltern gewesen, sondern offensichtlich war das auch ein Epocheproblem, was mit der Assimilation und auch dem Scheitern der Assimilation dann zu tun gehabt hat, ne? Sprecherin Kommentar Der jüdische Friedhof von Berlin-Weißensee wird für die heranwachsende Barbara zum magischen Ort der Selbstbefragung. Wie für andere junge Juden auch. Sprecherin Honigmann (Damals, dann und danach, 27 f.) Ein riesiger Friedhof, einer der größten Europas, ... verwachsen, verwildert und die Grabsteine halb aufgefressen von Efeu und Rhododendren-Büschen. Auf die hebräischen Buchstaben, die ich nicht lesen konnte, starrte ich, als ob sie vielleicht eine geheime, sehr wichtige Botschaft für mich enthielten, durch die sich das Rätsel meiner Herkunft offenbaren würde und das Schweigen meiner Eltern gebrochen werden könnte. HS 11: Junge singt hebräisch ...nächstes Jahr in Jerusalem Sprecherin Honigmann/BH4 21/30" (Damals, dann und danach, 29 + 31) Unsere Treffen hatten etwas Konspiratives und wir lasen die Bibel auf Hebräisch wie ein verbotenes Buch. Für je verrückter uns die anderen erklärten, umso heroischer kamen wir uns vor und schufen uns einen neuen Mythos: die Wiedereroberung unseres Judentums aus dem Nichts. ... HS 11: Junge singt hebräisch ...nächstes Jahr in Jerusalem Sprecherin Kommentar Barbara Honigmann weiß: ihre Geschichte ist die jüdische Geschichte. Eines Tages - inzwischen ist sie eine junge Frau - ist es so weit: Sie besucht die Synagoge in der Rykestraße, die damals einzige Ost-Berliner Synagoge. Ein fremder Ort, an dem sie sich willkommen fühlt. Die Menschen dort: Eine winzige Minderheit in der religionsfeindlichen DDR. Die Verstreutesten unter den Verstreuten. Nach dem Gottesdienst fährt sie mit einigen von ihnen zum Gemeindehaus. m2a (M. Stockhausen/CD Symbiosis/ II orig.), unter Text Sprecherin Honigmann (Roman von einem Kinde, 24 f.) Wir fuhren über den Alexanderplatz. Der Alexanderplatz ist mir früher so schwer gewesen und stand mir immer als ein Hindernis im Weg, durch das ich mich durchkämpfen musste, und meistens waren hier schon alle Wege verloren von all dem Rennen und Warten und Weitergehen und Treppen hinauf und Treppen hinab, da war alle meine Kraft schon verbraucht. Aber seltsam, an diesem Tage, als ich mitten in dem versprengten Häuflein hinüberklapperte, da wurde mir dieser Platz so leicht, sogar lächerlich, denn wir mussten gar nicht hindurch durch ihn, er öffnete sich vor uns wie das Rote Meer, und die ewig graue, verdunkelnde Wolkensäule schüttete ihren Regen aus, und als wir uns umsahen, da stürmte es und tobte es, und der Alexanderplatz blieb hinter uns und holte uns nicht mehr ein und versank in Nebel und Regen wie Pharaos Heer. m2a weg 06 Oton Honigmann 30 Jahre später würde ich sagen...also ich finde die Stelle schön, poetisch, und ich hab das, glaub ich auch so erlebt -so wie so ne Liebesbegegnung, das passiert ja einem auch manchmal, dass man halt so ne sehr starke Anziehung erfährt und eigentlich erstmal nicht genau weiß, warum und wieso, dass man sich da irgendwie erkannt fühlt, und dann war's natürlich eben auch so eine gaaanz kleine, versprengte Welt, und das war irgendwie schon wunderbar - dass es das gab,... ich hab das damals auch als einen Schritt ins Erwachsenenleben hinein empfunden, und das war's ja auch. m5 (M. Stockhausen/CD Symbiosis/ Ia), Sprecherin Kommentar 1976, mit 27 Jahren, tritt Barbara Honigmann in die Ostberliner jüdische Gemeinde ein, die gerade 728 Mitglieder zählt; 728 von vielleicht - so genau weiß das niemand - 4000 Juden in Ostberlin. Sie zieht sich aus der Welt des Theaters zurück, in der sie als Dramaturgin und Regisseurin nie so recht glücklich war, und beginnt zu schreiben. Zuerst ein Kinderstück nach den Gebrüdern Grimm. Und sie erwartet ihr erstes Kind. HSa Löweneckerchen (Flöte) Das kann ja wohl nicht wahr sein? Dass hier ein Löweneckerchen singt und springt? Vielleicht, dass ich es einfach einfange und für Hanna mitnehme. Hm. Einfach ist einfach gesagt , denn ich seh den Vogel ja gar nicht, ich seh nur ein Tor, und das ist verriegelt. Wenn ich an den Vogel ran will, muss ich das Schloss aufbrechen (Geräusch Tor) Sprecherin Honigmann (Das Gesicht wiederfinden, 78) Ein mehrfacher Aufbruch also, ein gleichzeitiger Energieschub in verschiedene Richtungen. Mutter, Künstlerin und eine richtige Jüdin wollte ich werden, und zwar alles auf einmal. 07 Oton Honigmann Kreativität ist irgendwie so, wenn man mal so einen kreativen Moment hat, dass man eigentlich merkt, man kann gerade gut schreiben, da kann man auch gut kochen und dann ist man irgendwie in der Liebe auch ganz groß da ... es ist so ein begnadeter Zustand, vielleicht auch eine Explosion von Vitalität, oder so was, ja. HSb Oton Löweneckerchen Habe ich Dir nicht alle Sterne gezeigt? Du musst nicht immer zur Erde schauen. Hast Du hier nicht in einer Nacht mehr entdeckt als dort an sieben hellen Tagen? Sprecherin Kommentar Im DDR-Alltag stößt Barbara überall an Grenzen. Als Jüdin und als Teil der kritischen Kulturelite gehört sie einer doppelten Minderheit an. Das Gefühl der Unangepasstheit, des Nichtdazugehörens, ist ihr ständiger Begleiter. 08 Oton Honigmann Das ist aber wieder noch 'ne andere Geschichte, aber vielleicht ist es auch dieselbe Geschichte dass es - ja in der DDR gab es den breiten sozialistischen Pfad der Tugend, nicht wahr, auf dem man sich sehr früh hatte entscheiden müssen zu gehen - oder nicht. Und wenn man, nun ja, aus so'n Elternhäusern stammte wie ich und wie Thomas Brasch und `n paar andere, das hängt auch vielleicht mit der Herkunft 'n bisschen zusammen, aber es gab ja auch andere, die irgendwann ziemlich früh sich mit dieser DDR nicht abfinden konnten, und schon gar nicht, wenn sie irgendwie kulturell interessiert waren, weil es alles irgendwie spießig, vor allem das ideologische Lügengebäude war einfach unerträglich, und dann passierte, was immer in solchen Systemen passiert, dass sich die Leute in kleinen Gruppen zusammenfinden, marginalisieren. HSb Oton Löweneckerchen Dort braucht ihr das Licht zu nichts, als Euch gegenseitig in die Fenster zu gucken. Und von der Nacht wisst ihr nicht mehr, als dass alle Katzen grau sind. ... ohne überhaupt zu bemerken, dass die liebe Sonne scheint. 08 Oton Honigmann Da gab es auch kein Zurück mehr. Weder vom Gewissen her, weil man einfach mit denen nichts zu tun haben wollte, als auch von der anderen Seite, die wollten dann auch mit uns nichts mehr zu tun haben, und so gab es ein gewisses marginales kulturelles Milieu, was eben versucht hat, unangepasst zu sein, und es aber nicht lange durchhielt. Weil dann kam irgendwann die Biermann-Ausbürgerung, und dann ging der große Exodus los ..., und dann sind die Leute ja mehr oder minder alle schnell weg gegangen, weil marginalisiert zu leben, ist 'ne schwierige Lebensform, auf Dauer. Und deswegen sind viele glaub' ich auch in den Westen gegangen, .....und ich auch." (lacht) HSc Oton Löweneckerchen Es ist doch nur, dass wir ein bisschen anders leben müssen als die anderen Menschen Kapitelzäsur: HS6: ....Kinderstimme hebräisch, dann m2a, unter Ttext. Sprecherin Honigmann/BH7 (Roman von einem Kinde, 111) Das hier ist die Avenue de la Forêt Noire, also hier bin ich, auf der Avenue de la Forêt Noire. Hier bin ich gelandet vom dreifachen Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das Thora-Judentum hinein. HS6: ....Kinderstimme hebräisch, nach 13" jeruschalaim, amen... in A2 Straßburg..... unter O-Ton Sprecherin Kommentar Straßburg also. Mit dem Finger auf der Landkarte ausgesucht - aber nicht von ungefähr. Die Elsassmetropole ist ein besonderer Ort auf der jüdischen Landkarte, sie hat eine der größten Gemeinden Frankreichs, etwa 15.000 Mitglieder. Eine Stadt, in der man nach jüdischen Regeln und Ritualen leben kann - mit jüdischen Schulen, koscheren Läden, an die 20 Synagogen und Beträumen, Badehäusern ... Eine Stadt, in der das Lernen, das Textstudium, traditionell eine große Rolle spielt. Lauter gute Argumente. Doch am Anfang ist Straßburg ganz einfach: eine wildfremde Stadt. A2 hoch, weg, Stille Sprecherin Honigmann/BH8 1`/12" (Roman von einem Kinde, 113 f.) Post keine, Telefon still. Hier kannten wir noch niemand, und von DORT rührte sich keiner mehr. Aus der Ferne sogar spürte ich das Verletztsein und in dem Schweigen Strafe. ... Wie fremd mir die französische Sprache war, ich hatte alle meine früheren Vorstellungen über ihre Schönheit und Eleganz verloren und fand sie jetzt nur künstlich und angestrengt mit ihrem ewigen Nasalieren und all den fallen gelassenen Endungen, und manchmal hätte ich sagen wollen: Sprich doch bitte wie ein normaler Mensch. Und doch stieg in diesem furchtbaren Unverstandensein auch eine Erkenntnis in mir auf: B.H. liest selbst Nun weiß ich endlich, was es heißt, fremd zu sein. Dieses vage schon immer anwesende Gefühl hatte sich hier in eine Wirklichkeit verwandelt. Es war das deutlichste auf der Welt: Ich bin eine Fremde. 09 Oton Honigmann Verstehen Sie, ich hab' jetzt hier Freunde gewonnen, die ich inzwischen schon wieder verloren habe, aber dass ich irgendwie angekommen wäre, das würde ich immer noch nicht sagen. Vielleicht geht es auch gar nicht, vielleicht ist es auch ne Illusion, Verstehen Sie, es gibt eben gute Momente, wo man so sagt, ach ist eigentlich naja, ma copine, is' eigentlich alles ganz schön und so, und dann gibt es Tage, wo man doch das Gefühl hat, dass man eigentlich sich nie sozusagen nie wirklich als das wahrgenommen wird, wo man eigentlich herkommt und wer man ist - und das beruht sicher auf Gegenseitigkeit, ne (lacht). Zäsur/Unterkapitel HS5 : Frauengesang , darauf; nach 13": ein Kuvert und eine Briefmarke, brauch ich nicht...Gesang.... nach 23" Briefe, briefe schreiben, wohin denn... ab 33" Gesang weiter unter Text Sprecherin Kommentar Nicht nur die Frage: Wo komme ich her? will also beantwortet werden, sondern auch die Frage: Wo gehöre ich hin? Jüdisch leben - deutsch schreiben. Manchmal ein Widerspruch für Barbara Honigmann, Grenzgängerin in einer Grenzstadt. Aber Straßburg ist doch ein Stück Heimat, Ort für neue Begegnungen. Zum Beispiel mit dem Soziologie-Professor Freddy Raphael, einem Kenner der Geschichte der Juden im Elsass. 10a Oton Raphaël J'inscrirais l'histoire des Juifs à Strasbourg sur une espèce de double métaphore - celle qu'avait Georg Simmel lorsqu'il parle de Tor und Brücke. Il y a une dimension de Brücke, de pont, d'accueil de la dissidence à Strasbourg, comme toutes les villes des bords du fleuve c'est une ville normalement accueillante à l'altérité. Pour les Juifs ça a été un lieu relativement de refuge pendant une période médiévale auprès des princes et des évêques qui avaient besoin des Juifs à un moment où le capitalisme était naissant et qu'ils avaient besoin de cet apport-là, alors que le prêt d'argent était condamné, était un métier vil, méprisé. Donc les Juifs on été, au moins pour les élites, les bienvenus. Sprecher Raphaël Für die Geschichte der Juden in Straßburg möchte ich eine doppelte Metapher verwenden - wie Georg Simmel, der von " Tor und Brücke " spricht. Da gibt es zum einen die Brücke: Ein Anziehungspunkt für Dissidenten; wie alle am Rhein gelegenen Städte ist Straßburg eine Stadt, die für das Andere offen ist. Für die Juden galt sie im Mittelalter mehr oder minder als Ort der Zuflucht; die Fürsten und Bischöfe waren zurzeit des aufkommenden Kapitalismus auf den Beitrag der Juden angewiesen, obwohl das Geldleihen als schändlicher Beruf galt. Die Juden waren also, zumindest bei den Eliten, willkommen. A3 Altstadt Straßburg, unter O-Ton Sprecherin Kommentar Die Rue des Juifs im Herzen der Straßburger Altstadt. Hier war das Zentrum der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde, einen Steinwurf von der Kathedrale entfernt. Auf dem Straßenschild steht unter dem französischen Namen auch der elsässische: Judegass. 10b Oton Raphaël Mais en même temps, Strasbourg, j'allais dire, c'est Tor, c'est la porte. Cest la porte qui se referme, qui peut se refermer comme une masse à un moment. C'est les Juifs au moment de la grande peste qui ont le choix entre se convertir ou être brûlés, donc un pogrome qui va rester présent quelque part au 14e siècle dans la mémoire des Juifs. Sprecher Raphaël Aber gleichzeitig ist Straßburg Tor. Das Tor, das sich urplötzlich wie ein Fallgatter schließt. Zum Beispiel für die Juden, die zur Zeit der Großen Pest wählen mussten: Konvertieren oder verbrannt werden. Ein Pogrom aus dem 14. Jahrhundert haftet im jüdischen Gedächtnis. Sprecherin Kommentar Auf der Rue de Juifs stand bis zum Pogrom des Jahres 1349 die Synagoge. 2000 Straßburger Juden wurden, ganz in der Nähe, auf dem jüdischen Friedhof, zusammengetrieben und bei lebendigem Leibe verbrannt. Heute ist dort die Place de la Republique, umgeben von imposanten Gebäuden aus der deutschen Kaiserzeit. Wenige Gehminuten davon entfernt , am damaligen Stadtrand, wurde Mitte des 16. Jahrhunderts das Judentor errichtet. Nur durch dieses Tor durften die Juden eintreten, mussten eine Steuer zahlen und jeden Abend beim Klang des Gruselhorns die Stadt verlassen. A3 weg Voll akzeptiert waren die Juden nie - sie wurden mehr oder weniger geduldet, immer wieder reglementiert und verfolgt. Erst nach der Französischen Revolution bekamen sie die vollen Bürgerrechte, und im 19. Jahrhundert waren es dann elsässische Rabbiner und Denker, die den Ruf von Straßburg als wichtigem Zentrum des Lernens begründeten. folg auf Musik m2a Sprecherin Honigmann (Das Gesicht wieder finden, 65) Lernen, Studieren, Kommentieren, Argumentieren, Disputieren, Erzählen, Erläutern, Ausschmücken, Ausmalen, Ausspinnen, Sich-in-Widersprüche-Verwickeln, Vergleichen, Assoziieren, Dissoziieren, Andeuten, Rechnen ... m2a weg 12a Oton Honigmann ... also für mich gibt es einen Ort, der wichtig ist. Das war ursprünglich so `n Internat für junge Mädchen, jüdische Studentinnen, und da bin ich in den letzten zehn zwölf Jahren eben sehr viel gewesen, und dort habe ich einen Lehrer gefunden, der sich sozusagen diese alten tausendfach kommentierten und auch irgendwie kodifizierten Texte wagt, neu zu lesen, mit eigenem Denken zu hinterfragen ... Schon deswegen, glaub ich, ist Straßburg ein Ort, der ne Reise wert ist, und ich hab auch ne Freundin aus New York, die einmal im Jahr kommt und die dann immer unbedingt da mit hin will, weil sie sagt, ne, so was gibt es in New York nicht. 11a Oton Lipsych L'étude est au centre du judaïsme. L'étude des textes, c'est-à-dire l'étude aussi bien de la Tora que de toutes les sources de la tradition juive. On est dans l'interprétation, l'oralité permanente. Et dans cette étude, il y a des enseignements qui sont donnés, mais il y a aussi une exigence qui est celle d'étudier à deux, de se confronter au texte. A deux, pour être un binome, pour être dans l'altérité. Et c'est ce qu'on appelle on hébreu 'havrouta que l'on peut traduire vraiment littéralement compagnon ou compagne d'étude en l'occurrence. Donc il est très important, quand on a la possibilité, de se fixer un temps d'étude - régulier - c'est une des conditions. Et donc effectivement, Barbara Honigmann est ma havrouta à Strasbourg, Sprecherin Lipsych Das Lernen steht im Zentrum des Judentums. Das Studium der Texte, der Tora wie überhaupt aller Quellen der jüdischen Tradition. Es ist eine permanente Interpretation, eine permanente Mündlichkeit. Gelernt wird in Form von Unterricht, aber man ist auch aufgefordert, dem Text zu zweit zu begegnen. Zu zweit, um ein Gegenüber zu haben. Auf Hebräisch nennt man das 'havrouta, das kann man wörtlich mit Lerngefährte oder -gefährtin übersetzen. Barbara Honigmann ist also meine havrouta in Straßburg. Sprecherin Kommentar Sonia Lipsych. Theaterautorin, Dramaturgin, Regisseurin und Soziologin. Barbara Honigmanns Lerngefährtin und Freundin. Jeden Montagabend treffen sie sich - um zu lernen, um sich über Freud und Leid des Autorenlebens auszutauschen. 12 b Oton Honigmann Ja, und dann habe ich meine Freundinnen-Gruppe, die ist ja nun ganz informell, also die ist ganz informell, aber dafür sozusagen umso stabiler, weil da lernen wir ja eben die Tora seit - kann man schon gar nicht mehr nachzählen wie viel Jahren, das sind nun schon über zwanzig Jahre, da treffen wir uns jeden Sonntag, ... m2a ... darauf Sprecherin Honigmann Damals, dann und danach 65 f. Wenn uns jemand fragt, wer gibt euch denn euren Kurs, sagen wir, dass wir ihn uns selber geben und kichern... denn sehr gelehrte Frauen sind wir ja gerade nicht, jedenfalls nicht, was die Torakenntnis anbelagt, deswegen eben wollen wir sie ja studieren, nicht unbedingt zur Belehrung, eher ist es ein Wunsch nach Berührung mit dem Text, in einer vagen Suche nach Bedeutung. Da sitzen wir dann um den Tisch herum, jede hat einen Chumesch, also den Text der Bibel selbst, eine französische Übersetzung- ich habe allerdings die deutsche von Hirsch - und verschiedene Kommentare vor sich. Die Kommentare lesen wir uns gegenseitig vor, wenn wir darin etwas finden, das uns interessant erscheint, ... und bringen auch unsere eigene Meinung an, die meistens eine Verwunderung ist, denn je näher wir dem Text kommen, desto unklarer erscheint er uns...32" 13 Oton Honigmann Also ich lese es gerade wieder mit meinen Freundinnen, dass dieser Auszug aus Ägypten - im Grunde genommen ist das eine negative Symbiose geblieben, eigentlich ist dieses Bild der negativen Symbiose auch schon zwischen Israel und Ägypten ins Spiel gebracht. Und das ist eigentlich ziemlich schwer zu verstehen,... der Auszug hat stattgefunden, aber sie haben Ägypten mitgenommen, mehr als ihnen lieb war. Das ist sozusagen das fundamentale Ereignis. HS 1:Kinderstimme: ` Mit 70 Personen sind Deine Väter nach Ägypten ausgewandert, und jetzt hat dich der ewige, Dein Gott, zahlreich wie die Sterne am Himmel gemacht. Die Kinder Israels waren fruchtbar, vermehrten sich, breiten sich aus, wurden ungeheuer mächtig und das Land war ihrer voll) 22 14 Oton Honigmann ... und dann kommt so 'n ganz komischer Text, da werden die zehn Plagen immer hochmultipliziert. Warum? Weil all die Plagen, die die Ägypter zu erleiden hatten, die werden uns, dem Volk Israel dann auf alle Zeiten erspart sein, das ist das, was ich mit negativer Symbiose meine; diese Idee, dass es da irgendwie für immer so `ne Verstrickung gibt. HS 2 : ... ach, ich in Jerusalem. Angespült, da sitze ich nun fest, kann nicht mehr vor und nicht mehr zurück" Sprecherin Kommentar Der Auszug aus Ägypten. Die Bestrafung der Ägypter mit den zehn Plagen. Die Rückkehr ins gelobte Land. Die ewigen Themen. Die ewig aktuellen Themen des Judentums. 1994 macht Barbara Honigmann in ihrem Hörspiel "Letztes Jahr in Jerusalem" die Schriftstellerin Else Lasker-Schüler zur Projektionsfläche jüdischen Schicksals - und ihr Sohn Ruben, damals 10, singt dazu die alten Lieder. HS7 "Das ist nicht leicht in ein Land zu kommen, von dem man geträumt hat -und alles wird gut ... Abends fällt die Nacht wie eine Guillotine herunter! Wie das hier aussieht! Kakerlaken ... ... und wo die Kakerlaken herumtoben ... nachsehen, was Kakerlake auf Hebräisch heißt ... Schickesin ... war das nicht eine der ägyptischen Plagen .. übergehen in Kapitelzäsur HS13 Junge und Frau singen hebr. kurz hoch, unter Text: Sprecherin Kommentar Rituale und Vorschriften geben dem jüdischen Alltag einen Rahmen. Da wäre der Sabbat: Die Ruhepause von Freitagabend bis Samstagabend, während der vieles nicht erlaubt ist: Licht anzünden, schreiben, Auto fahren, Geld berühren ... Und da wäre die Kaschrut: die jüdischen Speisegesetze. Kein Schweinefleisch. Ansonsten nur Verzehr von geschächteten Tieren. Meeresfrüchte verboten, außer Fischen mit Schuppen und Flossen. Streng getrennte Lagerung von Milch- und Fleischprodukten. Die Regelungen sind sehr detailliert. Doch wie koscher man lebt, muss jeder für sich entscheiden. Barbara Honigmann bezeichnet ihren Alltag mit dem Begriff "koscher light". 15 Oton Honigmann Der beschreibt einfach, find' ich, sehr treffend meine Art, sag ich mal, um nicht zu sagen unsere Art, weil mein Mann ein bisschen strenger ist -Judentum zu praktizieren, in der ich nicht übertreibe, und trotzdem so Markierungen setze, die dann auch eindeutig sind, ... also, es gibt bestimmte Levels, die ich einhalte, zum Beispiel so was wie Schabbat habe ich glaub ich in mein Leben wirklich integriert - diese Idee vom Schabbat, vom Einhalten, ist wirklich eine große Idee. Mit der Kaschrut, ja, mit dem Essen, wissen Sie, es ist mir eigentlich so was von egal, ob ich Schweinefleisch esse oder nicht, und es kostet mich auch nichts, darauf zu verzichten - ich habe beschlossen, ich esse es nicht. Aso das empfinde ich mehr als so Spielregeln, die ich einhalte aus Respekt vor der Welt, für die ich mich jetzt sozusagen entschieden habe. Andere essen eben Makro und Bio, und die machen sich genauso verrückt. A4 Supermarkt 16 Oton Honigmann Es gibt ja so diese verschiedenen Koscher-Läden, die es einem ja auch sehr leicht machen, koscher zu leben....weil ich muss dann ja gar nicht aufpassen, ich geh da rein, kaufe was ich brauche, bezahle, gehe wieder raus und weiß sowieso, dass es koscher ist. Abgesehen davon, dass alles sehr teuer ist, aber bitte ... Sprecherin Kommentar An der Kasse sitzt ein junger rothaariger Mann mit Kippa. Hier gibt's das volle Sortiment: Tiefkühlkost und Frischfleisch, Süßigkeiten und Wein, chinesische Nudeln und gefillte Fisch, Balsamico-Essig und Müsli-Riegel. Alles koscher, ausgewiesen mit Stempeln und Zertifikaten von Rabbinern. Hinweisschilder auf Französisch und Hebräisch. Viele Waren aus Israel: unbekannte Marken, fremdes Design. Auch altbekannte Produkte: koschere Gummibärchen von Haribo. Runde rote Babybel-Käse mit Koscher-Zertifikat. Tütensuppen, Fertigpüree ... . "Merci beaucoup bonne journée, au revoir! Au revoir!" A4 ... überführen in m5: Watcha-Clan, CD Diaspora Hi-Fi, Track 4 unter Text m5 in m6: Watcha-Clan, CD Diaspora Hi-Fi, Track 9 Sprecherin Kommentar Ob koscher light oder orthodox: Zu Straßburg gehört das jüdische Leben mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. Es hat viele Gesichter, denn innerhalb der Gemeinde treffen verschiedene Gruppierungen und Traditionen aufeinander. Die zwei großen Stränge sind die Aschkenasim und die Sefardim. Etwa 60 Prozent sind Aschkenasim; sie stammen also aus West- und Osteuropa. 40 Prozent, die Sefardim, kommen aus Nordafrika. Erst in den 1960er Jahren, nach dem Algerienkrieg, verschlug es sie nach Frankreich. m5 in m6 Auf einen Schlag wurde damals der jüdische Bevölkerungsanteil Straßburgs fast verdoppelt. Zäsur aus m6 Sprecherin Honigmann/ (Am Sonntag spielt der Rabbi Fußball, 36) Die Ankunft der Sefardim in Frankreich ist wohl so etwas wie ein 'historisches Moment' gewesen, da haben sich Sefardim und Aschkenasim nach tausend Jahren wiedergetroffen, und wie bei jedem Wiedersehen nach langen Jahren muss es halb Freude, halb Entsetzen gewesen sein: Mein Gott, was ist denn aus Euch geworden! Wie ihr ausseht! Wie Ihr redet! Wie Ihr singt und betet! Was ihr kocht! m6 hoch in A5 Atmo Imbiss, unter Text Sprecherin Kommentar Ein Imbiss-Restaurant, nahe der jüdischen Berufsschule. Es liegt im Quartier Juif rund um die große Synagoge, die Synagogue de la Paix, genannt Grande Schoul. Zu Kaiser Wilhelms Zeiten war hier das quartier allemand, das deutsche Viertel. Die Speisekarte verrät es auf den ersten Blick: wir befinden uns bei sefardischen Juden. Die resolute Inhaberin und ihr Angestellter haben um die Mittagszeit alle Hände voll zu tun. Auf der Speisekarte: Falafel, Merguez, Houmous, Auberginenpaste, eingelegte Paprika, Geflügelschnitzel. Die Einrichtung ist clean und freundlich. Tel Aviv Style. Weißgefliester Boden, Alutische, hellgraue Wände ... Der Rest leuchtend rot: Die Plexiglas-Stühle, die Gläser, die Fenstersimse ... Neben der Theke hängen zwei Uhren. Unter der einen steht "Tel Aviv", unter der anderen "Paris". Über dem dritten Schild ,"New York" , fehlt die Uhr. Zäsur aus m6 Sprecherin Kommentar Das Leben im Viertel... Stoff für die Schriftstellerin Barbara Honigmann! In "Soharas Reise", einem Roman aus dem Jahr 1996, erzählt sie eine Geschichte, die sich - so ähnlich - tatsächlich in ihrem Umfeld zugetragen hat: Ein Jude aus Marrakesch, der sich Rabbiner nennt, entführt seine sechs Kinder und lässt seine Frau Sohara in Straßburg allein. Mit vereinten Kräften spürt die jüdische Gemeinde den falschen Rabbi auf und bringt die Kinder zur Mutter zurück. Das ist die Geschichte einer abenteuerlichen Suche und die einer Freundschaft - zwischen der sefardischen Jüdin Sohara und der deutschen Jüdin Frau Kahn, die ein Konzentrationslager überlebt hat. Sprecherin Honigmann Bei euch in Afrika war alles nicht so schlimm, haben uns die Aschkenasim gesagt, als wir hierherkamen, und sie wussten wenig von dem, wie es in Afrika gewesen war. Die Aschkenasim waren in jedem Falle die Elite des Leidens, die Weltmeister des Martyriums, wir waren dagegen reine Anfänger, in den hintersten Rängen plaziert, darüber hinaus sowieso halbe Araber, und wir mussten erst einmal alles, aber auch alles von ihnen lernen. Zäsur aus m6 Sprecherin Kommentar Heute komme man gut miteinander aus, hört man von allen Seiten. An die exzessiven Tanzrituale der Sefardim in der Synagoge haben sich die eher verkopften, textbegeisterten Aschkenasim gewöhnt - im Gegenteil, man schätzt das sogar. Man heiratet untereinander und trägt so zu einer Mélange der Kulturen bei. Und die Sefardim haben der jüdischen Gemeinde letztendlich neues Selbstbewusstsein eingeflößt, denn dass ein Jude in der Stadt mit Kippa herumläuft, das hat es vorher kaum gegeben. A2 Straße Sprecherin Kommentar Drei Jugendliche lehnen lässig an der Wand., in irgendein Gespräch verwickelt. Das Outfit: cool, wie es sich gehört. Extra tiefe Hosen, Kaputzenjacken, Turnschuhe. Zwei der Jungs tragen Kippa; der dritte eine Baseball-Kappe. Die jüdische Gemeinde hat nicht nur Kindergärten, Schulen und Synagogen, sondern auch ein Jugendzentrum, einen Fußball-Club und einen Club für Senioren, einen Hilfsdienst für Menschen in Not und andere soziale Einrichtungen. A6 Radio Judaica Und Radio Judaica, einen lokalen Radiosender. Trotzdem - auch in Straßburg leben die praktizierenden Juden mit den Problemen einer Minderheit. 17 Oton Honigmann Und wenn dann ein jüdischer Student seine Prüfung an einem Feiertag hat, der ihm wichtig ist, weiß ich, Shevuot, im Juni ist das oft, dieses Wochenfest, und das ist für jüdische Studenten, die praktizierend sind, ein sehr großes Problem: ich will damit nur sagen, dass die Stellung für Juden, die eben ihre Religion praktizieren wollen, nach wie vor nicht so einfach ist, und leider muss man sagen, in den 20 Jahren, die wir jetzt hier sind, ist das eher schwieriger geworden. Also um nicht zu sagen unmöglich! und viele gehen auch nach Israel, also auch ganz junge Leute. Die sagen, es ist ihnen hier zu schwierig, sie wollen nicht immer betteln müssen und sich dumme Antworten anhören müssen, das ist ihnen zu blöd!. Das hat eher zugenommen, aber das ist nicht ein zunehmender Antisemitismus, sondern das hat mit der ganzen Geschichte mit dem Kopftuch von den Araberinnen angefangen, ne und (lacht) das hat die Juden mit 'reingerissen. m5 unter Text Sprecherin Kommentar Die jüdischen Feiertage: Feiertagsinseln im Alltagsmeer. Tage, an denen die osteuropäischen orthodoxen Juden besonders in Erscheinung treten. Mit schwarzem Anzug, breitkrempigen Hüten und Schläfenlocken. Es sind die Feiertage, die dem jüdischen Jahr seinen Rhythmus geben. Rosch ha-Schana, der Neujahrstag im September oder Oktober. Pessach im April, Schawu-ot im Juni... m5 in A7a und A8 (Laubhüttenatmo) Das Laubhüttenfest. Jedes Jahr im Herbst erinnert es acht Tage lang an den Auszug aus Ägypten. Gefeiert wird das Fest privat und auch im Gemeindezentrum - in dem Gebäudekomplex, in dem sich die große Synagoge befindet. Dort ist auch ein Kindergarten untergebracht - im Foyer wird gerade Ball gespielt. A7/8 übergehend in: HS 15 Kinderstimme singt hebräisch, unter Text Im Innenhof ist eine Laubhütte aufgebaut: auf Hebräisch Sukka: eine Art Pergola, mit Tannenzweigen bedeckt und mit Plastikplanen geschützt. Eine Laubhütte muss unter freiem Himmel stehen: Das soll daran erinnern, dass man sich wenig auf Materielles verlassen kann. An den Biertischen sitzen Menschen, die - allein, zu zweit, oder in kleinen Gruppen - ihr mitgebrachtes Essen verspeisen, denn das gehört zum Ritual des Laubhüttenfestes. Manche haben Sandwichs dabei, andere warme Mahlzeiten in Tupperdosen. Ein Rabbiner im Rollstuhl wird von einer grauhaarigen Frau an einen Tisch geschoben. Vor dem Essen verrichtet er sein rituelles Gebet. Rabbi Claude Ginzburger und seine Frau, die aus Frankfurt am Main stammt, kennen Familie Honigmann recht gut - weil deren Söhne in Straßburg jüdische Schulen besucht haben. HS 15 weg Für Schulkinder beginnt das Lesen der Tora, des Alten Testaments, schon früh, mit 5 Jahren, und zwar auf Hebräisch. 18 Oton Rabbi /Frau A partir de 5 ans. Parce qu'il vaut mieux apprendre le hébreu pas en même temps que le français. Parce que le hébreu ça se lit donc de droite à gauche et le Français de gauche à droite. Alors si on fait la même année, ça crée des confusions. Sprecherin Honigmann Hebräisch, sagt die Frau des Rabbis, sollte man besser nicht gleichzeitig mit Französisch lesen lernen. Hebräisch lese man doch von rechts nach links und Französisch von links nach rechts. Wenn man das im selben Jahr lerne, stifte das Verwirrung. Sprecherin Kommentar Ja, nickt der Rabbi, das verwirrt. Zäsur: m 2a, darauf: HS 8: Das Kleid meines Ruhmes hängt in Fetzen an mir runter, dass keiner mehr seinen Glanz erkennen kann. Ich will ja nicht zu den Leuten auf die Ben Jehuda Street laufen und sagen: Kennt ihr mich nicht? Wisst Ihr denn nicht, wer ich bin? Eine berühmte Dichterin in einer Sprache, die ihr nicht versteht.... 33`26 Sprecherin Kommentar In der Straßburger jüdischen Gemeinde ist "Barbara" ein Mitglied von vielen, die Mutter von Ruben und Johannes, die nun auch schon erwachsen sind. Dass sie Schriftstellerin ist, weiß kaum jemand. Sie schreibt nicht französisch: Sie schreibt auf Deutsch. Einige ihrer Bücher wurden ins Französische - und übrigens in acht weitere Sprachen - übersetzt. In Deutschland ist Barbara Honigmanns Literatur preisgekrönt. So führen ihre Texte sie letztlich immer wieder nach Deutschland zurück. Ob sie will oder nicht. 19 Oton Honigmann Ich hab mal teilgenommen an so 'n Treffen - Jewish Women writing from Europa - ... da waren englische, italienische, russische, zwei französische Jüdinnen und ich und das war so frappierend, wie englisch diese englische jüdische Schriftstellerin war, so british, das können Sie sich überhaupt nicht vorstellen ! - und die russische, die war so russisch, und die Italienerin war so italienisch, und die beiden Französinnen waren so 'ne Pariser Zicken ja (lacht) Ob ich dann dazwischen irgendwie deutsch wirkte oder nicht, das kann ich nicht beurteilen ... Aber jedenfalls Juden sind sozusagen gleichzeitig - und das macht wahrscheinlich auch ihr Identitätsproblem, wenn sie es denn haben auch wirklich aus, dass sie gleichzeitig sehr identifiziert und geprägt sind - es kann ja auch gar nicht anders sein! - von der Kultur, in der sie leben und in der sie aufgewachsen sind und von der Sprache und von der Umgebung und gleichzeitig irgendwas behalten wollen, irgendein Kernstück oder Herzstück oder irgendwas in ihrem Inneren, das sie eben Jüdisch nennen. Sprecherin Honigmann (Damals, dann und danach, 15 f.) Die Deutschen wissen gar nicht mehr, was Juden sind, wissen nur, dass eine schreckliche Geschichte zwischen ihnen liegt, und jeder Jude, der auftaucht, erinnert sie an diese Geschichte, die immer noch weh tut und auf die Nerven geht. ... Denn beide, die Juden und die Deutschen, fühlen sich in dieser Begegnung ziemlich schlecht, sie stellen unmögliche Forderungen an den anderen, können sich aber auch gegenseitig nicht in Ruhe lassen. 21 Oton Honigmann Dass sozusagen Leute, die meine Freunde waren, dass die dann eben mit so was dann plötzlich kamen: " Erstens, du, was hast du denn damit zu tun? Du warst ja sowieso nicht im KZ, so ungefähr ... Und außerdem erklär mir mal den Unterschied zwischen 'nem Juden und 'nem Deutschen, oder irgendwie was willst du damit sagen, und was willst du denn, dass ich dir jetzt sage, und erwartest du, dass ich mich jetzt bei dir entschuldige?" - Aber wo dann plötzlich so ich will nicht sagen 'ne Agression, doch ja irgendwas zwischen Aggression, totaler Irritation, und ich bin sicher, also ... alle diese kleinen Wortwechsel, die ich jetzt erwähne, ich hab' die alle noch ganz genau im Ohr und vor Augen. Ich weiß genau, von wem ich rede, und ich weiß auch genau, an welchem Tag, auf welchem Sessel die stattgefunden hat, und ich bin ganz sicher, dass die Leute das überhaupt nicht mehr wissen. Das ist die unterschiedliche Sensibilität. Zäsur - Epilog: m1 Sprecherin Kommentar Vor 25 Jahren kam Barbara Honigmann nach Straßburg. Es war nicht zuletzt diese Überempfindlichkeit auf beiden Seiten, dieses gestörte Verhältnis, das sie bewog, Deutschland zu ganz verlassen. Doch nun zieht ihr älterer Sohn, der mit sieben nach Straßburg kam und seit zehn Jahren in Paris lebt, mit Frau und Kindern zurück nach Berlin, in seine Geburtsstadt. 22 Oton Honigmann Für uns ist es nicht ganz unproblematisch, wir reden darüber, und jetzt kommen so Gefühle hoch, weil jetzt hör' ich so das ganze Jahr und Kisten und Umzug und quiek! und die Kinder, das ist ja genau dieselbe Situation wie unsere Situation damals, bloß in die umgekehrte Richtung, und da wird's mir so'n bisschen komisch, aber na gut. Nee, ich bin ja auch gespannt, er selber ist auch gespannt, weil er hat sich auch noch nicht als Deutscher in Deutschland bewegt oder erlebt. Aber ist schon irgendwie doch erstaunlich, dass sowohl Frankreich als auch diese ganze jüdische Sache so irgendwie nicht so richtig gehaftet hat. Naja, und denn müssen wir mal sehen, was draus wird. Absage auf m1 Sprecher LEBEN KOSCHER LIGHT. Die Schriftstellerin Barbara Honigmann und ihr Straßburg. Sie hörten ein Feature von Nicoletta Torcelli und Annegret Karstens Es sprachen: Marianne Rogeé, Sigrid Burkholder, Susanne Barth und Stefan Barmann. Ton und Technik: Michael Morawietz und Petra Pelloth Redaktion und Regie: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2009 Anschlussmusik: Watcha-Clan, CD Diaspora Hi-Fi, Track7: Mean Diaspora, 1`17 Zitate aus folgenden Werken von Barbara Honigmann : Roman von einem Kinde (dtv, München): S24f, 11, 113 Soharas Reise (rowohlt Taschenbuchverlag Berlin S.24) Am Sonntag spielt der Rabbi Fußball (Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg) S. 36 Damals, dann und danach (dtv, München - Lizenz : Hanser Verlag, München Wien) S 27, 29, 32, 39 Das Gesicht wiederfinden (Hanser Verlag, München Wien) 39, 65. 68 Hörspiele: Die Geschichte vom Löweneckerchen (MDR) gesamt: 1`20 Letztes Jahr in Jerusalem (SWR 1994) gesamt: 4`09 Musik Watcha-Clan, CD Diaspora Hi-Fi, Stockhausen, Markus; Symbiosis 24 24